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Erstes Kapitel.
Einleitung

Der gegenwärtige Stand der Volkswirtschaftslehre erweist sich neuen dogmatischen Bearbeitungen ihres Gebietes nicht günstig. Es gibt zwar eine grosse Anzahl von Werken, welche in gemeinverständlicher Weise, mit verschiedenartiger Behandlung der Einzelheiten, das sogenannte »orthodoxe« oder »klassische« System darstellen. Jedoch in England und in anderen Ländern ist dieses System in Misskredit geraten, und es bestehen grosse Meinungsverschiedenheiten sowohl hinsichtlich der Methode als hinsichtlich der Theorien der Wirtschaftswissenschaft. Alles weist darauf hin, dass dieses Gebiet der Soziallehre in ein Uebergangsstadium eingetreten ist und in kurzem eine wesentliche Umgestaltung erfahren dürfte. Der neue Gedankenkörper indessen welcher den alten ersetzen oder zum mindesten gründlich modifizieren wird, ist noch nicht zur völligen Ausbildung gelangt. Diese Umstände veranlassen uns, eine abwartende und rückblickende Haltung einzunehmen. Unsere Stellung wird eine deutlichere und unser weiteres Fortschreiten wesentlich erleichtert, wenn wir den Gang des Denkens über wirtschaftliche Erscheinungen geschichtlich und von einem allgemeinen Standpunkt aus beobachten und die aufeinanderfolgenden, diese Erscheinungen betreffenden Meinungsformen unter Bezugnahme auf die Perioden ins Auge fassen, in denen sie sich entwickelten. Und dies ist die Aufgabe, welche wir uns in den folgenden Blättern stellen.

Im Einklang mit den besten Bestrebungen unseres Jahrhunderts wird sich ein Studium befinden, welches vor allem durch das allgemeine Vorherrschen des geschichtlichen Sinnes gekennzeichnet ist. Dieser historische Sinn hat unsere ganze Denkungsweise derart durchdrungen, dass wir sowohl in jedem Wissenszweige als auch bei jeder Einrichtung und jeder Form der menschlichen Tätigkeit fast unwillkürlich fragen, nicht nach dem gegenwärtigen Zustande, sondern nach dem frühesten wahrnehmbaren Keimen und nach dem Entwickelungsgange. Die Annahme J. B. Say's »Welchen Gewinn könnte uns das Sammeln abgeschmackter Meinungen und mit Recht verrufener Theorien bringen? Es wäre ebenso langweilig als unnütz«. Économie polit. pratique, IX. partie. Das hierauf folgende »indessen« ändert in Wirklichkeit nichts an diesem Urteil., dass die Geschichte der Volkswirtschaftslehre wenig Wert habe, da sie grösstenteils nur eine Sammlung von ungereimten und gelegentlich hingeworfenen Ansichten sei, gehört einem bereits abgestorbenen Gedankenkreis an und bedarf gegenwärtig keiner besonderen Zurückweisung Siehe Roscher's Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland, Vorrede.. Sie verdient nur insofern erwähnt zu werden, als sie uns an die Notwendigkeit des Unterscheidens von Geschichte und Altertümelei erinnert: Blosse Schulgelehrsamkeit wird sich dem Studium des von vornherein Belanglosen widmen. Uns können nur jene Formen des Denkens interessieren, welche in hervorragender Weise in der Vergangenheit geherrscht und die praktische Tätigkeit ernstlich beeinflusst haben, oder in denen wir die Wurzeln der Gegenwart und der Zukunft zu erkennen vermögen.

Wenn wir hiernach den Standpunkt der Geschichte einnehmen, so wird es unnötig, gleich im Eingange den Begriff der Volkswirtschaftslehre zu erörtern oder sich über ihre Methode zu verbreiten. Es genügt, sie als die Lehre vom gesellschaftlichen Reichtum aufzufassen oder sich Says Definition derselben als Wissenschaft von der Produktion, Verteilung und Konsumtion des Reichtums einstweilen zu bedienen. Betreffs irgend welcher notwendig in Betracht kommender ergänzender Begriffe finden sich im Laufe unserer Darstellung entsprechende Andeutungen, und die Bestimmung der geeigneten Methode des wirtschaftlichen Forschens wird als eines der Hauptergebnisse der geschichtlichen Entwickelung der Wissenschaft behandelt.

Selbstverständlich ist zu unterscheiden zwischen der Geschichte der Volkswirtschaftslehre und der Geschichte der Wirtschaft des Menschengeschlechts oder eines besonderen Teils desselben. Das Studium der Aufeinanderfolge wirtschaftlicher Tatsachen ist ebenso selbständig, wie dasjenige der Aufeinanderfolge von theoretischen, diese Tatsachen betreffenden Ideen. Nur mit letzterem befassen wir uns hier unmittelbar. Doch stehen diese beiden Forschungszweige, obgleich verschieden, in engster Beziehung zu einander. Das Entstehen und die Form der wirtschaftlichen Lehren sind wesentlich bedingt durch die tatsächlichen Verhältnisse, durch die Bedürfnisse und Gedankenrichtungen der entsprechenden Zeitabschnitte. Mit jedem wichtigen gesellschaftlichen Wechsel haben sich neue Wirtschaftsfragen eingestellt, und die in jedem Zeitraum vorherrschenden Lehren haben viel von ihrem Einfluss der Tatsache zu verdanken, dass sie die Lösung der jeweils drängenden Aufgaben zu versprechen schienen. Jeder Denker ist wiederum, obgleich in mancher Beziehung seine Zeitgenossen überragend oder ihnen vorangehend, ein Kind seiner Zeit und kann nicht von der gesellschaftlichen Umgebung getrennt werden, in welcher er lebt und sich bewegt. Unvermeidlich wird er berührt durch die gleichzeitigen Verhältnisse und insbesondere durch die praktischen Forderungen, deren Druck seine Mitmenschen fühlen. Die Verbindung der Theorie mit der Praxis aber hat ihre Vorteile und ihre Gefahren. Einerseits verleiht sie der theoretischen Untersuchung eine greifbare, positive Grundlage, andrerseits aber kann sie Veranlassung sein, dass doktrinäre Uebertreibungen entstehen, dass in ungehöriger Weise besondere Seiten der Wirklichkeit in den Vordergrund gerückt und vorübergehende Zustände oder zeitweilige Massnahmen als allgemein normale Verhältnisse hingestellt werden.

Ausserdem dürfen wir auch andere Beziehungen bei dem Verfolgen der Entwickelung volkswirtschaftlicher Anschauungen nicht übersehen. Die verschiedenen Zweige der Gesellschaftswissenschaft sind so eng verbunden, dass die Geschichte keines einzigen derselben mit vollkommener Vernunftgemässheit für sich behandelt werden kann, obgleich auf letzteres die praktische Nützlichkeit hinweist, ja dazu drängt. Das volkswirtschaftliche Denken ist beständig und mächtig beeinflusst durch die vorherrschenden Anschauungen und selbst durch die Alltagsansichten über gesellschaftliche Dinge im allgemeinen. Alle geistigen Kundgebungen eines Zeitabschnittes in Bezug auf menschliche Angelegenheiten haben einen verwandten Charakter und tragen einen gewissen Stempel der Gleichartigkeit, der uns in unbestimmter Form vorschwebt, wenn wir von dem Geiste des Zeitalters sprechen. Die soziologische Forschung und die wirtschaftliche als eine ihrer Abzweigungen werden daher sowohl in ihrer philosophischen Methode als in ihrer Lehre durch die Wissenschaften beeinflusst, welche in der Reihenfolge der Entwickelung der sozialen vorangehen, besonders durch die Wissenschaft der organischen Natur.

Es ist von höchster Wichtigkeit, diese verschiedenen Beziehungen wirtschaftlichen Forschens sowohl zu äusseren Umständen als auch zu anderen Gebieten des zeitgenössischen Denkens im Auge zu behalten, da wir hierdurch in die Lage versetzt werden, uns weniger absolute und daher richtigere Urteile über die aufeinander folgenden Wandlungen der Anschauungen zu bilden. Anstatt diese je nach dem Grade ihrer Uebereinstimmung mit einem vorher eingenommenen doktrinären Standpunkt zu loben oder zu tadeln, werden wir sie als Elemente einer geordneten Reihe betrachten, welche vor allem mit Rücksicht auf ihre Herkunft, auf das Zeitgemässe ihres Auftretens und auf ihre Einflüsse zu erforschen sind. Wir werden nicht der Annahme huldigen, dass jede neue Stufe in dieser theoretischen Entwickelung notwendig eine bedingungslose Leugnung früherer Ansichten einschliesse, welche, auf der praktischen, wenn auch beschränkteren Grundlage der Erfahrung ruhend, oder eine abweichende Gesellschaftsordnung voraussetzend, oft eine relative Berechtigung hatten. Ebensowenig werden wir die sämtlichen, gegenwärtig behaupteten Stellungen als endgültige betrachten, denn das praktische Lebenssystem, welches sie stillschweigend voraussetzen, ist selbst der Veränderung fähig und ohne Zweifel dazu bestimmt, eine solche mehr oder weniger durchzumachen. In den Grenzen einer Skizze, wie es die gegenwärtige ist, erscheint eine ausführliche Behandlung dieser Rücksichten nicht angängig, doch werden wir uns bemühen, sie im Auge zu behalten und auf die hier angedeuteten Beziehungen aufmerksam zu machen, wo immer ihr Einfluss von besonderer Wichtigkeit oder von besonderem Interesse ist.

Die volkswirtschaftlichen Lehren werden natürlich mehr oder minder durch die besondere Lebensstellung und die eigentümlichen Neigungen der verschiedenen Denker, deren Namen mit ihnen verknüpft sind, an Gehalt oder Form berührt. Die Beziehungen dieser Männer zu bestimmten Vorgängern, ihr angeborenes Temperament, ihre Erziehung, ihre religiösen Voreingenommenheiten und politischen Parteistellungen – alles dies hat seine Wirkung geübt. Wir werden auch hierauf bei besonders merkwürdigen Beispielen unsere Aufmerksamkeit richten, doch können diese Punkte für unseren Zweck erst in zweiter Reihe und in untergeordneter Weise Beachtung finden. Die Gesamtheit muss über dem Individuum stehen. Die Schöpfer von Theorien können nur als Organe einer allgemeinen geistigen und gesellschaftlichen Bewegung in Betracht kommen.

Die Geschichte der volkswirtschaftlichen Forschung wird am natürlichsten in die 3 grossen Zeitabschnitte 1) des Altertums, 2) des Mittelalters und 3) der Neuzeit eingeteilt. In den beiden ersten konnte dieser Wissenszweig nur in einem Anfangsstadium vorhanden sein. Soll sich die gesellschaftliche Theorie in irgend welchem beträchtlichen Umfang entwickeln, so ist die vorherige Erfüllung zweier Bedingungen notwendig. Erstlich müssen die Erscheinungen sich auf einer genügend ausgedehnten Stufenleiter darbieten, um geeignetes Beobachtungsmaterial und eine hinlängliche Grundlage für wissenschaftliche Verallgemeinerungen zu liefern. Ist das Gesamtbild vorhanden, so muss zweitens der Beschauer für seine Aufgabe erzogen und mit den geeigneten Hilfsmitteln und Werkzeugen der Forschung versehen sein, d. h. es ist die vorgängige Ausbildung der einfacheren Wissenschaften erforderlich, und zwar in einem solchen Masse, dass sie sowohl die notwendigen theoretischen Unterlagen liefert als die geeigneten Untersuchungsmethoden vorbereitet. Die Gesellschaftswissenschaft braucht für ihre Zwecke Lehrsätze, welche den Gebieten der Physik und der Biologie angehören, und welche sie diesen entlehnen muss. Was die logische Seite betrifft, so ist es notwendig, dass die von ihr anzuwendenden Methoden – die ableitende, die beobachtende und die vergleichende – vorher ihre Gestalt erhalten haben durch die Pflege der Mathematik und durch das Studium der anorganischen Welt oder solcher Organismen, die weniger verwickelt sind als der gesellschaftliche. Obgleich gewisse soziale Gesetze oder Bestrebungen sich der menschlichen Aufmerksamkeit in jedem Zeitalter durch praktische, nicht abweisbare Forderungen aufgedrängt und die entstehenden Fragen irgend eine erfahrungsmässige Lösung erhalten haben müssen, so ist doch nach dem Vorhergesagten klar, dass eine wahrhaft wissenschaftliche Soziologie notwendig bedingt ist durch eine sehr hohe Stufe geistiger Entwickelung. Dies gilt sowohl für die Volkswirtschaftslehre als für die übrigen Zweige der Gesellschaftstheorie. Wir begnügen uns daher, den Charakter des volkswirtschaftlichen Gedankens im Altertum und Mittelalter, sowie die Verhältnisse, welche diesen Charakter bestimmten, nur in allgemeinen Umrissen zu zeichnen.


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