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5.

Hans Steinherr schritt durch den naßkalten Februarabend, die Hände tief in den Taschen seines Paletots, den Kopf vorgestreckt. Er achtete nicht darauf, daß seine dünnen Lackschuhe durchweicht und bespritzt wurden, daß auf seinen Hut die Tropfen fielen. Er dachte überhaupt nicht. In seinem Kopf tanzten hundert Melodien durcheinander, Kinderlieder, Studentengesänge, Fastnachtsstrophen vom Rhein. Woher sie so plötzlich auftauchten, wer sie gerufen hatte – er wußte es nicht. Er wollte es auch gar nicht wissen. Sie waren eben da, sie erheiterten ihn, sie verkürzten ihm die Zeit. Also war es doch eine große Errungenschaft, über sie verfügen zu können. Und er summte sie mit, wie sie ihm durch den Kopf kreuzten, einen Vers nach dem anderen, eine Melodie nach der anderen, ohne sich über die Notwendigkeit Rechenschaft abzulegen.

Einmal blieb er stehen. Er hatte da ein Karnevalsliedchen im Dialekt vor sich hingeträllert, im Wortlaut, ohne zu stocken. Das kam ihm selbst wunderbar vor. Und darüber grübelte er nun doch. Er wußte ganz genau, daß er die Strophe kaum als Junge gekannt oder gesungen haben konnte. Sie mußte ihm von irgend einem Düsseldorfer Fastnachtsabend her im Ohr geblieben sein. Und nun meldete sie sich. Seltsam. War denn damals alles so tief gegangen, saßen selbst die geringfügigsten Tagesbildchen aus der Jugend so fest in ihm, daß sie nach jahrelanger Unterdrückung plötzlich schelmisch hervorlugten und ihm lustig zuraunten: Wir sind auch noch da, wir halten uns stets zu deiner Verfügung, wenn du einmal ein Stündchen für uns hast oder wir unser Stündchen für gekommen halten?

Er schüttelte den Kopf und ging weiter. Gut, gut, mochte es so sein, wie es wollte. Karneval in Düsseldorf, Karneval in Berlin – es war ja schließlich völlig gleich.

Aha – ja – was war's doch gleich? Hatte er da vorhin ein Erlebnis gehabt? Dort hinten, irgendwo, in dem Hause am Kurfürstendamm? Er mußte sich einen Moment besinnen, denn das Haus erschien ihm nur nebelhaft, und die Vorgänge des Abends – –? Ganz recht, er hatte Urlaub genommen, Urlaub von der Liebe. Das war doch alles sehr höflich gewesen, mehr als höflich. Doch das andere – das andere – –? War diese Verlobung nicht längst schon eine fertige Geschichte? Sämtliche Freunde des Hauses hatten es doch gewußt, nicht ein einziger, der überrascht gewesen wäre – –

Herrgott ja, es war keiner überrascht gewesen –!

Glühend heiß lief es ihm durch den Körper, er fühlte, wie sein Gesicht brannte, wie das Blut ihm in den Wangen klopfte, in den Schläfen, in den Halsmuskeln. Er nahm den Hut ab und vergaß, ihn wieder aufzusetzen. Also alle hatten sie es gewußt, nur er nicht … Der Seladon war mit Blindheit geschlagen gewesen. Herr Hans Steinherr, Seladon der Frau Bettina Wittelsbach. Die höchste Charge, die er erreicht hatte, nachdem er von der Schlichtheit der Heimat geschieden war, um seinen Ehrgeiz zu befriedigen!

Ah – –! schrie es in ihm auf, und er preßte die geballte Faust auf den Mund, um den Schrei, der ihm über die Lippen trat, zu ersticken. Mit entsetzten Augen blickte er sich um, ob ihn ein Vorübergehender belauscht haben könnte. Wie erbärmlich, wie jämmerlich erbärmlich war das, was er erlebt hatte! Nicht heute nur, nein, nein, all die Tage, Wochen, Monate hindurch. Seine Augen wurden so unheimlich klarsehend. Hundert Einzelheiten traten vor seine geschärfte Phantasie, Dinge, die er hingenommen hatte, um die oft fadendünne Stimmung nicht zu zerreißen, Küsse, die er geküßt hatte, obwohl sein Geist noch zornig gewesen war über Oberflächlichkeiten und Unarten der Frau, die er – küßte. Ihr Diener, Gnädigste, Ihr Diener – –. Das war ja doch der immer wiederkehrende Endreim gewesen – er hatte den Diener gespielt!

Er beschleunigte seinen Schritt. Er begann durch die Straßen zu laufen, um zu seiner Wohnung zu gelangen. Jeder Straßenköter, so glaubte er, müßte ihm doch die Rolle ansehen, die er in so beispielloser Überhebung verwechselt hatte.

Jetzt stießen sie im Hause Kurfürstendamm klingend die Gläser zusammen. Jetzt brachte wohl die alte, diplomatisch geschulte Exzellenz den Trinkspruch auf das Brautpaar aus. Und hinten, in einer Ecke des Salons, kommentierte man tuschelnd seinen raschen Abgang. Er sah sie ganz deutlich, die Intimen des Hauses, wie sie lächelten, in stillem Mitleid, mit einem Stich ins Schadenfrohe. Keiner hatte ihn gemocht, und er keinen von ihnen! Des freute sich seine Seele noch in dieser Stunde. Nur Bettinas wegen hatte er sie ertragen, Bettinas wegen, die so lieb zu betteln, so feurig zu überreden, so lachend jede Einwendung zu verwischen wußte. Es dämmerte in den Straßen, und er war bei ihr. Und sie lehnte ihren biegsamen Körper an ihn und strich über sein Haar; und wenn er sie küssen wollte, bog sie den Kopf zurück; und wenn er sich beleidigt zurückziehen wollte, überfiel sie ihn mit ihren Küssen. Kein Denken und Wägen hielt stand. Denken und Wägen auf morgen! Er fühlte nur ihre süße Gestalt und ihre heißen Lippen …

Sein Gesicht verzerrte sich wie unter einem körperlichen Schmerz. Hatte er denn alle Würde verloren, daß er jetzt noch, nach dem soeben Erlebten, in Erinnerungen schwelgen konnte?

O, o, gab er sich selbst die Antwort, das ist doch kein süßes Schwelgen, das ist ein bitteres Schwelgen, das ist der Haß, die Wut, der Ekel. Das ist die Ironie, lachte er auf, die Ironie meines Lebens.

Und immer wieder redete er mit seinem eigenen Selbst und fand nicht Worte genug, um sich zu verwunden, zu demütigen und wieder aufzustacheln.

Ein Fluchwort preßte sich hinterher. Es war das erste Mal, daß er fluchte. Und er meinte auch nur sich damit zu treffen. Wieder und wieder stieß er das Wort heraus, aber es wurde ihm nicht leichter zu Sinn.

Heute würden sich die Gäste natürlich früher empfehlen. Nur der eine, der Prinz, würde noch einen Augenblick zögern, um einen Separatabschied zu nehmen. Dieser lächerlich wichtige, inferiore Dutzendprinz. Was er besessen hatte: Rennställe, Weiber, Hunde; was er nie besessen hatte: Witz und Verstand; was er noch besaß: Schulden und wieder Schulden – das war die Analyse. Es blieb kein Rest.

»Herr des Himmels!« stieß Steinherr hervor, »weshalb beschimpfe ich den Mann?«

Da war er schon wieder bei dem Bilde.

Die Gäste waren gegangen; den Hut in der Hand, zögerte der Prinz. Jetzt führte er mit unnachahmlicher Grazie ihre Hand an die Lippen. »Wer war denn dieser unglaubliche Mensch, der sich so merkwürdig benehmen zu müssen glaubte?!« Und sie antwortete lächelnd: »Mein Gott, ein Dichter. Er legte heute schlechte Formen an den Tag. Wir werden sie ihm abgewöhnen. Nicht wahr, mein Georg? Gute Nacht …«

Dem hastig Einherschreitenden stand der Schweiß auf der Stirn. Er ballte die Finger zu Fäusten zusammen und renkte den Kopf, als ob ihm das Atmen Beschwerden machte. Das war doch Verrücktheit, glatte, blanke Verrücktheit, diese Selbstquälerei! Hier gab es doch nur eins: Verachtung! Aber das sprach sich nur leicht aus. Was würden die beiden Menschen nach seiner Verachtung fragen! Lachen würden sie über ihn!

Er öffnete weit die Augen, aber er sah nichts, in sich und um sich, als eine Leere.

Vermisse ich denn etwas? fragte er sich höhnisch. War denn überhaupt etwas vorhanden, was wert wäre, es auf der Straße ausklingeln zu lassen? Liebe? Die würde nicht toben und schimpfen. Für einen Groschen Ehrgeiz verloren gegangen, und in derselben Tüte ein Rest schimmelig gewordene Vornehmheit!

Er stand vor seiner Wohnung. Neun Uhr erst … Wie werd' ich den Abend herumbringen …

Dann ging er hinein, machte Licht und sah sich um; ganz scheu, als müßte er auch hier auf eine Überraschung gefaßt sein. Aber alles war unverändert. Und gerade dieses unveränderte Bild, das Tag für Tag das gleiche bleiben würde, während er sich selbst ein Fremder geworden war, ließ ihn das, was er vor einer Stunde aufgegeben hatte, wie einen unwiederbringlichen Verlust, in weit über alle Grenzen gehenden Maßen, erscheinen.

Müde, zerschlagen, saß er in seinem Stuhl. Die Arme hingen schlaff über die Lehne.

Was nun?

Er lächelte ironisch.

Was nun? Das hört sich ja an, als ob ich überhaupt schon etwas getan hätte. Ich hab' dem Leben nichts genutzt, und das Leben hat mir nichts genutzt. Quitt! Wir haben uns beiderseitig nichts vorzuwerfen.

Sein Blick fiel auf das der Wand zugekehrte Bild Bettinas.

Langsam erhob er sich, nahm das Bild vom Schreibtisch und betrachtete es. Ganz bedächtig, ganz eingehend. Nun hatte er die Augen durchforscht, nun heftete sich sein Blick auf den Mund. Ein Zittern ging durch seine Hände, und es wurde stärker und stärker, bis er mit jähem Griff den Karton packte, um ihn zu durchreißen. Aber er tat es nicht. Er warf das Bild auf den Tisch und preßte die Lippen zusammen. Seine Augen brannten in einem trockenen, quälenden Schmerz. Wozu nur das alles? Wozu nur? Es war doch nirgend ein Zweck zu ersehen!

Als er die Lampe niedriger schrauben wollte, fiel ihm auf dem Schreibtisch eine Karte ins Auge. Mechanisch nahm er sie auf und las: »Heinrich von Springe.«

Und darunter stand: »Ich werde vor zehn Uhr noch einmal mein Glück versuchen.«

Hans Steinherr legte die Karte auf den Tisch zurück.

Das Glück versuchen? … dachte er. Das wird wohl bei mir mehr als verlorene Liebesmüh' sein. Das Glück versuchen!

Im Halblicht saß er und erwartete den angekündigten Besuch. Wenige Minuten, und er hatte ihn vergessen. Nur seine Scham hatte er nicht vergessen, seinen beleidigten Stolz, seine beleidigte Männlichkeit. Das wogte und quirlte in seinem Kopf durcheinander, und er war dem Ansturm gegenüber willenlos »Aus ist's, aus, aus!« murmelte er immer wieder vor sich hin, und dennoch arbeitete er unablässig an neuen Plänen, um die gescheiterte Hoffnung zu reparieren. Es war ein Kampf in ihm, den er verachtete und den er gleichwohl mit jeder Fiber kämpfte. Um ein Phantom –.

Es hatte an seine Tür geklopft. Nun klopfte es wieder, und die Tür öffnete sich. Ein Mann stand auf der Schwelle und spähte durch das Halbdunkel.

»Hans –?« fragte eine Stimme, die ihm eigenartig vertraut vorkam.

Er machte eine Bewegung, die seine Anwesenheit verriet. Da stand auch schon der Besucher vor ihm.

»Hans, mein alter Junge, es ist lange her, daß wir uns nicht sahen. Deine Mutter läßt dich grüßen.«

Er antwortete nicht. Nur die Hände hielt er fest, die ihm Springe entgegengestreckt hatte.

»Hans, ist es dir immer noch nicht lieb, mich wiederzusehen? Ich denke, wir sind Männer geworden seitdem.«

»Doch, doch. Entschuldige meine scheinbare Teilnahmlosigkeit. So nimm doch Platz!«

Springe legte seinen Mantel ab, ging zum Tisch und ließ das Licht aufflammen.

»Laß dich zunächst einmal anschauen«, sagte er ruhig. »Ob es der alte Hans ist.«

Steinherr wehrte mit der Hand ab, aber Springe achtete nicht darauf. In Gedanken versunken, stand er vor dem einstigen Schützling.

Der zwang sich zu einem Lachen.

»Zufrieden mit der Musterung? Nicht ganz, wie ich merke. Ich bin nur ein bißchen alt geworden in der Einsamkeit. Aber sonst, sonst – –. Nun setz dich doch, und wenn es dich freut, will ich dir sagen: Es ist gut, daß du hier bist.«

Springe zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihm dicht gegenüber. Ihre Kniee berührten sich.

»Hans, Hans«, sagte er herzlich.

Der aber wurde unruhig und blickte an dem Gast vorbei.

»Laß gut sein; wir wollen uns das Wiedersehen nicht mit alten Geschichten verkümmern.«

Springe schüttelte nur den Kopf. Dann fragte er unvermittelt: »Hast du mich nötig, Hans? Kannst du mich brauchen? Was gehen uns alte Geschichten an, wenn neue dringendere zu erledigen sind? Leute wie wir geben sich die Hand und verstehen sich.«

»Verzeihe. Mach' ich in der Tat einen so niederschmetternden Eindruck?«

»Ich möchte den Grund wissen.«

»Ja, lieber Heinrich – ich darf dich wohl noch so nennen – den Grund möchte ich auch wissen. Nimm an, ich bin ohne Grund so, gänzlich ohne Grund. Das klingt dumm, aber es hilft weiter.«

»Was das anbetrifft, wir haben Zeit.«

»Das klingt aus deinem Munde allzu bescheiden. Du wirst Besseres zu tun haben, als dir über das Aussehen eines Menschen Kopfschmerzen zu machen, der selbst nicht einmal weiß, ob er Kopf genug hat, um Schmerzen zu fühlen.«

Springe lehnte sich zurück und schwieg. Dann sagte er langsam: »In der Ironie hast du es jedenfalls weit gebracht.«

»Ich hatte einen guten Lehrmeister«, erwiderte Steinherr lächelnd; »er hieß Heinrich von Springe und war in diesem Fach ein Meister. Bitte, verkleinere mir den Mann nicht, ich verdanke ihm viel.«

»Der Mann muß ein Stümper gewesen sein, lieber Hans.«

»Ich widerspreche einem verehrten Gast nicht gern, aber hier scheint es mir Pflicht. Pflicht oder Selbsterhaltungstrieb – wie du es nennen willst. So laß dir denn sagen, daß das, was aus seiner Lebensanschauung auf mich abgefärbt hat, das Beste war, was ich gewinnen konnte. Und das war just der ironische Gesichtswinkel.«

»Trotzdem. Ich bleibe dabei, der Kerl war ein Stümper oder – du hast nicht ausgelernt.«

»Ich habe, was ich brauche. Mehr als seine Bedürfnisse kann man nicht befriedigen.«

Springe sah ihm fest in die Augen.

»Was nutzt dich die Ironie allein? Die ist wie ein Zwilling, der ohne den anderen Zwilling nicht leben und nicht sterben kann. Nörgelnde Grämlichkeit statt scharfer Lebenslust. O ja, die Ironie hast du erlernt. Nur eins, das Lachen, das rheinische Lachen hast du nicht gelernt, noch nicht gelernt; und das gehört dazu wie der Klöppel zur Glocke. Es wird Zeit, mein Sohn; lern das Lachen!«

Hans Steinherr erhob sich rasch. Das war das Wort, das ihm gefehlt hatte. Das Lachen, das Lachen! Das gekonnt haben, vor ein paar Stunden, so recht aus Herzensgrund, so recht befreiend und alles reinfegend – das Lachen … damit hätte er gesiegt, über sich, über die anderen, über die Situation. Weshalb hatte er nicht lachen gekonnt!

Der Aufruhr in ihm, der sich eine kleine Weile gelegt hatte, brach mit erneuter Gewalt los. Durch seinen Kopf schossen blitzschnell die Bilder: das tödlich beleidigte und doch jäh erschrockene Gesicht Bettinas, wenn er ihre Eröffnungen mit einem schallenden Gelächter entgegengenommen hätte, wenn er sich mit lautem, humorvollem Lachen auf dem Absatz umgedreht hätte und lachend ohne weiteres zur Tür gegangen wäre. Das würde ihr einen anderen Respekt vor der Art seiner Persönlichkeit beigebracht haben, als die hohen Worte seiner Liebesmoral. Das würde sie zusammengeschüttelt und aufgerüttelt haben mit Fäusten, und bevor er aus dem Zimmer gewesen wäre, hätte sie widerspruchslos sich und ihre Welt der Kraft seines Lachens anvertraut.

Er stand am Fenster und hielt das Holz der Fensterschwelle gepackt, um den Sturm abzulenken. Weshalb war der Mann nicht gestern gekommen, ihn an heimische Art zu mahnen! Dieser Mann, der ihm schon einmal den rechten Weg gezeigt hatte, den Weg zur Jugend. Langsam kam er durch das Zimmer zurück. Er hatte wohl doch noch einiges nachzuholen.

»Heinrich«, sagte er, »ich habe dich vorhin nicht einmal ordentlich begrüßt. Das möchte ich jetzt. Es hat vieles zwischen uns gestanden, was nur in meiner Einbildung existierte und längst beschämt verflogen ist. Aber du hast recht: Leute wie wir geben sich die Hand und verstehen sich. Ich werde dich nicht mit Sentimentalitäten langweilen. Wie geht es meiner Mutter?«

»Sie hat es sich in den Kopf gesetzt, nicht älter zu werden.«

»Ihr seid sehr glücklich miteinander?«

»Glücklich? Das Wort kann ich nicht mehr definieren. Es wird wohl bei uns der Normalzustand so bezeichnet werden müssen. Lieb haben wir uns wie die Kindsköpfe.«

Er faßte den Jüngeren beim Schopf.

»So, nun komm mal her. Deine Mutter hat mir aufgetragen, dir sofort, wenn ich dich zu fassen kriegte, einen Kuß von ihr zu applizieren. Da hast du ihn.«

»Du hast dich in den fünf Jahren nicht verändert – –. Und Herr Friedrich Leopold?«

»Adrett wie ein Zwanzigjähriger, der sich vorgenommen hat, hundert zu werden. Bleiben ihm nach seiner Rechnung also noch gutgezählte achtzig Jahre zur Verfügung.«

»Und – und Frau Stahl?«

»Stellt lebende Bilder.«

»Du, drück dich klarer aus! Lebende Bilder?«

»Ganz richtig. Mit Herrn Friedrich Leopold gemeinsam. Philemon und Baucis und sonstiges aus der Geschichte berühmter alter Liebespaare. Ein paarmal wollt' ich schon den Kaplan holen, um dem Geseufz' ein Ende zu machen.«

»Sie führt ihm die Wirtschaft, wie mir Mutter schrieb.«

»Die Wohnung liegt auf der anderen Seite des Korridors, in derselben Etage mit der unseren; genannt: die Toggenburg. ›Ritter, treue Schwesterliebe widmet euch dies Herz …‹ und so weiter. O, die beiden sind klassisch gebildet und handeln ganz ihrer Bildung gemäß.«

»Da wären wir glücklich bei der Liebe«, meinte Hans mit einem Versuch, zu scherzen.

»O bitte, frag nur.«

»Heinrich!«

»Nun? Was denn? Sollte ich dich falsch verstanden haben? Ich dachte, du hättest dich nach deiner Jugendliebe erkundigen wollen.«

Hans blickte unbeweglich vor sich hin.

Wie schmal der Junge geworden war.

»Wie geht es Hannes …«

»Ach, mein Jung', die steckt uns noch alle eines Tages in ihre Kleidertasche.«

»Sie muß jetzt sehr groß geworden sein …«

»Groß? In jeder Beziehung. Als herangewachsenes Menschenkind und als Künstlerin. Wenn sich Größe nach dem Einkommen bemessen läßt, ist sie jedenfalls größer als ich.«

Er lachte behaglich in sich hinein, als freute er sich, daß das Mädel ihn überholt habe.

»Du hast sie heute singen gehört … In der Philharmonie … Hüsgen sagte es mir.«

»Ja, heute hab' ich zum ersten Male erfahren, was Singen ist. Um und um wird man von der Stimme gekehrt. Noch so verstockt kann man sein, die Stimme lockert das ganze steinige Erdreich auf und bringt Triebe in dir zum Blühen, Triebe sag' ich dir, von denen du selbst keine Ahnung mehr hattest. Man möchte heulen über sich selbst, aus purer Wonne, welch ein guter Kerl man doch im Grunde ist. Und das macht alles der Hannes. Jedem Wort gibt sie Leben, ganz schlicht, ganz natürlich, aber mit einer Tiefe – das ist überhaupt nicht zu erzählen. Einfach hören mußt du sie, und wenn du sie nebenbei ansiehst, zerstört dir das auch die Illusion nicht. Das war eine Sonntagslaune vom lieben Gott, als er das Mädel schuf.«

»So«, sagte Hans; und dann wiederholte er: »So – so – «

Dann schwiegen sie beide, bis Hans, aus seinen Gedanken auffahrend, hastig den Faden wieder aufnahm. »Weshalb bist du denn nicht bei ihr? Das Konzert muß doch längst vorüber sein?«

»Sie ist zum Künstlersouper gequält worden. Und da ich ihr mitteilte, daß ich noch zu dir wollte –«

»Das hast du ihr gesagt?«

»Aber weshalb denn nicht? Sie hat mir außerdem Grüße an dich aufgetragen.«

»Der Hannes – –«, nickte Steinherr und lächelte abwesend vor sich hin. »Bitte, du wolltest weiterreden …«

»Kurz, sie hat zum Souper zugesagt unter der Bedingung, daß man sie um elf Uhr gehen ließe. Um elf Uhr hat sie nämlich im Hotel ein Rendezvous.«

Hans Steinherr blickte überrascht auf, und Springe amüsierte sich. »Mit Onkel Springe nämlich. Der ›Onkel‹, das bin ich. Na, von so süßen Lippen läßt man sich das Prädikat schon gefallen. Auf elf Uhr also bin ich im Hotel Kaiserhof auf eine Tasse Tee befohlen. Du gehst natürlich mit.«

»Ich – –? Ich glaube, du überschreitest da gehörig deine Onkelgewalt.«

»Aber so sperr dich doch nicht. Wir bilden doch sozusagen eine Familie. Du wirst es ja erleben, was für freudige Augen sie macht, ihren alten Kameraden wiederzusehen. Junge, Junge, ich fürchte, du taxierst unseren Hannes falsch.«

Hans Steinherr saß, die gefalteten Hände im Schoß, und blickte auf einen Punkt. Wie eine weiche Welle floß es über ihn hinweg. Als ob er krank sei, und weiche, kühle Hände legten sich auf seine heiße Stirn. »Ich möchte sie wiedersehen«, sagte er wie zu sich selbst. Er hatte Heimweh.

»Was ist das nur?« fuhr er empor und ging zur Tür. »Es klingelt in einem fort.«

An der Korridortür traf er den Hausverwalter.

»Ein Brief für Sie, Herr Doktor. Das Haustor war schon verschlossen, aber ich hab' dem Boten noch geöffnet.«

Hans Steinherr gab dem Mann ein Trinkgeld und kehrte ins Zimmer zurück. Beim ersten Blick auf das Papier erkannte er Bettinas steile Schriftzüge. Seine Hände flogen, daß das Papier knatterte. Dann nahm er sich mit Macht zusammen.

»Entschuldige«, sagte er, »ein eiliger Brief, wie es scheint.«

Springe nickte. Aber mit gespannten Blicken verfolgte er jede der nervösen Bewegungen.

Hans riß das Kuvert auf. Es enthielt nur eine Visitenkarte Bettinas. Unter dem Namen stand in eiligen Zügen: »Ich erwarte dich aufs bestimmteste morgen früh elf Uhr.«

Dreimal, viermal, immer wieder las Hans die wenigen Worte. Als er endlich den Arm sinken ließ, sah er farblos und um Jahre gealtert aus. Das Blatt fiel auf den Tisch. Es war ganz still im Zimmer.

Den starkgemuten rheinischen Maler packte ein Grauen vor dieser künstlichen Ruhe. Er war gewohnt, den Dingen ins Auge zu sehen. Aber hier war ein unsichtbarer Feind. Gleich beim Eintritt ins Zimmer hatte er es an der apathischen Müdigkeit des jungen Freundes gespürt, und nun, da er ihn durch unverfälschten Heimatsodem verscheucht zu haben glaubte, kam er wieder. Den Zustand ertrug er nicht. Zustände waren für alte Weiber.

»Hast du schlechte Nachrichten, Hans?«

Der hörte gar nicht.

Da nahm Springe das Blatt vom Tisch und las es.

»Hans!«

»Wie meinst du?«

»Was will die Frau von dir?«

»Du siehst ja. Sie wünscht, ich soll zu ihr kommen. Also – werde ich – hingehen.«

»Du sagst das in einem Ton, als ob dich das Hingehen Überwindung kostete.«

»Überwindung –? Ich – ich spreche in einem Ton –? Du – wie war das doch noch mit – mit dem Lachen? Weißt du, mit dem Lachen, das ich nicht gelernt haben sollte. Man – ganz recht – man muß nur alles humoristisch nehmen.«

»Wenn du kein Vertrauen zu mir hast, laß uns gehen.«

»Gehen? Wohin?«

»Zu Hannes. Sie wird uns längst schon erwarten. Es ist halb zwölf.«

»Es geht nicht, Heinrich. Ich kann, leider, nicht mehr mit. Morgen – vielleicht.«

Springe trat dicht vor ihn hin. Er zwang den anderen, ihn anzusehen.

»Und weshalb kannst du nicht mehr mit? Den Mut, mir das zu sagen, wirst du doch nicht verloren haben?«

Hans Steinherr hielt den Blick aus. Und ohne sich zu bedenken, antwortete er dem einstigen Mentor: »Wenn ich morgen zu dieser Frau gehe, kann ich heute nicht mit Johanna zusammen sein.«

»Der Dame wegen oder Johannas wegen?«

»Johannas wegen.«

Sie blickten sich noch immer voll in die Augen. Dann sagte Springe kalt: »Also gedenkst du etwas zu tun, was eines Hans Steinherr unwürdig ist.«

»Heinrich!«

»Ich wiederhole es, wenn du es wünschest. O, ich bin kein Sittenrichter und Tugendbold. Du könntest ja die Frau lieb haben und sie dich, und Hindernisse könnten euch im Wege stehen. Wer wollte euch deshalb verdammen! Vielleicht ist die Dame verheiratet. Wir sind alle Menschen, und auf die Kraft und Reinheit unserer Empfindungen kommt es an.«

»Nein, sie ist nicht verheiratet. Noch nicht. Obwohl sie es früher war.«

»Mit anderen Worten: sie ist Witwe und aufs neue verlobt. Hab' ich recht?«

»Verlobt. Seit heute abend. Ich wußte nichts davon, mein Wort darauf.«

»Du wurdest also getäuscht? Herrgott, so sprich doch! Ich seh' es dir ja an, daß du auf dem toten Punkt bist, daß es dich drängt, irgend etwas herauszuschreien. So schrei doch! Ich bin wie eine Felswand, die das Echo nur einmal hergibt, und sicher nicht an Unberufene. Soll ich dir helfen? Soll ich dich zum Widerspruch reizen? Nun gut, selbst auf die Gefahr hin: Hans Steinherr, dem einst das beste Mädchen nicht gut genug war, steht im Begriff, sich für die schlechteste Frau zum Spielzeug zu degradieren. O, o! Wir wollen hier keinen Ringkampf aufführen. Sag mir ins Gesicht, daß ich lüge …«

Steinherr ließ die erhobenen Arme sinken. Er murmelte unverständliche Worte.

»Verteidige dich nicht und sie nicht. Sie vor allen Dingen nicht. Wenn eine Frau in der Stunde ihrer Verlobung an einen anderen schreibt, ja nur an einen anderen denkt – weißt du, ich möchte das Wort für mich behalten. Ich habe zu viel Respekt vor der Weiblichkeit im allgemeinen. Hans, was ist dir?«

Steinherr hatte sich an der Tischkante halten müssen. Es kreiste ihm vor den Augen.

»Junge, komm zu dir! Vielleicht hab' ich eine Dummheit gemacht; vielleicht liegen hier die Dinge so besonders, daß ich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet habe. Du, hör mich! Wenn ich auch beinahe dein Vater bin, du sollst mich bei den Ohren nehmen dürfen, und ich will nicht mucksen.«

Hans Steinherr richtete sich auf. Er strich sich mit der Hand über die Stirn und sah sich um.

»Ich vertrottele wohl nächstens noch. Laß nur ruhig deine handfesten Sprüche auf mich los. Vielleicht findet sich noch eine anständige Stelle an mir, an der das eine oder andere haften bleibt. Die Hoffnung ist zwar nicht groß.«

Da trat Springe mit raschem Schritt auf ihn zu, schlang seine Arme um ihn und drückt den Kopf des jungen Freundes fest an seine Brust. »So, nun heul dich aus, ich sag's keinem wieder.«

Und nach einer Weile: »Ach, ich glaub's ja gar nicht, daß du dich verloren hast. Irgend eine Dickköpfigkeit, aber keine Preisgabe des innersten Menschen. Nur rede – das erleichtert. Ich bin ja nun doch einmal dein approbierter Vertrauter. Denk an den Tag, an dem du mir Hannes brachtest.«

Aber Hans gab keine Antwort mehr. Ein plötzlicher Schüttelfrost hatte ihn gepackt.

»Komm, mein Junge, ich geleite dich in deine Klappe. Du hast eine Erkältung in allen Knochen und gehörst sofort ins Bett. Morgen sprechen wir weiter. Rheinland läßt sich nicht unterkriegen.«

Er führte ihn, der wie ein Schwerkranker taumelte, behutsam ins Schlafzimmer und war ihm behilflich. Dann ließ er sich die Schlüssel anweisen. »Ich bringe sie dir morgen gegen Mittag zurück. Deine Hand darauf, daß du inzwischen die Dame nicht wiedersiehst. Heraus mit dem rheinischen Stolz!«

Als er durch den Salon zurückschritt, sah er das Bild Bettinas liegen. Er nahm es auf und betrachtete es lange, mit Künstleraugen.

»Den guten Geschmack verleugnet der Bengel nie«, knurrte er. »Pfui Deubel, wie schön!«

Mitternacht war vorüber, als er im Hotel ankam. Hannes saß noch in dem kleinen, separierten Teezimmer und wartete. Und wieder ließ Springe seine Künstleraugen blitzen. Das war doch ein anderes Bild.

Die schlanke Gestalt mit den hochgeschwungenen, festen Formen, das kühne, intelligente Köpfchen, auf dem die rotblonden Flechten wie ein Kranz aus purpurnem Weinlaub lagen, und die tiefen, stillen Augen von der Farbe des blauen Bergsees – das war echt germanisches Blut, so heiß wie keusch, so treu wie furchtlos.

»Guten Abend, Hannes!«

»Guten Abend, Onkel Springe!«

»Kleines Liebchen, willst du mir einen großen Gefallen tun?«

»Aber natürlich. Mach's nicht so feierlich, du erschreckst mich sonst.«

»Dich erschreckt schon nichts. Also: geh schlafen. Darum wollt' ich dich bitten. Und morgen frühzeitig auf. Dann wollen wir lange plaudern.«

Sie erhob sich und kam auf ihn zu.

»Ist Hans krank? Ist etwas mit ihm geschehen? Als du nicht pünktlich warst, wußt' ich es.«

Er legte den Arm um ihre Schulter.

»Welch ein feinkorrespondierendes Empfinden – –. Wenn ich dir die Wahrheit sage, wirst du sie mir auch sagen?«

»Ja, ja«, drängte sie, »das solltest du wissen. Ich kann nicht lügen.«

»Hans ist drauf und dran, über Bord zu gehen. Aber wir werden das nicht zulassen, wir nicht, gelt, du? Und nun, gerad' heraus: Hast du ihn noch lieb?«

»Ja, Onkel Springe, ich hab' ihn so lieb wie früher.«

»Gute Nacht, mein tapferes Mädel. Auf morgen!«

Als sie in der Tür war, nickte sie ihm nochmals lächelnd zu; als müßte sie ihm, dem Manne, Mut einflößen. – –

*


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