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Erstes Kapitel

Einst hieß sie Thora Krohk und wurde meist Thorachen genannt. Jetzt hieß sie Frau Thora Bruce auf Åkerup, war mit dem gestrengen Patron Johan Bruce verheiratet und Mutter zweier Kinder. Sie hatte Haushalt und Dienerschaft, einen Viehhof mit fünfzig Kühen, im Stall zwölf Pferde, Geld und Gut, Untergebene, Nachbarn, Verkehr. Und alles das war für sie ebenso neu wie fremd. Einst war Thora frei und frank durch Feld und Wald geschweift. Jetzt hatte sie von früh bis spät im Haushalt zu tun, beaufsichtigte Milchwirtschaft und Speisekammer, Küche und Keller, stillte, als sie noch klein waren, ihre Kinder, erzog sie, als sie größer wurden, gehorchte ihres Mannes leisestem Wink und demütigte sich unter seinem Zorn. Einst war Thora strahlend froh, glücklich, gut Freund mit jedermann. Jetzt weinte sie oft, schlich still und scheu im Hause herum, und ihr Gesicht zeigte die Blässe der Überanstrengung, die von Tagen voll Arbeit und Nächten voll Sorge kommt. Nie mehr sang sie, nie war ihr Gang mehr leicht und tanzend wie in jungen Tagen. Sie war etwas über zwanzig und sah aus, als wäre sie fünfunddreißig. Nur wenn manchmal ihre Augen mit einem Ausdruck unendlich kindlichen Fragens aufleuchteten, sah man noch, wie jung sie war.

Alle, die sie früher gekannt hatten, wußten zu erzählen, ein schöneres Mädchen als Thora habe es überhaupt nicht gegeben. Schlank und fein war sie, und über ihrem Gesicht lag das scheue, frohe Staunen eines, dem die Welt neu, lockend und süß erscheint. Jeder, der sie sah, blieb stehen, um sich an diesem frischen, unberührten jungfräulichen Wesen zu erquicken, womöglich ein Stückchen der ruhigen Freudigkeit, die ihre ganze Persönlichkeit ausstrahlte, mit sich zu nehmen. Ein Wort aus Thoras Mund war wie das muntere Zwitschern eines Vogels im Walde. Und was sie sagte, auch das Geringste, war von einem eignen süßen Reiz, eben durch den ruhigen, stillen Jubel, womit sie der Zukunft entgegenzugehen schien.

Thora war in einem glücklichen Heim aufgewachsen. Keiner hatte ihr je ein böses Wort gesagt. Ihr väterlicher Hof lag von Åkerup aus gerechnet hoch im Norden. Vier Tagereisen hatte sie zurückzulegen gehabt, ehe sie als Neuvermählte mit ihrem Mann ihre jetzige Heimat erreicht hatte. Und sooft sie an diese Reise zurückdachte, fühlte sie aufs neue die Angst, die sie damals durchgemacht hatte, in sich erstehen.

Diese Heimfahrt war keine Hochzeitsreise, so wie man sie in unsern Tagen kennt. Es war eine gar mühsame Hochzeitsfahrt im Wagen, Seite an Seite mit einem Gatten, von dem Thora im Grunde weniger als nichts wußte. Dazu eine Abschiedsreise, fort von allem, was ihr lieb gewesen. Als die großen Wasser und Wälder hinter ihr verschwanden, fühlte sie sich heimatlos, heimatlos und unglücklich; denn der Mann, der sie davonführte, begann ihr bang zu machen. Es kam Thora auf einmal vor, als spräche er scharf und befehlend, als klänge seine Stimme hart, überhaupt wurde Johan Bruce mit jeder neuen Station, die sie erreichten, mehr und mehr ein andrer als der, der im Elternhause erst als Gast, dann als Freier und schließlich als Bräutigam aufgetreten war.

Zuletzt wurde auch die Gegend ganz anders als alles, was Thora je gesehen hatte. Der Wald, mit dem sie aufgewachsen war, verschwand, vor ihr dehnte sich das Flachland, eine weite öde Ebene, in der die Höfe mit ihren eng um das Wohnhaus gedrängten Nebengebäuden dichtgestreut lagen.

Und über der Ebene regnete es, und der Wind fegte darüber hin, daß der fallende Regen aussah wie nasser Nebel, der sich wie Gewölk über die aufgeweichten Äcker wälzte. Nicht einmal ein rotes Haus unterbrach mit seinen weißen Ecken die graue Einförmigkeit. Sogar die Bäume waren Thora fremd. Wie Riesenpilze hoben sich ein paar niedere Stämme mit runden buschigen Kronen aus dem feuchten Boden. Sie standen einzeln oder in Reihen an großen breiten Gräben, in denen braunes Wasser rauschte. Im Regendüster sahen sie mitten am Tag ganz gespenstisch aus, und Thora entsann sich nicht, je auch nur ihren Namen gehört zu haben. Sie war ganz verwundert, als ihr Mann ihr sagte, es seien Weiden. Erstaunt blickte sie zu Bruce auf, der neben ihr saß und mit sicherer Hand die kräftigen, derbgebauten blanken Pferde lenkte. Und während der Wagen weiterrollte, dachte sie: Ist das der Weg zur Heimat?

Auf der letzten zwei Meilen langen Strecke kamen sie plötzlich in ein Tal, das ein kleiner, hochgeschwellter Bach, der in der Herbstflut einherrauschte, durchschnitt. Der Mann nannte den Bach »Ån«, und als er den Namen aussprach, klang seine Stimme fast ein bißchen wärmer, wie in Bewunderung. Die Fahrt ging jetzt durch Waldstrecken, wo noch die Blätter an den Bäumen saßen, obgleich es schon fast November war. Der Mann erklärte, die Bäume seien Buchen; und während er sprach, beobachtete er Thora von der Seite, als erwarte er, sie solle ihn ansehen und fröhlich aufstrahlen. Aber Thora saß ganz still und hörte nur das Klopfen ihres eigenen Herzens. Buchen? Was waren Buchen ihr, ihr, die unter Tannen und Birken aufgewachsen war! Das hatte sie nie gedacht, daß sie die dereinst missen sollte!

Der Regen strömte nicht mehr so heftig. Er fiel jetzt sacht und dicht wie ein leichter feiner Tauregen, der die Natur überschattete. Thora sah wohl, daß das eigentlich schön war, und wunderte sich, daß sie so gar nichts dabei empfand.

Es dämmerte schon, als der Wagen durch das Gattertor in einen Hof einbog, ein unendlich langes, niederes Haus mit riesenhohem Dach, ein Stück weit von der Landstraße gelegen. Aus den Fenstern blinkte Licht, und Thora unterschied in der Dämmerung etwas Riesengroßes, Langes, Dunkles, einen Wald oder einen Berg oder alles beides, was sich hoch über dem Gebäude erhob. Er füllte das Tal hinter dem Hof, reckte sich zu beiden Seiten, so weit das Auge sah, verdunkelte die ganze Gegend, fand Thora; und mit großen Augen darauf hinstarrend, fragte sie: »Was ist das?«

Als Antwort hörte sie etwas wie »Söderåsen« oder so ähnlich. Und wie schön es da wäre, wenn die Sonne schien und der Frühling kam. Und wieder redete ihr Mann von Buchen, und in seine Stimme kam wieder der unterdrückte Klang, als warte er auf Teilnahme und Mitfreude.

Aber Thora verstand ihn nicht. Sie ließ sich nur ins Haus führen. Sie ging von einem Zimmer ins andre, begriff nichts von allem, wußte nur eins: hier sollte sie leben – hier war sie daheim!

Vor den Fenstern waren Läden befestigt mit halbmondförmigen Ausschnitten, durch die vorhin der Lichtschein auf den Hof gefallen war. Thora war froh, daß sie endlich zur Ruhe kam, und daß die Fenster so gut verrammelt waren. Auf dem Tisch stand ein reichliches Abendessen. Aber sie hatte keinen Appetit, sondern saß bloß verwundert und müde da; und obgleich sie vorher längst hungrig gewesen war, konnte sie jetzt doch nichts essen. Sie sah noch immer den langen niedern Bergrücken vor sich. Und es kam ihr vor, als löse er sich in Nebel auf, dränge sich durch die kleinen Löcher in den Fensterläden, fülle das ganze Zimmer und ersticke sie.

»An was denkst du?« fragte ihr Mann. Seine Stimme klang scharf.

»An nichts!« antwortete Thora ängstlich.

Wie etwas, an das sie sich noch nicht recht gewöhnen konnte, kam es ihr vor, daß sie vor wenigen Tagen vor dem Altar gestanden, daß der Mann, der da zu ihr sprach, ihr Gatte war, und daß sie jetzt als junge Frau zum erstenmal im eigenen Heim saß.

Sie blickte zu ihrem Mann auf und versuchte zu lächeln. Sie merkte, daß der Blick, mit dem Bruce dem ihren begegnete, scharf und forschend war.

»Glaubst du, du wirst dich hier bei mir wohlfühlen können?« fragte er mit gedämpfter Stimme.

Und ängstlich und hastig bejahte Thora. Ohne daß sie sich selber über die Ursache klar geworden wäre, empfand sie Mitleid mit sich selber und mit dem Mann. Sie wünschte, sie hätte irgendeinen Menschen gehabt, zu dem sie hätte gehen können und sich ausweinen. Aber da war niemand, und die alte Heimat war fern.

 

Thora hatte freilich keine Ahnung, was sie erwartete, als sie dem Disponenten auf Akerup ihr Jawort gab. Eigentlich gab sie es ihm auch gar nicht. Ihre Eltern gaben es für sie, wie es zu jener Zeit Sitte war; und als sie es taten, geschah es ohne Zweifel in dem Gedanken, daß sie nur zum Besten ihrer Tochter handelten.

Thoras Elternhaus lag im mittleren Schweden. Der kleine Hof hieß Moheda, und ein Stück des schönen Wettersees breitete sich vor seinen Fenstern aus. Thora war die jüngste von vielen Geschwistern. Solange sie zurückdenken konnte, hatten die Gespräche der Eltern sich darum gedreht, wie man am besten auskommen könne, wie teuer alles geworden sei und wieviel die Kinder brauchten. Schon als ganz kleines Mädchen hatte sie das ständig mitangehört, und ohne so recht zu verstehen, was es eigentlich bedeutete, hatte sie doch immer eine Art Mitleid gehabt mit den Eltern, die um der Kinder willen so viel Sorge, Mühe und Arbeit hatten. Es kam ihr fast vor, als müsse sie eigentlich täglich und stündlich darauf bedacht sein, den Eltern dereinst alles zu vergelten, was sie um ihretwillen entbehren mußten, und in der Stille dankte sie mehr als einmal ihrem Gott, daß sie kein Mann war. Denn den Eltern auch nur soviel zu kosten, was selbst der wenigst kostspielige der Brüder ohne Gewissensbisse verbrauchte – das wußte Thora ganz sicher –, das hätte sie nie über sich gebracht.

Der Vater war ein alter pensionierter Rittmeister, der die neue Zeit, die der Liberalismus jener Tage in Schweden eingeführt hatte, verachtete. Stramm, wortkarg und arbeitsam, bewirtschaftete er sein Gut und trieb Vieh- und Getreidehandel; sein größtes Interesse aber waren die Pferde, auf die er sich seit der kurzen Zeit, die er bei den Husaren gedient hatte, von Grund aus verstand. Daß er seinen Abschied hatte nehmen müssen, weil die knappe Gage und Besoldung und die magern Einkünfte des kleinen Gutes nicht ausreichten zur Bestreitung der Ausgaben, die das Militärleben nun einmal mit sich brachte, war ihm noch in seinen alten Tagen ein Kummer, als er und seine Frau schon wieder einsam in ihrem Nest saßen und die schlimmsten Sorgen aus den Schul- und Universitätsjahren der Söhne glücklich überstanden waren. Aber die Liebe war eben mit im Spiel gewesen, die Liebe zu der kleinen blonden Pfarrerstochter, die eine ganze lange Verlobungszeit durch auf ihren Leutnant gewartet hatte, und die jetzt als seine Frau auf dem alten Moheda saß, die ihm sechs Kinder geboren hatte, von denen fünf am Leben waren, und die ihm treulich zur Seite stand in all den einförmig sich ablösenden Schicksalen, die ihnen beiden doch wechselnder und inhaltsreicher vorkamen als die irgendeines andern Menschen. Die kleine rundliche Dame war noch immer eine lebhafte, frische Frau, wie sie in ihrer Bänderhaube, mit ihrem klugen, wohlwollenden Lächeln ihren täglichen Rundgang durch Küche, Keller, Milchkammer und Vorratsstube machte. Ihrer klugen Fürsorge und ihrem guten ökonomischen Verstand war es zu verdanken, daß die kleinen Einkünfte des Haushalts unter all den Jahren ausreichten; und wenn der Rittmeister Fabian Krohk gerade seinen guten Tag hatte, erkannte er das auch gern an.

»Eine verdammt gute Sache,« pflegte er zu sagen, »wenn man eine Pfarrerstochter heiratet! Die Pfarrer, die verstehen sich auf ihren Profit. Und die gleiche gute Gewohnheit prägen sie auch ihren Kindern ein.«

Wie man hört, war der Rittmeister kein Freund der Pfarrer, und die Abneigung, die er stets gegen die Mitglieder des geistlichen Standes gehegt und sein Leben lang beibehalten hatte, war denn auch ein Stein des Anstoßes in der Krohkschen Ehe. Glücklicherweise jedoch war die Frau Rittmeister eine fügsame Natur und viel zu sehr daran gewöhnt, unter militärischem Kommando zu stehen, als daß sie nicht meist jedem Streit ausgewichen wäre. Daneben besaß sie auch ein gut Teil Humor, und wenn der Rittmeister gar zu arg gegen die Pfarrer loszog, so unterbrach ihn seine Frau meist nur in ihrer ruhigen Weise mit den Worten: »Tinnerholm, Tinnerholm, stille dein blutiges Schwert!« Diese Worte schlossen dem tapfern Rittmeister stets unfehlbar den Mund. Er fühlte sich besiegt, verschwand eiligst, seine Frau als Triumphator auf dem Schlachtfeld zurücklassend, und schloß sich in sein Zimmer ein, wo er sich beim Genuß einer Pfeife holländischen Knasters auch regelmäßig beruhigte.

Die Abneigung des Rittmeisters gegen die Pfarrer bedeutete übrigens keineswegs irgendwelchen Widerwillen gegen Religion oder Kirche. Fabian Krohk war ein Lutheraner von echtem Schrot und Korn. Er hatte in der Kirche seinen ganz bestimmten Platz, der Kanzel schräg gegenüber, und auf seinem Tisch lag eine Ausgabe der Bibel Karls XII. Eine spätere Übersetzung ließ er nicht gelten. Seine Religiosität hatte eine Art militärischen Zuschnitts und hing mit seinem Sinn für Zucht und Disziplin und einer gefestigten Weltordnung zusammen. Wenn er ab und zu eine Andachtsstunde abhielt, so durfte niemand dabei sein, nicht einmal seine liebe und erprobte Hausehre Dorothea oder Dortha, wie er sie der Kürze halber gewöhnlich nannte. Ihr überließ der Rittmeister sozusagen die Gefühlsseite der Religion, zu der er auch die Erziehung der Kinder im wahren Glauben und rechten Katechismus rechnete. Frau Dortha war ebenfalls eine wahrhaft gläubige Christin, nicht ohne einen leichten Zusatz von Pietismus. Sie las jeden Morgen und Abend ihren Arndt, und in ihrer Bibel lagen gepreßte Blumen und Blätter, die sie dort zur Erinnerung an Tage aufbewahrte, aus denen über ihr ganzes einförmiges Leben ein Glanz gefallen war. Erinnerungen an ihre Konfirmation und an ihre Liebe. Außer den Blumen barg die alte Bibel noch gedruckte Karten mit Gesangbuchversen und Sprüchen, alles auch Andenken an allerhand Tage, deren Gedächtnis die treue Seele bewahrte. In der Bibel hatte sie gleichsam ihr ganzes Leben niedergelegt, das geistliche Teil und das irdische; und wenn sie sie täglich aufschlug und ihr Kapitel darin las, so bedeutete das nicht bloß, daß sie sich den Trost der Schrift für die Last des kommenden Tages holen, sondern auch, daß sie sich damit den innern Zusammenhang erhalten wollte zwischen dem kleinen Pfarrerstöchterlein, das das kostbare Buch am Konfirmationstage bekommen hatte, und der geschäftigen Rittmeistersfrau, die in ihren kleinen Verhältnissen alt geworden war und noch immer den aufreibenden Kampf zwischen Ausgaben und Einkünften kämpfte – froh über jeden Tag, der verging, ohne daß das Brot allzu knapp oder die Ausgaben allzu überraschend groß gewesen wären.

Frau Dortha war also das Gewissen der Familie, ihr Ratgeber in allen Fragen des Rechts oder Unrechts und ihre Autorität in allem, was Gottes Wille hieß. Der Rittmeister glaubte steif und fest daran, daß seine Frau besser Bescheid wisse mit den heiligen Dingen als andre Menschen, und jeder Versuch von seiten der Kinder, ihre Autorität in solchen Fragen etwas einzuschränken, wurde vom Vater mit Strenge und einer gewissen abergläubischen Ängstlichkeit zurückgewiesen. Frau Dorthas Andachtsstunden waren ihm ebenso heilig wie ihr unermüdlicher Fleiß, und im stillen erkannte er dankbar an, daß beides zusammen ihm dazu verholfen hatte, daß er Moheda ohne allzu schwere Hypotheken halten und dennoch den Kindern eine Erziehung geben konnte, deren er sich auch als Edelmann nicht zu schämen hatte.

Frau Dortha besaß auch eine fast unbestrittene Macht über ihre Kinder, und soweit Thora zurückdenken konnte, war sie gewöhnt, zur Mutter aufzusehen und sich ihrer Leitung zu überlassen. Zur Mutter ging man mit all seinen Freuden und all seinem Kummer, besonders mit dem Kummer. Mutter hatte für alle Zeit, Mutter wußte für alles Rat. Nichts gab es, mochte es noch so schwer erscheinen, das nicht möglich und, wenn auch nicht leicht, so doch immerhin besser wurde, wenn Mutter darum wußte. Und doch war Mutter immer geschäftig. Sie war morgens die erste und abends die letzte. Thora konnte sich überhaupt nicht entsinnen, die Mutter je müßig gesehen zu haben. Krank war sie nie, oder wenigstens sprach sie nie darüber. Fast alles, was überhaupt daheim war, entstand unter ihren fleißigen Händen; und wenn Vater ungeduldig war oder traurig, so hatte sie ihn immer bald wieder bei froher und zufriedener Laune. So kannte Thora ihre Mutter, so sah sie sie beständig vor sich.

Überhaupt war für sie das Vaterhaus der einzige Ort, den sie sich zu denken vermochte, wo sie leben und sich glücklich fühlen konnte. Weil sie die Jüngste war, war man weniger streng gegen sie gewesen als gegen die älteren Geschwister, und es war unter den Brüdern ein stehender Scherz, Thora sei von allen die einzige, die die Eltern verwöhnt hätten. Es war, als hätte sich deren Strenge bei der Erziehung der älteren Kinder erschöpft, so daß sie weder Sinn noch Lust mehr hatten für diese Methode, als die Reihe an ihre jüngste Tochter kam. Im übrigen mißgönnte Thora das niemand. Sie war so unbestritten der Sonnenschein in diesem ernsten Haus; keins der andern hatte so laut geschrien, so oft gelächelt. Sie war in allen Ecken und Winkeln des Hofes und der ganzen Umgegend daheim. Wohin sie kam, erhellten sich bei ihrem Anblick die Gesichter. Auch in der Natur war sie zu Hause. Der Wettern ist ein seltsamer See. Er ist weit, so weit, daß man an seinen Ufern an das Meer denkt, und zugleich tief und kristallklar wie ein Märchen-Riesenquell. Leichtbewegt und ernst, fast noch mehr als das Meer, ist der Wettern. Still wie ein Auge liegt er im Sonnenglanz, und ehe man bis drei zählt, ist er aufgewühlt im tiefsten Grund, und die Wellen gehen wolkenhoch. Vorwärts stürmt er in Riesenwogen, und plötzlich liegt er wieder still, durchsichtig und klar. So ist der Wettern. Kein See im Norden kommt ihm gleich. Nur mit den Alpenseen der Schweiz hat er Ähnlichkeit. Die Sage berichtet darum auch, daß vom Wettern zu jenen wunderbaren Bergseen im Süden ein unterirdischer Kanal gehe, der sie verbinde. Davon wußte nun zwar Thora nichts; aber wenn sie am Ufer des Wettern ging, dachte sie oft, zwischen ihnen beiden, dem Wettern und ihr, sei ein Zusammenhang. Wie der klare See war auch ihr Sinn leichtbeweglich und wechselvoll. Allerdings fand Thora diesen Gedanken selbst so vermessen und auch wieder so wunderbar, daß sie ihn für sich behielt und ihn keinem Menschen anvertraute, nicht einmal der Mutter, der sie sonst alles sagte. An dem Ufer, an dem Moheda lag, ging der Wald bis hinunter zum Strand, und das Waldesdunkel spiegelte sich in der klaren, grünschimmernden Seefläche. Und hier fand Thora die meisten der Erinnerungen, die sie durchs Leben geleiteten. Zahllos waren die Gedankenspiele, die diese enge Nachbarschaft von Wald und See mit ihrem Dunkel und Licht in ihren Mädchenträumen ins Leben rief.

Aber bei all den Träumereien, denen sich Thora, wenn sie so einsam durch Wald und Feld wanderte, wie andre junge Mädchen gern hingab, war sie eine zärtliche, kluge und hingebende Seele; und das Beste, was es für sie im Leben gab, war und blieb die Mutter, die so fleißig und gütig im Haus waltete und über der Sorge für andre sich selber vergaß. Frühzeitig lernte sie die Armut mit ihrem Kampf verstehen. Sie sah mit eignen Augen, wie der Wohlstand im Elternhaus gleichsam zunahm, wie es den Eltern so nach und nach leichter ums Herz wurde. Gespräche, die sie mit anhörte, taten auch das ihrige dazu; rasche Worte, kurze Unterredungen, die zwischen den Eltern gewechselt wurden, blieben in ihrer Erinnerung haften. Und wenn sie dann in der Einsamkeit darüber nachdachte, verstand sie auch – unreif und kindlich, aber doch klar und ruhig, wie sie alles, was in ihrem Bereich lag, beurteilte – die Kümmernisse der Eltern und die Art und Weise, sie ihnen zu erleichtern. Sie begriff, daß das Leben der Eltern leichter wurde, je mehr die Kinder heranwuchsen und sich selber versorgen konnten. Eins ums andre zog davon, hinaus in die Welt. Die Brüder kamen in Stellungen, die große Schwester verheiratete sich. Und mit jedem von ihnen, das so von daheim wegkam, fiel etwas von der Last fort, die auf den Eltern lag. Thora machte sich das auf ihre eigne Weise klar: der Mensch hat im Leben zwei kurze Perioden des Glücks. Zuerst die Zeit der Liebe, in der er sein Nest baut, dann die Tage des Alters, in denen das Nest leer wird und die, die es dereinst gebaut, auf Tage der Arbeit und Mühe zurückschauen und ausruhen dürfen. Zu dieser Weltanschauung gelangte Thora schon frühzeitig; und da sie wohl begriff, daß der Reichtum in gewissem Maße diese Verhältnisse zu ändern vermag, so lernte sie auch frühzeitig den Wert des Geldes schätzen. Es kam ihr ganz natürlich und einfach vor, daß man damit viel Gutes tun und andern große Freude machen konnte.

Während sie so noch als einzige im Vaterhaus war, kam eine neue Sache, die ihr viel Kopfzerbrechen machte. Sie glaubte nämlich herauszufühlen, daß die Eltern wünschten, sie möge sich bald verheiraten. Wenn sie einmal wegstürben, würde Thora allein und ohne Stütze zurückbleiben. Sie waren beide alt, und der alte Hof war nicht viel wert, wenn es sich einmal darum handelte, ihn unter fünf Geschwister zu teilen.

Es war eine schwere Stunde für Thora, als ihr das zum erstenmal klar wurde, um so schwerer, als in all ihren Gedanken stets die Liebe den ersten Platz eingenommen hatte. Nichts erschien ihr so ganz unmöglich, als daß sie, Thora, dereinst ohne Liebe heiraten könnte. Aber eben der Gedanke an eine derartige Möglichkeit war es, der sie beunruhigte. Denn Thora sah anderseits sehr wohl ein, daß, wenn die Eltern ihre Verheiratung wünschten und ihr einen Mann vorschlügen, sie es niemals wagen und übers Herz bringen würde, sie durch ein Nein zu betrüben. Ohne Bitterkeit, als an etwas ganz Natürliches dachte sie hieran fast wie an ein Schicksal, das sie erwartete. Sie sah die Liebe wie einen Traum und die Heirat wie eine Wirklichkeit, die dereinst den Eltern ein ruhiges Alter schenken sollte.

Aber alles kam ihr doch noch fern und unwirklich vor. Sie wußte ja, es würde kommen. Aber daß es bald kommen würde, das dachte sie nie. Wie junge, gesunde Menschen ja wohl wissen, daß sie einmal sterben müssen, ohne sich dadurch hindern zu lassen, in Freuden zu leben, so wußte auch Thora, daß sie sich einmal verheiraten mußte, aber sie dachte gar nicht daran, daß es schon übers Jahr sein könnte, wie es im Liede heißt, oder wie der Vater scherzte, wenn sie am Silvesterabend die Bohne in der Grütze erwischte. Heiraten – das lag noch in weiter, weiter Ferne, dachte Thora; die Jugend würde noch lange dauern.

Eine Liebesgeschichte hatte Thora nie erlebt, auch nicht die kindlichste und unschuldigste. Auf den väterlichen Hof kamen keine jungen Leute, höchstens einmal einer oder der andre von den Kameraden der Brüder. Und solche Besuche waren nur selten und dauerten niemals lange. Plötzlich, wie sie gekommen waren, verschwanden sie auch wieder und hinterließen nur eine Erinnerung an Tage, die ein bißchen rascher vergangen und lustiger gewesen waren als die andern. Es waren eben Fremde, die da gekommen und gegangen waren; und die meisten von ihnen hatten Thora überhaupt kaum beachtet.

Einer aber hatte sie doch beachtet. Er hieß Konrad Olthov und war der Sohn des Barons auf Granås, einem alten Herrensitz, der etwa drei Meilen südwärts auf einem von dunklem Wald umrandeten Hügel über dem Wettern lag. Das einzige Mal, daß Thora den Vater hatte nach Jönköping begleiten dürfen, um zu sehen, wie eine Stadt aussieht, hatte der Rittmeister mit der Peitsche seitwärts gedeutet und gesagt: »Dort liegt Granås.« Thora sah ein gewaltiges Gebäude durch eine lange Allee von Pappeln herüberschimmern und bewahrte das Bild in der Erinnerung als eins der prächtigsten und imposantesten, das sie je gesehen hatte. Wenn sie später etwas von Schlössern las, so stellte sie sich ein solches immer wie den alten Herrensitz auf dem Hügel über dem Wettern vor.

Thora selbst wurde auf Konrad Olthov aufmerksam, weil er öfter auf Besuch kam als die übrigen Kameraden der Brüder. Er war mit Thoras jüngstem Bruder befreundet und war ihr im Alter am nächsten, bloß ein paar Jahre älter als sie; und da auch seine Heimat, wie die ihre, am Wettern lag, kam er ihr gleich beim erstenmal wie ein Bekannter vor. Die beiden verkehrten frei, wie Geschwister, miteinander. Thora freute sich, wenn sie dem jungen Mann Freundlichkeit erweisen konnte; denn aus allem, was sie über sein Vaterhaus hatte erzählen hören, merkte sie, daß er sich dort wenig oder gar nicht wohl fühlte. Sie freute sich, wenn sie miteinander durch Wald und Feld streiften, freute sich, daß es Konrad in ihrer Nähe wohl war, freute sich jedesmal, wenn er erwartet wurde, und vermißte ihn, wenn er fort war. Mit niemand fühlte sie sich so ruhig und frei wie mit ihm. Mit niemand konnte sie so leicht reden wie mit diesem jungen Mann, der auf dem alten Hof ab und zu ging, als wäre er daheim.

Aber niemals, bei aller Vertraulichkeit dieser Jugendfreundschaft, kam Thora auch nur im entferntesten der Gedanke an etwas, was sie in ihren Träumen Liebe nannte. Konrad Olthov war auch im letzten Jahr gar nicht mehr auf Moheda gewesen. Es hieß, sein Vater, der alte Baron, sei mit den Jahren ein bißchen »wunderlich« geworden und sähe es nicht gern, wenn der Sohn fortgehe.

So vorbereitet sah Thora im Haus ihrer Eltern ihren künftigen Gatten zum erstenmal. Sie war damals kaum neunzehn Jahre, er über vierzig.

 

Der Disponent Bruce kam eines Abends auf dem alten Hof angefahren, weil eines seiner Pferde sich am Fuß beschädigt hatte und frisch beschlagen werden mußte. Er machte oft Geschäftsreisen in der Gegend; und nachdem er Moheda einmal besucht hatte, kam er öfters wieder. Schließlich merkten alle, sogar das junge Mädchen selber, weshalb er eigentlich kam. Ganz besonders ging Thora das Verständnis hierfür an einem Wintertag im Februar auf. Draußen lag tiefer Schnee, und die kleinen, viereckigen Fensterscheiben in den niedern Zimmern von Moheda deckte dichter Reif. Thora ging eben im Eßzimmer an der Mutter vorüber; da nahm Frau Dortha den Kopf der Tochter in beide Hände und küßte sie, ohne ein Wort zu sagen, auf die Wangen. Darauf ging sie wieder ihren gewohnten Geschäften nach; aber Thora sah noch, wie ein flüchtiges Lächeln das Gesicht der Mutter erhellte, während ihr gleichzeitig die Tränen in die Augen traten, als sei irgend etwas Ernsthaftes und Trauriges geschehen.

Nun war diese kleine Szene von seiten Frau Dorthas etwas sehr Ungewohntes, und Thora konnte es sich nicht verheimlichen, was sie zu bedeuten habe. Das junge Mädchen wurde von diesem Tag an merkwürdig ernst. Was sie zu tun hatte, das wußte sie. Aber doch hatte sie das Empfinden, als sei eine Hoffnung, die sie immer heimlich im Herzen getragen hatte, verwelkt und gestorben. Es tat ihr weh, sehr weh; aber reden darüber konnte sie mit niemand. Der Weg zur Mutter war ihr diesmal verschlossen, und Thora erlebte zum erstenmal, wie bitter es sein kann, sich erwachsen zu fühlen.

Die Tage wurden länger. Im März kam Tauwetter, und der Schnee schmolz. Im April lag der Wald offen, reingewaschen; aber Thora ging jetzt nicht mehr so gern spazieren wie einst. Sie fühlte sich auch nicht mehr dem wechsellaunischen weiten Quellsee verwandt, über den die Frühlingsstürme bliesen. Mittsommer kam mit seinen langen, hellen Nächten. Purpurwolken schimmerten auf dem Grund der weichen Wasser, die Birken spiegelten ihr lichtes Grün darin, der Kuckuck rief. Und Thora verfolgte den Wechsel der Jahreszeiten, der einst ihre große stille Freude gewesen war, mit einer Art frühreifer Wehmut, die die Sorgen des Lebens im voraus auf sich nimmt und sich auf sie bereitet. In aller Stille nahm sie Abschied von ihrer Heimat, und lange, ehe die Abschiedsstunde schlug, war sie darüber hinaus und mit ihrer Seele in der Zukunft. Und die ganze Zeit über fühlte sie, wie etwas Neues, Fremdes ihr immer näher und näher rückte.

Schließlich kam alles ganz natürlich. Als Bruce gleich nach Mittsommer wiederkam, um ernstlich als Freier aufzutreten, war Thora bereit und begegnete ihm mit einem etwas schwermütigen, aber keineswegs ängstlichen Lächeln. Bruce übte zudem eine ganz eigentümliche Anziehungskraft auf das junge Mädchen aus. Sein Körper war ein bißchen unbeholfen und schwer, wie es der Bewohner des Flachlandes leicht wird, wenn das Alter naht, und über seiner Stirn begann sich das Haar zu lichten. Aber seine Züge waren gut geschnitten, und in seinem ganzen Wesen lag ein Etwas von zuverlässiger, gutmütiger Kraft, das Zutrauen erweckte. Daß er gewöhnt war, zu befehlen, sah man an der kräftigen Unterlippe, die sich unter dem gelben Schnurrbart vorschob; und der ruhige Blick der kleinen grauen Augen konnte manchmal ganz plötzlich zu einem kalten starken Funkeln werden. Thora konnte Bruce nie ansehen, ohne das Gefühl zu haben, daß er ihr gleichsam befahl, sie zwang. Er befahl, wenn er kam und in seiner ruhigen, etwas herablassenden Art ein Gespräch mit ihr anfing, befahl, als er sie bat, seine Frau zu werden, befahl, wenn er ohne weiteres sich auf den Platz an ihrer Seite setzte, den er als den seinigen anzusehen schien, einfach, weil er es so wollte. Nie wurde Thora Bruce gegenüber dieses Gefühl ganz los. Gleich das erstemal, als sie ihn sah, empfand sie das, und als sie anfing zu merken, daß die Besuche des reichen Gutsherrn ihr galten, lähmte das Gefühl dieser Willenskraft sie ganz und gar, erfüllte sie mit einem Schreck, fast als wolle er sie mit Gewalt erringen. Zugleich aber fühlte sie sich doch von dieser ruhigen männlichen Kraft, die da einfach begehrte und nahm, angezogen. Es lag eine gewisse Sicherheit darin, eine Sicherheit, deren ihr Wesen bedurfte; und ganz ohne Liebe gab Thora Bruce ihr Jawort nicht.

Darum lebte das junge Mädchen auch während der kurzen Zeit, die bis zur Hochzeit noch verging, in einem seltsamen Gemisch von Glück und Bangen. Wenn sie an Bruce dachte, so beunruhigte eigentlich nur eins sie. Sie hätte so gern gehabt, daß er ein bißchen zärtlicher zu ihr gewesen wäre. Nur ein bißchen. Und dann hätte sie gewünscht, er hätte nicht gar so weit fort gewohnt. Sie hatte sich nach einem Gatten gesehnt, der ihr seine Zärtlichkeit durch Liebkosungen bewies. Und sie fragte sich oft, ob Bruce wohl immer so bleiben würde ihr gegenüber wie jetzt – ruhig, freundlich, lächelnd, wenn er gut war, bestimmt und ein bißchen kurz, wenn er auf Widerspruch zu stoßen glaubte. Dem jungen Mädchen wurde das Herz schwer, wenn sie daran dachte, wie weit fort sie reisen würde – bis weit hinunter nach Skåne – mit diesem fremden Mann. Sie hatte gar nicht das Gefühl, als warte ihrer dort eine Heimat – nur, als verlasse sie die, die sie jetzt hatte – –

Im übrigen ließ man ihr nicht viel Zeit zum Nachdenken. Den Sommer und Herbst über rüstete man auf Moheda zur Hochzeit. Thora saß hinter ihren Säumen und hatte nicht die Zeit, mehr vom Sommer zu sehen, als was von der Veranda oder dem Eßzimmerfenster aus, an dem der Nähtisch stand, zu sehen war. Sie und die Mutter hatten viele lange Unterredungen miteinander in dieser Zeit, und Frau Dortha erteilte ihrer Tochter manch guten Rat über die Pflichten einer Ehefrau, ließ es auch an Winken über all das Neue und Unbekannte, dem sie entgegenging, nicht fehlen. Am schlimmsten war es, wenn die Mutter davon sprach, wie weit fort die Tochter ziehen würde, und daß die Eltern krank werden und sterben könnten, ohne daß eine Nachricht ihre Jüngste noch rechtzeitig erreichte. Aber auch dies sagte Frau Dortha in ihrer stillen, geduldigen Weise, die alles im Leben einfach und leicht machte. Über das Leben jammern – darauf verstand sich Frau Dortha nicht. Dazu hatte sie zu viel gearbeitet und zu fleißig gebetet. Sie schickte ja auch ihre Tochter nicht ins Ungewisse hinaus. Thora bekam einen tüchtigen Mann. Der Rittmeister hatte sich wohl erkundigt, ehe er sein liebstes Kind hergegeben hatte.

So kam der Herbst und mit ihm der Tag der Hochzeit. Alle Geschwister waren versammelt, verheiratete und unverheiratete – der Rittmeister richtete seiner Tochter eine stattliche Hochzeit aus. Und die Mutter steckte ihr selbst noch ihre letzte Hochzeitsgabe an die Brust – die alte Korallenbrosche mit der goldenen Schlange, die sich mit ihren schwarzen, ziselierten Augen darum wand. Das Geschenk rührte Thora so, daß sie noch daran dachte, als sie schon vor dem Altar in der alten hölzernen Kirche stand; und sie machte sich Vorwürfe, daß in dieser heiligen Stunde nicht alle ihre Gedanken bei Gott und dem Gatten waren, dem sie Treue und Gehorsam gelobte.

Ein paar Tage später waren der Rittmeister und Frau Dortha allein. Am ersten Abend sagte der Rittmeister: »Gott gebe, daß das Mädchen glücklich wird und es ihr gut geht!«

Frau Dortha antwortete: »Das Glück steht in Gottes Hand.«

»Ja,« sagte ihr Mann. »Aber es ist immerhin gut, zu wissen, daß man getan hat, was man konnte.« Und eine Weile später fügte er hinzu: »Es ist bloß so sonderbar, wenn man daran denkt, daß sie unsre Letzte war –«

Frau Dortha blickte zu ihrem Mann auf und erwiderte: »Einmal hätte sie uns ja doch verlassen müssen. Es ist gut, daß wir jetzt ruhig sein können ihrethalben.«

Der Rittmeister stand auf und ging mit steifen, kurzen Altmännerschritten durchs Zimmer. Darauf setzte er sich wieder, fast selber verlegen über seine Rührung. »Ja,« gab er zu, »es ist gut, daran zu denken; besonders wenn man weiß, daß man bald einpacken muß. Dann ist sie wenigstens nicht allein. Und das ist das Wichtigste. Aber leer ist es doch.«

Und damit war Thoras Kindheit und Jugend zu Ende, und sie selbst war schon meilenweit fern vom Elternhaus.

 

Johan Bruce war eine zähe und kräftige Natur. Er war immer schwer und langsam gewesen. Viele Jahre hatte seine alte Mutter im stillen darauf gehofft, der Sohn würde sich eine Frau nehmen wie andere Männer, damit sie ihn, ehe ihr der Tod die Augen schlösse, noch glücklich verheiratet sähe. Weil sie das hoffte, hatte die alte Frau auch nicht auf dem Hofe bleiben wollen, sondern war, sobald der Sohn erwachsen war, zu einer ihrer verheirateten Töchter gezogen, die an der Küste wohnte. Im Hause sollte keine Schwiegermutter sein; Johan sollte ohne Rücksicht auf seine Mutter heiraten können; so wollte es die Alte. Und einfach und stillschweigend, wie sie stets gewöhnt war zu handeln, setzte sie auch hier ihren Willen durch. Sie hatte dabei noch einen heimlichen Nebengedanken: das Bedürfnis nach einer weiblichen Hilfe im Hause sollte die Heirat des Sohnes, die sie so sehr wünschte, beschleunigen.

Die alte Frau Bruce war eine von den Frauen, die es verstehen, in aller Stille zu handeln und ihren Willen ohne Worte geltend zu machen. Trotzdem wurde sie lange Jahre um das, was sie so innig erhoffte, betrogen. Der Grund war wohl ganz einfach der, daß der Sohn in seiner Verschlossenheit eine gewisse Scheu vor den Frauen hegte; und wenn er auch wirklich einmal eine leise Neigung für die eine oder andre empfand, so überlegte er so lange, daß das Mädchen des Wartens müde wurde und längst verlobt und verheiratet war, ehe Johan Bruce sich überhaupt entschlossen hatte, als Freier aufzutreten.

Johan Bruce kann sich nicht entschließen, hieß es in der ganzen Gegend. Und als sich schließlich das Gerücht verbreitete, er bringe sich aus weiter Ferne eine Frau mit, so fragte man sich ganz allgemein, wie dies Wunder hatte geschehen können. Die Klugen fanden denn auch eine Erklärung: Der Disponent war eben einem unternehmenden Mädchen oder einer unternehmenden Schwiegermutter in die Hände gefallen. Daß er selber nicht den ersten Schritt getan haben konnte, das wußten ja alle.

Johan Bruce ging mittlerweile ruhig und gelassen wie immer seines Weges. Was die Menschen über ihn zu sagen wußten, das kümmerte ihn nicht. Er war ein guter Landwirt und dabei ein guter Rechner und das adlige Blut in ihm war durch zwei Generationen mit gesundem, bürgerlichem untermischt. Die Familie Bruce gehörte nicht zu dem Teil des angesessenen Adels, der über seine Einkünfte hinaus ein großes Haus machte. Im Gegenteil, der Hof und das ganze Leben dort hatten eher eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, was wir heutzutage auf besseren Bauernhöfen zu sehen gewöhnt sind. Johan Bruce selbst hatte trotz seiner adligen Geburt in seiner ganzen Persönlichkeit etwas, das ziemlich stark an den Bauern erinnerte. Er selber nannte sich auch mit Vorliebe einen Bauern, und es war bezeichnend für seine Art und sein ganzes Wesen, daß er vor allen Dingen ganz genau ausrechnete, wie hoch sich ein Haushalt stellen würde, wenn eine Frau auf den Hof kam, und gewissermaßen im voraus seine Vorsichtsmaßregeln traf, um etwaigen Neuerungen, die die junge Frau einführen könnte und die auf die alte Hausordnung störend einwirken müßten, vorzubeugen.

Johan Bruce trug den Titel Disponent keineswegs nur zum Spaß. Wie es in alten Zeiten der Brauch war, war das Gut nach dem Tode des Vaters nicht im eigentlichen Sinne geteilt worden. Johan Bruce als einziger Sohn saß allerdings mit vollem, unbestrittenem Recht auf dem Hof, aber die Schwestern erhielten von ihm jährlich je eine Summe, die ihnen der Vater in seinem Testament ausgesetzt, freilich absichtlich möglichst niedrig bemessen hatte, damit der eigentliche Besitzer auch in weniger guten Jahren nicht in Verlegenheit zu kommen brauchte. Daß er diese Summen noch stets auf Tag und Stunde pünktlich ausbezahlt hatte, das war Bruces Stolz und war für ihn etwas ebenso Selbstverständliches, wie daß er überhaupt jedem, mit dem er zu tun hatte, Gerechtigkeit widerfahren ließ; und an dieser Gewohnheit sollte seine Heirat nichts ändern, so wenig wie an irgendeiner andern.

Dies und so manches andre noch begriff denn auch Thora schon am ersten Tage, an dem sie die Sonne über dem dunklen Berggrat, der sich längs des Tales unter den Fenstern des Hofes erstreckte, aufgehen sah. Genau genommen, sah sie sie freilich nicht – weder an diesem ersten Tag, noch an den folgenden. Nur das Tageslicht sah sie, nicht aber die Sonne. Ein schwerer, dichter Novembernebel lag über dem ganzen Land, und dahinter erschienen Bergrücken, Bäume, die wenigen Gebäude, die jenseits des Gatters lagen, alles überhaupt, was die Einförmigkeit der Landschaft unterbrach, nur wie dunkle schwere Schattenrisse durch einen weichen Schleier feuchten Graus. Thora hätte sich am liebsten irgendwo eingeschlossen und geweint, so bedrückt fühlte sie sich von all dem Neuen, das ihr in dieser Umgebung so düster vorkam. Aber das durfte sie nicht, und sie wußte wohl: gab sie einem derartigen Wunsch nach, so war sie verloren. Und das wollte sie nicht. Jung wollte sie sein, jung und glücklich. Tapfer begleitete sie darum ihren Mann überall hin und nahm seine Weisungen entgegen, und ruhig, klar und freundlich erklärte Bruce seiner Frau alles – wie das Hauswesen vorher geführt worden sei und wie er wünsche, daß es in Zukunft geführt werden solle.

Was aber Thora nicht erfuhr, das war, daß dieser Mann, der da neben ihr herging und nur von praktischen Dingen und Haushaltungsangelegenheiten sprach, in seinem Herzen ganz ebenso stark wie Thora selbst sich nach Zärtlichkeit sehnte, wenn auch seine Sehnsucht von andrer Art war und anders zum Ausdruck kam. Von klein auf hatte er es entbehrt, daß ihn nie jemand geliebkost hatte. Das war in dem steifen, sparsamen und korrekten Vaterhaus nicht der Brauch gewesen. Als er dann Mann war, wurde Johan Bruce auch gleich der Herr, vor dem sich alle beugten, dem aber keiner sich zu nähern wagte. Als er sich endlich ein Weib nahm, war er ein gesetzter Mann, und eine Art Schamgefühl hinderte ihn daran, seinen Gefühlen den Ausdruck zu geben, der, wie er glaubte, wohl der Jugend anstand, nicht aber mehr ihm. Wenn er allein war mit seiner Frau, so fürchtete er, sie könne sich vielleicht abgestoßen fühlen oder ihn gar lächerlich finden, wenn er sich so zeigte, wie er eigentlich war. Und weil er nicht wagte, zärtlich zu sein, war er kurz und scharf; wortkarg, weil er allzu lange nur seiner eignen eingeschlossenen Gefühlswelt gelauscht hatte; ungeschickt, weil er sich selbst mißtraute.

Denn Johan Bruce liebte seine Frau, liebte sie mit der ganzen gesammelten Glut eines Mannes, der lange einsam gewesen ist. Seine Liebe hatte die ganze Unbeholfenheit des Landmenschen. Als er Thora zum erstenmal gesehen hatte, war er aufgeflammt wie ein Jüngling. Aber das verzehrende Feuer seines Gefühls machte ihn nur noch scheuer. Als er merkte, wie scheu auch Thora ihm gegenüber war, erklärte er sich das auf seine Weise und selbstverständlich nicht zu seinen Gunsten. Er sah, daß Thora Angst hatte vor ihm, wie ja fast alle Menschen, und schon ehe er Bräutigam war, hatte er darum auch resigniert – was den Menschen jener Tage überhaupt leichter fiel als uns. Er wollte Thora besitzen, sie zu seinem Weibe machen, sie sein Leben lang haben. Aber sich ihre Liebe zu erzwingen, so wie er dereinst geträumt hatte, daß ein Weib ihn müßte lieben können – die Hoffnung gab er auf. Um fortwährend in unbefriedigten Gefühlen zu leben, die ewig danach rangen, zu ihrem Recht zu kommen – dazu war er viel zu sehr Arbeitsmensch und verlangte zu viel von sich selbst.

Vielleicht hätte Thora doch all das so ungefähr verstehen können, wenn nicht eine sonderbare Furcht sie daran gehindert hätte. Die Furcht, die schon auf der Reise über sie gekommen war, schlug Wurzel, als sie zum erstenmal ihre neue Heimat erblickte. Und die Furcht war es, die sie zu ihrem ersten Tag im neuen Heim weckte.

Thora war allein, als sie an diesem Morgen erwachte. Müde von der Reise, hatte sie lange geschlafen. Ihr Mann hatte das Schlafzimmer schon verlassen. Thora konnte vom Hof her seine starke ruhige Stimme hören, wie sie nach den Feldern hinausrief. Verwirrt setzte sie sich im Bett auf und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Vor was fürchtete sie sich eigentlich? Was für eine Angst war das, die da wuchs und wuchs in ihr?

Sie glitt aus dem Bett und hinüber ans Fenster. Mit zitternder Hand riegelte sie die Läden auf, stieß sie zurück und sah hinaus. Nichts als Nebel – Nebel, der sich mehr und mehr verdichtete, der das ganze Tal füllte, der wie eine Mauer zwischen ihr stand und der Welt, zu der sie nie wieder erwachen würde. Durch den Nebel schimmerten – wie ein noch mehr verdichtetes Dunkel – die Umrisse des langgestreckten Bergrückens, den Bruce gepriesen hatte als das Schönste, was er je an Natur gesehen hatte oder sehen konnte.

Schaudernd wandte die junge Frau sich wieder ins Zimmer zurück und kleidete sich still an für den neuen Tag, der wie in Nacht begann. Sie fühlte sich enttäuscht, betrogen von der Heimat, in der sie, das wußte sie, bleiben mußte.

 

Am folgenden Sonntag brach langsam die Sonne durch die Wolkendecke, die sich über der Erde gelagert hatte. Die Nebel glitten auseinander, und unten im Tal hob sich, in Sonnenlicht gebadet, der Söderås. Am Vormittag kam Bruce und bat seine Frau, ihn zu begleiten. In seinen grauen Augen leuchtete ein Schimmer wie von erwartungsvoller Freude.

»Ich will dir den Berg zeigen,« sagte er.

Sie wanderten durch die Buchenwälder hinunter. Dann ging der Weg ganz gerade über die aufgeweichten Äcker. Bruce ging dicht neben seiner Frau, stumm, glücklich. Das war der Augenblick, nach dem er sich immer gesehnt hatte. Endlich durfte er ihr seinen Stolz, sein Glück, seinen Traum weisen – die Heimat. Und als sie so weiterschritten, begann er zu sprechen.

»Vater hat auch auf Akerup gelebt,« sagte er, »sein ganzes Leben lang. Mein Großvater war der Erste hier in der Gegend. Erst so lange ist unsre Familie schwedisch. Und doch bin ich ein so eingefleischter Skåne wie nur wenige. Großvater kam von Pommern, und es heißt, er habe seinen Besitz nicht mit ganz reinen Händen erworben. Sie erzählen noch von ihm, er sei ein Kraftmensch gewesen, den alles ringsum fürchtete. Und die Leute, die ihn noch gekannt haben, behaupten, ich sähe ihm gleich.«

Bruce schwieg einen Augenblick und streifte seine Frau mit einem raschen Seitenblick, als meine er mit seinen letzten Worten etwas Besonderes. Auch Thora beobachtete ihren Mann neugierig von der Seite; sie freute sich über seine Mitteilsamkeit und scheute doch ein bißchen vor der unausgesprochenen Frage zurück, die sie hinter seinen Worten ahnte. Bruce wollte wissen, ob auch sie ihn fürchte, und Thora wünschte von Herzen, sie hätte können nein sagen. Weil sie das nicht konnte, schwieg sie und lächelte – ein Lächeln, das den Mann zu der hastigen Frage veranlaßte: »Fürchtest du dich auch vor mir, Thora?«

»Ein bißchen vielleicht, ja,« erwiderte sie. »Aber nicht sehr.« Und eine plötzliche Röte stieg ihr in die Wangen.

Nach ein paar Schritten fuhr Bruce fort: »Mein Vater hat mich gelehrt, unsre Gegend hier zu lieben. Er war ein einsamer Mann, der meist in seinen Büchern lebte. Mutter besorgte den Haushalt und in vielem auch die Landwirtschaft. Sie hat viel durchgemacht mit Vater. Denn er war jahrelang vor seinem Tode schwermütig. Mutter hat mir nie sagen wollen, weshalb. Aber ich glaube, er hat unter dem schlechten Ruf seines Vaters, meines Großvaters, gelitten. Er glaubte, die Menschen sähen ihn und uns alle darum an. Die Liebe zu den Büchern konnte er mir nie beibringen. Ich hatte keinen Sinn dafür. Aber die Erde lehrte er mich lieben, und die lieb' ich auch, wie das bloß einer kann, der sie selber bebaut.«

Thora hatte das Gefühl, als würde ihr viel leichter ums Herz, bloß weil ihr Mann mit ihr von sich selber sprach. Sie faßte sogar Mut zu einer Frage, über die sie seither nur ganz in der Stille nachgedacht hatte. Zu ihrem Mann aufblickend, sagte sie: »Wie sind die Leute hier?«

»Wie meinst du das?« fragte Bruce.

»Ich meine, ob sie ehrlich sind und zuverlässig? Kann man sich auf sie verlassen?«

Bruces Gesicht umwölkte sich und die Unterlippe unter dem Schnurrbart schob sich vor. Der Gedanke, daß man über seine Leute eine derartige Frage stellen könne, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. »Man muß den Willen und die Fähigkeit haben, sie zu verstehen,« antwortete er. »Die Leute hier öffnen ihre Herzen Fremden gegenüber nur langsam.« Und als fürchte er, seine Antwort sei zu schroff, fügte er versöhnlich hinzu: »Du bist ihnen jetzt noch fremd. Aber du bist meine Frau, und darum wird für dich der Weg zu den Herzen der Leute viel leichter sein, als wenn du bloß auf Besuch hier wärst. Sie wissen ja, daß du keine Fremde sein willst.«

Thora fühlte aus diesen Worten wohl heraus, wieviel hier zu überwinden war, woran sie noch gar nicht gedacht hatte; und um mehr Klarheit über ihre Stellung zu gewinnen, fuhr sie fort: »Ich kann nichts dafür, Bruce. Aber ich bin ängstlich den Leuten gegenüber. Ich habe das Gefühl, daß sie mich auslachen oder mißachten und verspotten.« Sie blickte voll Eifer zu ihrem Mann auf und begriff nicht, warum sein Gesicht sich mehr und mehr umdüsterte.

»Mißtrauisch darf man nicht sein gegen die Skånen,« sagte er ernst. »Und auch nicht alles auf einmal verlangen. Es ist ein langsames Volk, aber ein zuverlässiges.« Und als Thora nichts erwiderte, fuhr er fort: »Willst du versuchen, mir darin zu glauben, Thora, und danach zu handeln?«

Ganz unwillkürlich redete Bruce jetzt in einem wohlwollenden, herablassenden Ton, so wie wenn man ein Kind zurechtweist. Thora kämpfte mit den Tränen, aber sie beherrschte sich. Ihr Instinkt sagte ihr, daß sie hier einen Punkt in der Natur des Mannes berührt hatte, dem sie sich nur vorsichtig nähern durfte. Thora dachte im stillen an ihre Mutter. Wenn sie zu ihr hätte gehen, von ihr sich helfen lassen können! Sie kam sich vor wie ein Kind. In ihrer Not begriff sie nur eins: sie mußte tapfer sein! Darum antwortete sie, so mutig sie konnte: »Ich werd's versuchen.«

Und Bruces Gesicht hellte sich bei diesen Worten auf, und seine Stimme klang sanfter, als er sagte: »Dann wird es schon gehen.«

Sie waren jetzt an der Brücke angelangt, die über den Bach führte. Er war vom Herbstregen angeschwollen und stürzte brausend über Schutt und Kiesel. Ganz hinten in der Kluft, aus der der Bach kam, öffnete sich jetzt ein Bild – so wild und schön, daß Thora zum erstenmal vor dieser ihr fremden Natur stehen bleiben mußte, um zu schauen und zu staunen. Sie stand vor der Schlucht von Skäralid. Von der Ferne hatte sie sie nur als eine dunkle Rinne im Bergrücken gesehen, die in geheimnisvoller Tiefe verschwand. Sie sah jetzt, daß auf dem Grund dieser Riesenschlucht ein breiter schäumender Bach floß. Zu beiden Seiten des Wassers stiegen senkrechte Felswände auf, ganz hinten in der Schlucht machte der Bach einen Bogen, und eine neue Felswand versperrte die Aussicht. Bruce erzählte ihr, man könne hier tief, tief hineingehen; ein schmaler Pfad führe zu beiden Seiten des Baches hin, da könne man gehen, immer weiter und weiter, und dem Rauschen des Wassers lauschen, während die Felswände zu beiden Seiten in phantastischen Formen aufstiegen, da und dort mit einer Erdschicht bedeckt, aus der sich gigantische Buchen hoben. Aber heute wollte er sie einen andern Weg führen.

Und während sie unter den Buchen auf dem dicken weichen Teppich der abgefallenen braunen Blätter hinwanderten, in dem ihre Füße bis über die Knöchel einsanken, erzählte Bruce weiter. Er sprach von der Naturrevolution, die einst in grauer Urzeit hier gewütet hatte. Er wies ihr die gewaltigen Steinbrüche, die die Abstürze der Schlucht deckten. Wie wenn ein Riesenpflug in Windungen quer durch den Grat gegangen wäre, so sah es aus. Er hatte keine Erde aufgeworfen, durch den nackten Fels war er gegangen, und die Schollen, die er aufgerissen hatte, waren gewaltige, übereinandergeworfene Steine und Felsblöcke, die dann und wann mit donnerndem Fall abstürzten und das Besteigen der Felsen lebensgefährlich machten. Eine Menge Sagen wurden von dieser Schlucht erzählt. Kobolde machten noch die Wälder unsicher. Die Waldfrau zeigte sich manchmal, erschien Holzhackern und Waldhütern, hauptsächlich aber den Wilddieben, deren es damals viele gab. Noch weiter im Berg lag der Odensee, ein tiefes Loch in der Schlucht, das von Wänden aus aufeinandergetürmten Steinblöcken umgeben war. Einst hatte da ein Bauer gewohnt, der so gottlos war, daß eines Tages der Hof mit Mann und Maus versank. Und davon entstand der Odensee. Daß es wahr war, konnte man schon daran sehen, daß man die Tiefe des Sees nicht zu messen vermochte. Einmal hatte man es versucht. Aber als die Leine sank, fühlten die, die sie hielten, daß jemand unten daran zog, und eine drohende Stimme gebot ihnen, abzulassen. Seitdem hat niemand mehr versucht, den dunklen See mit seinen schwer zugänglichen Ufern zu messen.

»Dort hinten liegt er,« sagte Bruce und deutete zwischen den Stämmen der Buchen durch.

Auch von Wichtelmännchen und Riesen wußte er zu erzählen. Vom »Goawichtel«, der gar bösen Ursprungs ist, aber dem, dem er wohl will, hilft, berichtete er. Die Sagen vom Bachpferd, die er als Kind hatte erzählen hören, kannte er noch alle, eine ganze Menge Geschichten von Zeichen und Ahnungen, von Geistern, die in alten Häusern, in denen einst ein Unrecht geschehen war, gespukt hatten, von Lichtern, die kein Mensch angezündet hatte, und die doch durch das Waldesdüster flackerten ...

All das berichtete er in seiner ruhigen, halb ernsten, halb spielenden Art. Und während Thora ihm zuhörte, war ihr gerade so zumute, wie wenn sie mit den Leuten auf dem Hof sprach. Sie wußte nicht recht, hielt er sie zum besten oder war es ihm ernst. Jedenfalls aber stimmten Bruces Erzählungen ganz seltsam gut zu der Landschaft, durch die sie gingen. Rings um sie her standen dunkel die Buchenwälder. Sie waren weit gegangen. Thora hörte, wie ihr Mann sagte, er habe absichtlich einen Umweg gemacht, damit sie länger im Wald gehen könnten.

»Im Wald?« sagte Thora halblaut, fragend.

»Freilich,« erwiderte er mit ruhigem Lächeln. »Siehst du denn nicht, daß wir mitten im Wald sind?«

»Doch, gewiß,« beeilte sich Thora zu antworten.

Für sie war das nicht der Wald. Es war Buchenwald, ja, aber kein Wald. Und im Weiterwandern dachte sie, den Wald würde sie wohl nie mehr sehen im Leben. Es gab ihr einen Stich durchs Herz. Sie sah im Geist ihren Wald, so wie sie ihn kannte. Rundumher duftete es nach Harz, die ganze Atmosphäre des Tannenwaldes umgab sie. Sie sah ihn, dunkel und geheimnisvoll, immer grün, immer gleich, sah ihn zur Sommerszeit, hörte das leise Zwitschern der Vögel, das die Stille unterbrach. In der Luft schwirrte das Summen der Mücken, ganz fern schlug das Birkhuhn, pfiff der Schwarzspecht. Durch ihre Seele zog ein Heer von Erinnerungen, die sie hinauslockten auf einen klaren, spiegelblanken See, über dem die Wildenten aufstiegen. Thora hob die Augen und sah sich um. Prüfend blickte sie lange, weit, tief in das Dunkel der Buchen hinein. Obgleich es schon Mitte November war, waren die Blätter noch nicht abgefallen. Braun und schwer füllten sie die Kronen der Bäume, auf die die Sonne hell schien; der Boden darunter war dunkel, keine Spur von Moos oder Gras war zu sehen, in einer endlosen Perspektive schlangen sich die grauen Äste der alten Buchen ineinander, so weit das Auge reichte. Thora sah das alles und fühlte, daß sie nichts dabei empfand. Dann dachte sie daran, daß sie überhaupt gar nicht mehr wußte, wo sie waren. Allein würde sie den Weg zurück gar nicht mehr finden. Und sie fühlte sich einsam und verirrt.

Der Weg führte jetzt aufwärts. Als sie noch ein Stückchen gegangen waren, lichtete sich der Wald; vor ihnen lag klar und blau der Himmel mit verstreuten weißen Wolken, die ganz still zu stehen schienen. Bruce führte sie einen langgestreckten Hang hinauf und bat sie, hinabzublicken. Ein gähnender Abgrund öffnete sich vor ihnen. Tief unten floß der Bach. Zu beiden Seiten des Baches reckten sich die Felshänge mit ihren graubraunen Steinblöcken, die einst in der Urzeit vom Eis oder Feuer losgerissen worden waren. Mitten auf der Wand, tief unter ihnen, hob sich eine einsame Riesenbuche, in deren runde Krone sie gerade hinabschauten. Thora merkte, daß sie auf einem Umweg auf die Anhöhe gelangt waren, zu der sie vor einer Weile emporgeschaut hatten. Ihre Augen begegneten denen des Mannes. Sie sah sie sich entgegenstrahlen, in einer Art stummer, innerlicher Begeisterung. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er ihren Arm und führte sie zu einem zweiten Ausblick. Dort bat er sie, nach der andern Seite, gerade der Sonne entgegen, zu sehen.

Meilenweit erstreckte sich vor ihnen das Land, eine unendliche Ebene mit endlosem, blauendem Horizont. Höfe und Dörfer lagen darüber verstreut, Kirchtürme stiegen aus kahlen Baumgruppen auf. Wie ein glänzendes Band schimmerte ein Stück des Halgaflusses herüber. Ganz in der Ferne hörte man leise Klänge wie von Kirchenglocken.

»Das ist mein Land«, sagte er. »Das Land, von dem ich dir erzählt habe. Das hab' ich dir zeigen wollen.«

Bruces Stimme wurde ganz unwillkürlich feierlich, und in seine Züge kam etwas Andachtsvolles, Träumerisches, das sie fast schön machte. Thora hatte nie geahnt, daß sein Gesicht so strahlen könnte. Daß überhaupt an ihrem Mann irgend etwas wäre, das man schön nennen konnte – der Gedanke war ihr gar nie gekommen. Jetzt sah sie es; und im gleichen Augenblick fühlte sie auch – an dem, was seine Wangen färbte und seinen Blicken Glanz verlieh, würde sie nie teilhaben können. Schön war das alles, was sie da sah. Sie fühlte wohl, daß es schön war. Aber zu ihrer Seele redete es nicht. Ihre Seele hatte sie zurückgelassen in ihrem wirklichen Wald, der an dem spiegelblanken, weiten See stand.

Bruce merkte zuerst nichts. Er war vor diesem Anblick so erfüllt von seinen eignen Empfindungen, daß er Thora, um derentwillen er doch hier heraufgegangen war, fast vergaß.

»Hierher geh' ich jeden Sonntag, wenn ich nicht zur Kirche fahre,« sagte er. »Etwas Schöneres gibt es nicht.« Erst als er das gesagt hatte, merkte er, daß Thora ganz stumm dastand. »Ist es nicht schön hier?« fragte er ein wenig ungeduldig. Er wollte den Gedanken gar nicht in sich aufkommen lassen, daß seine Frau die Gegend nicht mit denselben Augen sähe wie er.

»Doch,« erwiderte Thora. »Es ist schön hier.« Aber ihre Stimme war klanglos und ihr Gesicht matt.

Als Bruce das merkte, war es, als ob sein eignes Empfinden sich plötzlich abkühlte. Er war sonst nicht rasch von Gedanken. Aber wo es das Innerste eines Menschen gilt, wird manchmal sogar der Langsamste beweglich und versteht ganz instinktiv. Darum verstand Bruce, ohne daß ein Wort gesprochen worden wäre, die Gefühle seiner Frau, und es war ihm, als strahle eine Kälte von ihr aus. Ein schmerzhafter Argwohn erwachte in ihm – der Argwohn, seine Frau könne ihm ihr Jawort gezwungen oder widerwillig gegeben haben. Bruce tat sein Bestes, um diesen Gedanken zu verjagen. Aber es glückte ihm doch nicht ganz, zu verhindern, daß in seiner Stimme etwas von Bitterkeit lag, als er antwortete: »Vielleicht braucht man Zeit, um sich an den Anblick zu gewöhnen.« Ohne ein weiteres Wort ging er den schmalen Pfad hinab, der am Abhang hinführte und in gerader Linie auf die Brücke zulief, unter der der Bach abwärts schäumte.

Thora folgte ihm stumm. Bald lag der Wald hinter ihnen, und mitten auf dem Hügel jenseits der Felder ward das niedere einstöckige Haus mit seinem hohen Dach und den Linden darum sichtbar. Kalt und einsam lag es da in seinem Winterkleid; und Thora hatte das Gefühl: wenn sie nur jetzt irgend jemand hätte, mit dem sie hätte reden können, so wäre alles besser geworden ... Aber Bruce ging stumm neben ihr her; fest und schwer klangen seine Schritte auf dem ausgetretenen Boden. Beharrlich sah er vor sich hin; und Thora bemerkte, wie die Muskeln in seinem kraftvollen Gesicht sich gleichsam verhärteten.

Am Nachmittag nahm er den Wagen und fuhr allein fort. Wohin, das sagte er nicht.

 

Diese Wanderung in der Novembersonne vergaß Thora nicht. Es war, als ob alles Schlimme, was später geschah, damals angefangen hätte. Denn von dem Tage an wandte Bruce sein Herz von seiner Frau ab und wurde hart gegen sie, wie gegen keinen Menschen sonst. Er zeigte das allerdings nicht auf einmal; alles ging bei ihm langsam. Das einzige Mal in seinem Leben, daß er ohne Überlegung und blind gehandelt hatte, war, als er um Thora gefreit und sie zur Frau genommen hatte; und der Tag kam bald, an dem Thora einsehen mußte, daß er nichts in seinem ganzen Leben so tief bereute wie diese Handlung.

Das Unglück fing damit an, daß Bruce lange Zeit in stummem Groll gegen Thora herumlief; und Thora ahnte ganz richtig, daß dieser Groll schon auf ihrer ersten Sonntagswanderung begonnen hatte. Es ist schwer, die Fäden des geheimnisvollen Netzes auseinanderzuwirren, das in Glück und Leid sich zwischen den Menschen spinnt. Wer darf sagen, daß er einen andern kennt? Wer kennt in Wirklichkeit sich selbst? Unwissend in allem, was zwischen uns vorgeht, wandern wir durchs Leben; keiner kennt den Ursprung von Liebe oder Haß. Ich erzähle hier von Menschen früherer Zeiten, Menschen, die einfacher fühlten, minder subtil dachten und stärker handelten als wir. Pflicht und Sitte banden diese Menschen fester als uns, das Empörungsbedürfnis war bei ihnen noch nicht so allgemein wie bei uns, und die Religion, die der Grund war, auf dem sie bauten, stand über den Debatten der Alltagsmenschen. Darum spielten ihre Kämpfe sich mehr in der Stille ab; aber die Seelenmorde, die begangen wurden, waren auch um so zahlreicher, und die Natur, die sich nicht ungestraft vergewaltigen läßt, rächte sich nicht selten auf eine Weise, die wir barbarisch finden.

Langsam wuchs in Bruce ein Widerwille gegen seine Frau. Es begann damit, daß er sich sagte, Thora habe ihn betrogen, oder auch er selbst habe sich in ihr getäuscht. Sie kam aus einer andern Gegend als er; und der Gegensatz zwischen ihrer Natur und der seinen war ihm wohl bekannt. Es gab auch genug Menschen, die ihm, als sie von der Wahl, die er getroffen hatte, erfuhren, sagten, das würde niemals gut ablaufen. Niemals würde eine Frau, die von so weit her stammte, in den südlichen Wäldern, wo die Ebene begann, heimisch werden. Bruce hatte gelächelt und erwidert: »Sie wird sich wohl fügen müssen wie andre auch.« Aber bei sich dachte er nicht so. Daß Thora widerspenstig sein oder daß daraus für sie beide Unheil erwachsen könnte, das war ihm nie in den Sinn gekommen. Er hatte aufgehört, von einer Liebe zu träumen, die für den Geliebten ihr Leben läßt und durchs Feuer geht. Aber er hatte sich ihr männlich und behutsam genähert, hatte sie, soweit er zu wissen glaubte, nie erschreckt. Nur einen Traum hatte er noch gehabt: daß Thora, wenn er ihr sein Land zeigen, sie Auge in Auge mit seiner Schönheit stellen, sie durch die stillen Buchenwälder führen würde, wo unter dem feuchten schweren Laub die Frühlingskeime schlummerten – wenn er ihr die Ebene, die im goldenen Sonnenlicht den Winterschlaf schlief, während fern die Höhen blauten, weisen, neben ihr stehen und ihr sein Land zeigen würde, wie reich es war, wie still und groß – daß dann Thora ihn anlächeln würde und glücklich sein, daß sie das alles mit ihm teilen durfte. Als Bruce darum jenes erste Mal mit seiner jungen Frau an der Stelle stand, nach der es ihn so lange voll Sehnsucht gezogen hatte, dort stand mit dem Weib, das er nun sein nennen durfte, und sah, daß sie kalt ward vor dem, was ihm das Herz erwärmte, da war es, als würde für ihn die ganze Welt auf einmal leer und gleichgültig. Auch er ward kalt und hart, und ein ganz unnatürlicher Zorn stieg in ihm auf. Es war, als habe sein Weib ihn verschmäht. Noch schlimmer war es. Sein Land war es, das sie verachtete, alles das, was ihm das Heiligste und Höchste war. Niemals ließ sich das tilgen. Niemals war es wieder gutzumachen. Der Gedanke, sich von seiner Frau zu befreien, stieg von fern in ihm auf. Aber über die Menschen jener Zeit hatten derartige Gedanken keine Gewalt. Die Ehrfurcht vor Sitte und Gesetz saß allzu tief in ihnen, und Bruce wußte: was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.

Darum bezwang Bruce den Zorn, der in ihm aufzusteigen begann; und weil er ihn nie zum Ausbruch kommen ließ, so glückte es ihm zuzeiten fast, ihn zu vergessen. Er hatte viel von seiner Ehe gehofft und war keineswegs gesonnen, bei der ersten Niederlage die Flinte ins Korn zu werfen. Er beschloß im Gegenteil, zu warten und den Dingen ihren Lauf zu lassen; und nachdem er wieder ruhiger geworden war, sagte er sich, vielleicht würde das, was er wünschte und erwartete, doch eines Tages noch werden, und er hegte die leise Hoffnung, daß er und seine Frau einander doch schließlich näherkommen würden.

In dieser Zeit kam eines Tages die alte Frau Bruce zu Besuch. Sie war voller Argwohn und Wachsamkeit, wie alte Mütter zu sein pflegen, wenn der Gedanke an das Glück des einzigen Sohnes sie beschäftigt. Die alte Dame merkte bald genug, wie schwermütig Thora war, und daß auch der Sohn etwas auf dem Herzen hatte, mit dem er nicht herausrückte. Und klüger als ihr Sohn nahm sie nicht ihn, sondern die Schwiegertochter ins Gebet. Thora wollte zwar nicht zugeben, daß zwischen den Eheleuten eine gewisse Kühle herrsche, aber die Schwiegermutter konnte aus dem wenigen, was sie erfuhr, schon selbst auf den Rest schließen. Darum sagte sie, ehe sie wieder abreiste, zu ihrem Sohn: »Deine kleine Thora ist eine brave Frau, und ich mag sie gern leiden. Sie hat nur noch nicht gelernt, sich hier wohlzufühlen. Das ist deine Sache – du mußt sie das lehren.«

Von dem Tage an kümmerte sich Bruce wieder mehr um seine Frau, und die Hoffnung, die in ihm lebte, wurde wieder stärker. Unablässig wartete er darauf, daß der Tag kommen sollte, an dem sie sich auf seiner Scholle heimisch fühlen würde. Bruce lebte diese ganze Zeit über in einem seltsamen Hin und Her zwischen Abneigung gegen seine Frau und der Hoffnung, sie eines Tages doch zu gewinnen, sie gleichsam wiederzufinden, wie er sie sich dereinst geträumt hatte. Das kleinste Wörtchen, das Thora sagte, konnte ihn zurückstoßen. Er fand sie oft unbeholfen, trocken, interesselos. Es war, als vermöge sie weder seine Liebe entgegenzunehmen, noch Zärtlichkeiten zurückzugeben. Dann zog sich Bruce in sich selber zurück und gab seiner Frau harte Worte – Worte, die er nachher bereute. Oft auch erwachte das Gefühl, das sie ihm zuerst eingeflößt hatte, wieder mit verdoppelter Stärke. Dann sah er alles an ihr mit milderen Augen, fand ihre Niedergeschlagenheit natürlich und sagte sich, jedes Ding müsse seine Zeit haben. Sie, die so jung sei, müsse ja doch Ruhe und Muße haben, sich an ihn, die Gegend, die Leute, an alles zu gewöhnen. Er lebte in der einzigen großen Erwartung, in Thora doch noch eines Tages die Frau zu finden, nach der er sich sehnte.

Thora dagegen lebte in all dieser Zeit in einer ständigen Angst, einer Angst, die sie nicht verstand, und von der sie darum auch zu niemand zu sprechen wagte. Im Hause war's ihr noch am wohlsten; solange sie in den Zimmern sein konnte, war sie zufrieden. Ganz hinten lag das Schlafzimmer; durch einen kleinen Korridor gelangte man von dort in Bruces Zimmer, die er seit des Vaters Tod bewohnte, und die abgetrennt von der ganzen übrigen Wohnung lagen. Auf der andern Seite kam man vom Schlafzimmer in ein kleines Kabinett mit alten, zierlichen Möbeln und Kupferstichen an den Wänden. Dort saß Thora, wenn sie frei war von Haushaltungsgeschäften, am liebsten. Da stand ihr Nähtisch und ihr Schreibtisch, in dem sie ihre Briefe und die Erinnerungen an daheim eingeschlossen hatte. Vom Fenster aus sah sie den Berg und ein Stückchen des Gartens mit seinen Obstbäumen und alten Linden. Vor sich hatte sie den wilden Wein, der Winters dürr und nackt über die Veranda hing und mit den braunen Zweigen im Winde raschelte.

Der wilde Wein war daran schuld, daß das Wohnzimmer vor dem Kabinett so dunkel war. Es war ein großer Raum mit Fenstern und einer Tür nach dem Garten. Durch die Tür kam man zuerst auf die Veranda. Ringsum schlang sich der wilde Wein. Jenseits der Wohnstube lag ein langgestrecktes Speisezimmer mit schwerem, eichenem Tisch und alten geschnitzten Eichenschränken, Erinnerungen an den deutschen Ursprung des Geschlechts. Aus diesem Raum gelangte man in zwei Zimmer, die jetzt geschlossen waren, die aber dereinst als Kinderzimmer dienen sollten. Bruce hatte sie schon am ersten Abend seiner Frau gezeigt und dazu gelächelt. Alle andern Zimmer in dem großen Hause waren unbewohnt und mit Möbeln, Gerätschaften und allerhand altem Gerümpel angefüllt. Nur die allernotwendigsten Räumlichkeiten waren für den Gebrauch eingerichtet. Im Dachstock waren kleine Kammern für die Dienstboten.

In diesen Zimmern wuchs Thoras Angst vom ersten Abend immer mehr. Sie verstand nicht, daß solche Gefühle von der Natur selbst in uns geweckt werden, ebensowenig, daß der Mensch in solch innigem Zusammenhang mit der Natur leben kann, daß, was des einen Leben ist, dem andern zum Tode wird. Darum verbarg sie ihre Furcht vor allen und schämte sich ihrer. Aber diese Furcht beschäftigte ihre Seele weit mehr als der Gedanke an den Mann und ihr gegenseitiges Verhältnis. Ja, es gab Tage, an denen Thora überhaupt nichts zu tun vermochte, nur weil sie sich so fürchtete. Einsam konnte sie von einem Zimmer ins andre wandern und beim geringsten Laut zusammenschrecken. Am schlimmsten war es, wenn ihr Mann fort und sie mit den Dienstboten allein war. Oft saß sie lange auf und wartete, nur weil sie nicht zu Bett zu gehen wagte, und wenn sie es schließlich doch über sich brachte, sich zu legen, konnte sie vor Angst nicht einschlafen. Sie konnte ja den Riegel an der Tür nicht vorschieben, aus Furcht, ihr Mann könne nachher fragen, ob sie sich fürchte. So lag sie denn wach und lauschte auf jedes Geräusch; und wenn ihr Mann schließlich kam, tat sie, als schliefe sie. Um keinen Preis wäre es ihr möglich gewesen, ihm zu sagen, wie sehr sie sich fürchtete.

Einmal aber hatte Bruce doch etwas gemerkt. Es war eines Abends, als er unerwartet heimkam. Thora hatte den Schlüssel in der Tür umgedreht, weil die Angst sie in dieser Nacht noch schlimmer quälte als gewöhnlich, und als ihr Mann an die Tür kam, mußte er einen Augenblick warten, bis sie aufgemacht hatte.

»Schließt du dich ein?« sagte er verwundert und etwas scharf.

Da konnte Thora sich nicht länger beherrschen, sondern antwortete: »Ich fürchte mich oft so, wenn ich allein bin.« Und sich an ihren Mann schmiegend, fragte sie: »Bist du mir darum böse?«

Bruce schob seine Frau unsanft von sich; seine Unterlippe zitterte. Er dachte daran, daß seine ganze Heimat ihr fremd war, seine Heimat, die Leute, die Gegend, alles das, was ihr so neu war, und wo er im schwärzesten Dunkel sich zurechtfand und sich im stillen daran freute, wie still, wie gut und traut es war. Daheim hatte Thora sich nie im Dunkeln gefürchtet. Danach brauchte Bruce gar nicht zu fragen. Das wußte er nur zu gut. Und diese ängstliche Weiberfurcht verdroß ihn und erregte seinen Widerwillen.

»Wenn du nur nicht so böse auf mich sein wolltest, Bruce,« klagte Thora. »Ich bin noch so jung.«

Er strich ihr mit einer schweren, unbeholfenen Gebärde übers Haar, aber sein Gesicht hellte sich nicht auf. »Ja,« entgegnete er. »Und ich bin alt.«

Thora blickte eifrig zu ihm auf. »So hab' ich es nicht gemeint,« sagte sie hastig.

»Nein,« war die Antwort. »Aber es ist trotzdem so.«

Damit ging er still hinaus und ließ sie allein, als ertrage er es nicht, in ihrer Nähe zu sein. Und sein Gesicht trug einen Ausdruck, den Thora nie wieder vergessen konnte.

Trotzdem hatte sie keine Ahnung, was eigentlich die Ursache der Kälte ihres Mannes war, die sie von Tag zu Tag stärker empfand. Sie war ganz in ihrer Furcht befangen, und darum war ihre Ahnung blind, wie bei allen, deren Leben sich nur um einen Gedanken dreht, eine Vorstellung, die sie martert, weil sie sie nie losläßt.

Nach Weihnachten steigerte sich ihre Gemütsunruhe noch; Thora wußte, sie würde Mutter werden. Diese Gewißheit schenkte ihr nur geringe Freude, oder vielmehr sie wurde ihr eher ein Anlaß zu neuer Unruhe. Sie fühlte sich mehr und mehr untauglich, irgendwelchen Nutzen zu schaffen oder irgend jemand Freude zu machen, und sie konnte nur immer denken, daß da in ihr selbst ein neuer Quell der Sorge entsprungen war. Bruce erhoffte mehr von dem Kind als sie. Sein Mißtrauen gegen Thora begann sich zu legen. Die Dankbarkeit gegen die Frau, die ihm vielleicht einen Sohn schenken sollte, erwachte in dem Mann, und er sagte sich, daß die Schwäche, die sein Mißfallen erregt hatte, vielleicht nur eine Begleiterscheinung des Zustandes sei, der bei den Frauen übertriebene Empfindsamkeit und törichte Ideen aller Art im Gefolge hat.

Bruce änderte darum in dieser Zeit sein Benehmen gegen Thora. Er forderte im allgemeinen weniger, war freundlicher, nachsichtiger als sonst. Das Verlangen nach einem Zusammenleben, Zusammenfühlen der Ehegatten, das im Anfang so stark in ihm gewesen war, schob er gleichsam auf gelegenere Zeit hinaus. Und als er endlich in seinen Armen einen Sohn hielt, da schwoll dem Mann das Herz in der Brust vor Freude. Das Geschlecht würde sich in ihm fortpflanzen. Der Knabe würde dereinst den Hof erben. Und nachdem seine Frau seiner Heimat einen Sohn geboren hatte, würde sie auch nicht länger eine Fremde da sein.

Langsam erholte sich Thora von ihrer Krankheit. Sie fühlte sich glücklicher jetzt als früher. Es war, als habe die Mutterschaft ihr einen Platz gegeben in diesem Hause, in dem sie sich so lange als Fremde vorgekommen war. Sogar die Leute vom Hofe, die auf ihren dicken Holzschuhen so schwer einherstapften, die Mägde im Hause, alle, die bei ihnen aus und ein gingen, betrachteten sie jetzt mit ganz andern Augen. So wenigstens kam es ihr vor; und es war, als wolle in dem jungen Weib ein ganz neues Leben erwachen. Wenn sie allein am Bettchen des Kindes saß oder es an der Brust hatte, freute sie sich, weil sie wußte, es gab jemand, der sie lange brauchen würde.

Die alte Frau Bruce kam nicht eher nach Åkerup, als bis Thora wieder ganz hergestellt war. Die Alte hatte ihre Eigenheiten, und einer ihrer Grundsätze lautete: eine alte Schwiegermutter soll nicht unnötigerweise bei den Jungen herumschnüffeln.

Aber als sie dann endlich den Enkel in den Armen hielt, da strahlte ihr scharfgeschnittenes Gesicht vor Zufriedenheit. Denn der Kleine glich dem Vater. Und die alte Dame sprach das auch sogleich aus, indem sie vergnügt hinzufügte: »Diesmal ist es nicht ein bloßes Gerede. Faktum ist Faktum.« Damit legte sie das Kind in die Wiege zurück und küßte die Schwiegertochter.

Das hatte sie noch nie getan, und Thora fühlte sich ganz beglückt über das Ereignis. Bruce war im Zimmer, als es geschah, und es sah aus, als erfülle die Freundlichkeit der Mutter ihn mit Stolz. In diesem Augenblick träumte Thora von einer helleren Zukunft.

Der Knabe wurde im Hause getauft und erhielt die Namen Hans Johan. Die Großmutter selber hob das Kind aus der Taufe.

Im Herbst darauf schrieb Thora folgenden Brief:

 

Åkerup, November 1863.

Liebste Mutter!

Es ist lange her, seit ich zuletzt geschrieben habe; und ich hätte dir gar viel zu erzählen, wenn ich dich einmal wiedersehen und zu dir sprechen könnte wie einst. Täglich bete ich zu Gott, daß ich doch sein möchte wie du. Dann wäre alles gut und leicht, und Bruce wäre mit mir zufrieden. Ich fürchte, er ist es nicht, und er kann es ja auch nicht sein. Er hat ganz recht, wenn er denkt, ich sei eine kindische Frau, viel zu kindisch für ihn. Und es ist manchmal so schwer, zu wissen, daß ich zu nichts nütze bin auf der Welt. Darum denke ich auch so oft an dich, die du für alle genug warst und Vater und uns alle so froh gemacht hast.

Es geht jetzt so nach und nach gegen den Winter zu hier, und wenn ich das sehe, muß ich daran denken, daß daheim vielleicht schon der Schnee über dem Tannenwald liegt. Im Frühling war es hier so schön. Die Leberblümchen blühten so früh, viel früher als bei uns, und schon im Mai konnten wir draußen im Freien sitzen. Jetzt haben wir wieder Nebel, und wenn der Nebel geht, wird es rauh und kalt. Am meisten Heimweh hab' ich nach den Birken daheim. Birken haben wir ja hier auch, aber sie sind gar nicht wie unsre. Sie stehen auf der andern Seite des Hauses, gerade auf der entgegengesetzten Seite von dem langen, dunklen Berg. Ich kann so wohl verstehen, daß alle Menschen es hier so schön finden. Nur ich habe immer das Gefühl, als gehörte ich gar nicht hierher. Kannst du dir das vorstellen? Ich bin mit einem guten, tüchtigen Mann verheiratet. Ich habe einen kleinen Jungen – er schläft gerade neben mir – , der einmal Åkerup erben und sein Leben lang hier wohnen wird, wie sein Vater. Und doch habe ich das Gefühl, als gehöre ich nicht hierher und hätte alles, was ich jetzt habe, nur gleichsam zum Lehen erhalten, das ich bald wieder hergeben müßte. Oder vielleicht nicht gerade so bald, aber doch einmal, wenn keiner es glaubt, am allerwenigsten ich. Ist das nicht merkwürdig?

Ich habe es jetzt viel besser als früher. Hans ist so viel für mich, so klein er ist. Aber ich denke oft an euch daheim, und ich wünschte, Bruce erlaubte mir einmal, heimzureisen und euch alle wiederzusehen. Ich möchte ihn bloß nicht darum bitten. Das würde ihm nicht recht sein. Manchmal glaube ich fast, Bruce ist ein bißchen eifersüchtig auf euch daheim und meint, er habe mich nicht so recht für sich, obgleich ich mit ihm hierhergezogen bin und täglich hier lebe und wohl immer hier leben werde. Ich habe bemerkt, daß Bruce es nicht liebt, wenn ich davon spreche, wie es daheim war. Es ist, wie wenn er mich zwingen wollte, alles, was hier ist, die Natur, die Menschen, alles, was ich sehe, zu lieben. Im Anfang verstand ich das nicht, sondern sagte mehr als einmal, was ich fühlte – daß der dunkle Berg mir bang macht, und daß ich nicht finden könne, daß die Buchen so schön seien wie unsre Birken und Tannen. Einmal nahm er mich mit und zeigte mir die Birken. Sie wuchsen wie auf einer Heide, fand ich. Weit auseinander – die Stämme so hoch und kahl, die Kronen so dünn, und so weit man sehen konnte, war der Boden darunter mit Wacholderbüschen bedeckt. Von dort kamen wir in einen Tannenwald. So einen Wald hast du nie gesehen, Mutter! Er ist so dicht und schwarz, daß unter den Zweigen kein Gras wachsen kann, weil die Sonne nie hineindringt. Er ist auch so niedrig, und darin umherwandern kann man auch nicht. Dazu steht er viel zu dicht. Als ich das sagte, merkte Bruce, daß es mir nicht gefiel. Das Herz schnürte sich mir in der Brust zusammen, und ich hätte am liebsten geweint. Da wurde er böse, so böse, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, und redete zwei Tage lang überhaupt nicht mehr mit mir. Seither versuche ich, ihm nichts mehr über das zu sagen, was ich sehe. Oder ich sage ihm manchmal, das, was ich sehe, sei schön und es gefalle mir. Das freut ihn so, daß ihm die Tränen in die Augen kommen. Darum sage ich jetzt so etwas, sooft ich kann, und sage auch manchmal mehr, als ich meine. Aber wenn ich sehe, wie er sich freut, erschreckt mich das auch. Ich habe dann das Gefühl, als lüge ich mich in sein Herz. Denn sein Herz hängt an der Erde hier. Das weiß ich jetzt.

Aber ist es nicht sonderbar? Ich meine, daß jemand eine Gegend so lieben kann? Und ist es nicht noch sonderbarer, daß er will, ich soll sie ebenso lieben, bloß weil er es will? Aber ich habe gemerkt, daß man es auch kann, wenn man es versucht, und manchmal weiß ich selber nicht, ob ich mich hier wohl fühle oder nicht. Ich sage das nur so. Ich glaube, von der Thora, die du gekannt hast, Mutter, die in Ruhe bei dir daheim saß, ist nicht mehr viel übrig. Ist das immer so, wenn man sich verheiratet?

Ganz so viel Angst wie früher hab' ich jetzt nicht mehr, wenn ich allein bin. Wir haben vier Dienstboten im Haus, ein Mädchen, das Hans besorgt, eine Köchin, ein Hausmädchen und einen Kutscher, der in der Kammer neben dem Stall wohnt. Ich fühle mich jetzt heimischer mit ihnen als früher. Aber so ganz natürlich wie mit den Menschen zu Haus kann ich doch nicht mit ihnen verkehren. Jetzt hab' ich schon wieder »zu Haus« geschrieben, und das darf und sollte ich doch nicht. Ich weiß ja, ich bin hier zu Haus und will es auch sein. Du verstehst schon, wie ich es meine; du weißt ja, es ist mir immer schwer gefallen, mich auszudrücken, wie es sich gehört.

Weißt du, Mutter, was ich manchmal glaube? Ich glaube, glücklich wird der Mensch überhaupt nie, und manchmal denke ich, es wäre gut, wenn die Älteren mit uns darüber sprechen wollten, solange wir noch jung sind. Die Erwachsenen sprechen mit den Jüngeren nie über so etwas. Vielleicht ist es ja auch recht und gut so. Vielleicht muß jeder einzelne auf eigne Hand leben lernen, vielleicht würde kein junges Weib oder kein junger Mann den Alten glauben, wenn diese ihnen im Ernst sagen wollten, wie das Leben ist.

Aber manchmal glaube ich, mir wäre es besser ergangen, wenn mir jemand, als ich noch jung war, gesagt hätte, daß man meist nicht so glücklich wird, als man in der Jugend hofft. Ich glaube, ich hätte darauf gehört, wenn es mir jemand so einfach gesagt hätte, daß ich es hätte verstehen können. Ich hätte dann wenigstens nicht selber so viel von allem möglichen wegarbeiten brauchen, wovon man sich so schmerzlich trennt und doch trennen muß.

Ich weiß nicht, ob ich alles das hätte sagen sollen und dürfen. Vielleicht mach' ich dich nur traurig damit, vielleicht denkst du, ich schreibe so, weil ich nicht glücklich bin. Aber wenn ich nachdenke, so weiß ich, daß das Glück mir mehr geschenkt hat, als auf das Los der allermeisten Menschen fällt. Am besten fühle ich das, wenn ich allein bin mit meinem Kind. Und ich weiß, Bruce wird nie anders als gut gegen ihn und mich sein.

Nur daß er oft unzufrieden ist mit mir, und daß ich den Haushalt nicht so gut führe, wie er es will! Oft sagt er nichts, aber ich seh' es ihm an, wenn er finster wird und anfängt zu grübeln. Dann weiß ich, jetzt grübelt er über mich nach – daß ich nicht so bin, wie er es sich gedacht, daß ich nicht die bin, die er sich erhofft hat. Er hat zu hoch von mir gedacht; und das zu fühlen, tut weh. Denn ich fühle es sehr wohl, auch wenn er nichts sagt. Am schlimmsten ist es, wenn er es mir sagt. Jedes Wort gibt mir einen Stich, und es wird mir dann viel schwerer, so zu sein, wie ich möchte, schon darum, weil ich Angst habe, irgend etwas, was ich tue, könnte ihm nicht recht sein.

Gestern ist die Schwiegermutter abgereist. Sie ist sehr freundlich gegen mich. Aber wenn sie da ist, habe ich das Gefühl, als wär ich ihr und Bruces Kind. Sie hat ja Bruce nie den Haushalt geführt, seit er erwachsen ist. Sie zog damals gleich zu ihrer Tochter, damit der Platz für die künftige Schwiegertochter frei sein sollte. Aber sie und Bruce verstehen einander trotzdem so gut, und so wie der Haushalt zu ihrer Zeit geführt worden ist, so will er ihn auch jetzt noch haben. Ich kann deshalb nichts dafür, daß ich mich freue, wenn sie geht, und daß mir alles leichter vorkommt.

Grüße Vater und alle daheim von mir. Und kümmere dich nicht drum, wenn ich was Dummes gesagt habe. Es ist manchmal so gut, wenn man jemand hat, zu dem man sprechen kann.

Deine gehorsame Tochter

Thora Bruce, geb. Krohk.

 

Die alte Frau Dortha hatte nicht Zeit, lange über diesen Brief nachzudenken. Sie sandte die Antwort noch im gleichen Monat ab, und Thora merkte daraus, daß sie unmittelbar, nachdem ihr ihr eignes Schreiben zu Händen gekommen war, erwidert haben mußte.

Mein liebes Kind!

Es hat mich viel Mühe gekostet, zu verhüten, daß dein Brief dem Vater unter die Augen kam. Du weißt, daß du sein Augapfel warst, und seit du uns verlassen hast, fragt er nur immer und immer wieder, wie es dir wohl gehen möge. Du hast wenig oder gar nichts über dich selber geschrieben, und es war nicht leicht, Vater darüber zu beruhigen, daß so lange kein Brief von dir kam. Er macht sich immer Sorgen um dich, viel mehr als um die Geschwister, die ja doch auch alle draußen sind. Aber er ist immer schwach für dich gewesen, wie auch ich und wir alle. Und wenn ich an deinen Brief denke, Kind, so tut mir das weh, und ich mache mir Vorwürfe. Vielleicht sind wir zu schwach gegen dich gewesen. Du hattest eine Art, überall, wohin du kamst, den Sonnenschein hervorzulocken. Aber ich hatte immer geglaubt, mein törichtes Mädchen würde verstehen, daß es so nicht immer fortgehen kann im Leben.

Es tut mir weh, daß ich das schreiben muß. Denn ich habe gewiß auch mein Teil schuld daran, daß du so – ich möchte sagen, zerbrechlich geworden bist – empfindlich gegen alles Schwere im Leben. Ich weiß auch wohl: so, wie es jetzt um dich steht, wäre es tausendmal besser, ich könnte mit dir reden, statt zu schreiben. Wenn dich mein Brief traurig macht, mein Kind, so weine du nur ruhig ein bißchen. Das geht vorüber. Aber nimm dir meine Worte zu Herzen und vergiß sie nicht. Und versuche auch, danach zu leben. Versuch' es wenigstens, so gut du kannst – und du sollst sehen, das Weitermachen ist leichter als der Anfang.

Was ich dir jetzt sage, ist jedenfalls der beste Rat, den ich dir geben kann. Mir selbst wenigstens hat es geholfen und mich froh und zufrieden gemacht mit dem Leben bis ins Alter.

Habe Geduld, mein Kind, was auch geschehen möge, und versuch', deinem Mann ein fröhliches Gesicht zu zeigen, auch wenn du nicht immer so fröhlich bist. Freude wird dem Menschen nicht immer zuteil, und es ist auch nicht das Höchste. Freude schenken, ist viel mehr. »Ein tugendsam Weib, das fromm ist, ist gleich einer klaren Lampe auf dem heiligen Leuchter«, sagt der weise Sirach. Und im nächsten Vers fährt er fort: »Ein Weib, das stetigen Sinnes ist, ist wie ein goldener Leuchter auf silbernen Füßen.« Und Salomo sagt: »Ehre und Preis ist ihr Kleid; sie lacht dem Tag zu, der da kommt.« Wenn man es im Anfang auch nicht glaubt – man kann doch schließlich allen gut zulachen, auch wenn man selber nicht immer fröhlich ist. Glaub' mir, Kindchen, Tausende von Frauen haben das schon vor dir getan.

Es ist mir alten und einsamen Frau ganz sonderbar zumut, daß ich nun hier sitze und dir das alles schreibe und dabei weiß, daß du längst selber eine verheiratete Ehefrau bist wie ich. Auch ein Kind hast du von deinem Mann; und über alles, was ich dir früher nicht habe sagen können, könnte ich jetzt mit dir reden, wenn wir zusammen wären. Glaub' nur, einer Mutter kommt auch manchmal der Gedanke: »Warum kann ich nicht über alles mit ihr sprechen und ihr alles sagen? Sie ist ja doch meine Tochter.« Aber das wirst du verstehen, wenn Gott dir selber einmal eine Tochter schenkt. Zwei Töchter hab' ich in die Welt hinausgeschickt, und jedesmal habe ich gedacht, wie gern ich ihnen doch ein bißchen mehr gesagt hätte, als ich tat. Vielleicht wäre es ja auch gut gewesen, jedenfalls wär es vor Gott kein Unrecht gewesen. Aber es ist nun einmal so, daß eine Mutter so etwas nicht sagt. Weißt du, nicht nur den Jungen wird es schwer, zu den Alten zu sprechen. Oft genug fällt es uns Alten ebenso schwer, das, was wir sagen möchten, herauszubringen. Wir haben auch unser Schamgefühl, so gut wie ihr. Du bist alt genug jetzt, um mich zu verstehen. Und es ist schließlich auch gar nicht gesagt, daß das Unglück so groß ist, wenn man das auch als Kind meint.

Das jedenfalls kann ich dir sagen: die ersten Jahre, als ich verheiratet war, hab' ich auch manchmal meine blutigen Tränen geweint, wenn es auch niemand sah; immer auf Rosen gewandelt bin ich auch nicht. Das kannst du mir schon glauben. Das Schlimmste war, daß es immer so knapp zuging bei uns. Das ist bei dir nicht so. Sei froh, Kindchen. Denn Armut ist – wenn man die Wahrheit sagen soll – schließlich doch der Schuh, der am ärgsten drückt. Und so besonders erfreulich war es nicht für mich, weder als ihr Kinder zur Welt kamt, noch wenn ich krank war oder ihr Kinder krank wart und wir zum Doktor schicken mußten! Vater war auch nicht immer bei guter Laune, das weißt du ja. Aber das Schlimmste waren doch die ersten Jahre. Da habe ich oft genug gezittert, wenn ich nur das Kleinste mit ihm besprechen sollte; ich mußte auch immer bei allem herhalten. Es war, als wäre er durch meine Schuld in Schwierigkeiten geraten. Wie ich mich auch abmühte und sparte und arbeitete – nirgends wollte es reichen. Damals mußte ich manches hören, was dir erspart geblieben ist.

Denn das sehe ich trotz allem aus Deinem Brief: Dein Mann gibt Dir selten ein böses Wort. Dafür darfst Du dem lieben Gott schon dankbar sein. Daß eine Ehe in der ersten Zeit nicht leicht ist, das glaube ich wohl – am wenigsten für den Mann. Er hat seine Arbeit und seinen Beruf und seinen Lebenszweck schon immer gehabt, lange eh die Frau ins Haus kam. Dann kommt sie auf einmal und stellt sozusagen alles auf den Kopf. Das kostet Zeit, bis er sich daran gewöhnt, und es mag wohl sein, daß er da nicht immer der Angenehmste ist.

Da kommt es einzig auf die Frau an, ob die Ehe das wird, was sie sein soll. Und darum ist mein einfaches Hausmittel eben: die Frau soll sich gedulden und soll ertragen und dennoch fröhlich aussehen. Ist der Mann unzufrieden, so muß sie sorgen, daß er zufrieden wird. Hat er etwas auszusetzen, so soll sie sich nach ihm richten, daß es besser wird. Und macht er trotzdem Ausstellungen, so soll sie es geduldig auf sich nehmen und sich nicht von Kleinigkeiten zu Boden drücken lassen.

Tut sie das, wie eine Frau es soll und muß, so kommt auch mit der Zeit alles ins Geleise. Sie wird dann, wenn sie älter wird, sehen, daß sie den Mann gewonnen hat, besser als zu der Zeit, da sie noch jung und schön war, wie auch ich einmal es war, mein Töchterchen, und er nichts andres im Kopf hatte als Spiel und Scherz und daß die Zeit der Verlobung ein Ende nehmen möchte. Dann braucht man auch nie zu bereuen, daß man einst geschwärmt und geträumt, auch nicht, daß man oft geweint hat und geglaubt, man sei fürs ganze Leben unglücklich ...

Einen so langen Brief habe ich nicht mehr geschrieben, Thorachen, seit der Zeit, als ich Braut war und gepreßte Blumen in meine Briefe legte und sie tagelang mit mir herumtrug, statt sie fortzuschicken, bloß weil ich dachte, ich hätte alles mögliche vergessen, was ich noch hatte mitschicken wollen. Ich hätte auch gar nicht die Zeit dazu gehabt, wenn nicht Vater fort wäre. Aber er hatte keine Ruhe zu Hause. Er mußte die Schwarze vors Gig spannen und nach Jönköping fahren, wo er Regimentskameraden hat, die er treffen wollte. Vater hat keine Ruhe zu Haus. Es gehen hier Kriegsgerüchte um, die man noch gar nicht glauben kann. Es heißt, wir Schweden müßten auch mit. Aber das kann ich mir doch nicht denken, daß unsre Soldaten sollen ausziehen müssen, um den Dänen gegen die Deutschen zu helfen.

Neulich war der junge Konrad auf Granås da. Du erinnerst Dich seiner. Er war öfters hier, wenn die Brüder daheim waren. Es hieß ja auch, er habe damals ein bißchen für Klein-Thora geschwärmt. Er kam, weil er gerade in der Nähe auf der Jagd war, und redete von nichts als vom Krieg, der vor der Tür stehe. Er war ja immer ein bißchen hitzig und übertrieben, und er sagte, es wäre geradezu eine Schmach für Schweden, wenn wir den Dänen, die er unsre Brüder nannte, jetzt nicht hülfen. Vater stimmte ihm bei, und sie zogen zusammen gegen den König und die Regierung los, die Vater Federfuchser nannte. Der junge Baron war schließlich ganz blaß und versicherte, wenn es keinen Krieg gäbe, so gehe er trotzdem mit als Freiwilliger. Und Vater schüttelte ihm über den Tisch weg die Hand und sagte, so müsse ein echter Schwede sprechen. Zwei Tage nach diesem Besuch kam die Nachricht, daß der König von Dänemark gestorben sei, und Vater spannte Hals über Kopf die Schwarze ein und fuhr nach Jönköping.

Schreibe nun gleich, mein Kind, damit Vater nicht länger auf Nachricht zu warten braucht, und erwähne in Deinem Brief kein Wort von dem, was wir zwei einander anvertraut haben. Ich werde Dich auch so verstehen, wenn der Brief kommt.

Deine alte Mutter

Dorothea Krohk, geb. Saling.

P. S. Gerade, als ich fertig war, hörte ich den Wagen in der Allee. Ich habe mit Mühe und Not noch den Brief verstecken können, ohne daß der Herr Rittmeister etwas gemerkt haben. Er hat übrigens noch nicht nach Nachricht von Dir gefragt. Er redet von nichts als vom Krieg und flucht, es stehe schlecht für die Dänen. Aber ich kenne ihn! Ich weiß, eines schönen Tags wird er wieder anfangen, zu fragen, warum wir eigentlich nichts von Dir hören. Und dann gibt er keine Ruhe, bis der Brief endlich kommt.

Küsse Deinen kleinen Jungen von Großmutter und sei glücklich und zufrieden.

D. O.


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