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Fünftes Kapitel

Als Konrad Olthov nach dem Tode des alten Barons zum erstenmal in die öden Zimmer hinaufstieg, deren Eingang ein Schutthaufen versperrte, kam es ihm vor, als sähe er ein Sinnbild des ganzen Erbes, das ihm der Vater hinterlassen hatte, vor sich. Trotzdem empfand er keinen Groll gegen den Verstorbenen. Einfach und praktisch, wie er überhaupt die Welt ansah, begriff er sofort, daß er das, was der Vater hatte in Trümmer sinken lassen, wieder aufbauen mußte. Als er dann seine Lage klarer überschaute, merkte er auch, daß es ihm an den Mitteln dazu nicht fehlte.

Die Leute kannte Konrad von Kindheit an, das Gesinde, die Tagelöhner, die Kätner, die in den Wäldern verstreut wohnten. Und nicht nur den Namen nach kannte er sie. Wenn er oft monatelang allein zu Hause gewesen war und der Vater ihn nicht hatte sehen oder nicht mit ihm reden wollen, hatte er manche Stunde, manchen Tag in den kleinen Häuschen verbracht, wo er doch wenigstens Menschen fand, mit denen er reden konnte. Daß man den Vater den »geizigen Baron« hieß, war ihm nur zu wohl bekannt. Als Knabe hatte er darüber gelächelt und es ganz natürlich gefunden. Als junger Mann war er daran gewöhnt gewesen, hatte die Sache eben genommen, wie sie war, hatte auch mehr als einmal versucht, wo es ihm möglich gewesen, einzuspringen und zu helfen. Viel hatte er freilich nicht ausrichten können. Jetzt aber war er der Herr; und das erste, was er sich nach des Vaters Tode zur Aufgabe stellte, war, das Schimpfwort »der geizige Baron« in Vergessenheit zu bringen. Das glaubte er dem Gedächtnis des Vaters schuldig zu sein.

Es war nicht schwer für Konrad Olthov, sich das Vertrauen der Untergebenen zu gewinnen. Er nahm ihnen gegenüber eine Stellung ein etwa wie ein ersehnter Kronprinz, der nach einem unbeliebten König endlich den Thron besteigt.

Die Monate, die Konrad im Feld verbracht hatte, hatten auch zu seiner Entwicklung beigetragen. Weil er nicht Offizier war, hatte er als Gemeiner dienen müssen. Und daß ein junger Mann seiner Stellung das überhaupt tat, war damals viel auffallender, als es heutzutage wäre. Ein Aufheben der Grenze zwischen Standesperson und gemeinem Mann lag darin, das Aufsehen erregen mußte. Aber gerade dadurch kam Konrad den Menschen, die er früher nur als untergeordnete betrachtet hatte, näher. Er hatte den Rock des gemeinen Mannes getragen, hatte an seiner Seite gearbeitet, hatte mit ihm gestritten und gelitten und hatte sich den Entbehrungen, die das tägliche Los des Soldaten waren, freiwillig unterworfen. Als er heimkam, brachte er einen Schatz von Lebenserfahrung mit, der schwerer wog als die Gefahren und Abenteuer, die er durchgemacht hatte.

Dieser junge Mann, der nie eine Jugend gehabt hatte, war alles andre eher als ein Schwärmer. Es fiel ihm gar nicht ein, die Stellung, die ihm zugefallen war, sentimental zu nehmen, sich als Kamerad und Gleichgestellten seiner dienenden Brüder aufzuspielen. Konrad Olthov hatte auch während der Militärzeit keinen Augenblick vergessen, daß er von Geburt berechtigt und verpflichtet war, zu befehlen. Aber er hatte gelernt, wie der Arme lebt und denkt, und diese Erfahrung nahm er mit nach Haus.

In der ganzen Gegend bildete sich bald eine Art Glorienschein um den Namen des jungen Barons. Er ließ zwar die alten Wohnungen wiederherstellen, soweit es zur Erhaltung des Hauses notwendig war. Aber er ließ sie nach wie vor abgeschlossen stehen und begnügte sich für seine Person mit den alten Stuben des Vaters im Erdgeschoß. Dagegen führte er in der Bewirtschaftung des Guts zeitgemäße Neuerungen ein, verbesserte die Wohnstätten seiner Untergebenen und half den Kätnern wieder auf. Von den Alten mußte er oft genug hören, daß er seine Arbeiter verwöhne und ihnen zu große Freiheiten einräume. Aber Konrad lächelte nur zu derartigen Einwendungen. »Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert«, antwortete er. Er wußte, daß seine Hand ebenso fest als freigebig war, und daß er sich wohl Gehorsam zu verschaffen vermochte.

Mamsell Kristin hatte bei Beginn der neuen Ordnung in aller Ruhe gekündigt und erklärt, sie wolle fort. Der alte Baron habe sie in ihr Amt eingesetzt, meinte sie; jetzt, da neue Kräfte walteten, fühle sie sich überflüssig. Konrad war nicht weiter überrascht von diesem Entschluß. Er hatte als Kind immer Angst gehabt vor Mamsell Kristins fast zudringlicher Freundlichkeit, und seit er erwachsen war, mißtraute er ihr, sowohl ihres Einflusses auf den Vater wegen und dann aus einem unbestimmten Gefühl des Unbehagens, das ihre kleinen runden Augen und zusammengekniffenen Lippen stets in ihm erweckt hatten. Er war darum auch keineswegs verwundert, als er nach ihrer Abreise mancherlei entdeckte, was er bisher wohl geahnt, aber doch nie mit Gewißheit durchschaut hatte. Als es sich schließlich herausstellte, daß sogar noch ein bißchen mehr zutage kam, als er heimlich vermutet hatte, da fragte Konrad geradezu: »Aber warum hat mir keiner früher davon gesagt; erst jetzt, wo es zu spät ist?«, erhielt aber nur wenig befriedigende Auskunft. Es wurde ihm nur eins klar: daß Mamsell Kristins Macht sich hauptsächlich auf Furcht und eine unbestimmte Überschätzung ihres Einflusses auf die Herrschaft gestützt hatte.

Aber er vergaß die ganze Geschichte bald. Er hatte Wichtigeres im Kopf. Besonders eine Sache war es, die ihn von Tag zu Tag mehr beschäftigte. Konrad Olthov ging auf Freiersfüßen. Dazu trug in hohem Grade die Erkenntnis bei, daß er auf die Dauer seinen Haushalt unmöglich allein weiterführen konnte. Konrad hatte sich in kurzer Zeit zu einem klarblickenden, praktischen Mann entwickelt, der selber glaubte, er habe die Jugendträume für immer hinter sich gelassen.

Das Mädchen, das er dabei im Auge hatte, war die Tochter des Kreisarztes, der eine kleine halbe Stunde vom Herrenhof entfernt wohnte. Ferdinand Hesse war ein Mann zwischen fünfzig und sechzig, Witwer, der Typus eines Landarztes vom alten Schrot und Korn. Wenn er im Regenkragen, die Kapuze über die Mütze gezogen, in seinem Kabriolett vorüberfuhr, behaupteten die Leute oft, er sähe ausländisch aus. Und das war des Doktors Stolz. Er hatte in der ersten Zeit seines Witwertums, um die Trauer um seine allzufrüh verstorbene Frau zu verscheuchen, ein halbes Jahr in Paris zugebracht und fand nach seiner Rückkehr, es sei eine von den vielen Ungerechtigkeiten des Schicksals, daß gerade er dazu verdammt sein sollte, in einem Winkel der Provinz zu vegetieren. Wenn er aber winters in seinem Wolfspelz und der Mütze mit den Ohrklappen aus Waschbärfell in seinem Schlitten saß, da pries er doch sein altes Schweden, wie übrigens auch ebensooft zur Mittsommerzeit. Winterwetter und frischer Schnee, das war des Doktors Lieblingswetter, und wenn die Schlittenschellen unter den Tannen hinbimmelten, rieb er sich zufrieden die Backen, um sie gegen die Kälte zu schützen. In seinen buschigen Augenbrauen, dem langen Schnurrbart mit den dünnen Spitzen und dem Kinnbart, der à la Napoleon III. zugestutzt war und jetzt grau zu werden begann, saß der Reif. Und die grauen Augen schauten noch lustiger als sonst zu der soliden Goldfassung der Brille heraus.

Die Doktorwohnung lag auf einem kleinen Birkenhügel oberhalb der Landstraße, und sooft der Doktor darauf zu sprechen kam, schimpfte er über die verflixten Bauern, die das Haus nicht an den See hinunter gebaut hätten, wo man den Ausblick übers Wasser gehabt und im Sommer direkt vom Zimmer aus sein Bad hätte nehmen können, ohne sich gleich einen Rheumatismus zu holen in diesem verfluchten schwedischen Klima! Trotzdem sah das geräumige Haus recht einladend und behaglich aus mit seinem saubern grünen Staket um den wohlgepflegten kleinen Garten, dem Giebel mit den drei kleinen Fenstern über der Veranda und der glänzenden Glaskugel, die auf einer Stange mitten auf dem geschorenen Rasen stand.

Konrad Olthov hatte gleich nach dem Tod des Vaters einen ersten Besuch im Doktorhaus gemacht, um dem Doktor für seine Bemühungen um den Verstorbenen zu danken. Dann war er wieder gekommen, um sich in allerhand sanitären Fragen, die ihn als Gutsherrn interessierten, Rats zu erholen. Schließlich kam er, weil ihm die Gesellschaft des Doktors behagte, und weil er fühlte, er war willkommen. Auch, weil des Doktors junge Tochter ihn anzog.

Edith Hesse war eine blonde ländliche Schönheit von ungefähr zwanzig Jahren. Als Konrad sie das erstemal sah, trug sie ein weißes Kleid und einen gelben Strohhut, der wie ein riesiges Blatt über ihrem jungen Antlitz mit den lebhaften Farben und den tiefblauen, von dunklen Brauen überschatteten Augen schwankte. Der Kontrast zwischen diesen Augen und dem blonden Haar war es, der den jungen Mann fesselte. Dazu hatte die schöne Edith eine volle, kräftige Stimme. Und als Konrad spät in der Juninacht heimritt, dachte er an Thora.

Er hatte lange nicht mehr an sie gedacht. Es war, als hätten die Erlebnisse der letzten Monate einen breiten Strich gezogen zwischen dem Traum der Vergangenheit und der Wirklichkeit, in der er jetzt lebte. Wie ein Traum erschien Konrad seine ganze erste Jugend. Der Traum war davongeglitten, als er zum erstenmal in seiner dänischen Soldatenuniform Wache stand und sich bewußt wurde, daß er eine Verantwortung hatte. Und jetzt schien er ihm so fern, als lägen statt Monaten Jahre, statt Jahren Jahrzehnte dazwischen. Seine junge Männlichkeit war gereift, und im ersten Übermut des Kraftgefühls, das damit kommt, fühlte Konrad nur noch, daß sein neues Ich stärker war als das alte, daß alles, was er früher erlebt hatte, weggeweht war wie von frischen, kräftigen Winden. Nie kam ihm der Gedanke, daß das, was jetzt schlief, dereinst wieder zum Leben erwachen und sich Gehör erzwingen könne.

Das Pferd ging Schritt, und Konrad ließ es ruhig gewähren. Die Nacht war licht, der Tannenwald duftete. Er dachte an Thora. Thora war der Mittelpunkt gewesen in der Welt, die ihm jetzt so fern lag. Sie war die Märchenprinzessin, die Prinzessin im Schloß, das in Schlaf und Traum versank, während Rosenranken darüber zusammenschlugen. Als das Schloß seinen Blicken entschwand, da nahm es auch die Prinzessin mit, und auch sie entschwand. Er versuchte an Thora zu denken; aber sie war ihm unwirklich, als hätten sie sich vor langer, langer Zeit einmal gesehen, als hätte das, was zwischen ihnen gewesen war, keine Bedeutung. Er war als Liebender an ihrer Seite gegangen, und wenn sie ihn angelächelt hatte und fröhlich gewesen war, hatte er geglaubt, sie erwidere seine Liebe. Dann hatte sie, ohne zu ahnen, was er litt, einen andern geheiratet; und als sie einander wiedersahen, war es, als hätten sie sich immer geliebt, als wäre nur das Schicksal dazwischengekommen und hätte sie geschieden.

Konrad dachte an all das, als wäre es einem Fremden geschehen. Die letzten Stunden auf Åkerup, die Wanderung durch den Schnee in früher Morgenstunde, der Schlitten, der vor ihnen herfuhr – alles war ihm so unwirklich, als habe er es geträumt oder in einem Buch gelesen. Thora selbst glich einem kleinen scheuen, erschreckten Vögelchen, das nicht zu zwitschern wagt, weil eine schwere Hand es gefangen hält und nicht loslassen will. Thora würde nie wiederkommen. Unwiderruflich hatte sie ihn verlassen, so wie all das Alte, Unheimliche, das der Vater bei seinem Tod mit sich genommen hatte.

Konrad fuhr aus seinen Träumen auf. Er sammelte die Zügel und setzte das Pferd in Trab. Um sein Gesicht wehte kühlend die Nachtluft.

Von diesem Tag an suchte er stets Edith auf, wenn er zum Doktor kam. Das junge Mädchen in seiner Einsamkeit war froh, wenn ihr jemand Gesellschaft leistete. Sie war seit ihrem zehnten Jahr mutterlos und daran gewöhnt, mit Männern zu verkehren, hatte auch manches Buch gelesen, das sich sonst damals selten in die Hände eines jungen Weibes verirrte. Sie versuchte erst, Konrads Interesse für Bücher zu wecken; als dies mißglückte, ließ sie das Thema ruhig fallen und unterhielt ihn auf andre Weise. In ihren Augen war Konrad eine Art Held. Was keiner von ihren Bekannten gewagt hatte, das hatte er getan. Er hatte sich in Kugelregen und Pulverdampf gestürzt; und die Narbe des Säbelhiebs, der ihm die linke Wange aufgerissen hatte, kleidete ihn gut. Er war ein Mann, dem die meisten Frauen gern ihre Liebe geschenkt haben würden; denn seine ganze Persönlichkeit atmete etwas von der Zuverlässigkeit, der Frauen sich blindlings anvertrauen können. Daß er nie von seinen Abenteuern sprach, fand sie stolz und vornehm. Daß er es verstand, sein Gut zu bewirtschaften, und daß er stets Herr seiner Handlungen war, erfüllte sie mit einer Art ahnungsvollen Glücks, und nie freute sie sich mehr auf den Nachmittag, als wenn Konrads Brauner um die Mittagszeit auf den Hof getrabt kam.

Für Konrad wiederum war Edith nicht nur das Weib, das sein Blut erregte und seine Sinne jubeln machte. Sie war ein Teil der Wirklichkeit, in die er jetzt gehörte. Sie war die Wirklichkeit selbst, die schönste, vollste, lebenskräftigste, die er je gesehen hatte. Und er selbst war voller Leben; ihr Anblick weckte keine Träume in ihm. Sondern sie zog ihn an sich mit all der frischen, jubelnden Gewalt eines erwachenden Jugendbewußtseins. Es duldete ihn nie lange fern von ihr. Die Wirklichkeit in dieser Gestalt erschien Konrad tausendmal herrlicher als alles, was der Traum ihm schenken konnte. Er nahm sie mit zum Reiten und freute sich, wie gut sie im Sattel saß und wie sicher sie ihr Pferd lenkte. Er lehrte sie mit dem Segelboot umgehen und ergötzte sich daran, daß sie das Segeln vertrug und Wind und Wellen nicht scheute. Wie im Spiel verging der Sommer. Und in dem Spiel wuchs Konrads Arbeitskraft, und er reifte immer mehr zum Mann.

Doktor Hesse sah dem Spiel der Jungen zu und freute sich daran. Er hatte selbst eine kurze glückliche Ehe erlebt und gehörte zu den guten Naturen, die die Einsamkeit nicht verbittert. Das Leben hatte ihm einen freundlichen, humorvollen Blick für Menschen und menschliche Verhältnisse im allgemeinen gegeben, und seiner Tochter erwies er eine Art ritterlicher Aufmerksamkeit, die an das freundschaftliche Verhältnis eines liebenswürdigen alten Herrn zu einer ihm sympathischen jungen Dame erinnerte. Jedenfalls erinnerte seine Art der Tochter gegenüber so wenig wie nur möglich an das damals übliche Verhältnis zwischen Vater und Tochter. Wenn er auf seiner Veranda saß und den beiden jungen Leuten zusah, lächelte er wohl manchmal in den Napoleonbart, der an die Pariser Zeit gemahnte, aber als kluger und in Liebesangelegenheiten erfahrener Diplomat ließ sich der alte Herr beileibe nichts anmerken. Das Verhältnis zwischen den jungen Menschen sollte sich natürlich und ohne irgendwelche Eingriffe seinerseits entwickeln. Doktor Hesse war Freidenker, und sein Zutrauen zu der Macht der Natur war unbegrenzt. Außerdem war er auch ein praktischer Mann und sagte sich nicht ohne Grund, daß seine Tochter schlechter fahren könne, als wenn sie Baronin auf Granås würde.

Mittlerweile verging der Sommer und nach ihm der Winter, und noch immer setzte Konrad seine Besuche im Doktorhaus fort. Er nahm das Leben ruhig, er übereilte sich nicht; und wenn der Doktor, der ein alter Feuerkopf und überhaupt ein heißblütiger Herr war, etwas an dem jungen Mann auszusetzen fand, so war es, daß es diesem augenscheinlich ein bißchen an dem Mut und dem Draufgängertum gebrach, die ihn selbst in den Liebeshändeln seiner Jugend ausgezeichnet hatten. Konrad kam und ging. Er erwies Edith die augenfälligsten Aufmerksamkeiten und ließ keine Woche vergehen, ohne daß er einen Abend im Hause des Doktors verbrachte oder Vater und Tochter im Wagen nach Granås holen ließ.

Wer die beiden zusammen sah, konnte sie ganz wohl für Bruder und Schwester halten. So ungezwungen war ihr beiderseitiges Verhältnis, so frei von allem, was damals Kurschneiderei hieß und heutzutage Flirt genannt wird. Auf jeden Fall waren es zwei prachtvolle Menschenkinder. Doktor Hesse hatte immer wieder seine Freude an dem hübschen Anblick, und er war nie zufriedener, als wenn auch andre diese Freude teilten. Dann lächelte und schmunzelte er ganz heimlich in sich hinein. Mehr als einmal mußte er sich's selbst gestehen, daß die schwiegersohnhungrigste Mutter nicht gieriger drauf aus sein konnte, ihre Tochter unter die Haube zu bringen, als er. Manchmal mußte er sich geradezu Gewalt antun, um seine Ungeduld zu zügeln. Er sah ja doch längst, wo es hinauswollte, und es gehörte nun einmal zu seinen Theorien, daß es für einen Vater nichts Schrecklicheres gab, als wenn seine Tochter eine alte Jungfer wurde.

Schon war der zweite Sommer vergangen, seit Konrad Olthov das Erbe seines Vaters angetreten hatte, und der Name des »geizigen Barons« fing schon an, zur Legende zu werden. Die Menschen vergessen schnell, wo es sich um ein Übel handelt, dem sie glücklich entronnen sind, und die Verhältnisse auf dem Gut hatten sich merklich geändert. Das Herrenhaus selbst wurde hergerichtet, Tag für Tag ward gehämmert und gemauert; und der Garten war überhaupt nicht wiederzuerkennen. Bäume und Büsche waren beschnitten und von Flechten gereinigt, die großen Hecken waren gestutzt, die Wege geharkt und eingefaßt. Den ganzen Sommer hatten Rosen, Levkoien, Reseda, Wicken und Stiefmütterchen in Beeten und Rabatten geblüht. Jetzt ließen die letzten Dahlien nach dem ersten Reif die erfrorenen Köpfe hängen, und die goldenen Scheiben der Sonnenblumen hingen mit braunen Rändern an den Stengeln.

Da kam eines Nachmittags Konrad Olthov vors Doktorhaus gefahren. Diesmal fragte er nicht nach Fräulein Edith, sondern ging geradeswegs zum Doktor hinein. Und dort brachte er verlegen und doch mit einem Lächeln seine Bitte vor: er gestatte sich, bei seinem geschätzten Freund um Fräulein Ediths Hand anzuhalten. Am Abend desselben Tags waren die beiden verlobt.

Als Konrad in dieser Nacht nach Hause fuhr, war er glücklich und zufrieden. So glücklich wie überhaupt noch nie, dachte er bei sich. Die Nacht war dunkel, die Wagenlaternen waren angezündet und schickten hastig vorübereilende Lichtwogen in den Wald hinaus, dessen hohe Tannen wie Riesenschatten zu beiden Seiten standen. Konrad hatte sich im Wagen zurückgelehnt; sein Herz war ganz erfüllt von der glückseligen Gewißheit, daß er, noch ehe viele Monate vorüber waren, diesen Weg wieder fahren würde. Und Edith würde als sein Weib an seiner Seite sitzen. Lichtere Träume hatten ihn nie umschwebt ...

Der Wagen fuhr durch die alte Allee mit ihren hohen, spitzen Pappeln, deren helle Stämme im schwebenden Schein der Laternen vorüberblinkten. Sie näherten sich dem Haus; der Kettenhund bellte; und als der Wagen vor der Haustreppe hielt, wartete schon Barbro, um den Schlag zu öffnen. Mit einem herzhafteren Gutenacht als gewöhnlich ging Konrad in sein Zimmer. Noch nie seit seiner Kindheit, seit die Mutter an seinem Bett gesessen, ehe er einschlief, hatte er es so tief empfunden, daß er eine Heimat hatte.

Noch lange saß er in dem großen Lehnsessel in seines Vaters altem Zimmer und dachte an alles, was kommen würde. Alles erschien ihm ruhig, gut, verheißungsvoll. Die Arbeit würde noch besser gehen als bisher. Alles, was jetzt erst angefangen war, würde dann vollendet werden. Denn er würde ein Weib haben, das ihm half. Er dachte an Edith; aber nicht wie ein junger Mann, der sich geliebt weiß und sich danach sehnt, die Geliebte zu besitzen. Konrad merkte das selbst und lächelte. Wie verschieden ist doch alles, was man träumt, dachte er, gegen die Wirklichkeit, wenn sie im vollen Glanz des Lebens kommt.

Aber im Schlaf träumte Konrad von Thora. Er sah sie einsam auf einer schneebedeckten Ebene gehen, auf einem Weg voll tiefer Schlittenspuren, in denen sie sich mühsam vorwärtsarbeitete. Sie ging von ihm fort, und er tat nichts, um sie zurückzurufen, um sie zu veranlassen, sich umzuwenden und dahin zu sehen, wo er stand.

Er erwachte mit dem quälenden, wirren Gefühl, daß er Thora gewissermaßen untreu geworden war. Es wunderte ihn selbst, daß er von ihr geträumt hatte. Er hatte schon so lang nicht mehr an sie gedacht.

 

Es war einen Monat später. Der Wind blies kalt über Åkerup mit dem offenen Feld vor der Anhöhe und dem waldigen Bergrücken, der eng und düster über dem dämmernden Tal aufstieg. Es war ein Abend im Oktober. Die Läden waren schon geschlossen; aus den halbmondförmigen Ausschnitten fiel der Schein der Lampen und Lichter in zitternden Flecken ins Dunkel des Hofs.

Thora wanderte stumm und einsam durch die Zimmer. In der Kinderstube schliefen jetzt zwei: Hans, der schon vier Jahre alt war, und in der Wiege ein kleines, zartes, mageres Bübchen mit großen Augen und krankhaft weißem Gesicht, in Trauer getragen, in Leid geboren. Auf Thoras Gesicht lag ein Zug von Gleichgültigkeit und Müdigkeit, etwas unsagbar Gehetztes, Gejagtes. Sie ging rasch, als habe sie große Eile.

Gewohnheitsmäßig sah sie nach, ob überall alles in Ordnung war. Dann ging sie in die Küche und sah nach dem Abendessen. Der Disponent mußte jeden Augenblick heimkommen. Von der Küche ging sie ins Kinderzimmer und setzte sich an das Bett des kleinen Neugeborenen. Hier brachte Thora den größten Teil ihrer Zeit zu. Es war, als habe sie sonst überhaupt nicht mehr viel übrig. Sie war jetzt nur noch Mutter, die Mutterschaft hatte ihren ganzen übrigen Menschen verschlungen, hatte sie unterjocht, sie zur gehorsamen Sklavin ihrer Allgewalt gemacht.

Stundenlang konnte sie am Bett des Neugeborenen sitzen. Er war schon getauft. Gleich nach der Geburt war es geschehen, im Beisein zweier Nachbarn, die rasch als Zeugen geholt worden waren. Lars Evald war der Kleine getauft, Lars war der Rufname. Aber für Thora hatte er keinen Namen, für sie war er nichts als der kleine Neugeborene, der ihre Hoffnung betrogen hatte, weil er so klein und schwach und kränklich war, und den sie eben darum auch keinen Augenblick lang verlassen konnte.

Es war noch stiller geworden um Thora als früher. Immer weniger verstand sie das Leben, das sie umgab. Ihr war, als lebe sie in etwas ganz Unwirklichem, in dem ihr Ich mehr und mehr verschwand. Wenn sie am Bett des Kleinen saß, las sie oft in der Bibel. Solange sie las, vergaß sie ihre eignen Gedanken, und es ward ruhig in ihr. Wenn sie die Bibel weglegte, sagte sie sich: Es muß wohl so sein; es ist Gottes Wille. Aber bald darauf kam die Unruhe wieder und zwang sie aufs neue, ihre Zuflucht zu dem alten Buch zu nehmen. Immer wieder kehrte die Frage zurück: Warum brachte er nicht Freude und Trost?

Thora hätte sie brauchen können jetzt. Statt dessen kam eine neue Sorge. Bruce hatte sein Herz ernstlich von ihr abgewendet. Täglich sah sie es deutlicher. Über die Ursache grübelte sie schon längst nicht mehr nach. Sie fühlte sich nur immer kleiner und geringer seiner Kälte gegenüber. Nie konnte sie es ihm recht machen; nie gab er ihr ein gutes Wort. Wenn das Kind da ist, hatte sie gedacht, wird er weicher werden, wird er mich nicht mehr so hart ansehen. Das Kind kam. Es war schwächlich und krank. Und jetzt war es das Kind, das ihr Unglück war, das die Kluft zwischen den Gatten noch tiefer machte. Thora glaubte, ihr Mann zürne ihr, weil sie ihm ein schwächliches Kind geboren hatte. Bruce sah nur selten nach dem Kleinen, und Thora sah wohl, wie es ihn quälte, wenn seine Blicke auf das kleine blasse Gesichtchen fielen.

So saß sie im Kinderzimmer, und merkte nicht, wie die Zeit verging. Malin kam und fragte, ob man noch länger mit dem Abendbrot warten solle.

»Noch ein bißchen wollen wir warten,« erwiderte Thora. Sie hatte ganz vergessen, wie spät es war.

Wieder kam Malin und wiederholte dieselbe Frage.

»Wieviel Uhr ist es?« sagte Thora.

»Über elf,« erwiderte das Mädchen.

So spät?

Thora war auf einmal hell wach. Bruce hatte gesagt, er würde um acht zurück sein. Er war sehr pünktlich und pflegte stets Wort zu halten.

»Es wird am besten sein, du deckst ab,« meinte Thora.

Als das Mädchen wieder draußen war, kam eine seltsame Unruhe über Thora. Sie ging hastig hinaus in das niedere Vestibül, in dem die Hängelampe brannte. Dort stand sie lange und lauschte, als könne sie von hier aus das Wagenrasseln leichter hören als vom Kinderzimmer. Die Stille machte sie aber nur noch unruhiger; sie warf ein Tuch um die Schultern, öffnete die Tür und trat hinaus auf den Hof. Dann blieb sie im Dunkel stehen und horchte wieder, während ihr der Sturm das Kleid zerwehte. Sie war jetzt in einer solchen Spannung, daß sie ganz vergaß, wie sie sich sonst immer im Dunkeln fürchtete. Ohne zu wissen weshalb, begann sie langsam um das ganze niedere Gebäude herumzugehen. Die Lichtflecken aus den Halbmonden der Läden beleuchteten ihren Weg, und der dänische Hofhund, der für die Nacht losgekettet war, folgte ihr dicht auf den Fersen. Vor der Veranda blieb sie stehen und lauschte dem Rascheln des wilden Weins, der gegen das Holzwerk schlug. Die nackten Äste der Linden über ihr ächzten. Thora blickte hinüber nach dem Berg. Dunkel, fest und hoch erhob er sich zu den weißen Wolken, die der Sturm vor sich herjagte. Tief unten, zu Füßen des schweigenden Dunkels, schimmerte aus einem einsamen Haus herüber Licht.

Gedankenlos stand Thora da und starrte hinüber nach der dunklen Mauer, hinter der die Welt lag, die Welt, in die sie nie wieder zurückkehren sollte. Sie fror. Sie ging weiter, um das ganze niedere Gebäude herum, und kam wieder auf den Hof. Von der Landstraße tönte eine Stimme, die sang, das Klappern von Pferdehufen, das Rasseln eines Wagens. Der Lärm verhallte hinter dem nächsten Birkenhügel, und Thora schlich sich wieder zu der großen Haustür hinein, die schwer hinter ihr zufiel.

Ihre Unruhe war nicht verschwunden, aber weil es schon so spät war, ging sie in ihr Zimmer, um sich zur Ruhe zu legen. Im selben Augenblick kam Malin auf Strümpfen ins Schlafzimmer und rief ihr halblaut zu, es wolle jemand sie sprechen. Thora ging in den Salon zurück und fand dort einen Mann, den sie gut kannte. Es war der Gemeindeschullehrer, ein alter komischer Kauz mit übertrieben höflichem Getue und einem Anflug von Eleganz in seiner Kleidung, die sein Aussehen nur noch ärmlicher machte. Der Mann stand an der Tür und dienerte und brachte kein Wort heraus. Ein paarmal hintereinander mußte Thora ihn ermutigen, doch zu sagen, was er auf dem Herzen habe. Stammelnd und nach vielem Hin und Her brachte er endlich heraus, es sei ein Unglück geschehen, und zwar mit dem Disponenten. Aber er war so aufgeregt, daß er sich fortwährend selbst widersprach. Thora ließ ihn reden. Sie war ganz ruhig, unbeweglich, als ginge die Sache sie gar nichts an. Schließlich verstummte der Schullehrer und wischte sich die Stirn, die feucht von Schweiß war. Verwirrt schaute er auf die Mädchen, die inzwischen aus der Küche gekommen waren.

»Ist mein Mann tot?« fragte endlich Thora. Ihre Stimme klang so ernst und ruhig, daß sie gerade deshalb nur noch unheimlicher wirkte.

Nein, tot war er nicht. Aber er war krank, man konnte ihn nur langsam nach Hause bringen. Den Schullehrer hatte man vorausgeschickt, damit er die gnädige Frau vorbereiten sollte. Aber er hatte seinen Auftrag schlecht ausgerichtet. Ehe er sich überhaupt so weit gefaßt hatte, daß er das Nötige sagen konnte, schlug schon der Hofhund an; Räder knirschten draußen auf dem Sand, und gedämpfte Stimmen klangen über den Hof.

Alle stürzten ins Vestibül und hinaus. Nur der verschüchterte Schullehrer schlich sich heimlich über die Hintertreppe und verschwand. Zuletzt kam auch Thora auf den Hof. Mit weitaufgerissenen Augen stand sie da und starrte auf den Leiterwagen, auf dessen Boden eine menschliche unbewegliche Gestalt lag. Sie wagte nicht, näher zu gehen. Sie sah, wie die Männer die Gestalt aufhoben und ins Haus trugen, sah eine schwere, schlaffe Hand, die leblos niederhing, ein bleiches Gesicht mit geschlossenen Augen, das die Hängelampe des Vestibüls unsicher beleuchtete. Dann war die Erscheinung verschwunden. Thora stand da wie in einem Traum. Erst als sie Stimmen hörte, die nach ihr riefen, kam sie zum Bewußtsein.

Im Schlafzimmer lag Bruce. Er atmete kaum vernehmlich, die Lippen waren fest geschlossen, das Haar, das ihm in die Stirn fiel, war feucht. Eine flüsternde Stimme berichtete, er sei irgendwo gestürzt und wie tot liegen geblieben; man habe ihn aufgehoben und in seinen Wagen gelegt. Es habe so lange gedauert, weil der Kutscher ganz allein mit ihm gewesen sei, als er stürzte, und ihn nicht hätte allein lassen und auch nicht aufheben können. Der Kutscher sei dann nach dem Doktor gefahren, so schnell als nur möglich.

»Ja, ja,« flüsterte Thora zurück, »ja, ich verstehe.« Aber tatsächlich verstand sie gar nichts. Erst als die Leute, die ihn hereingetragen hatten, sich leise verzogen, wagte sie sich an die Seite ihres Mannes.

Langsam schleppten sich die Nachtstunden hin. Als der Doktor kam, lag Bruce noch immer mit geschlossenen Augen da. Die Atemzüge waren schwerer und heiserer geworden, die Lider lagen noch immer über den Augen. Der Doktor konnte nichts tun; er sprach von einem alten Herzfehler, einem Herzschlag, verweilte ein paar Stunden am Sterbebett und fuhr dann wieder nach Hause, weil er doch nichts ausrichten konnte. Thora hörte seine Worte und wunderte sich nicht einmal darüber, daß sie gar nichts davon gewußt hatte. Ein Herzfehler, dachte sie. Ein Herzfehler ist etwas, an dem man sterben muß. Zum Doktor sagte sie etwas wie, daß sie es schon lange wisse. Sie hatte das Gefühl, als dürfe sie ihm gegenüber nicht eingestehen, daß sie, Bruces Frau, nichts davon gewußt hatte. Dann fuhr der Doktor fort, und der Tod war Alleinherrscher auf Åkerup. Und Thora saß einsam am Bett ihres Gatten und wartete auf ihn.

Sie mußte mehrere Stunden warten, ehe Bruce die Augen aufschlug. Als er es endlich tat, hörten die schweren Atemzüge auf; und Thora, die noch nie einen Menschen hatte sterben sehen, glaubte, es sei das Ende. Als sie dem Blick ihres Mannes begegnete, der den ihren suchte, zuckte sie zusammen. Sie näherte sich dem Bett. Warm und mild, wie er sie schon längst nicht mehr angesehen hatte, blickte Bruce zu ihr auf. Warum haben wir zwei es nicht besser miteinander verstanden? mußte Thora denken.

»Setz' dich her,« sagte Bruce und deutete auf das Bett.

Seine Stimme klang ganz leise. Thora erkannte sie kaum wieder. Schweigend gehorchte sie; sie kämpfte mit den Tränen. Auf Bruces Gesicht lag der Ausdruck, der sogar denen, die nicht wissen, wie ein Mensch stirbt, deutlich zeigt, daß das Ende nahe ist. Auch Bruce selbst wußte es, das sah Thora wohl. Und als er jetzt nach ihrer Hand tastete, faßte sie die seine und hielt sie fest.

»Du warst zu jung für mich,« sagte Bruce. »Du hast es nicht gut gehabt.«

Thora schüttelte bloß den Kopf; sie fand keine Worte.

»Ich weiß es,« fuhr der Sterbende fort. »Ich habe es wohl gesehen, wie schwer es dir geworden ist. Aber ich konnte nichts tun. Ich paßte nicht zu dir.«

Thora fühlte, daß jedes Wort, das ihr Mann jetzt sagte, Wahrheit war. Hätte er das früher sagen können, so wäre alles für sie beide leichter gewesen. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, ihm zu widersprechen. Die Wahrheit war größer und wärmer für sie. Und Thora fühlte bei den Worten ihres Mannes, wie etwas in ihr sich löste und frei ward.

»Du hast es auch nicht leicht gehabt mit mir,« war das einzige, was sie stammelnd herausbrachte.

Bruce schloß wieder die Augen und lag lange Zeit ganz still. Thora sah an seinem Gesicht, daß er mit etwas kämpfte, was er noch sagen wollte. Endlich blickte er wieder auf und sprach leise, aber deutlich und klar: »Du mußt mir glauben, was ich jetzt sage: ich hab' es gut gemeint mit dir, als ich dich zu meiner Frau machte.«

Mehr sprach keins von den beiden; und ein paar Stunden später war Bruce tot.

Thora verließ das Sterbezimmer, um sich in Ruhe auszuweinen. Ihre Tränen flossen still, aber sie weinte lange und bitterlich. Sie war sich selber nicht im klaren, was sie empfand.

Am folgenden Tag kam die alte Frau Bruce. Ihr Gesicht war ganz erstarrt, wie tot. Sie umarmte Thora und weinte und war so freundlich, wie Thora sie noch nie gesehen hatte. Dann ging die alte Frau allein hinein an ihres Sohnes Totenbett. Er war schon aufgebahrt; die Vorhänge im Zimmer waren herabgelassen; tiefe Dämmerung herrschte. Lange blieb Frau Bruce in dem stillen Raum; als sie wieder herauskam, schritt sie aufrecht und fest wie immer. Ihr Gesicht zeigte wieder etwas von der gewohnten Schärfe; aber in ihren Bewegungen drückte sich doch eine Ruhe aus, als könne sie nie wieder vergessen, daß sie eine Mutter war, die um ihren Sohn trauerte.

Thora hatte seit der Ankunft der Schwiegermutter das Gefühl, als sei sie überhaupt nicht mehr Herrin in ihrem eignen Haus. Die Schwiegermutter nannte sie »Kindchen« und ermahnte sie, auszuruhen. Die Schwiegermutter gab Befehle in der Küche und ordnete das Begräbnis an. Unermüdlich, immer wachsam, war sie von morgens bis abends auf den Beinen. Wenn sie irgendwelchen Bescheid haben wollten, wandten sich die Dienstboten ganz instinktiv an sie. Es war, als suche sie zu vergessen, daß sie dereinst des Sohnes Haus fremden Händen überlassen hatte. Thora war auch ganz damit zufrieden. Tagelang schlich sie umher wie im Fieber. Diese harte und unerwartete Wendung hatte sie völlig gelähmt. Sie ließ alles gehen, wie es wollte. Sie saß den ganzen Tag drinnen bei den Kindern; und wenn sie schliefen, entschlummerte auch sie und schlief wie nach einer langen Krankheit.

Drüben in der Wohnung herrschte einsam die alte Frau Bruce und ordnete alles für das Begräbnis an. An alles dachte sie, nichts wurde vergessen. Still und aufmerksam ging sie durch die Zimmer, die sie so wohl kannte; und unter ihren wachsamen Augen ging alle Arbeit rasch von der Hand. Was sie dachte und fühlte, das wußte niemand. Aber jeden Tag saß sie eine Weile am Totenbett des Sohnes. Das war das einzige Ausruhen, das sie sich gestattete. Einmal fragte sie die Dienstboten, ob Frau Thora drin sei. Keiner wußte es sicher, aber sie hielten es für unwahrscheinlich. »Es ist gut!« antwortete ruhig die alte Dame. Aber das Funkeln, das ihr dabei in die Augen sprang, war nicht vom Guten.

So war die alte Frau Bruce also wieder nach Åkerup zurückgekehrt. Und mehr und mehr machte sich bei ihr die Überzeugung geltend, daß es besser gewesen wäre, wenn sie geblieben und diese Heirat, die sie doch einst so heftig gewünscht hatte, gar nicht zustande gekommen wäre. Ihre Augen fielen auf Thora, die müßig, zerbrochen, als habe sie überhaupt keinen Willen mehr, durchs Haus schlich; und im stillen gab sie ihr die Schuld an gar mancherlei. So kantig und verschlossen, wie der Sohn in den letzten Jahren seiner Ehe geworden war, hatte die Mutter ihn doch früher nie gekannt. Und je mehr sie an dies junge Weib dachte, das ihren Sohn betört und ihm das Leben verbittert hatte, desto mehr stieg ihre eigne Bitterkeit. Ihr Unwille gegen die Schwiegertochter wuchs schließlich bis zu dem Grade, daß sie ihr, allen Vernunftgründen zum Trotz, im innersten die Schuld daran beimaß, daß das Herzleiden des Sohnes seine kräftige Natur so rasch untergraben hatte. Eine andre Frau, dachte die alte Dame, hätte ihn länger ans Leben gefesselt. Ihr ganzes Wesen Thora gegenüber änderte sich mehr und mehr, und schließlich kostete es sie geradezu eine Überwindung, überhaupt noch mit ihr zu sprechen.

Am Tage vor der Beerdigung war sie aber doch dazu gezwungen. Eine gewichtige Frage nötigte sie dazu. »Wann kommen deine Eltern?« fragte sie.

Thora sah sich hilflos um. Sie fühlte, jetzt würde die strenge alte Dame sehr böse werden; sie hatte auch nicht recht gehandelt. Sie verstand selber gar nicht, wie sie so hatte sein können.

»Vater und Mutter wissen noch gar nichts,« sagte sie zitternd. In ihrer Stimme kämpften die Tränen. Sie sah so erschrocken aus wie ein Kind, das etwas vergessen hat, was die Großen von ihm verlangen und Pflicht nennen.

Auf den Wangen der alten Frau zeigten sich zwei scharfe rote Flecken. Das ging denn doch über alle Begriffe. Das war gegen allen Schick und Brauch und mußte ja unter den Nachbarn und in der ganzen Umgegend zu böswilligem Klatsch über die Ehe des Sohnes Anlaß geben. »Eine Tochter, die ihre Pflichten kennt, handelt nicht so an ihren Eltern,« sagte sie hart. »Dann schreib wenigstens noch heute, damit sie es nicht zuerst von andern erfahren.«

Das wollte Thora auch. Sie wußte wohl, daß sie nicht recht gehandelt hatte den Eltern gegenüber, und es gab ihr einen Stich ins Herz, wenn sie daran dachte, wie schlecht sie auch hier ihre Pflicht erfüllte. Aber sie konnte nicht schreiben. Sobald sie es versuchte, kamen ihr die Tränen und verdunkelten ihre Augen und befleckten das Papier. Sie wußte ja auch: was sie gern gesagt hätte, das konnte sie in einem Briefe doch nicht sagen. Sie erhob sich vom Schreibtisch und ging hinüber ins Sterbezimmer, in dem sie seit der Ankunft der Schwiegermutter überhaupt nicht mehr gewesen war. Ihr war, als müsse sie den Toten um Verzeihung bitten, daß sie war, wie sie war, und sich auch gar nicht bessern konnte. Die alte Frau erblickte Thora, als sie verweint aus dem Zimmer kam. Und wider Willen fühlte sie sich milder gestimmt gegen die Schwiegertochter. Sie schüttelte den Kopf und dachte bei sich, Thora sei doch ein schwaches Kind, aus dem kein Mensch klug werden könne.

In ihrem schwarzen Kleid mit der breiten weißen Trauerkrause über der Brust und den weißen Ärmelaufschlägen trat Thora unter die Gäste. Ihr Gesichtchen sah noch weißer aus als sonst in dieser Tracht. Wie eine Schlafwandlerin bewegte sie sich unter den vielen fremden Menschen, die, sobald sie in ihre Nähe kam, leiser sprachen und, wenn sie vorüber war, bedeutungsvolle Blicke austauschten. Der Sarg wurde herausgetragen; sie saß im ersten Wagen neben dem Pfarrer. Die Fahrt zur Kirche wurde ihr lang und die feierliche Rede des Geistlichen am Grab noch länger. Dann stand sie neben der Schwiegermutter und hörte die Beileidsworte der fremden Menschen an. In dem feinen, blassen Gesicht verzog sich keine Miene. Nur ein einziges Mal entschlüpfte ihr ein Laut, der wie ein leises Wimmern klang.

Seite an Seite mit der Schwiegermutter fuhr Thora wieder nach Hause. Der Kirchhof wimmelte von Menschen. Alle Häupter entblößten sich, als der Brucesche Wagen vorüberrollte. In einer abgesonderten Gruppe standen die Untergebenen des Verstorbenen. Ein paar der Männer hatten Tränen in den Augen; die Weiber schluchzten laut. Und jetzt ging es heimwärts. In scharfem Trab eilten die gutgepflegten schwarzen Pferde dahin. Eine lange Reihe von Wagen folgte. Das Essen dauerte lang, erst spät fuhren die Gäste davon. Es war einer der Großen in der Umgegend, der da gestorben war. Und dem Gedächtnis eines solchen Mannes gebührt Ehre.

Am nächsten Tag, einem Montag, wollte die Schwiegermutter wieder nach Hause reisen. Ehe sie wegfuhr, hatte sie noch eine Unterredung mit der Schwiegertochter. Sie saßen im Wohnzimmer, in dem Dämmerung herrschte, trotzdem es mitten am Tag war. Die Oktoberluft draußen war dunstig und die Fenster trüb.

»Ich reise jetzt ab,« sagte die alte Dame. »In acht Tagen komm' ich wieder und seh' nach dir. Du mußt Zeit haben, dich zu fassen. Wir alle brauchen das. Daß du trauerst, das seh' ich; und das ist recht. Einen Mann, wie du ihn verloren hast, den vergißt man nicht so leicht. Aber trotzdem müssen wir tun, was das Leben von uns verlangt. Verstehst du, was ich meine?«

Thora nickte. »Ich glaube!« sagte sie.

»Gut!« fuhr die alte Dame fort. »Also laß dich nicht zu sehr gehen. Und vergiß nicht die Arbeit. Die Arbeit ist unser bester Freund. Sie heilt alle Wunden. Jawohl, alle. Ich weiß es. Denn auch ich bin hier einmal so allein gewesen wie du. Da hab' ich gelernt, daß man alles kann, wenn man nur will. Und darum frag' ich dich jetzt: Willst du versuchen, deinen Kindern eine Mutter und dem alten Hof der Bruces eine Herrin zu sein?«

»Ich glaube es,« wiederholte Thora.

Die alte Dame war nicht zufrieden mit dieser Antwort. Ein harter Zug kam in ihr Gesicht; und während sie die Schwiegertochter eine Weile schweigend betrachtete, wurde die Ähnlichkeit zwischen ihr und dem Sohn so auffallend, daß Thora die Augen niederschlagen mußte.

Frau Bruce merkte es; sie glaubte, Thora schäme sich ihres Mangels an Willen und Kraft. »Wir müssen es eben abwarten,« sagte sie langsam. »Wenn du das Amt, das Gott dir auferlegt hat, nicht ausfüllen kannst, so muß ich eben wieder herziehen und helfen. Was ich einmal gekonnt hab', kann ich auch ein zweites Mal, wenn's not tut. Hans soll einmal keinen Hof übernehmen, der verwahrlost und verkommen ist, solange ich's hindern kann!« Damit erhob sie sich, küßte die Schwiegertochter auf die Stirn und sagte zum Abschied: »Willst du versuchen, mir dabei zu helfen?«

Auf diese Frage antwortete Thora doch: »Ja.« Aber in ihrer Stimme lag keineswegs die selbstvertrauende Kraft, die die alte Dame gewünscht hätte. Und als sie im Wagen saß und vom Hof fuhr, dachte sie, wie wenig sie doch die Schwiegertochter verstehe, und wie wenig das junge Weib augenscheinlich dazu gemacht sei, sich selbst oder gar andre zu regieren. Als der Wagen in die Landstraße einbog, umfaßte die alte Frau den Hof und alles, was dazu gehörte, noch einmal mit einem langen Blick und dachte: Lange dauert es ja doch nicht, bis ich wiederkomme.

Am folgenden Tag ließ Thora den großen Koffer herunterschaffen und fing an, zu packen. Wie im Traum hatte sie dahingelebt, seit sie ihr ihren Mann sterbend nach Hause gebracht hatten. Und wie im Traum war sie noch jetzt. Sie wußte nicht, warum sie tat, was sie jetzt tat. Sie wußte nur eins: was die Menschen von ihr forderten, das konnte sie nicht. Sie glich einem der empfindlichen, feingebauten Rassepferde, von denen es heißt, daß sie, wenn man sie zu schwerer Sklavenarbeit verwenden will, sich plötzlich losreißen, in die Freiheit hinausgaloppieren und dort lieber zugrunde gehen, als sich aufs neue einfangen lassen. Thora packte wie zu einer großen Reise. Ein Stück ums andere kam in den Koffer. Rasch und sicher arbeiteten ihre Hände. Niemand durfte ihr helfen. Mit niemand sprach sie über ihre Pläne. Als sie ihre eignen Sachen eingepackt hatte, kamen die der Kinder an die Reihe. Zu oberst legte sie die Spielsachen, an denen der kleine Hans besonders hing. Als der Koffer voll war, schloß sie ihn sorgfältig ab und ging hinaus in die Küche, um zu sagen, sie würde verreisen und die Kinder mitnehmen. Wohin sie reisen wollte, sagte sie nicht. Als die Haushälterin sie fragte, sagte sie bloß, sie würde nicht lange fortbleiben.

Am nächsten Morgen stand der alte Verdeckwagen vor der Tür. Thora hatte nicht viel geschlafen in der Nacht. Malin, die von einem Geräusch erwacht und aufgestanden war, um nachzusehen, ob irgend etwas los sei, hatte gesehen, wie Frau Thora am Wohnzimmerfenster stand und nach dem dunklen Bergrücken hinüberschaute, über dem sich klar der Sternenhimmel wölbte. Der Große Bär stand im Norden. Und Malin, die sich so nah herangeschlichen hatte, daß sie die Sternbilder erkennen konnte, behauptete, auf den hätte Frau Thora gesehen. Aber die junge Frau hatte nichts gehört, sich nicht vom Fleck gerührt. Natürlich sah sie auch verwacht und übernächtig aus, als sie in den Wagen stieg. Sie war voller Eifer, fortzukommen, sie trieb die Dienstboten an, die den Koffer hinten auf dem Wagen festschnallten. Dann stieg sie ein und ließ sich die Kinder hineinreichen. Hans saß neben ihr; den kleinen Neugeborenen, den zarten, bleichen, nahm sie auf den Schoß. Sie wollte niemand zur Begleitung; und allen Mägden, die sich auf der Treppe aufgestellt hatten und knixend den Wagen umstanden, fiel es auf, daß sie sich nicht einmal umsah, nicht einen Blick zurückwarf.

Und die Haushälterin sagte, während sie wieder in das leere Haus zurückkehrte: »Paßt auf, was ich sage! Die Gnädige kommt überhaupt nicht wieder!«

Sie sprach nur aus, was alle dachten, und was doch keins hatte aussprechen mögen. Es war ja doch etwas so Außergewöhnliches, etwas so Unerhörtes. Am Tage nach der Beerdigung ihres Mannes flieht die Witwe mit ihren zwei Kindern aus dem Trauerhaus, ohne überhaupt etwas anzuordnen, Haus und Hof einfach Fremden überlassend. Recht häßlich kam es ihnen allen vor; eine Schande war es fürs Haus; die ganze Gegend würde zischeln und klatschen. Es war gerade, als hätte man das ganze reich ausgestattete Haus verrammelt und verriegelt und hätte die Läden am hellichten Tage zugemacht, um sie nie wieder zu öffnen – gerade wie über einem geheimen Verbrechen. Thora aber fuhr weiter und weiter, durch die Birkenhage mit den niederen Wacholderbüschen, durch den Buchenwald, wo noch die braunen Blätter an den Zweigen hingen. Ganz still wird es in ihr. Sie läßt das Fenster herunter, um den Duft einzuatmen. Auf ihrem Schoß schläft der kleine Kranke, der ihr so viel Leid bereitet hat. Neben ihr starrt Hans mit großen, verständnislosen Augen den Wald an, den er noch nie gesehen hat. Immer näher und näher rückt die Heimat. Denn Thora fährt heim. Oft ist sie müde. Der Kleine, so zart er ist, kann manchmal recht schwer sein. Aber Tag um Tag reist sie, ohne Aufenthalt. Wenn Lars schläft, sinken auch ihr die Augen zu. Manchmal fährt sie erschrocken auf; sie glaubt, sie habe das Kind fallen lassen.

»Wohin fahren wir, Mutter?« fragt Hans.

Thora antwortet: »Zum Großvater und zur Großmutter.«

»Ist es noch weit?« fragt Hans. Er ist müde vom Stillsitzen, und es wird ihm langweilig. Aber er versucht, geduldig zu sein, weil Mama doch so müde ist und für den kleinen Bruder sorgen muß.

»Morgen sind wir da,« sagt Thora. Und sie lächelt dabei; denn eben öffnet sich der Wald um einen See, der zwischen schilfumkränzten Ufern herüberschimmert.

Langsam geht es vorwärts. Oft müssen sie haltmachen, weil Thora den Kleinen trockenlegen oder ihn füttern muß. Thora ist voller Eifer; sie ist viel ungeduldiger als Hans, obgleich sie so viel älter ist. Ein Glück, daß Lars fast die ganze Zeit über schläft.

Am fünften Tag steht Thora im Wagen auf und blickt gespannt hinaus. Sie öffnet das Fenster. Die Pferde keuchen langsam einen steilen Hügel hinan. Thora weiß, wenn sie oben sind, können sie den See sehen, ihren See, den Wettern. Wie ein leuchtender Streif schimmert er ganz hinten zwischen Tannen- und Birkenwäldern, die rein und blattlos in der Herbstluft stehen. Jetzt geht die Fahrt der weiten Wasserfläche zu. Schneller laufen die Pferde. Während der paar Meilen, die sie noch zurückzulegen haben, schimmert immer wieder die weite Seefläche herüber, sooft eine Wegkrümmung den Wagen wieder dem Ufer nähert. Es ist Herbst; die Blätter sind längst gefallen, das Gras ist fahl, die Raine blumenleer. Aber die Wasser des Wettern schimmern so blank, die Wellen glitzern, die Sonne scheint, blau leuchten Himmel und See. Thora erwacht wie aus einer Betäubung.

Eifrig zeigt sie alles dem kleinen Hans: »Sieh doch, ist das nicht schön?«

Der Knabe starrt verwundert hinaus. Er hat noch nie einen See gesehen. »Doch!« sagt er. »Ist das ein See?«

»Ja,« erwiderte Thora. »Das ist ein See!« Wie verzaubert in ihrer Liebe für alles, was sie hier umgibt, sitzt sie im Wagen, glückselig, lächelnd, als sei alles Leid vergessen.

Es ist eine schöne Landschaft, durch die sie fahren. Tief und dunkel stehen die Wälder, mächtig blau gen Süden die Berge, Feld und Rain liegen licht in der Herbstsonne. Und weiter und blauer und herrlicher als alles ist der Wettern, der tiefe Quellsee mit seinen leichtbeweglichen, durchsichtigen Wassern.

Da hört Thora plötzlich eine Stimme, die ihren Namen ruft. Der Kutscher hält an und schultert die Peitsche. Neben dem Wagenschlag hält ein Reiter und springt vom Pferd.

»Thora!« sagt die Stimme wieder. »Bist du das wirklich?«

Thora streckt ihre Hand durch das offene Fenster und begrüßt Konrad Olthov. Es stört sie, daß er gerade jetzt kommt. Wo kommt er her? Was will er? Es ist ihr wie ein Stich durchs Herz, daß er da ist. Lächelnd deutet er mit der Reitpeitsche seitwärts, und hinter einer Allee von hohen Pappeln erblickt Thora das alte Herrenhaus droben auf dem Hügel. Nur einmal hat sie es gesehen, als Kind. Aber sie erkennt es wieder, und ihr ist, als müsse ihr das Herz die Brust zersprengen.

»Das ist Granås,« sagt Konrad. »Dort wohne ich.«

Er sucht sie zu überreden, eine Weile die Reise zu unterbrechen, ein paar Stunden bei ihm auszuruhen. Aber sie will nicht. Eigensinnig schüttelt sie den Kopf.

»Nein, nein!« sagt sie. »Ich muß heim!«

Erst jetzt merkt der junge Mann, daß sie in Trauer ist, und sein Blick gleitet mit ernster Frage über sie hin.

»Mein Mann ist tot,« sagt Thora. »Ich bin Witwe.«

Ihre Blicke flehen ihn an, nicht weiter zu fragen. Konrad gehorcht. Er ist ganz blaß geworden.

»Fahr zu!« sagt Thora zum Kutscher.

Konrad zieht tief den Hut und beugt ehrerbietig das Haupt. Die Pferde ziehen an, und weiter fährt Thora mit ihren Kindern, der Heimat zu, wo niemand sie erwartet. Es ist schon Abend, als sie den bogenförmigen Waldrand sich vom Sternenhimmel abheben sieht und fühlt, wie der Wagen die letzte Wegbiegung nimmt, ehe er an das Gatter kommt, das offen steht, weil bald die Zeit des ersten Schneefalls naht.

Thora weiß ja, sie kommt unerwartet, keins von den Eltern ahnt etwas. Aber sie merkt das eigentlich gar nicht. Wie ein Kind, das Heimweh hat und es nicht mehr einsam unter fremden Leuten aushält, hat sie die ganze Fahrt gemacht. Und die ganze Zeit über hat sie nur der eine Gedanke aufrechterhalten, daß sie nicht mehr allein ist. Endlich darf sie ausruhen. Allzu schwer ist ihre Bürde ihr geworden; sie muß sie abwerfen. Jetzt liegt das kleine Haus vor ihr mit der kleinen Veranda und den niedern Fenstern. Es sieht aus, als schlafe es im Herbstabend. Ganz dunkel ist es. Nur hinter einem Fenster brennt Licht. Der Wagen hält. Alles ist still. In ängstlicher Erwartung späht Thora durch die Dämmerung. Sie glaubt zu sehen, wie die Birken sacht im Winde wehen. Ganz deutlich hört sie die Wellen des Wettern plätschern und atmet die frische Luft ein, die vom Wasser kommt. Mit ihren aufs äußerste geschärften Sinnen glaubt sie zu hören oder zu sehen – sie weiß selber nicht, was –, wie nach und nach in die alten Zimmer im Haus Bewegung kommt. Wer kann so spät noch unterwegs sein? Wer kommt da? Dann fällt ein Lichtschein über die Treppe, und sie hört des Vaters Stimme fragen: »Wer ist da?«

Der Kutscher öffnet den Schlag. Thora hat den Kleinen in seine Decke gewickelt und trägt ihn jetzt die ausgetretene Treppe hinauf. Hans kommt langsam hinterdrein.

»Ich bin es,« sagt sie. »Thora.«

So kehrt Thora ins Vaterhaus zurück, das sie vor langer Zeit verlassen hat.

Als Frau Dortha die Tochter mit den Kindern erblickt, versteht sie ohne weitere Worte. Sie weiß ja schon lange, daß es Thora nicht gut geht. Freundlich tritt sie ihr entgegen. Aber als sie die Trauerkleidung sieht, bleibt sie verwirrt stehen und betrachtet Thora. Sie ahnt, was kommen muß.

Thora nickt nur und sagt, wie kurz vorher zu Konrad Olthov: »Ja, ich bin Witwe. Mein Mann ist tot.«

»Wann –?« fragt die Mutter.

»Vor vielen Tagen schon,« sagt Thora. »Ich konnte nicht schreiben. Verzeih!«

Der Rittmeister, der auch nichts weiß und nichts ahnt, steht stumm vor diesem Leid. Er sagt nichts; aber sein altes Gesicht wird rot vor Erbitterung, so daß Frau Dortha ihm hastig ein Zeichen macht, zu schweigen. Sie fühlt, daß jemand der Tochter sehr weh getan haben muß; sonst wäre sie so nicht zurückgekommen. Als sie später in Ruhe beieinander sitzen, erzählt Thora, so viel sie erzählen kann.

Viel ist es nicht. Sie ist zu müde und erschöpft. Aber es ist merkwürdig: die beiden alten Eltern verstehen die Tochter doch und fühlen, was sie gelitten hat. Vor ihrem Leid verstummen alle Bedenken, alle die üblichen kleinherzigen Einwände. Dazu zeugt Thoras Aussehen, ihre ganze Art viel zu beredt für sie in dieser Stunde. Die junge Frau fühlt das auch; sie ist dankbar, daß man ihr keine Vorwürfe macht, und in dieser Dankbarkeit findet sie endlich Ruhe.

Als aber Frau Dortha die beiden Kleinen zu Bett gebracht und auch Thora sich zurückgezogen hat, wandern die beiden Alten drunten noch lange in den niedern Zimmern hin und her. Keins vermag stillzusitzen; und keins kann seine Gedanken so recht an das Geschehene gewöhnen. Für sie ist es, als sei die Tochter von Heimat und Pflicht davongelaufen. Aber keins mag es laut aussprechen. Und wenn eins es ausgesprochen hätte, wären ihm die Vorwürfe und der Zorn des andern gewiß gewesen.

Der Rittmeister lehnte an dem grünen Kachelofen und paffte aus der Pfeife dicke Rauchwolken ins Zimmer. Ärger und Kummer kochten in ihm, übertriebene Angst vor dem Urteil der Menschen, Gedanken an alle die unangenehmen und lästigen Folgen, die der übereilte Schritt der Tochter nach sich ziehen könnte.

»Was haben sie aus meinem Kinde gemacht!« rief er. Die Pfeife zitterte in seiner alten Hand, daß die Funken aus dem dunkelbraunen Meerschaumkopf flogen.

Frau Dortha ging langsam auf und ab. Mechanisch zertrat sie die Funken, die auf den Teppich gefallen waren. »Daß sie uns nicht lieber geschrieben hat, wir sollten kommen!« sagte sie. »Daß sie uns nicht geschrieben hat!«

»Das versteh' ich nicht,« sagte der Rittmeister. »Ich verstehe nur, daß sie sie gequält haben müssen, bis sie fast um den Verstand kam. Sonst wär' sie nicht so zu uns gekommen. Das solltest du wissen. Thora ist dein Kind so gut wie das meine. Und wir kennen sie.«

Frau Dortha blieb bei diesen Worten vor ihrem Manne stehen. Den Vorwurf in seinen Worten hörte sie gar nicht. Sie war bloß zufrieden, daß der Vater die Tochter verstand. Darauf sagte sie voller Stolz: »Ich wußte, du würdest die Sache so nehmen!«

Aber innerlich fühlte sich Frau Dortha keineswegs so ruhig. Etwas fast wie Gewissensbisse quälte sie. Sie dachte daran, was ihr die Tochter einmal geschrieben, wie sie sich der Mutter anvertraut, und wie diese darauf geantwortet hatte. Sie hatte darum das Gefühl, als sei sie gewissermaßen mitschuldig an all dem Schlimmen, das Thora durchgemacht hatte. Sie wollte aber ihren Mann damit nicht auch noch beunruhigen, sondern behielt ihre Sorgen für sich, wie so vieles, das sie um ihres Mannes willen gelernt hatte, allein zu tragen.

Den beiden Alten war an diesem Abend ganz feierlich zumute, wie allen Menschen, wenn etwas vorfällt, das über das Alltagsleben hinausgeht. Sie redeten nicht mehr viel über die Sache. Nach alter Gewohnheit erriet eins die Gedanken des andern. Sie fühlten beide: für das, was hier geschehen war, reichte die dürftige Weisheit des Alltags nicht aus. Aber daß allerlei daraus erwachsen würde, das sahen sie ein. Vor allem graute ihnen vor dem Gedanken, daß sie auf ihre alten Tage noch in einen Familienzwist mit Menschen verwickelt werden sollten, die sie überhaupt nie gesehen hatten, und denen sie deshalb instinktiv mißtrauten.

»Wir müssen versuchen, dem Kinde zu helfen, soweit wir können,« sagte schließlich Frau Dortha.

Darauf machte der Rittmeister seine gewöhnliche Runde um das schlafende Haus, schloß die Haustür ab und schob den Riegel vor.

 

Der Kampf zwischen Thoras Eltern und der Familie Bruce war hartnäckig und langwierig. Im Anfang wurde er brieflich zwischen der alten Frau Bruce – als Sachwalter von Johan Bruces Kindern – und dem Rittmeister – als Sachwalter Thoras – ausgefochten. Die alte Frau Bruce hatte Thoras Abreise durch die Haushälterin erfahren. Als der Kutscher mit Pferden und Wagen zurückkam, ohne Bescheid geben zu können, wann die junge Frau nach Hause zu kommen beabsichtige, hielt es das wackere Mädchen für seine Pflicht, die Familie des verstorbenen Herrn von dem Vorgefallenen zu unterrichten. Noch am selben Tag, an dem sie den Brief empfangen hatte, kam auch die alte Frau Bruce nach Åkerup. Zwar tat sie so, als sei diese Reise zwischen ihr und der Schwiegertochter ausgemacht gewesen und redete ganz ruhig und sachlich in Gegenwart aller darüber. Doch ließ sich von diesem Spiel niemand täuschen. Die Wahrheit lag zu offen vor aller Augen; und im Hause ging das Gerede, Thora sei nur verreist, weil sie den Tod ihres Mannes als ein Glück empfunden habe und es doch vor all den Menschen, die sein Andenken wert hielten, nicht zu zeigen wage. Diese Überzeugung verstärkte sich noch, als Frau Bruce mit einem großen Koffer, wie zu einem längeren Aufenthalt, auf dem Hof anlangte. Sie ließ auch die Zimmer, die sie vor ihrem Wegzuge bewohnt hatte, wieder wie früher einrichten und bezog sie.

Von Åkerup aus schrieb die alte Dame den ersten Brief nach Moheda. Sie wandte sich dabei nicht an Thora selbst, sondern an den alten Rittmeister. Der Brief war kurz und korrekt, enthielt weder Klagen über das Geschehene noch irgendwelche aufdringliche Frage. Die alte Frau schrieb nur, sie wünsche zu wissen, wann Thora zurückzukehren gedenke, und erklärte zugleich, sie sähe es als ganz natürlich an, daß Thora das Bedürfnis gefühlt habe, die erste schwere Zeit der Trauer mit ihren Eltern zusammen zu sein. Die etwas auffallende Tatsache, daß Thora ihre Abreise geheimgehalten und für ihre zwei kleinen Kinder nicht einmal eine Dienerin mitgenommen hatte, berührte der Brief mit keiner Silbe.

Die Antwort des Rittmeisters war – so glaubte er wenigstens selbst – äußerst diplomatisch. Da die alte Dame es für klug befunden hatte, im Anfang der Verhandlungen die heiklen Punkte ganz aus dem Spiel zu lassen, vermied auch er es, sie zu berühren. Er antwortete kurz, Thora sei krank und bedürfe der Pflege des Elternhauses, könne auch nicht entscheiden, wann ihre Gesundheit ihr die Rückkehr gestatten würde.

So weit war alles im Brief des Rittmeisters korrekt und unanfechtbar; aber am Schluß fügte er, aus seinem überfließenden Vaterherzen heraus, die Versicherung bei, er als Vater werde alles tun, um seiner Tochter über diese schwere Zeit hinwegzuhelfen; vor allem brauche sie jetzt Ruhe und dürfe nicht durch aufreibende Korrespondenzen gestört werden. Diesem Teil des Briefes war es hauptsächlich zuzuschreiben, daß die Antwort der alten Frau Bruce, die gleich darauf eintraf, in ungleich schärferem Ton abgefaßt war. »Wenn Thora wirklich so krank ist,« schrieb sie, »daß schon ein Brief sie zu sehr aufregt, so finde ich, es wäre richtiger gewesen, sie wäre daheim geblieben, bis sie wieder gesund gewesen wäre. Sie hätte es dadurch vermieden, einen ganz unverdienten Schatten auf einen Mann zu werfen, der sie aus reiner Liebe erwählt hatte, und dem nicht einmal seine Feinde etwas Böses nachsagen können, es sei denn, was man uns allen nachsagen kann, nämlich daß wir vor Gott nichts sind als schwache Menschen. Ehe diese Heirat, die ich leider mehr und mehr eine unglückselige nennen muß, zustande kam, habe ich ihm lange Jahre hindurch den Haushalt geführt. Und ich habe es mehr als einmal bitter bereut, daß ich ihn nach seinem fünfundzwanzigsten Jahr allein gelassen habe, damit er um so eher das Bedürfnis nach einer Frau empfinden sollte. Von der äußern Bewirtschaftung des Gutes verstehe ich allerdings nicht viel. In solchen Sachen ließ sich mein seliger Sohn von niemand dreinreden, nicht einmal von seiner Mutter. Wenn mir aber der Herr diese Pflicht auferlegt, so werde ich versuchen, auch sie zu erfüllen, solange meine Gesundheit und meine Kräfte es mir gestatten. Ich hatte mir immer gedacht, ich würde Thora helfen, so wie ich seinerzeit, als mein Sohn und ich noch hier allein waren und noch kein Fremdes zwischen uns gekommen war, und auch später noch, ihm geholfen habe. Aber das hätte ich nie gedacht, daß ich dereinst allein hier sitzen und nach einer Schwiegertochter schreiben müßte, die ihren Pflichten davongelaufen ist und ihre Ehe in aller Leute Mäuler gebracht hat.«

So begann der Briefwechsel zwischen Johan Bruces und Thoras Familie. Der kleine Neugeborene nahm mittlerweile immer mehr ab und starb schließlich. Er wurde auf dem Kirchhof der Gemeinde begraben, zu der Thoras Eltern gehörten. Die Erbitterung der Familie Bruce, die in Thora immer eine Fremde gesehen hatte, stieg dadurch noch mehr, und alle waren der Ansicht, wenn die Mutter nicht die überstürzte Reise unternommen hätte, so hätte der Kleine sich jedenfalls erholt und wäre am Leben geblieben. Gleich darauf erkrankte jedoch Thora in vollem Ernst an einem langwierigen Fieber, über dessen eigentlichen Charakter der Arzt sich allerdings nicht auszusprechen vermochte. Sie erholte sich nur langsam, und als sie endlich wieder an den Arbeiten und Interessen andrer teilzunehmen vermochte, war es schon weit über Neujahr.

Jetzt bat Thora, man möchte ihr mitteilen, was die Schwiegermutter und deren Familie geschrieben hatten. Die Eltern taten das auch. Doch gaben sie ihr im Anfang die Briefe selbst nicht in die Hand, sondern baten sie, sich mit dem Inhalt zu begnügen, soweit sie ihr davon mitteilten. Aber Thora gab keine Ruhe, bis sie selbst alle Briefe, Wort für Wort, einen nach dem andern, gelesen hatte. Als sie zu Ende war, nahm sie sie an sich und schloß sich damit in dem kleinen Gastzimmerchen auf dem Dachboden, das für sie und ihren Erstgeborenen eingerichtet worden war, ein.

Dort holte sie Feder und Papier herbei und schrieb selbst eine Antwort auf den letzten Brief. Die lautete folgendermaßen:

 

Moheda, den 20. Januar.

Liebe und verehrte Schwiegermutter!

Ich bin lange krank gewesen und habe bis heute nicht lesen dürfen, was Sie über mich geschrieben haben, sondern mein Vater hat alles beantwortet. Darum habe ich auch nicht eher schreiben können. Seit es mir wieder besser geht, kann ich auch wieder eher denken, und ich verstehe jetzt wohl, wie unrecht ich gehandelt habe, und daß alle andern mich darum mißachten müssen. Das zu fühlen, ist schwer. Es gibt wohl nichts Schwereres. Und ich kann nichts zu meiner Verteidigung vorbringen.

Eins möchte ich Ihnen aber doch sagen, nicht um meine Fehler zu entschuldigen, sondern damit Sie an mich denken können, ohne mich allzu hart zu verurteilen: nämlich, daß ich glaube, ich war schon lange krank, wenn ich es auch erst jetzt, seit ich wieder anfange, gesund zu werden, recht begreife. Und wenn ich an ihn denke, der jetzt tot ist, möchte ich am liebsten bloß weinen. Er hätte eine bessere Frau haben sollen, als ich sie war oder je hätte werden können. Niemand weiß besser als ich, daß er es verdient hätte!

Daß ich von daheim fortging – ich weiß ja wohl, daß ich es nicht hätte tun dürfen –, war doch kein ganz so großes Unrecht, als es den meisten Menschen erscheinen muß. Mein Unrecht war, daß ich mich Tag für Tag herumschleppte und fühlte, daß ich immer kränker wurde und es doch niemand zu sagen wagte, nicht einmal Bruce. Die ganzen letzten Jahre war ich nicht wie früher. Warum, kann ich nicht sagen. Ich weiß auch keinen Namen für meine Krankheit; aber gerade, weil ich nicht wußte, woran ich litt und mich doch nie frisch fühlte, schämte ich mich; und darum schwieg ich. Es ist die Wahrheit, was ich sage: als Bruce zum letztenmal nach Hause kam, und all das Furchtbare anfing, da wußte ich gar nicht so recht klar, was um mich her vorging, und was ich selber tat oder dachte. Es war, wie wenn mein Verstand getrübt gewesen wäre. Ich konnte selber nicht begreifen, wie ich es anfing, daß niemand merkte, wie weit weg ich von allen und allem war. Mir war, als müßten es mir alle ansehen, daß ich nicht war wie sie, und daß gerade ich gar nicht fassen konnte, was geschehen war, geschweige denn den Kummer fühlte, den doch jeder Fremde, der nur einmal mit dem Verstorbenen in Berührung gekommen war, empfand, den sie alle empfanden, außer mir. Das war das schrecklichste für mich, daß ich damals so gar nichts fühlen konnte, daß mir die ganze Welt wie tot und das Toteste in dieser toten Welt ich selber war. Darum verließ ich die Heimat auch so. Ich konnte nicht anders.

Daß ich fortging, war nicht meine größte Sünde. Meine größte Sünde war, daß ich nicht einmal trauern konnte, wie es doch die Schlechteste der Schlechten vermocht hätte. Ich bin vor dem Entsetzen über mich selber geflohen damals. Erst jetzt, da es wieder klarer wird in mir und ich fühle, daß ich wieder frisch und gesund werde, kommt das alles zurück. Und dann wird auch einmal der Tag kommen, an dem ich anfange, die Trauer über mich selbst zu empfinden, die mich rein und gut machen soll, wie ich früher war. Jeden Tag bete ich zu Gott, daß ich bald gesund werde, damit ich zurückkehren kann. Noch kann ich es nicht. Denn ich weiß, wenn ich die Heimat jetzt verlassen würde, so würde wieder die Lähmung über mich kommen, und ich würde wieder meine Pflichten nicht sehen oder sie nicht erfüllen können.

Darum bitte ich Sie, mir zu glauben, wenn ich sage, daß alles dies wahr und ehrlich gemeint ist. Wenn der Frühling kommt, will auch ich kommen und Hans mitbringen. Dann will ich bei ihm bleiben, so lange er mich braucht, und wenn er einmal groß ist, gibt er mir vielleicht doch noch ein Plätzchen bei sich, auch wenn er mich dann nicht mehr braucht.

Ich weiß, ich verlange viel, wenn ich Sie jetzt bitte, noch so lange daheim zu bleiben, bis ich zurückkommen kann, um die Pflichten, die ich versäumt habe, auf mich zu nehmen. Ich weiß auch, daß ich es nicht verdiene. Ich habe jetzt alle Briefe gelesen. Zuerst fand ich vieles darin sehr hart und dachte, so viel Böses könnte ich doch nicht getan haben. Aber seither hab' ich darüber nachgedacht. Und jetzt, glaube ich, habe ich die Kraft, mich vor der Wahrheit zu beugen und sie zu erkennen.

Ich sende meinen ergebensten töchterlichen Gruß, und Hans grüßt seine Großmutter durch

Thora.

 

Konrad Olthov war ganz unvorbereitet auf Thoras plötzliches Erscheinen gewesen. Wie eine Erscheinung war sie gekommen und verschwunden. Ihre bloße Nähe hatte den jungen Mann erschüttert, hatte die Erinnerung in ihm geweckt. Aber ihr Leid, ihre ganze hilflose Einsamkeit verstand er erst, als sie schon wieder fort war und er noch immer auf demselben Fleck stand und dem Wagen nachblickte, der hinter der Biegung des langen, niedern Hügels verschwand. Da bestieg Konrad Olthov sein Pferd wieder. Aber zum Doktorhaus, wo er seine Braut hatte besuchen wollen, ritt er diesmal nicht. Er bog in den schmalen Waldweg ein, der zwischen den dünnstehenden Tannen hinlief, und ließ sein Pferd Schritt gehen, während er selbst sich gedankenvoll und träumerisch willenlos auf den vertrauten Wegen dahintragen ließ. Ein paar Stunden später stellte er selbst das Pferd in den Stall und ging mit bedächtigen, langsamen Schritten am Inspektorflügel vorüber dem Herrenhaus zu.

Thora war wieder aufgetaucht in seinen Gedanken, Thora, die er längst vergessen zu haben glaubte. Thora, in der er so lange nur einen unwirklichen Traum gesehen, den er dereinst gehegt hatte, ward ihm wieder zur lebendigen, nahen Wirklichkeit. Und Thora war frei.

Der Herbst verging; Konrad Olthov setzte seine Bräutigamsbesuche im Doktorhaus fort. Aber er äußerte nie den Wunsch, die Hochzeit zu beschleunigen; und Doktor Hesse war viel zu sehr Weltmann, um irgendwelche direkten Wünsche in dieser Hinsicht auszusprechen. Allen, die die zwei jungen Leute zusammen sahen, fiel es auf, daß irgend etwas zwischen ihnen nicht mehr war wie früher. Man fing an, zu behaupten, die beiden Brautleute sähen aus, als paßten sie nicht recht zueinander; und keiner, der sie früher zusammen gesehen hatte, konnte begreifen, woher dieser neue, fremde Zug im Wesen beider eigentlich kam.

Besonders fiel es auf, daß Edith Hesse augenscheinlich viel verliebter war in ihren Bräutigam als er in sie. Es war dies ein Gegenstand häufiger Gespräche und Erörterungen in der ganzen Gegend, und manch scharfes Urteil fiel über den jungen Mann, der das Glück, das er errungen hatte, so gar nicht zu würdigen verstand. Jedermann sah ja, wie die arme Edith immer bleicher und magerer wurde, und wie, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, in ihr junges Gesicht ein Ausdruck trat, als zerbreche sie sich über ein unlösbares Rätsel den Kopf.

Konrad merkte das selbst auch wohl, und es quälte ihn unaussprechlich. Der Gedanke, daß Edith irgendwelchen Anlaß haben könnte, ihm gram zu sein, kam ihm dabei nicht. Denn er war sich ganz ehrlich bewußt, daß er mit keinem Gedanken daran dachte, die Verbindung zwischen ihnen abzubrechen. Aber die Begegnung mit Thora hatte sich irgendwie zwischen ihn und die Pläne gedrängt, die er bisher gehabt hatte. Den alten Herrensitz in früherer Gestalt wiederherzustellen und dem Haus eine Herrin zu geben, das erschien ihm auf einmal nicht mehr so wichtig und eilig. Das einzige, was Konrad Olthov jetzt wichtig erschien, war Thoras Schicksal, und so völlig war er von dem Gedanken daran erfüllt, daß alles andre aus seinem Gesichtskreis entschwand, als existiere es überhaupt nicht.

Seiner Braut erzählte er davon nichts. Aber an einem verschneiten Dezembermorgen ließ er den Wurstschlitten anspannen und seine gepackte Reisetasche herunterschaffen. Wohin er fuhr, sagte er überhaupt nicht, sondern er hinterließ nur den Bescheid, er würde ein paar Tage fort sein. Dann fuhr er davon, auf dem Weg, den Thora vor zwei Monaten mit ihren Kindern gefahren war.

Und jetzt beginnt das, was wie ein Märchen klingt in dieser wahrheitsgetreuen Geschichte vom Lebensschicksal zweier Menschen. Das Märchen ist in Dunkel gehüllt, obgleich kaum vierzig Jahre zwischen der Zeit liegen, da es sich zugetragen, und der, da wir von heute ihm lauschen.

Konrad Olthov wollte Thora noch einmal sehen. Dann wollte er wieder nach Hause fahren, Hochzeit halten und ein vernünftiger Mann werden, der die Träume der Jugend vergaß. Aber solche Macht hatte der Traum doch wieder über ihn, daß er im Fahren weder dem muntern Klang der Schlittenglocken lauschte, noch den sonnenglitzernden Schnee sah, der Tannen, Birken und Erde deckte, noch auch sich der raschen Fahrt freute. Er ließ das Pferd laufen, wie es wollte, und während zu beiden Seiten die kleinen Höfe mit ihren schneebedeckten Feldern auftauchten und verschwanden, rauschte ihm in den Ohren die Erinnerung an eine alte Sage, die er einst als Kind gelesen oder gehört hatte.

Sie handelte von einem Jüngling, der einem Mädchen Treue schwor. Das Mädchen starb. Der Jüngling hatte sich mit einem Schwur ihr verbunden, und der Schwur lautete, daß auch nicht der Tod seine Liebe besiegen sollte. Die Jahre vergingen. Mehr und mehr verblaßte in dem Jüngling die Erinnerung an die Tote. Und eines Tags unterlag er der Versuchung. Er brach seinen Schwur und vergaß der Liebe, die er auf ewig gelobt hatte, über einem neuen Weib, das ihm der Zufall in den Weg geführt, und das ihm Herz und Hand geschenkt hatte. Aber an dem Tage, da er die Braut zum Altar führen wollte, lag er starr und kalt in seinem Bett. Und es hieß, die tote Braut, die einst seinen Schwur empfangen hatte, sei gekommen und habe ihn geholt.

Diese Sage klang in Konrads Ohren, während er nach Thoras Heimat fuhr; und in seiner Phantasie wurde Thora zur toten Braut, die seinen Eid empfangen hatte, und er selber zum Jüngling. Konrad Olthov lebte nicht mehr in der Welt der Wirklichkeit. Seine Füße standen nicht mehr auf der Erde. Gesetze, wie sie den Menschen vorgeschrieben sind, waren für ihn nicht mehr da. Weder ihrem Sinn noch ihrem Zwang war er mehr zugänglich. Thoras Heirat bedeutete ihm dasselbe, als wäre sie gestorben. Daß sie wieder frei war, wandelte sich ihm zu dem Glauben, sie sei wieder lebendig geworden und fordre ihn zurück. Daß Thora ihn vermutlich niemals so geliebt hatte wie er sie, das vergaß Konrad. Daß er dereinst in seinem Herzen Thora der Untreue angeklagt hatte, weil sie ihn vergessen und einen andern genommen hatte, wußte er nicht mehr. Was er selbst sich erträumt und erdacht hatte, als er sein Leben und seine Zukunft an ein Weib band, verschwand in derselben Tiefe der Vergessenheit, in der alles, was er erlebt hatte, brauste und siedete und alles, was gewesen, zu Asche verbrannte.

Er sah nichts mehr klar vor sich. Er wußte und verstand nichts mehr. Eine unbezwingliche Gewalt trieb ihn vorwärts. Meile um Meile legte das Pferd zurück, leicht glitt der Schlitten über den Schnee, der über der gefrorenen Erde lag. Jetzt öffnete sich die weite Fläche des Wettern mit dem Eisrand um die Ufer vor den Blicken des Fahrenden. Der Weg bog nach Moheda ab, nach Thoras Vaterhaus. Im Hof leuchteten die Dompfaffen rot auf dem weißen Schnee.

Ohne Anmeldung trat Konrad ins Zimmer. Die beiden Alten waren zu Hause. Sie saßen an ihren gewohnten Plätzen im Wohnzimmer, Frau Dortha mit dem Strickzeug, der Rittmeister über ein dünnes Haushaltungsbuch gebeugt. Beide sahen älter und sorgenvoller aus, als Konrad sie in der Erinnerung hatte. Er setzte sich und erfuhr, daß Thora krank in dem kleinen Gastzimmer unter dem Dach lag.

Da erst fiel es Konrad ein, daß er ja gar nicht wußte, wie er seinen Besuch erklären sollte. Er machte auch gar nicht den Versuch, sondern er unterhielt sich nur mit den beiden alten Leuten, wie es eben gerade kam. Zuletzt sprachen der Rittmeister und Frau Dortha allein, und Konrad saß stumm daneben und hörte zu. Nachdem die erste Verwunderung über den Besuch des jungen Mannes vorüber war, freuten sie sich beide herzlich, daß sie sich einmal aussprechen konnten. Konrad war ein Freund der Familie noch aus glücklicheren Tagen. Ihm konnte man alles erzählen. Und so berichtete der Rittmeister von seinen Kümmernissen und von allem, was vorgefallen war. Wenn er etwas vergaß oder in seinem Unwillen gegen die, die der Tochter weh getan hatten, zu hitzig wurde, flocht Frau Dortha hie und da ein Wörtchen ein.

Auf diese Weise erfuhr Konrad alles, was Thora geschehen war. Als es Abend wurde, gab er vor, er wolle noch nach einem bestimmten Hof weiter nach Norden. Einen Augenblick lang war er wieder völlig im Reich der Wirklichkeit. Sein ganzer Besuch fing plötzlich an ihn zu bedrücken, und die Blicke der beiden Alten, die sich freundlich fragend auf ihn richteten, machten ihn unruhig. Als er wieder auf der Landstraße war, ließ er das Pferd südwärts einbiegen statt nordwärts und fuhr den ganzen langen Weg, den er am Morgen gekommen war, zurück. Die Heimfahrt ging langsam, denn das Pferd war müde. Und es war schon spät in der Nacht, als Konrad das hohe Herrenhaus von Granås sich vom Sternenhimmel abheben sah. Ohne jemand aufzuwecken, begab er sich auf sein Zimmer. Alles, was er seit seiner Kindheit erlebt und gesehen hatte, ward seltsam lebendig um ihn in dieser Nacht.

Von da ab konnte Konrad es sich nicht mehr verhehlen, daß es nicht Liebe war, was ihn zu dem Weib zog, dem er sich angelobt hatte. Es wurde ihm brennend klar, daß er Edith nie geliebt hatte. Aber das Pflichtgefühl saß so tief in ihm, daß es ihm nicht einen Augenblick lang in den Sinn kam, er könnte deshalb seine Verlobung aufheben. Das wäre ihm wie ein Betrug vorgekommen. Er sagte sich, es sei seine Pflicht, Edith glücklich zu machen, wie er es ihr gelobt hatte, und wie sie es von ihm erwartete. Nur eins wollte er. Er wollte noch etwas warten, noch einen kleinen Aufschub erlangen. Was geschehen sollte, erschien ihm wie ein großes Opfer, das er nicht von sich abwehren konnte und wollte. Einmal würde es ihn ganz einfordern. Aber vorher begehrte er noch eine kurze Frist, einen kleinen Aufschub, eine Zwischenzeit, in der er sich selbst gehörte und zur Ruhe mit sich kommen konnte.

Ehe Konrad Olthov Hochzeit hielt, wollte er Thora noch einmal sehen. Nur ein einziges Mal sie sehen, um Abschied von ihr zu nehmen. Dann sollte Thora aus seinem Leben verschwunden sein wie er aus dem ihren. Und fester und mutiger würde er dann dem Neuen entgegenschreiten, das ihn erwartete.

So kam Weihnachten. Am Weihnachtsmorgen fuhr Konrad Olthov seine Braut im Schlitten zur Christmesse. Auf allen Wegen schimmerte der flackernde Lichtschein brennender Fackeln, Schlittenschellen klingelten, muntre Zurufe erklangen, Pferde wieherten, wie angesteckt von der Freude der Menschen. Konrad war es, als habe er nie zuvor eine so tiefe, volle Weihnachtsstimmung erlebt. Neben sich erblickte er Ediths Gesicht, von Pelzwerk umrahmt, von der Winterkälte gerötet. Ein warmes Gefühl stieg in ihm auf, die Freude des Mannes, der sich seiner Kraft bewußt ist, der weiß, daß seine Lieben sich vertrauend an ihn lehnen dürfen. Das Bewußtsein, daß er dem jungen Mädchen ein Opfer zu bringen im Begriff war, machte sie ihm nur noch teurer. So wie sie jetzt dahinfuhren, so müßten sie immer, immer beieinander sein, dachte Konrad. Er würde das Glück, das er erträumt, um Ediths willen begraben und sich durch sein Opfer ein neues und höheres erringen.

So überspannt dachte und fühlte Konrad Olthov an jenem Weihnachtsmorgen.

In der Kirche nahmen die Verlobten – wie es in der Gegend Sitte war – je auf einer Seite des schmalen Mittelganges Platz. Die kleine Holzkirche war gedrängt voll, flackernd brannten die Kerzen in der winterkalten Luft, und mächtig erklang die Orgel zum Weihnachtschoral »Vom Himmel hoch da komm' ich her«. Konrad saß auf dem Platz, auf dem vor ihm sein Vater gesessen hatte, in der Bank, die mit dem Namenszug des alten Geschlechts, darüber die Krone, geschmückt war; und er dachte daran, daß bald Edith als seine Frau den Platz neben ihm einnehmen würde, hier, zu Hause, draußen und drinnen, überall ...

Aber vorher ...

Warm stieg plötzlich der Gedanke an Thora in ihm auf, mischte sich mit dem Gesang und dem Klang der Orgel, floß zusammen mit der großen wunderbaren Stimmung des Weihnachtsmorgens. Wie gebannt in seine streitenden Gefühle saß Konrad in der alten Kirchenbank seiner Väter; erst als der Pfarrer das Amen sprach und der Gesang von neuem begann, fuhr er aus seinen Träumen auf. Über die flackernden Kirchenkerzen begann die Morgendämmerung zu siegen. Auf dem Heimweg war er wortkarg oder ganz stumm. Als er endlich einmal zu Edith hinüberschaute, bemerkte er, daß ihre Lippen zitterten, und daß sie mit dem Weinen kämpfte. Konrad nahm sich zusammen. Er zwang sich zu einem Lächeln, schlang den Arm um seine Braut und küßte sie. Darauf trieb er das Pferd an, und sie glitten rasch durch den Tannenwald, hinter dem der junge Morgen rot über den Schnee schimmerte. Es war ein langer, schwerer Weihnachtstag für Konrad. Die Stunden schleppten sich endlos hin. Als das Mittagessen vorüber war, machte der Doktor sein Schläfchen, und die zwei jungen Leute blieben allein. Sie saßen nebeneinander in dem langen Sofa im Wohnzimmer; vor ihnen brannten die Weihnachtslichter.

Da richtete sich Edith plötzlich auf und sah ihren Verlobten an. »Reut es dich, daß du dich mit mir verlobt hast?« fragte sie. Ihre Lippen zitterten; ihre Augen glühten ganz seltsam.

Konrad fühlte, daß er die Farbe wechselte. Er hatte das Gefühl, als erröte er; aber er war im Gegenteil weiß wie ein Tuch geworden. Die Frage kam ihm ganz unerwartet, und er fand keine andre Antwort als: »Weshalb fragst du das?«

Edith erwiderte nichts hierauf. Nach einer Weile sagte sie ruhig und, wie es Konrad vorkam, ziemlich kalt: »Wenn es so ist, so sag' es mir, bitte, ehe es zu spät ist.«

»Zu spät?« Er wiederholte das Wort. Aber er wußte selbst nicht, warum er es wiederholte, oder was er überhaupt sagte.

»Sonst gewinn ich dich zu lieb.«

Konrad verstand von der ganzen Sache nur das eine: er konnte das junge Mädchen nicht töten dadurch, daß er ihr die Wahrheit sagte. Sprechen konnte er nicht; er zog sie nur an sich, und sie ließ sich durch seine Liebkosungen willig beschwichtigen. Schließlich hob sie den Kopf von seiner Brust, und die brennenden Augen fest auf die des Verlobten gerichtet, sagte sie: »Wenn du eine andre liebhättest, würde ich mich vor deiner Tür umbringen. Keine würde es wagen, über mich weg zu dir zu gehen!«

Bestürzt betrachtete Konrad das junge Mädchen. Er sah sie auf einmal, wie er sie nie gesehen hatte, wie sie in Wirklichkeit war.

Als Edith merkte, wie ernst er wurde, beugte sie sich vor und lächelte: »Liebst du etwa eine andre?« sagte sie siegesgewiß. Kein Schatten des Zweifels oder des Mißtrauens lag mehr in ihren Augen oder in ihrer Stimme.

»Nein!« erwiderte Konrad hastig. Und während er antwortete, glaubte er selber ganz fest, daß er die Wahrheit sagte. Thora war in diesem Augenblick tot für ihn. Und sein Beschluß, sie zu vergessen, stand fest. Gereinigt und geläutert wollte er die Bürde tragen, die ihm das Leben auferlegte.

Konrad wußte nicht, was er tat, als er trotz alledem bei seinem Vorsatz, Thora noch einmal zu sehen, beharrte. Der Gedanke ließ ihn nicht los, und es war ihm selber, als täte er es nur, weil ihn diese letzte Begegnung frei machen sollte, ehe er dem neuen Leben, das seiner harrte, entgegenging. Es war, als begehre er in dieser Begegnung ein Zeichen von Gott.

An einem Wintertag – der Boden war nach langem Regen- und Sturmwetter wieder fest gefroren – saß er im Gig und fuhr aufs neue den weiten Weg nach Thoras Heim. Um die Mittagszeit kam er an; und nachmittags gingen er und Thora aus. Sie folgten den Pfaden ihrer Jugend und redeten von Konrads bevorstehender Heirat und von der Zukunft, die Thora als Witwe auf Åkerup erwartete. Vor acht Tagen hatte Thora ihren Brief an die Schwiegermutter abgeschickt; und während sie nun miteinander dahinschlenderten, fühlten sie beide wohl, daß das der Abschied war.

Keins erinnerte das andre an die Wanderung durch den dichten Tannenwald von Åkerup – an jenem Wintermorgen, als Konrad in den Krieg zog. Aber beide dachten sie daran; und beide fühlten, wie anders alles in der Zwischenzeit geworden war. Immer weiter hinein unter die hohen Tannen wanderten sie Seite an Seite. Die Erde war hart und gefroren. Die Kälte hatte das Moos zu einem festen Boden verwandelt, über den sie wie auf gebahnten Pfaden dahinschritten. Über ihren Häuptern rauschten die Tannen; auf den Wettern, der durch das Waldesdunkel schimmerte, fiel das kalte Glitzern der Februarsonne, die in gelbvioletten Nebeln versank.

Und hier brach über Konrads Lippen das Geständnis seiner Liebe. Ihm war, als sehe er zum erstenmal klar in allen Dingen. Er erzählte Thora, was er für sie empfand, und wie es gekommen war, daß er sich einer andern anverlobt hatte, erzählte, nicht um irgend etwas zu gewinnen, nicht um in seinem Geschick irgendwelche Änderung herbeizuführen, nicht um nach dem Glück zu greifen, sondern nur, weil er nicht anders konnte, weil er ein einziges Mal seinem Leben fest ins Gesicht sehen und fühlen wollte, daß dies Weib, das er einzig geliebt hatte, wenigstens einmal an seinem Geschick teilhaben, es mit denselben Augen sehen sollte wie er. Und während er sprach, hatte er die Empfindung, als müsse er Thora um Verzeihung bitten für eine Untreue, die er ohne sein Wollen gegen sie begangen hatte.

Und dabei wurden Thoras und Konrads Schritte immer langsamer. Während sie Seite an Seite dahinschritten, fielen des jungen Mannes Blicke auf die Frau; und zum erstenmal sah er, wie abgehärmt sie aussah, wie sie gealtert hatte. Das Gesicht zeigte feine Runzeln, die Farbe war nicht mehr so frisch wie einst. Aber sie ward ihm dadurch nur noch lieber. Es war, als hätte sie all das, wovon ihr Antlitz zeugte, nur um seinetwillen, für ihn gelitten. Nie wieder konnte er das gutmachen. Es kam Konrad in diesem Moment so vor, als sei er ihr untreu gewesen und nicht sie ihm. In ihm war wieder das alte Gefühl, daß Thora ein Kind sei, das keine Stütze hatte in der Welt außer ihm. Und ganz unmöglich, unerhört, über alle Begriffe deuchte es ihm, daß auch er gehen und sie allein lassen sollte.

Thora aber stapfte über den gefrorenen Boden; sie war glücklich wie noch nie. Einen also gab es doch, der sie liebte, einen, der sie immer geliebt hatte, der nichts Böses von ihr sprach, der ihr Bild im Herzen getragen hatte all die langen Jahre durch, in denen sie sich so allein gefühlt hatte und es doch gar nicht gewesen war. Was kümmerte es sie jetzt, daß sie das Glück nie greifen würde! Was tat es, daß ein langes ödes Leben sie erwartete! Was kümmerten sie Sorgen und Leid, das Urteil der Menschen, alles, was ihr bisher so schwer erschienen war!

»Sprich nicht weiter!« sagte Thora. Und dann legte sie ihre Hand auf Konrads Arm wie damals, als sie das letztemal auseinandergegangen waren. Sie zwang ihn, umzukehren. Denn schon dunkelte um sie der Wald. So gingen sie zurück. Thora würde die Wege in pechschwarzer Finsternis gefunden haben – hier, wo sie so ganz zu Hause war!

Und während sie gingen, fing auch Thora an zu erzählen. Konrad lauschte auf jedes Wort und ward dabei immer ruhiger. Thora hatte ihm keine Liebesworte zu sagen. Sie hatte nie geliebt. Was die Menschen Liebe nennen, hatte sie nie empfunden. Und ohne es zu wissen, war sie über die Grenze gelangt, wo die Sehnsucht des Bluts verstummt. Sie war bloß glücklich, weil sie jetzt wußte, daß es einen Menschen gab, der sie liebte, daß also ihr Leben nicht so öde war, wie sie selber geglaubt hatte. Dankbar war sie wie vor einem großen Geschenk, das ihr unerwartet geworden war, das sie nie gewagt hatte zu begehren. Nichts störte sie jetzt, nicht einmal der Gedanke, daß er, der sie glücklich machte, um ihretwillen hatte leiden müssen. Der Gedanke kam ihr überhaupt gar nicht. Für sie schwand alles Leid der Welt vor dem mächtigen Glück dieser Stunde, das ihr zum ersten und letzten Male zuteil ward – jetzt, da es zu spät war.

Und getragen von diesem Gefühl, erzählte Thora von sich, erzählte, wie ihr Mann gestorben, wie verlassen sie gewesen, wie sie davongegangen war wie ein krankes Kind, das nach Hause sucht, all das, was kein Mensch verstanden hatte, was man ihr nie würde verzeihen können.

Und Konrad fühlte, wie vor Thoras Worten sein eigner Schmerz stiller ward, wie er sich gleichsam verflüchtigte und verschwand. Sein eignes Schicksal erschien ihm auf einmal unbedeutender als zuvor. Thora hatte ihren Arm ganz unter den seinen geschoben; um sie her verdichtete sich mehr und mehr die Dunkelheit; längst war die Sonne verschwunden, am Himmel begannen die Sterne aufzuglimmen. Konrad und Thora wanderten auf altvertrauten Wegen. Sie konnten sich nicht verirren. Ihre Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt, und die Umrisse der Bäume, die schwarz aus dem Dämmer tauchten, leiteten ihre Schritte. Vom Strand herauf tönte das klirrende Plätschern des Wassers, das über die Eisränder schlug. Als sie den Wald verließen, leuchtete ihnen der Lichtschein aus den Fenstern von Moheda entgegen wie flackernde Streifen, die durchs Dunkel fielen.

Da blieben sie beide stehen, um Abschied zu nehmen. Und mit manchem guten Wort wünschten sie einander alles Gute fürs Leben.

»Wir werden uns nicht wieder sehen!« sagte Thora.

»Nein,« erwiderte Konrad und lächelte.

Leicht und einfach erschien ihnen alles in diesem Augenblick.

Dann bat Konrad Thora, sie möchte ihm, ohne den zwei Alten etwas zu sagen, seinen Reisepelz herausbringen und die Peitsche, damit er ohne Abschied davonfahren könne. Und Thora begriff, daß Konrad die Erinnerung an sie und an diesen ganzen Abend ungetrübt mit sich nehmen wollte. Darum tat sie auch widerspruchslos, wie er wollte. Konrad spannte das Gig ein und zündete die Laternen an. Gleich darauf fuhr er einsam die Landstraße hinab.

Thora wartete nicht, bis er fort war. Sie ging hinein zu den Eltern und sagte ihnen, der Besuch sei abgereist. Und die beiden Alten ließen sich an diesem Bescheid genügen und fragten die Tochter nicht weiter aus. Aber als Thora zur Ruhe gegangen war, saßen sie noch bis tief in die Nacht beisammen. Der Hauch, der vom Schicksal zweier junger Menschen herübergeweht war zu ihnen, hielt sie wach. Trotzdem fühlten sie keine Wehmut; sie hatten nur die Empfindung einer hohen Feier, die ohne Zeugen begangen worden und dennoch unvergeßlich war.

Die Alten verstanden über das, was sie wußten, zu schweigen. Und als Thora mit ihrem Sohn wieder nach dem Haus zurückkehrte, in dem sie so schwere Jahre durchlebt hatte, ward in dem traulichen Doktorheim Konrad Olthovs Hochzeit gefeiert. Am Abend führte der junge Ehemann seine Frau nach Granås, das ganz neu hergerichtet war. Es schien, als ob selbst die Erinnerung an die Zeiten des Verfalls auf immer verscheucht sei. So weiß und gewaltig erhob sich das stattliche Haus im Schimmer der Frühlingsnacht vor dem Tannenwald; die Vögel begannen der Sonne entgegenzuzwitschern, die in wenigen Minuten die Pappeln in der alten Allee vergolden mußte ...

Thora und Konrad sahen sich nie wieder. Aber eine große Veränderung war mit Thora vor sich gegangen. Wohl ward ihr die Gegend, die einst so große Furcht in ihr erweckt hatte, nie so lieb wie die Heimat. Aber dennoch fühlte sie sich an sie gefesselt, wie die Mutter sich an die Erde gebunden fühlt, die dereinst ihr Sohn sein eigen nennen und bebauen soll. Sie wurde ihren Untergebenen eine gute Herrin, und als sie so nach und nach auf dem Hof alt ward und die Leute sich daran gewöhnt hatten, sie zu den ihren zu rechnen, liebten die Menschen sie auch, auf die stumme, etwas karge Art, die dem Bewohner des Flachlandes eigen ist. Und Männer und Frauen kamen von weither, um Rat und Hilfe bei ihr zu suchen. Thora hatte sich selber aufgegeben; und ihr Gewinn war, daß andre sie glücklich priesen. Sie priesen sie glücklich, weil sie nichts für sich begehrte, sondern alles andern gab. Wenn sie ab und zu einsam auf ihrer Veranda saß, wo der wilde Wein jetzt so dicht wuchs, daß er die ganze Aussicht verdeckte, geschah es ihr oft, daß sie in tiefes Nachsinnen versank. Der Bergrücken schnitt ihr die Aussicht ab; aber über den Buchen leuchtete die Abendsonne. Und da sah Thora manchmal ihr eignes Leben so schön, daß alles, was sie an Gutem und Bösem erlebt hatte, ihr entgegenklang wie Töne eines Liedes, oder schimmerte wie Märchenbilder. Und wie in einem Traum, der mit dem Ernst des Alltags gar nichts zu tun hat, ward es ihr klar, daß das Höchste im Leben das ist, was der Mensch nie greift und faßt, was über allen Grenzen ist. Einmal war auch sie dem nahe gewesen. Und mehr erreicht kein Mensch.

Und dieser Erinnerung lächelte sie noch nach, als schon ihr Leben dem Abend entgegenglitt.

 

Ende

 


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