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Sechstes Kapitel.
Die Historische Schule

Die verneinende Bewegung, welche das achtzehnte Jahrhundert erfüllte, hatte in ökonomischer Hinsicht die Befreiung des wirtschaftlichen Strebens sowohl von feudalen Ueberbleibseln als von regierungsseitig angelegten Fesseln zum Losungswort. Allein von welchem Gesichtspunkte man diese Bewegung auch betrachtet, vom wirtschaftlichen wie von jedem anderen, erscheint der Zerstörungsprozess doch nur als die notwendige Vorbedingung einer völligen Erneuerung, welcher das westliche Europa tatkräftig entgegenstrebte, obwohl mit einer nur unklaren Vorstellung von deren eigentlichem Wesen. Die Auflösung der Gesamtheit von Anschauungen, welche dem alten System zugrunde lagen, ging schneller vor sich als die Bildung neuer, zur Uebernahme der Führung in der Zukunft geeigneter Grundsätze. Die kritische Philosophie, welche die Auflösung bewirkt hatte, konnte nur ihre Formeln von der unbeschränkten Freiheit wiederholen, war jedoch zu einem Wiederaufbau unfähig. Aus diesem Grunde bot sich nach dem Ausbruch der französischen Revolution überall im Westen das merkwürdige Schauspiel eines fortgesetzten Schwankens zwischen der Neigung, zu abgelebten Ideen zurückzukehren, und einem dunkeln Drange nach einer neuen Ordnung im sozialen Denken und Leben, der häufig das Merkmal des Schrankenlosen trug.

Der einzig mögliche Ausweg aus diesem Zustande des Schwankens, der dem neunzehnten Jahrhundert sein zweideutiges und auf einen Uebergang hinweisendes Aussehen verliehen hat, bestand in der Gründung einer wissenschaftlichen Gesellschaftslehre, die eine Basis für die allmähliche gegenseitige Annäherung der Meinungen über menschliche Fragen zu liefern hätte. Und die Gründung einer solchen Theorie bildet die unsterbliche Leistung, durch welche sich August Comte (1798-1857) um die Welt verdient gemacht hat.

Die leitenden Züge der Gesellschaftswissenschaft, der Soziologie, sind seiner Auffassung gemäss die folgenden: Erstens ist sie ihrem Wesen nach eine Wissenschaft, in welcher die sämtlichen Elemente eines gesellschaftlichen Zustandes in ihren Beziehungen und gegenseitigen Wirkungen erforscht werden; zweitens schliesst sie sowohl eine dynamische als eine statische Theorie der Gesellschaft ein; drittens scheidet sie hierdurch das Absolute aus und setzt an Stelle einer eingebildeten Beständigkeit den Gedanken eines geordneten Wechsels; viertens ist die von ihr hauptsächlich befolgte Methode – obwohl andere nicht ausgeschlossen sind – jene der geschichtlichen Vergleichung; fünftens ist sie durchdrungen von sittlichen Ideen, von Begriffen einer gesellschaftlichen Pflicht, welche den aus dem jus naturae abgeleiteten individuellen Rechten gegenübergestellt wird; und sechstens zielt sie in ihrem Geist und in ihren praktischen Folgerungen hin auf die Verwirklichung aller jener grossen Ziele, welche in ihrer Gesamtheit die »Sache des Volkes« ausmachen; siebtens will sie indessen alles dies auf friedlichem Wege erreichen, indem sie die Revolution durch die Evolution ersetzt Es wäre indessen ein bedenklicher Irrtum, wollte man annehmen, dass die Unterwerfung sozialer Erscheinungen unter natürliche Gesetze einem Geiste fatalistischen Quietismus Vorschub leiste. Im Gegenteil bildet das Bestehen solcher Gesetze die notwendige Grundlage alles geregelten Handelns behufs Vervollkommnung unserer Lage oder unserer Natur, wie man sich dies durch Vergegenwärtigung des ähnlichen Falles hygienisch und therapeutisch wirkender Mittel klar machen kann. Da nun die verschiedenen Klassen der Erscheinungen in desto höherem Masse der Abänderung unterliegen, eine je grössere Zusammensetzung sie aufweisen, so gestattet das gesellschaftliche Gebiet ein ausgedehnteres und wirksameres Eingreifen des Menschen als das Bereich der leblosen oder belebten Natur. Was die dynamische Seite der Soziologie anlangt, ist die Richtung und der wesentliche Charakter der Evolution vorherbestimmt, während sowohl ihr Mass als ihre untergeordneten Züge der Abänderung unterliegen..

Die verschiedenen, von uns aufgezählten kennzeichnenden Merkmale sind nicht unabhängig von einander; es kann vielmehr gezeigt werden, dass sie in lebendigen wechselseitigen Beziehungen stehen. Einzelne dieser Züge erfordern jetzt eine eingehendere Schilderung; den übrigen werden wir vor dem Schlusse dieser Darstellung begegnen.

In der meisterhaften Erklärung der soziologischen Methode, welche im vierten Bande der »Philosophie positive« (1839) Schon im Jahre 1822 hatte Comte seine grundlegenden Sätze in einer kleineren Schrift dargelegt, welche in dem der »Politique positive« beigefügten Anhang nochmals zum Abdruck gelangt ist. enthalten ist, macht Comte auf den weiten Unterschied zwischen sozialer Statik und sozialer Dynamik aufmerksam: Erstere erforscht die Gesetze der sozialen Koexistenz, letztere die Gesetze der gesellschaftlichen Entwickelung. Das grundlegende Prinzip der ersteren ist die allgemeine Uebereinstimmung – der Konsensus – unter den verschiedenen gesellschaftlichen Organen und Verrichtungen, die wir, ohne indessen auf eine nützliche Analogie ungehöriges Gewicht legen zu wollen, als jener ähnlich betrachten können, welche unter den verschiedenen Organen und Verrichtungen eines tierischen Körpers besteht. Das Studium der dynamischen Soziologie ist von dem der statischen verschieden und, da der Fortschritt in Wahrheit die Entfaltung einer Ordnung bedeutet, diesem notwendig untergeordnet, gerade wie in der Biologie das Studium der Evolution sich jenem unterordnet, welches sich mit dem Bau und den Verrichtungen beschäftigt, wie sie beide durch die Evolution in ihrem Vorhandensein an den verschiedenen Punkten einer aufsteigenden Stufenfolge dargeboten werden. Die Gesetze der sozialen Koexistenz und der gesellschaftlichen Bewegung sind in demselben Masse Gegenstand der Beobachtung als die entsprechenden Erscheinungen in dem Leben eines individuellen Organismus. Für das Studium der Entwickelung insbesondere empfiehlt sich eine Abart der dem Biologen geläufigen vergleichenden Methode als geeigneter Modus des Forschens. Die verschiedenen sukzessiven Entwickelungsstufen der Gesellschaft sind systematisch zu vergleichen, um hierdurch die Gesetze ihrer Aufeinanderfolge kennen zu lernen und die Abstammung ihrer charakteristischen Züge zu bestimmen.

Obschon wir darauf achten müssen, dass wir sowohl in unsern statischen als dynamischen Forschungen die Grundeigenschaften der menschlichen Natur nicht verkennen oder uns mit ihnen in Widerspruch befinden, ist es doch ein nicht zu verwirklichendes Unternehmen, beide Gattungen von Gesetzen unabhängig von direkter Beobachtung aus diesen Eigenschaften herleiten zu wollen. Auf diesem Wege könnte weder das allgemeine Gefüge der menschlichen Gesellschaft, noch deren Entwickelungsgang vorausgesagt werden. Dies zeigt sich besonders deutlich im betreff dynamischer Gesetze, weil bei dem Uebergange der Gesellschaft von einer Phase zur andern das vorwiegend tätige Element in dem angehäuften Einfluss vergangener Geschlechter besteht, der in zu hohem Grade zusammengesetzt ist, als dass er deduktiv erforscht werden könnte – eine Folgerung, die wir uns gerade jetzt beständig vor Augen halten müssen, wo einige der sogenannten Anthropologen die Gesellschaftswissenschaft zu einem blossen Anhängsel und Ableger der Biologie machen wollen. Ohne Zweifel liegen die Grundsätze der Biologie der Sozialwissenschaft zugrunde, doch hat diese sowohl ihr eigenes Forschungsgebiet als ihre eigene Untersuchungsmethode, und muss beides stets besitzen. Das Gebiet ist die Geschichte im weitesten Sinne, die zeitgenössischen Tatsachen miteingeschlossen, und die hauptsächliche, obwohl nicht ausschliessliche Methode ist, wie bemerkt, jene der soziologischen Vergleichung, welche am treffendsten »die historische Methode« genannt wird.

Diese allgemeinen Grundsätze berühren nicht minder den volkswirtschaftlichen als die übrigen Zweige der sozialen Spekulation, und hinsichtlich dieses Forschungsgebietes führen sie zu wichtigen Ergebnissen. Sie zeigen, dass der Gedanke der Bildung einer wahren Theorie des wirtschaftlichen Gebäudes und Getriebes der Gesellschaft, ohne Berücksichtigung ihrer übrigen Seiten, ein trügerischer ist. Ein solches Bestreben ist allerdings als vorläufiges unentbehrlich, doch ist die Aufstellung einer vernunftgemässen Theorie der wirtschaftlichen Organe und Funktionen der Gesellschaft nicht möglich, wenn diese getrennt von den übrigen betrachtet werden. Mit anderen Worten: Eine besondere Wirtschafts-Wissenschaft ist streng genommen eine Unmöglichkeit, da sie nur einen Teil eines zusammengesetzten Organismus vertritt, dessen sämtliche Glieder wie deren Verrichtungen mit einander in beständigem Verkehr stehen und sich gegenseitig fortwährend modifizieren. Ferner ergibt sich hieraus, dass – mögen wir auch aus unserer allgemeinen Kenntnis der Natur des Einzelmenschen noch so nützliche Erklärungen ableiten – der wirtschaftliche Bau der Gesellschaft und dessen Entwickelungsmodus nicht auf deduktivem Wege im voraus zu erkennen sind, sondern vielmehr durch unmittelbare geschichtliche Forschung bestimmt werden müssen. Wir sagen »dessen Entwickelungsmodus«, denn offenbar muss es, ebenso wie es eine dynamische Theorie eines jeden sozialen Elements gibt, auch eine solche des wirtschaftlichen Faktors in menschlichen Angelegenheiten geben – eine Lehre von den aufeinanderfolgenden Phasen des wirtschaftlichen Zustandes der Gesellschaft; doch wurde diesem Erfordernis in den bisher zur Aufnahme gelangten Systemen nicht Rechnung getragen, und alles, was nach dieser Seite des Gegenstandes hin vorhanden ist, beschränkt sich auf einige vereinzelte und bruchstückartige Begriffe Unter dem Einfluss dieser Anschauungen Comte's unternahm Mill im vierten Buch seiner »Politischen Oekonomie« den Versuch einer Bearbeitung der wirtschaftlichen Dynamik; indessen gehört diese unseres Erachtens zu den am wenigsten befriedigenden Teilen seines Werkes.. Und da sich ferner das wirtschaftliche Gebäude und Getriebe einer jeden Geschichtsstufe von jenem einer anderen unterscheidet, müssen wir den Gedanken eines absoluten, universelle Geltung besitzenden Systems aufgeben und ihn durch jenen einer Reihe derartiger Systeme ersetzen, in welcher jedoch die Aufeinanderfolge durchaus keine willkürliche, sondern vielmehr selbst durch Gesetz geregelt ist.

Obwohl Comte's Unternehmen einen Aufbau bezweckte, da sein Streben auf die Gründung einer wissenschaftlichen Gesellschaftslehre gerichtet war, konnte er es doch nicht vermeiden, die Arbeiten derer kritisch zu beurteilen, welche vor ihm verschiedene Zweige der Sozialforschung behandelt hatten. Unter diesen mussten notwendig die Nationalökonomen Berücksichtigung finden, und an verschiedenen Stellen seines oben genannten Werkes sowie in seiner »Politique positive« setzte er ausdrücklich oder stillschweigend ihren allgemeinen Ideen und ihrem Verfahren im wesentlichen dieselben Einwendungen entgegen, wie wir sie gelegentlich der Besprechung Ricardo's und seiner Nachfolger geltend machten. J. S. Mill ist über diese Bemerkungen sehr aufgebracht und sagt von ihnen, dass sie bewiesen, »wie ungemein oberflächlich M. Comte (den er übrigens als einen Denker bezeichnet, welchen man mit vollem Rechte einem Descartes und Leibniz zur Seite stellen dürfe) zuweilen sein könne« – eine unglückliche Aeusserung, die er schwerlich gemacht haben würde, wenn er hätte voraussehen können, welche Richtung das europäische Denken später einschlagen würde, und in welch' bedeutendem Grade die Hauptpunkte der Comte'schen Kritik Anerkennung finden oder von ihm unabhängig vertreten werden würden.

 

Deutschland.

Die zweite Kundgebung der neuen Bewegung innerhalb der Wirtschaftswissenschaft war das Auftreten der deutschen historischen Schule. Die Ansichten dieser Schule sind offenbar nicht, wie Comte's Theorie der soziologischen Methode, aus allgemeinen philosophischen Ideen entstanden, sondern dem Anscheine nach vielmehr dadurch nahegelegt worden, dass man die Auffassungen der historischen Schule der Rechtswissenschaft, deren hervorragendster Vertreter Savigny war, auf das wirtschaftliche Gebiet übertrug. Die Rechtsordnung ist keine feststehende soziale Erscheinung, sondern unterliegt der Veränderung von einer Stufe des gesellschaftlichen Fortschrittes zur anderen. Sie steht in lebendiger Beziehung mit den übrigen gleichzeitig vorhandenen sozialen Faktoren, und was sich innerhalb der Rechtssphäre für eine Entwickelungsperiode eignet, passt oft nicht für eine andere. Man erkannte, dass diese Ideen auch auf die Wirtschaftsordnung anwendbar seien; der relative Standpunkt war somit erreicht, und der absolute wurde als unhaltbar befunden. Der Kosmopolitismus in der Theorie oder die Annahme eines für jedes Land gleichmässig gültigen Systems und der sogenannte Perpetualismus oder die Annahme eines auf jede gesellschaftliche Entwickelungsstufe anwendbaren Systems gerieten zugleich in Misskredit. Und so hat die deutsche historische Schule ihren Anfang genommen.

Uebergehen wir alle vorbereitenden Andeutungen und unentwickelten theoretischen Keime, so müssen wir den Ursprung der Schule auf Wilhelm Roscher (1817-1894) zurückführen. Ihre grundlegenden Prinzipien sind, allerdings mit einiger Zurückhaltung und mit einer nicht glücklichen Gegenüberstellung der historischen und »philosophischen« Methode Diese Ausdrucksweise war vermutlich dem Streite über die Methode der Rechtswissenschaft entlehnt, welcher zwischen Thibaut einerseits und Savigny und der Schule Hugo's andrerseits geführt wurde., in seinem »Grundriss zu Vorlesungen über die Staatswirtschaft nach geschichtlicher Methode« (1843) aufgestellt. Die in der Vorrede zu diesem Werke dargelegten führenden Sätze lauten folgendermassen:

»Die historische Methode zeigt sich nicht allein äusserlich in der, wo es irgend angeht, chronologischen Aufeinanderfolge der Gegenstände, sondern vornehmlich in folgenden Grundsätzen. 1)  ... Unser Ziel ist die Darstellung dessen, was die Völker in wirtschaftlicher Hinsicht gedacht, gewollt und empfunden, was sie erstrebt und erreicht, warum sie es erstrebt, und warum sie es erreicht haben  ... 2) Das Volk aber ist nicht bloss die Masse der heute lebenden Individuen. Wer deshalb die Volkswirtschaft erforschen will, hat unmöglich genug an der Beobachtung bloss der heutigen Wirtschaftsverhältnisse  ... 3) Die Schwierigkeit, aus der grossen Masse von Erscheinungen das Wesentliche, Gesetzmässige herauszufinden, fordert uns dringend auf, alle Völker, deren wir habhaft werden können, in wirtschaftlicher Hinsicht miteinander zu vergleichen  ... Und die alten Völker, die also schon abgestorben sind, haben das eigentümlich Belehrende, dass ihre Entwickelungen jedenfalls ganz beendigt vor uns liegen  ... 4) Die historische Methode wird nicht leicht ein wirtschaftliches Institut schlechthin loben oder tadeln: wie es denn auch gewiss nur wenige Institute gegeben hat, die für alle Völker heilsam oder verderblich waren. Das Gängelband des Kindes, die Krücke des Greises würde dem Manne unerträglich sein. Vielmehr ist es eine Hauptaufgabe der Wissenschaft, nachzuweisen, wie und warum allmählich aus ›Vernunft Unsinn‹, aus ›Wohltat Plage‹ geworden«.

Von den hier durch Roscher verkündeten Grundsätzen fordert unseres Erachtens nur ein Teil des dritten die Kritik heraus. Die Volkswirtschaft antiker Völker ist für das Studium von keiner erheblicheren Bedeutung als jene der neueren Völker, und die Frage nach der verhältnismässigen Wichtigkeit beider dürfte überhaupt nicht gestellt werden. Denn die wesentliche Bedingung alles gründlichen soziologischen Forschens ist die vergleichende Würdigung der gesamten Reihe der vollständigsten, der Geschichte bekannten Entwickelung – nämlich jene der Gruppe von Nationen, welche das abendländische Gemeinwesen oder kürzer »den Westen« bilden. Die Gründe für die Wahl dieser sozialen Reihe sowie für die fast ausschliessliche vorläufige Beschränkung unserer Studien auf sie werden von Comte in seiner »Philosophie positive« mit unwiderstehlicher Kraft des Ausdrucks dargelegt. Allerdings sind Griechenland und Rom Elemente in dieser Reihe, doch ist es ihre gesamte Entwickelung, nicht irgend ein besonderer Teil, was die Soziologie im Auge behalten muss, damit sie die Gesetze der Bewegung bestimmen könne – gerade wie in dem Studium der biologischen Entwickelung keiner einzelnen Stufe eines Organismus eine überwiegende Bedeutung beigemessen werden darf, da die gesamte Aufeinanderfolge der Veränderungen Gegenstand der Forschung ist. Von Roscher's ferneren hervorragenden Leistungen wird später die Rede sein; an dieser Stelle erwähnen wir seiner nur anlässlich der Entstehung der neuen Schule.

Im Jahre 1848 veröffentlichte Bruno Hildebrand (1812-1878) den ersten Band eines »Die Nationalökonomie der Gegenwart und der Zukunft« betitelten Werkes, das er indessen nicht fortsetzte, obwohl er noch viele Jahre lebte. Hildebrand war ein wahrhaft bedeutender Denker, und es ist zweifelhaft, ob es unter den deutschen Nationalökonomen irgend einen gegeben hat, der mit tieferem und eindringenderem Verstande begabt gewesen wäre. Er hält sich gänzlich frei von der Wortverschwendung und der Unklarheit, welche nur zu oft die deutschen Schriftsteller kennzeichnen, und mit sicherer, kräftiger Hand entwirft er breite Umrisse. Sein Buch enthält eine meisterhafte Kritik der volkswirtschaftlichen Systeme, welche seiner Zeit vorausgingen oder ihr angehörten, einschliesslich derer eines Smith, Müller, List und der Sozialisten. Gegenwärtig jedoch erregt es unser Interesse hauptsächlich durch den von ihm eingenommenen allgemeinen Standpunkt sowie durch seine Auffassung von der wahren Natur der Volkswirtschaftslehre. Wie er uns mitteilt, verfolgt sein Werk den Zweck, auf dem volkswirtschaftlichen Gebiet einen Weg für eine gründliche geschichtliche Richtung und Methode zu bahnen und die Wissenschaft in eine Theorie von den Gesetzen der wirtschaftlichen Entwickelung der Nationen umzuwandeln. Es ist interessant, zu beobachten, dass er sich für die von ihm beabsichtigte Reform der Volkswirtschaftslehre nicht die geschichtliche Rechtswissenschaft, sondern die Sprachwissenschaft in ihrer im neunzehnten Jahrhundert erfolgten Neugestaltung zum Vorbild nimmt – ein Beweis, dass ihm die vergleichende Methode als einzig geeignete erscheint. In beiden Wissenschaften haben wir den Anblick eines mit der Zeit eintretenden, bestimmten Regeln folgenden Wechsels und die sich hieraus ergebende Ersetzung des Absoluten durch das Relative.

Im Jahr 1853 erschien Karl Knies' (1821-1898) Werk »Die politische Oekonomie vom Standpunkt der geschichtlichen Methode«. Es ist eine ausführliche Darlegung und Verteidigung der historischen Methode in ihrer Anwendung auf die Wirtschaftswissenschaft und zugleich die am meisten systematische und umfassendste Kundgebung der neuen Schule, wenigstens in logischer Hinsicht. Es werden in ihm die folgenden Hauptgrundsätze aufgestellt: Die zu irgend welchem Zeitpunkte bestehende Wirtschaftsverfassung der Gesellschaft einerseits und die entsprechende theoretische Auffassung der Wirtschaftswissenschaft andrerseits sind Ergebnisse einer bestimmten geschichtlichen Entwickelung. Beide stehen in lebendigem Zusammenhang mit dem gesamten sozialen Organismus der Periode, da sie mit ihm zusammen unter den gleichen zeitlichen, örtlichen und nationalen Bedingungen herangewachsen sind. Man hat sich daher stets zu vergegenwärtigen, dass das wirtschaftliche System eine Reihe von Wandlungen durchmacht, die mit den aufeinanderfolgenden Zivilisationsstufen in Wechselbeziehung stehen, und dass es an keinem Punkte dieser Bewegung eine völlig abschliessende Form erlangt hat. Weder die gegenwärtige, noch irgend welche frühere wirtschaftliche Organisation der Gesellschaft ist daher als absolut gut und richtig, sondern vielmehr nur als eine Phase in einer fortgesetzten geschichtlichen Entwickelung anzusehen, und ebensowenig darf die jetzt herrschende Wirtschaftstheorie als eine vollendete und abschliessende betrachtet werden, sondern nur als die Vertreterin einer gewissen Stufe in der sich entfaltenden oder fortschreitenden Offenbarung der Wahrheit.

Das Thema des Buches wird vielleicht allzu ausführlich und umständlich behandelt. Der Verfasser entwickelt viel Scharfsinn und Gelehrsamkeit und kritisiert wirksam die Irrtümer, Widersprüche und Uebertreibungen seiner Vorgänger. Was indessen die Kennzeichnung und Rechtfertigung der historischen Methode anbelangt, so hat er dem, was Comte geleistet, nichts hinzugefügt. Eine zweite Auflage seines Werkes erschien im Jahre 1883, und in dieser macht er das sonderbare Geständnis, dass die in sechs Bänden von 1830 bis 1842 erschienene »Philosophie positive« bei der Abfassung seines Buches im Jahre 1852 ihm und, wie er hinzusetzt, wahrscheinlich allen deutschen Nationalökonomen gänzlich unbekannt gewesen sei. Es spricht dies nicht sehr für die Aufmerksamkeit oder literarische Wachsamkeit der letzteren, wenn wir bedenken, dass Mill mit Comte bereits im Jahre 1841 in schriftlichem Verkehr stand, und: dass seine »Logik« in welcher er Comte lobend erwähnt, 1843 erschien. Als indessen Knies zu einer späteren Zeit Comte's Werk einer Prüfung unterzog, war er, seinen Mitteilungen zufolge, überrascht, in ihm so viele Vorwegnahmen oder »Parallelismen« seiner eigenen Schlüsse zu entdecken. Und dies konnte wohl nicht anders sein, denn alles, was in seiner Methodenlehre an wirklich Schätzbarem enthalten ist, findet man bei Comte, nur dass es dort in grösserem Massstabe angewandt und mit dem umfassenden und gebietenden Können entworfen ist, welches die dii majores der Philosophie auszeichnet.

In der Stellung, welche einige deutsche Nationalökonomen der historischen Schule einnehmen, fordern unseres Erachtens zwei Punkte die Kritik heraus:

Erstlich bewahren Knies und einige andere Schriftsteller, indem sie für das Gebiet der Wirtschaftstheorie den Grundsatz der Relativität aufstellen, in einem besonderen Umstande offenbar nicht das gehörige Gleichgewicht. Die beiden Formen des Absolutismus in der Theorie, nämlich den Kosmopolitismus, und dasjenige, was Knies Perpetualismus nennt, stellt er einander vollkommen gleich; mit anderen Worten, er betrachtet den Irrtum, welcher sich in dem Uebersehen örtlicher und nationaler Verschiedenheiten kundgibt, als einen ebenso wesentlichen, wie jenen, der die Unterschiede hinsichtlich der geschichtlichen Entwicklungsstufe nicht berücksichtigt. Aber dies ist sicherlich nicht der Fall. In jedem Zweige der Gesellschaftswissenschaft ist der letztere der bei weitem schwerere Irrtum, da er überall, wo er auftritt, unsere gesamten Forschungen von Grund aus entwertet. Beachten wir nicht die Tatsache der sozialen Bewegung und verkennen wir deren Richtung, so befinden wir uns in dem allerwesentlichsten Punkte im Unrecht, in einem Punkte, den überdies jede Frage einschliesst. Die Abweichungen jedoch, welche vom Rassenunterschiede in dessen Einfluss auf geistige und körperliche Begabung abhängen oder aus der Verschiedenheit der äusseren Verhältnisse herrühren, sind untergeordnete Erscheinungen; sie müssen im Studium der allgemeinen Theorie der sozialen Entwickelung hintenangestellt werden und sind erst dann in Betracht zu ziehen, wenn wir zur Untersuchung der aus eigentümlichen Bedingungen hervorgehenden besonderen Gestaltungen im Charakter der Entwickelung gelangen. Und wenn auch die physische Natur eines Gebietes eine Bedingung darstellt, welche geeignet ist, auf wirtschaftliche Erscheinungen besonders nachhaltig einzuwirken, wird sie doch mehr die technischen Formen und die verhältnismässige Ausdehnung der verschiedenen Industriezweige beeinflussen als das soziale Verhalten eines jeden Zweiges oder die Ueber-, Neben- und Unterordnung und relative Wirksamkeit aller, und gerade die letzteren sind die eigentlichen Gegenstände der Forschungen des Nationalökonomen.

Zweitens verfallen einige Mitglieder der Schule, in ihrer Besorgnis, der Wissenschaft die Relativität zu wahren, dem Irrtum einer gänzlichen Leugnung volkswirtschaftlicher Gesetze; sie sprechen wenigstens im Hinblick auf die Wirtschaftswelt nicht gern von »Naturgesetzen«. Infolge einer allzu ausschliesslichen Rücksichtsnahme auf die Gesetzmässigkeit im Bereich des Anorganischen hegen sie die Meinung, dass sie durch diese Ausdrucksweise an die Idee der Beständigkeit und eines unveränderlichen Systems der praktischen Volkswirtschaft gebunden seien. Wenden wir indessen unsere Aufmerksamkeit mehr den organischen Wissenschaften zu, die den sozialen näher verwandt sind, so werden wir erkennen, dass der Ausdruck »Naturgesetze« eine derartige Folgerung nicht einschliesst. Wie wir bereits mehrfach andeuteten, bildet der Gedanke der Entwickelung oder, mit anderen Worten, des »bestimmten Regeln folgenden Wechsels« (»ordered change«) einen wesentlichen Teil des Lebensbegriffs. Dass eine solche Entwickelung in der Verfassung und dem Getriebe der Gesellschaft in allen ihren Bestandteilen platz greift, ist eine nicht zu bezweifelnde Thatsache, welche von denselben Schriftstellern nachdrücklich betont wird. Ebenso offenkundig ist es, dass zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Elementen Beziehungen vorhanden sind, durch welche die Veränderung eines Elements die Veränderung eines andern einschliesst oder bestimmt. Und warum die Benennung »Naturgesetze« solchen beständigen Beziehungen der Koexistenz und der Aufeinanderfolge verweigert werden sollte, ist nicht leicht einzusehen. Da diese Gesetze universelle sind, gestatten sie die Konstruktion einer abstrakten Theorie der wirtschaftlichen Entwickelung. Ein Teil der deutschen historischen Schule verrät indessen das Bestreben, eine solche Theorie durch eine blosse Schilderung verschiedener nationaler Wirtschaften zu ersetzen, indem die betreffenden Schriftsteller – wie bereits hervorgehoben wurde – verfrüht die Wirkung besonderer territorialer und ethnologischer Verhältnisse betonen, anstatt hiermit einstweilen zurückzuhalten, um sie als Grundlage späterer, in konkreten Fällen angebrachter Modifikationen der, aus einer Erforschung der menschheitlichen Gesamtentwickelung gewonnenen obersten allgemeinen Gesetze zu benutzen.

Den vorstehend erwähnten drei Schriftstellern Roscher, Hildebrand und Knies gebührt das Verdienst, die deutsche historische Schule der Volkswirtschaftslehre begründet zu haben. Roscher ist in seinen späteren Arbeiten durch die von ihm an so mancher Stelle vortrefilich gekennzeichnete Methode anscheinend nicht erheblich beeinflusst worden. In seinem »System der Volkswirtschaft« (Bd. I: Grundlagen der Nationalökonomie, 1854, 23. Aufl. hersg. v. R. Pöhlmann, 1900; Bd. II: Nationalökonomie des Ackerbaues, 1860, 13. Aufl. hersg. von U. Dade, 1903; Bd. III: Nationalökonomie des Handels und Gewerbefleisses, 1881, 7. Aufl. hersg. von W. Stieda, 1887; Bd. IV: System der Finanzwissenschaft, 1886, 5. Aufl. hersg. von O. Gerlach, 1901; Bd. V: System der Armenpflege, 1. und 2. Aufl. 1894) ist der dogmatische und geschichtliche Stoff eher nebeneinandergestellt als lebendig miteinander verbunden. Allerdings hat er seine vielumfassenden Kenntnisse in nutzbringendster Weise speziellen geschichtlichen Forschungen gewidmet, die insbesondere den Fortschritt der Wissenschaft selbst betrafen. Seine Abhandlungen »Ueber das Verhältnis der Nationalökonomie zum klassischen Altertum« (1849), »Zur Geschichte der englischen Volkswirtschaftslehre« (1851-52) und vor allem jenes bewundernswerte Denkmal der Gelehrsamkeit und des Fleisses, seine »Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland« (1874), auf welche er fünfzehn Jahre des Forschens verwandt haben soll, gehören zu den wertvollsten vorhandenen Werken dieser Art, obwohl das letztere durch seine Anhäufung von Einzelheiten für das allgemeine Studium ausserhalb Deutschlands nicht geeignet ist. Verschiedene interessante und brauchbare Einzelschriften sind gesammelt in seinen »Ansichten der Volkswirtschaft vom geschichtlichen Standpunkte« (1861, 3. Aufl. 1878). Auch sein oben genanntes systematisches Werk ist überreich an geschichtlichen Bemerkungen über Entstehung und Werden der verschiedenen Theorien der Wissenschaft. Indessen kann man nicht behaupten, dass er in der Richtung auf eine Umgestaltung der Wissenschaft, welche seine ersten Arbeiten anzukündigen schienen, viel geleistet hat, und Cossa ist offenbar im Rechte, wenn er sagt, dass seine dogmatische Darstellung keine bedeutenden Aenderungen der von Hermann und Rau aufgestellten Grundsätze bewirkt habe.

Die historische Methode hat ihre wesentlichen Züge in vollerem Masse unter den Händen des jüngeren Geschlechts wissenschaftlicher Nationalökonomen in Deutschland offenbart, zu denen Lujo Brentano, Adolf Held, Erwin Nasse, H. Rösler, Albert Schäffle, Hans v. Scheel, Gustav Schmoller, Gustav Schönberg und Adolf Wagner gerechnet werden können. Abgesehen von dem allgemeinen Grundsatz einer geschichtlichen Behandlung der Wissenschaft sind die leitenden Gedanken, welche diese Schule nachdrücklich geltend macht, die folgenden:

1) Die Notwendigkeit der Betonung des sittlichen Elements im volkswirtschaftlichen Studium. Diese Rücksicht wird mit besonderer Stärke vertreten von Schmoller in der Schrift »Ueber einige Grundfragen des Rechtes und der Moral« (1875) Eine neue Ausgabe dieser Schrift erschien nebst drei späteren Arbeiten des Verfassers u. d. T.: »Ueber einige Grundfragen der Sozialpolitik und der Volkswirtschaft« 1898, 2. Aufl. 1904. und von Schäffle in seinem »Gesellschaftlichen System der menschlichen Wirtschaft« (1861, 3. Aufl. 1873). Auch G. Kries (gest. 1858) hat dieses Thema gelegentlich einer Prüfung der Mill'schen Ansichten mit Geschick behandelt. Den fortgeschrittensten Vertretern der Schule zufolge sind in der praktischen Volkswirtschaft drei Organisationsgrundsätze in Wirksamkeit, und diesen entsprechend gibt es drei verschiedene Systeme oder Sphären der Tätigkeit: die Privatwirtschaft, die staatliche Zwangswirtschaft und die »karitative« Sphäre. In der ersten herrscht allein das persönliche Interesse, in der zweiten das allgemeine Gesellschaftsinteresse, in der dritten der Wohltätigkeitstrieb. Indessen selbst in der ersten darf das Privatinteresse nicht schrankenlos walten. Abgesehen von dem Eingreifen der öffentlichen Gewalt sind die Ausschreitungen und Missbräuche des auf diesem Gebiete geltenden Hauptgrundsatzes durch eine wirtschaftliche Sittlichkeit im Zaume zu halten und zu beaufsichtigen, welch' letztere nicht minder in der Theorie als in praktischer Hinsicht jemals ausser acht gelassen werden darf. Innerhalb des dritten, oben erwähnten Bereiches sind sittliche Einflüsse selbstverständlich von höchster Bedeutung.

2) Sodann wird die enge Beziehung hervorgehoben, welche notwendig zwischen Wirtschaftstheorie und Rechtswissenschaft besteht. Diese Beziehung ist durch L. von Stein und H. Rösler geltend gemacht worden, hat jedoch ihre am meisten systematische Würdigung durch Wagner – zweifellos einer der bedeutendsten unter den lebenden deutschen Nationalökonomen – erhalten, besonders in seiner »Grundlegung« (1876, 3. Aufl. 1892-93, in Gemeinschaft mit Bücher, Dietzel etc. bearbeitet), welche einen Teil des von ihm im Verein mit Buchenberger herausgegebenen »Lehr- und Handbuchs der politischen Oekonomie« bildet. Die naturrechtliche Lehre, auf deren Grundlage die Physiokraten, wie wir gesehen, ihr wirtschaftswissenschaftliches Gebäude errichteten, hat ihren bisherigen Einfluss eingebüsst, und die alten aprioristischen und absoluten Begriffe von persönlicher Freiheit und persönlichem Eigentum sind zugleich mit ihr gewichen. Man hat erkannt, dass die wirtschaftliche Stellung des Einzelnen, anstatt allein von sogenannten natürlichen Rechten oder sogar von natürlichen Fähigkeiten abzuhängen, vielmehr durch das jeweilige Rechtssystem bedingt ist, welches selbst ein geschichtliches Erzeugnis darstellt. Die oben erwähnten halb wirtschaftlichen, halb juristischen Begriffe der Freiheit und des Eigentums erfordern deshalb eine erneute Prüfung. Hauptsächlich von diesem Gesichtspunkte aus tritt Wagner an die wirtschaftlichen Forschungen heran. Wie er sagt, ist der Punkt, um welchen sich alles dreht, die alte Frage nach dem Verhältnisse des Einzelnen zur Gesamtheit. Wer mit der älteren Staats- und Rechts-Philosophie und Nationalökonomie den Einzelnen in den Mittelpunkt stellt, gelangt notwendig zu den unhaltbaren Ergebnissen, welche auf volkswirtschaftlichem Gebiet die physiokratische und Smith'sche Schule des freien Wettbewerbs aufgestellt hat. Im Gegensatz hierzu untersucht Wagner vor allem anderen die Bedingungen des Wirtschaftslebens der Gemeinschaft und bestimmt hieran anknüpfend die Sphäre der wirtschaftlichen Freiheit des Einzelnen.

3) Ferner vertritt die Schule eine andere Auffassung von der Wirksamkeit des Staates, als sie die Smith'sche Richtung hegte. Die letztere ist im allgemeinen der Ansicht Rousseau's und Kant's gefolgt, dass die einzige Aufgabe des Staates darin bestehe, die Mitglieder der Gemeinschaft vor Gewalt und Betrug zu schützen. Diese Theorie, welche mit den Lehren des Naturrechts und des Gesellschaftsvertrags übereinstimmte, leistete bei der Zerstörung des alten Wirtschaftssystems mit seinem verwickelten Apparat von Hemmnissen und Beschränkungen vorübergehend nützliche Dienste. Einer rationellen geschichtlichen Kritik und noch viel weniger den wachsenden praktischen Anforderungen neuzeitlicher Zivilisation gegenüber vermochte sie jedoch nicht standzuhalten. Tatsächlich hat die Aufhebung des unklugen und in Verruf geratenen Systems der europäischen Regierungen dadurch, dass sie die aus unbeschränktem Wettbewerb entstehenden Uebel an den Tag brachte, die Notwendigkeit staatlichen Handelns nach neuen und aufgeklärteren Methoden unwiderleglich dargetan. Die deutsche historische Schule sieht in dem Staate nicht nur eine Einrichtung zur Aufrechterhaltung der Ordnung, sondern das Werkzeug der Nation zur Förderung aller Zwecke, welche durch freiwillige Anstrengung des Einzelnen nicht entsprechend erreicht werden können. Sobald gesellschaftliche Ziele ausschliesslich oder am vorteilhaftesten durch seine Tätigkeit erreicht werden können, ist diese Tätigkeit gerechtfertigt Es wird in jedem Falle notwendig sein, zu prüfen, ob dies Eingreifen am besten durch die zentrale oder durch die lokale Regierung geschehen kann.. Die Fälle, in welchen der Staat berechtigt sein soll, einzuschreiten, sind nach ihrer eigentümlichen Beschaffenheit und unter Berücksichtigung der Stufe nationaler Entwickelung besonders zu bestimmen. Jedenfalls sollte er geistige und ästhetische Bildung fördern. Er sollte Vorkehrungen zum Schutze der öffentlichen Gesundheit und Anordnungen für die gehörige Leitung der Produktion und des Transportwesens treffen. Er sollte die schwächeren Glieder der Gesellschaft, insbesondere Frauen, Kinder, Altersschwache und Hilflose beschirmen, wenigstens insoweit es an Unterhalt und vormundschaftlichem Schutz von seiten einer Familie mangelt. Er sollte den Arbeiter gegen die schlimmsten Folgen solcher Verletzungen seiner Person sichern, welche nicht aus eigenem Verschulden herrühren; er sollte ferner durch gesetzliche Anerkennung und Beaufsichtigung die Bemühungen der arbeitenden Klassen unterstützen, welche gemeinschaftliche wie individuelle Selbsthilfe bezwecken, und ferner die Sicherheit ihrer Ersparnisse gewährleisten, wenn diese seiner Obhut anvertraut werden.

Einen besonders starken Einfluss hat der theoretische Sozialismus auf diese neuere Gruppe ausgeübt, und, wie wir später sehen werden, wurde auch ihre praktische Politik durch den Sozialismus als Parteiorganisation mitbestimmt. Mit Schriftstellern, wie St. Simon, Fourier und Proudhon, Lassalle, Marx, Engels, Mario und Rodbertus haben wir uns in der gegenwärtigen Darstellung nicht zu befassen, doch müssen wir anerkennen, dass sie die jüngeren deutschen Nationalökonomen (im engeren Sinne dieses Wortes) mächtig angeregt, ja sogar ihre wissenschaftlichen Folgerungen beeinflusst haben, namentlich durch die Kritik des sogenannten orthodoxen Systems. Es sind hier vor allem Schäffle und Wagner zu nennen, bei welchen ihre Argumente weites Entgegenkommen und aufmerksames Eingehen gefunden haben. Insbesondere wurde von den Sozialisten zuerst der bereits angeführte wichtige Satz vertreten, dass die wirtschaftliche Stellung des Einzelnen von der bestehenden Rechtsordnung und namentlich von der bestehenden Organisation des Eigentums abhänge. Auch hatten sie betont, dass die gegenwärtigen Einrichtungen der Gesellschaft in bezug auf Eigentum, Erbrecht, Vertragsrecht und dergleichen – nach Lassalle's Ausdruck – »historische Kategorien sind, welche gewechselt haben und fernerem Wechsel unterworfen sein werden«, während man innerhalb der orthodoxen Wirtschaftslehre im allgemeinen annimmt, dass sie eine feststehende Ordnung der Dinge darstellen, auf deren Grundlage sich der Einzelne seine Stellung schaffe. Wie wir gesehen haben, lenkte J. S. Mill die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass die Verteilung des Reichtums nicht wie dessen Produktion allein von Naturgesetzen, sondern von den Satzungen der Gesellschaft abhängig sei, doch haben erst einige deutsche Nationalökonomen der jüngeren historischen Schule diese Auffassung nachdrücklichst vertreten. Zur Richtigstellung und Ergänzung dieser Auffassung müssen wir uns indessen stets vergegenwärtigen, dass diese Satzungen selbst nicht willkürlich geändert werden können, vielmehr durch die Stufe der allgemeinen sozialen Entwickelung bedingt sind.

Auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Politik haben diese Schriftsteller eine Stellung eingenommen, welche die Mitte hält zwischen der deutschen Freihandelspartei (oder Manchesterpartei, wie sie zuweilen mit fraglicher Berechtigung genannt wird) und den Sozialdemokraten. Die letzteren rufen die Allmacht des Staates an zur gründlichen und unverzüglichen Umgestaltung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Verfassung der Gesellschaft im Interesse des Proletariats. Die Freihändler dagegen suchen die staatliche Tätigkeit für irgend welche Zwecke auf das kleinste Mass zu verringern, mit Ausnahme jener, welche die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die Sorge für die Unverletzlichkeit und Freiheit des Einzelnen im Auge hat. Die Mitglieder der in Rede stehenden Schule haben sich gelegentlich der Erörterung praktischer Fragen auf einen vermittelnden Standpunkt gestellt. Sie widersetzen sich ebensosehr einer sozialen Umwälzung, als einem unbeugsamen »laisser faire«. Unter Verwerfung des sozialistischen Programms fordern sie im Einklang mit den bereits erwähnten theoretischen Grundsätzen das Einschreiten des Staates behufs Milderung des auf seinen schwächeren Gliedern lastenden Druckes des modernen Wirtschaftssystems und um den arbeitenden Klassen die Wohltaten der fortschreitenden Zivilisation in grösserem Umfange teilhaftig werden zu lassen. Schäffle in seinem »Kapitalismus und Sozialismus« (1870, 2. Aufl. 1878), Wagner in der »Rede über die soziale Frage« (1871) und Schönberg in »Arbeitsämter, eine Aufgabe des deutschen Reiches« (1871) befürworteten diese Politik in der Arbeiterfrage. Diese Meinungsäusserungen, mit denen die meisten deutschen Professoren der Volkswirtschaftslehre sympathisierten, wurden heftig durch die Vertreter der Freihandelspartei angegriffen, welche in ihnen »eine neue Form des Sozialismus« erblickten. Hieraus entstand ein lebhafter Streit, und da man unter den Anhängern der neuen Richtung das Bedürfnis eines engeren Zusammenschlusses und einer praktischen politischen Organisation fühlte, fand im Oktober 1872 in Eisenach eine Zusammenkunft zur Besprechung »der sozialen Frage« statt, welcher fast sämtliche Professoren der Nationalökonomie an den deutschen Universitäten, Vertreter der verschiedenen politischen Parteien, Arbeiterführer und einige Grosskapitalisten anwohnten. In dieser Versammlung erhielten die oben dargelegten Grundsätze ihre bindende Fassung. Ihren Vertretern wurde von den Gegnern die Bezeichnung »Kathedersozialisten« oder »Sozialisten vom (Professoren-) Stuhl« zuteil, ein von H. B. Oppenheim erfundener Spitzname, welchen übrigens die davon Betroffenen nicht ungern auf sich sitzen liessen. Seit dem Jahre 1873 hat sich diese Gruppe im »Verein für Sozialpolitik« zusammengeschlossen, welchem auch Freihändler beitraten, als sich der Streit zu legen begann. Innerhalb des Vereins ist darauf eine Spaltung zutage getreten: Der linke Flügel begünstigte eine systematische, allmähliche Aenderung des Eigentumsrechts nach einer Richtung hin, welche zur Erfüllung der sozialistischen Bestrebungen führen würde, soweit diese berechtigt sind, während die Mehrzahl der Mitglieder eine, durch die staatliche Tätigkeit auf Grundlage der bestehenden rechtlichen Institutionen zu bewirkende Reform befürwortet. Schäffle geht sogar so weit, zu behaupten, dass das gegenwärtige »kapitalistische« Régime durch eine sozialistische Organisation ersetzt werden wird; gleich J. S. Mill verschiebt er indessen diese Veränderung auf eine mehr oder weniger entfernte Zukunft und erwartet sie als das Ergebnis einer natürlichen Entwickelung oder des Prozesses der »sozialen Auslese« Dies sollten sich besonders die Leser von Leroy-Beaulieu's Werk über den Kollektivismus (1884) vergegenwärtigen, in welchem er Schäffle als den bedeutendsten theoretischen Vertreter dieser Form des Sozialismus bezeichnet.. Irgend welche unvermittelte oder gewaltsame Umwälzung weist er zurück und verwirft jedes Lebenssystem, welches den Ansprüchen individueller Leistung und individuellen Verdienstes gegenüber »abstrakte Gleichheit« aufstellen wollte.

Je weiter die Forschungen der deutschen historischen Schule auf den verschiedenen, von ihr eröffneten Bahnen vorgedrungen sind, desto klarer hat sich gezeigt, dass das einzig Notwendige nicht in einer blossen Reform der Volkswirtschaftslehre, sondern in deren Verschmelzung mit einer vollständigen Wissenschaft der Gesellschaft besteht. Diese Ansicht wurde längst vordem durch August Comte geltend gemacht, und ihre Berechtigung wird mit jedem Tage offenkundiger. Die hervorragendsten Nationalökonomen Deutschlands neigen gegenwärtig stark nach dieser Richtung. So hat Schäffle (1831-1903), der in hohem Masse durch Comte und Herbert Spencer beeinflusst wird, den Versuch unternommen, wirtschaftliche Forschungen zu gesellschaftlichen zu erweitern. In seinem Hauptwerke »Bau und Leben des sozialen Körpers« (4 Bände 1875-78; neue Ausgabe 1881, 2. Aufl., 2 Bde, 1896) stellt er sich die Aufgabe, einen umfassenden Plan einer Anatomie, Physiologie und Psychologie der menschlichen Gesellschaft zu liefern. Er betrachtet soziale Vorgänge als jenen organischer Körper analog und verfolgt den schon von Comte benutzten Gedanken dieser Analogie, so gesund und anregend er unzweifelhaft ist, bis zu einem vielleicht unzulässigen Grade von Ausführlichkeit. Die gleiche Auffassung hat sich P. von Lilienfeld in seinen »Gedanken über die Sozialwissenschaft der Zukunft« (1873-81) zu eigen gemacht und in einer stark übertriebenen Form dargestellt. Das Bestreben, die Wirtschaftswissenschaft in die Soziologie aufgehen zu lassen, äussert sich auch in Adolph Samter's »Soziallehre« (1875) – obwohl hier besonders die wirtschaftliche Seite der Gesellschaft behandelt wird –, sowie in der bereits erwähnten Abhandlung Schmoller's »Ueber einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaftslehre«. Ferner wird die Notwendigkeit einer derartigen Wandlung nachdrücklich betont von Hans von Scheel in der Vorrede zu seiner Uebersetzung (1879) einer englischen Broschüre Der Abdruck einer Rede, welche der Verfasser dieses Buches gelegentlich der Zusammenkunft der volkswirtschaftlichen und statistischen Sektion der »Britischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften« in Dublin im Jahre 1878 gehalten hat. über die Reform der Volkswirtschaftslehre (On the present position and prospects of political economy).

Wenn man die deutsche historische Schule, namentlich ihre jüngere Gestalt, zuweilen als »realistische« bezeichnet hat, so ist dieser Ausdruck anscheinend nicht mit Bedacht gewählt. Man wollte damit den Gegensatz zum »abstrakten« Charakter der orthodoxen Volkswirtschaftstheorie hervorheben. Allein der Fehler der letzteren besteht nicht im blossen Gebrauch der Abstraktion, sondern in ihrer missbräuchlichen Anwendung. Alle Wissenschaft schliesst die Abstraktion ein, da jede nach Einheit in der Vielheit trachtet; es handelt sich in jedem ihrer Zweige nur darum, dass die abstrakte Theorie den greifbaren Tatsachen gehörig entspricht. Ebensowenig lässt sich die neue Schule völlig zutreffend als »induktive« kennzeichnen. Zweifellos überwiegt in den Untersuchungen der älteren Nationalökonomen die Deduktion in unzulässiger Weise, aber man muss sich erinnern, dass sie ein berechtigtes Verfahren darstellt, sobald sie nicht von Annahmen, a priori, sondern von bewiesenen Verallgemeinerungen ausgeht. Die geeignete Methode der Volkswirtschaftslehre wie überhaupt der gesamten Gesellschaftswissenschaft ist nicht so sehr die Induktion als vielmehr die als Vergleichung bekannte besondere Form der Induktion, vornehmlich das vergleichende Studium der »sozialen Reihen« (Mills Ausdruck zu gebrauchen), welches passend als »historische Methode« bezeichnet wird. Liesse man die hier beanstandeten Benennungen zu vorherrschenden werden, so würde die Schule Gefahr laufen, einen unwissenschaftlichen Charakter anzunehmen. Sie würde sich vielleicht zu ausschliesslich mit statistischen Forschungen beschäftigen und in der eingehenden Untersuchung besonderer Gebiete des Wirtschaftslebens die Notwendigkeit umfassender philosophischer Ideen und einer systematischen Ueber-, Neben- und Unterordnung der Prinzipien übersehen. Solange die Volkswirtschaftslehre ein besonderer Forschungszweig bleibt, und solange sie nicht in die Soziologie aufgegangen ist, werden die Denker, welche der neuen Richtung anhängen, weise handeln, wenn sie ihre ursprüngliche Bezeichnung als historische Schule beibehalten Ueber den Methodenstreit orientieren neuerlich: G. Schmoller in dem Artikel »Volkswirtschaft, Volkswirtschaftslehre, Volkswirtschaftsmethode« in Conrad-Elster's Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 2. Auflage, Band 7 (1901, mit Literaturnachweis), K. Diehl, »über die nationalökonomischen Lehrbücher von Wagner, Schmoller, Dietzel und Philippovich mit besonderer Rücksicht auf die Methodenfrage in der Sozialwissenschaft«, in Conrad's Jahrbüchern für Nationalökonomie, Bd. 79, S. 87 ff., W. Hasbach, »Mit welcher Methode wurden die Gesetze der theoretischen Nationalökonomie gefunden?«, ebendas., Bd. 82 S. 289, Derselbe »Zur Geschichte des Methodenstreits in der politischen Oekonomie«, in Schmoller's Jahrbuch, Jahrg. 19, S. 466 ff..

Abgesehen von den schriftstellerischen Erzeugnissen, welche bereits Erwähnung finden konnten, ist die nationalökonomische Literatur durch die verschiedenen deutschen Richtungen um viele schätzbaren Arbeiten bereichert worden. Die folgende Uebersicht, welche keine vollständige sein kann, will auf eine Anzahl dieser Veröffentlichungen hinweisen.

Als Enzyklopädien der Wissenschaft – teils systematisch, teils alphabetisch – seien genannt: Das von Gustav von Schönberg herausgegebene Handbuch der politischen Oekonomie, 2 Bde. 1882, 4. Aufl. in 3 Bänden 1896-98. Trotz seines bescheidenen Titels ist es ein Sammelwerk volkswirtschaftlichen Wissens in seiner ganzen Ausdehnung und Anwendung. Neben einer vollständigen Rechenschaft von allem, was auf den verschiedenen Gebieten der Wirtschafstheorie geleistet worden, gewährt es ausgiebige Belehrung über statistische und sonstige Fragen praktischer Natur. Von den Mitarbeitern wurden Brentano, Nasse, v. Schönberg, v. Scheel und Wagner im Laufe unserer Darstellung bereits erwähnt. Ausserdem haben verschiedene andere ausgezeichnete Schriftsteller Beiträge geliefert, so F. J. Neumann über die Grundbegriffe der Wissenschaft, Th. Mithoff über die Verteilung, Fr. Kleinwächter über die Produktion, Th. von der Goltz, A. Meitzen und J. Conrad über Landwirtschaft, J. Helferich über Forstwirtschaft, W. Lexis über Konsumtion und Handel, G. v. Rümelin über die Bevölkerungslehre und Fr. H. Geffcken über Bevölkerungspolitik, Auswanderung und Kolonisation. Der dritte Teil ist der Behandlung der Finanzwissenschaft und Verwaltungslehre gewidmet, und hier findet sich eine Fülle lehrreicher Mitteilungen über Besteuerung und öffentlichen Kredit, über Verwaltungseinrichtungen in England, Deutschland und Frankreich, über Unterrichtswesen, über öffentliche Gesundheits- und Armenpflege.

Als ferneres systematisches Sammelwerk gehört hierher das von Kuno Frankenstein begründete, von Max von Hecke1 fortgesetzte Hand- und Lehrbuch der Staatswissenschaften in selbständigen Bänden, dessen drei Abteilungen Volkswirtschafslehre, Finanzwissenschaft, Staats- und Verwaltungslehre die vorhandenen Darstellungen der einzelnen Zweige der Nationalökonomie und verwandter Gebiete durch berufene Mitarbeiter in glücklicher Weise ergänzen. Julius Lehr bearbeitete die Grundbegriffe der Nationalökonomie, 1893, 2. Auflage herausgegeben von M. v. Heckel, 1901, A. Oncken die Geschichte der Nationalökonomie, 1. Teil (die Zeit vor Adam Smith), 1902, G. Adler Geschichte des Sozialismus und Kommunismus, 1. Teil, 1899, Julius Lehr ferner Produktion und Konsumtion in der Volkswirtschaft, herausgegeben und vollendet von K. Frankenstein, 1895, Fr. Kleinwächter das Einkommen und seine Verteilung, 1896, A. v. Fircks Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik, 1898, R. von der Borght das Verkehrswesen, 1894, K. Helfferich Geld und Banken, 1. Teil: das Geld, 1903, R. von der Borght ferner Grundzüge der Sozialpolitik, 1904, ferner Handel und Handelspolitik, 1900, W. Vocke die Grundzüge der Finanzwissenschaft, 1894, A. Schäffle die Steuern, 2 Teile, 1895-97, M. v. Heckel das Budget, 1898, u.s.w.

In lexikalischer Anordnung bieten Zusammenfassung des Materials zwei umfangreiche Enzyklopädien: Das Handwörterbuch der Staatswissenschaften, herausgegeben von J.Conrad, L. Elster, W. Lexis und E. Löning, 6 Bde. nebst Register und 2 Supplementbänden, 1890-1898; 2. Auflage, 7 Bände, 1898-1901, und das Wörterbuch der Volkswirtschaft, herausgegeben von L. Elster, 2 Bände, 1898, beides reiche Fundgruben nationalökonomischen Wissens, mit vielen biographischen Nachweisen und eingehenden Literaturangaben.

Von der Regsamkeit des wirtschaftswissenschaftlichen Lebens in Deutschland zeugt ferner eine stattliche Anzahl von Fachzeitschriften, von denen als bedeutendste zu erwähnen sind: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, herausgegeben von H. Braun, seit 1888; von Bd. 19 ab u. d. T. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, herausgegeben von W. Sombart, M. Weber und E. Jaffé; Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im deutschen Reiche, begründet von F. v. Holtzendorff und L. Brentano (1871), seit 1881 herausgegeben von G. Schmoller; Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, begründet von B. Hildebrand (1863), seit 1872 herausgegeben von B. Hildebrand und J. Conrad, seit 1878 von Conrad allein; Vierteljahresschrift für Volkswirtschaft, Politik und Kulturgeschichte (1863-1893); Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, herausgegeben von A. Schäffle und K. Bücher, nach Schäffle's Tod von Bücher allein (seit 1844); Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, herausgegeben von E. von Böhm-Bawerk, K. Th. v. Inama-Sternegg u. a., seit 1892; Zeitschrift für Sozialwissenschaft, herausgegeben von Julius Wolf, seit 1898.

Von verschiedenen Professoren der Nationalökonomie wurden Sammlungen von Arbeiten hauptsächlich ihrer Schüler begründet, deren umfassendste die von G. Schmoller seit 1878 unter dem Titel »Staats-und sozialwissenschaftliche Forschungen« herausgegebene ist. Als weitere derartige Reihen sind zu nennen: Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Jena, herausgegeben von J. Pierstorff, seit 1901; Abhandlungen aus dem staatswissenschaftlichen Seminar zu Strassburg, Els., herausgegeben von G. F. Knapp, seit 1886; Volkswirtschaftliche Abhandlungen der badischen Hochschulen, herausgegeben von C. J. Fuchs, H. Herkner u. s. w., seit 1897; Volkswirtschaftliche und wirtschaftsgeschichtliche Abhandlungen, herausgegeben von W. Stieda, seit 1901; Abhandlungen aus dem staatswissenschaftlichen Seminar zu Münster Westf., herausgegeben von M. v. Heckel, seit 1904; Züricher volkswirtschaftliche Abhandlungen, herausgegeben von J. Wolf, seit 1896; Staats- und sozialwissenschaftliche Beiträge, herausgegeben von A. v. Miaskowski, seit 1892; Berner Beiträge zur Geschichte der Nationalökonomie, herausgegeben von A. Oncken, seit 1886; Sammlung nationalökonomischer und statistischer Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a. S., herausgegeben von J. Conrad, seit 1877; Staatswissenschaftliche Studien, herausgegeben von L. Elster, seit 1887; Münchener volkswirtschaftliche Studien, herausgegeben von Lujo Brentano, seit 1893; Wiener staatswissenschaftliche Studien herausgegeben, von E. Bernatzik und E. v. Philippovich, seit 1898; Züricher volkswirtschaftliche Studien, herausgegeben von H. Herkner, seit 1900; Wirtschafts- und Verwaltungsstudien mit besonderer Berücksichtigung Bayerns, herausgegeben von G. Schanz, seit 1884; und endlich die seit 1901 erscheinenden Ergänzungshefte zur Tübinger Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, herausgegeben von K. Bücher, welche überwiegend Arbeiten aus dem Seminar dieses Gelehrten bringen.

Die Literatur der Wirtschaftsgeschichte, welche die meisten der vorgenannten Sammelwerke zum grossen Teile ausfüllt, wird durch eine besondere Zeitschrift gefördert, die Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte herausgegeben von Bauer, v. Below und Hartmann, seit 1903 (Vorläufer: Zeitschrift für Sozial-und Wirtschaftsgeschichte (1893-1899); auch allgemeine historische Zeitschriften widmen sich der wirtschaftlichen Seite ihres Gebietes, so die von H. von Sybel 1859 begründete Historische Zeitschrift und die als neue Folge der deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (1889-1898) seit 1898 von G. Seeliger herausgegebene Historische Vierteljahresschrift. Grossenteils wirtschaftsgeschichtliche Monographien enthalten die Veröffentlichungen des »Vereins für Sozialpolitik« (Vgl. S. 270), von 1873-1904 113 Bände. Ferner sind als hervorragende wirtschaftsgeschichtliche Arbeiten hier anzuführen: Lujo Brentano, on the history and development of gilds, als Einleitung zu Toulmin Smith, english gilds, 1870; die Arbeitergilden der Gegenwart, 2 Bände, 1871-72; gesammelte Aufsätze I (Erbrechtspolitik, alte und neue Feudalität), 1898; Karl Bücher, Arbeit und Rhythmus, 1896, 3. Aufl. 1902; die Entstehung der Volkswirtschaft, 1893 Diese Schrift entfachte lebhafte Erörterungen, namentlich über die Berechtigung der von ihr vertretenen Auffassung, dass die wirtschaftliche Entwickelung eine mit dem gesellschaftlichen Urzustande im entferntesten Altertum beginnende und bis auf die Gegenwart sich fortsetzende aufsteigende Stufenfolge – geschlossene Hauswirtschaft, Stadtwirtschaft, Volkswirtschaft – darstelle. G. Schmoller hatte bereits 1884 in einem Aufsatze »Das Merkantilsystem in seiner historischen Bedeutung« (in seinem Jahrbuch S. 319) eine ähnliche Aufeinanderfolge angenommen, deren vier bezw. fünf Stufen oder Abschnitte er jetzt (in seinem Grundriss der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Band 1 S. 4 und Band 2 S. 668) als 1) Stammeswirtschaft (Haus-, Dorfwirtschaft), 2) Stadtwirtschaft, 3) Territorialwirtschaft, 4) Staatenwirtschaft und Volkswirtschaft, 5) Weltwirtschaft bezeichnet. Aehnlich auch Sombart (in »Der moderne Kapitalismus«, Band 1 S. 59): 1) Individual-, 2) Uebergangs-, 3) Gesellschaftswirtschaft, unter Ablehnung des Bücher'schen Schema's. Historiker wie Eduard Mayer, H. von Below, K. Breysig widersprachen dieser Konstruktion; sie betrachten das Altertum nicht als primitive Vorstufe der Neuzeit, sondern als eine in sich geschlossene Entwickelung mit Altertum, Mittelalter und Neuzeit, und unterscheiden für jedes Volkstum je eine besondere Zeit der Jugend, des Mannes- und Greisenalters. (Vgl. Oncken, Geschichte der Nationalökonomie, Teil 1, S. 15 ff.), 4. Aufl. 1904; A. Held, zwei Bücher zur sozialen Geschichte Englands (nachgelassenes Werk, herausgegeben von G. Fr. Knapp), 1881; K. Th. von Inama-Sternegg, deutsche Wirtschaftsgeschichte, Band 1-3, 1. u. 2. Abteilung, 1879-1899; G. Fr. Knapp, die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Teilen Preussens, 2 Bände, 1887; gesammelte Beiträge zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte vornehmlich des deutschen Bauernstandes, 1902; K. Lamprecht, deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter, 4 Bände, 1886; E. Nasse, die mittelalterliche Feldgemeinschaft in England, 1869; G. Schanz, englische Handelspolitik gegen Ende des Mittelalters mit besonderer Berücksichtigung des Zeitalters der beiden ersten Tudors Heinrich VII. und Heinrich VIII., 2 Bände, 1881 (Preisschrift); G. Schmoller, zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert, 1870; Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, besonders des preussischen Staats im 17. und 18. Jahrhundert, 1898; die Strassburger Tucher- und Weberzunft 1879; zur Sozial- und Gewerbepolitik der Gegenwart, 1890; W. Sombart, der moderne Kapitalismus, Band 1 und 2 (I. Genesis des Kapitalismus; II. Theorie der kapitalistischen Entwickelung), 1902, (die beiden Bände sind der Anfang des auf eine Reihe von solchen berechneten Werkes); H. Wäntig, gewerbliche Mittelstandspolitik, 1898.

Als dogmatische Arbeiten sind noch zu nennen: E. von Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzinstheorien, 2 Teile, 1884-1889, 2. Auflage 1900-1902; über einige strittige Fragen der Kapitalstheorie, 1900; L. Brentano, die klassische Nationalökonomie, 1888; Agrarpolitik I, 1897; A. Buchenberger, Grundzüge der deutschen Agrarpolitik, 1897, 2. Auflage, 1899; K. Knies, die Eisenbahnen und ihre Wirkungen, 1853; der Telegraph 1857; Geld und Kredit, 2 Abteilungen, 1876-81, I. Abteilung (Geld) in 2. Auflage, 1885; Fr. J. Neumann, Grundlagen der Volkswirtschaftslehre, Teil I, 1889; H. Rösler, zur Kritik der Lehre vom Arbeitslohn, 1861; über die Grundlagen der von Adam Smith begründeten Volkswirtschaftslehre, 2. Auflage, 1871; und ferner G. Schmoller, zur Literaturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften, 1888.

Ausser den bereits angeführten systematischen Darstellungen der Wissenschaft ist noch hinzuweisen auf: Gustav Cohn, System der Nationalökonomie, 1-3, 1885-1898, unzweifelhaft eine der besten neueren Gesamtbearbeitungen (I: Grundlegung, II: Finanzwissenschaft, III: Handel und Verkehr); J. Conrad, Grundriss zum Studium der politischen Oekonomie, 4 Teile (I: Nationalökonomie, 4. Auflage, 1902, II: Volkswirtschaftspolitik, 4. Auflage, 1904, III: Finanzwissenschaft, 3. Auflage, 1903, IV, 1: Statistik 1902); Fr. Kleinwächter, Lehrbuch der Nationalökonomie, 1903; E. v. Philippovich, Grundriss der politischen Oekonomie. Teil I und II, 1. Abteilung. (I: Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 1893, 5. Auflage, 1904, II: 1: Volkswirtschaftspolitik, 1899), G. Schmoller, Grundriss der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 2 Teile, (I, 1900, 4.-6. Auflage, 1901, II, 1.-6. Auflage 1904). Der Führer der jüngeren historischen Schule zieht hier, nach seinen eigenen Worten, »die Summe seiner wissenschaftlichen und persönlichen Ueberzeugungen«. Auf philosophischer und historischer Grundlage ruhend, fasst dies hochbedeutsame Werk die Gesamtresultate der zeitgenössischen wirtschaftlichen Forschung zusammen. »In dieses Werk sind alle die Steine eingemauert, die von der historischen Schule seit Jahren aus nationalökonomischen, philosophischen, ethnologischen, soziologischen und anderen Wissensgebieten zusammengetragen wurden, wobei der Verfasser sich nicht nur als Führer, sondern auch in Reih, und Glied an Abbau und Förderung beteiligt hat« W. Hasbach in Conrad's Jahrbüchern für Nationalökonomie, Bd. 78 S. 387. Vgl. ferner K. Diehl, ebdas. Bd. 79, S. 106 ff.. Ferner ist hier zu nennen L. von Stein's Lehrbuch der Nationalökonomie, 3. Auflage, 1888. Weitere Werke dieses Autors sind: Die Verwaltungslehre, 8 Teile, 1865–1884 (I, III, V, VI in 2. Auflage 1869–83), Handbuch der Verwaltungslehre, 3. Auflage 1888, Lehrbuch der Finanzwissenschaft, 2 Bände, 5. Aufl. 1885–1886. – Der russisch-deutschen Schule gehört an T. von Bernhardi, Versuch einer Kritik der Gründe, welche für grosses und kleines Grundeigentum angeführt werden, 1848.

Die deutsche freihändlerische Richtung hat in praktischer Hinsicht viel getan, namentlich durch ihre Bekämpfung veralteter Vorrechte und Beschränkungen. Als Vorbild für ihre politische Wirksamkeit dient Cobden, während sie sich theoretisch hauptsächlich auf Say und Bastiat stützt. Die bedeutendsten Vertreter dieser Richtung sind: J. Prince-Smith (1809–1874), seinerzeit ihr Führer; seine gesammelten Schriften wurden von O. Michaelis und K. Braun-Wiesbaden in 3 Bänden, 1878 bis 1880, herausgegeben; H. von Treitschke, Verfasser der gegen die Kathedersozialisten gerichteten Schrift »der Sozialismus und seine Gönner« 1875; V. Böhmert, welcher für die Beteiligung der Arbeiter am Unternehmergewinn eintrat (die Gewinnbeteiligung, 1878); A. Emminghaus, Verfasser von »Das Armenwesen und die Armengesetzgebung in den europäischen Staaten«, 1870; J, H. Schulze-Delitzsch, wohlbekannt als Gründer der deutschen Volksbanken und als eifrige Förderer des Genossenschaftswesens.

Eine Reaktion gegen die historische Richtung bedeutet die österreichische Schule unter K. Menger (Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften. 1883; die Irrtümer des Historismus, 1884; Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, 1., allgemeiner Teil, 1871). Zu ihren Anhängern gehören E. von Böhm-Bawerk, E. von Philippovich (vgl. S. 277), Fr. von Wieser (Ueber den Ursprung der Hauptgesetze des wirtschaftlichen Wertes, 1884; der natürliche Wert, 1888), E. Sax (Wesen und Aufgabe der Nationalökonomie, 1884; Grundlegung der theoretischen Staatswirtschaft, 1887; die neuesten Fortschritte der nationalökonomischen Theorie, 1888). H. Dietzel (Beiträge zur Methodik der Wirtschaftswissenschaft in Conrad's Jahrbüchern für Nationalökonomie, Bd. 43, und Theoretische Sozialökonomik in Wagner's Lehr- und Handbuch, 2. Hauptabteilung 1. Band, 1. Buch, 1895) steht mit den Vorgenannten auf dem Boden der klassischen Nationalökonomie, strebt jedoch nach einem Ausgleich zwischen dieser Schule und der deutschen historischen Richtung.

Wie bereits bemerkt, sind die sozialistischen Schriftsteller in diesem geschichtlichen Ueberblick nicht mit inbegriffen; ebensowenig werden die Schriften der Nationalökonomen (im engeren Sinne) berücksichtigt, welche sich auf die Geschichte des Sozialismus oder auf die durch diesen hervorgerufenen Streitfragen beziehen.

Die Bewegung, welche die neue Schule in Deutschland in's Leben rief, zusammen mit den aus ihr entstandenen Entwickelungen, hat zweifellos diesem Lande gegenwärtig den Vorrang auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Forschung verschafft. Der deutsche Einfluss hat sich in andern Ländern durch Aenderung der Anschauungen fühlbar gemacht – am stärksten vielleicht in Italien, am schwächsten wohl in Frankreich. In England ist er stetig vorgedrungen, obschon sein Fortschreiten verzögert wurde durch die insulare Gleichgültigkeit gegenüber den Strömungen des fremdländischen Denkens, welche unsere herrschende Schule in hohem Grade kennzeichnet. Zugleich mit dem sich dergestalt betätigenden Einfluss hat sich mehr und mehr eine allgemeine Abneigung gegen das orthodoxe System entwickelt, teils infolge des Argwohns, dass die von ihm befolgte Methode verkehrt sei, teils aus einer tiefwurzelnden Unzufriedenheit mit der von diesem System eingegebenen Praxis und der entdeckten Hohlheit der Politik des nackten »laisser faire«. Daher sind allerorten eine Denkweise und eine Art des Forschens hervorgetreten und in Aufnahme gekommen, welche sich mit den systematischen Auffassungen der historischen Nationalökonomen im Einklang befinden. Es ist somit in der wirtschaftswissenschaftlichen Welt ein Dualismus erstanden: eine jüngere Schule trachtet nach der Oberhand und rückt ihrem Ziele immer näher, während die alte Schule ihre Stellung noch verteidigt, obgleich ihre Anhänger in wachsendem Masse sich geneigt zeigen, eine veränderte Haltung anzunehmen und die Bedeutung der neuen Einsichten anzuerkennen.

 

Italien.

Bedauerlicherweise sind in England und in Amerika die Schriften der neueren italienischen Nationalökonomen nur wenig bekannt. Luigi Cossa's »Guida allo studio della economia politica«, 3. ed. 1887, 1892 völlig umgearbeitet u. d. T.: Introduzione allo studio della econ. pol. Ins Englische auf Veranlassung von Jevons 1880 übersetzt; deutsch von Moormeister, 1880. Siehe auch das bibliographische Material in seinen »Primi elementi di economia polit.,« 3 vol. (I: Economia sociale, 10. ed. 1895, von Moormeister übersetzt, 1880); II: Teoria della economia, 1898; III: Scienza delle finanze, 7. ed. 1896 (deutsch von K. Eheberg, 7. Aufl., vom Uebersetzer völlig umgearbeitet, 1903)., hat uns über den Charakter und die Bedeutung ihrer Arbeiten einigermassen unterrichtet. Die Dringlichkeit der finanziellen Fragen, welche sich in Italien seit der politischen Wiedergeburt dieses Landes geltend machten hat ihre Forschungen grösstenteils in praktische Bahnen gelenkt, und es sind zahlreiche Einzelschriften über statistische und administrative Themata von ihnen geliefert worden. Indessen haben sie auch die allgemeinen Lehren der Wissenschaft einer verständnisvollen Behandlung unterzogen. Cossa bezeichnet Angelo Messedaglia (1820-1891), Professor in Padua, als den hervorragendsten der zeitgenössischen italienischen Nationalökonomen; er schrieb über öffentliche Anleihen (Dei prestiti pubblici e del miglior sistema di consolidazione, 1850) sowie über die Bevölkerungsfrage (Della teorica della popolazione principalmente sotto l'aspetto del metodo, vol. I, 1858), und gilt als Autorität in Fragen des Geld- und Kreditwesens. Sein Zögling Fedele Lampertico (1833 geb.) ist Verfasser zahlreicher Schriften, von denen als die am meisten systematische und umfassendste seine »Volks- und Staats-Wirtschaft« (Economia dei popoli e degli stati, 1874-84) zu nennen ist. Der bekannte Minister Marco Minghetti (1818-1886) schrieb u. a. »Die Volkswirtschaft in ihren Beziehungen zur Sittlichkeit und zum Recht (Economia pubblica e le sue attinenze colla morale e col diritto, 1859). Luigi Luzzatti, als tüchtiger Verwaltungsbeamter bekannt, hat durch verschiedene Veröffentlichungen den Weg für Reformen zu bahnen versucht. Die Sizilianer Vito Cusumano und Giuseppe Ricca-Salerno haben ausgezeichnete Werke geschaffen: der erstere über die Geschichte der Volkswirtschaftslehre im Mittelalter (Dell' economia politica nel medio evo, 1876), über die volkswirtschaftlichen Richtungen in Deutschland in ihren Beziehungen zur sozialen Frage (Le scuole economiche della Germania in rapporto alla quistione sociale, 1875) und über die gegenwärtige Lage der wirtschaftlichen Forschungen in Deutschland (Sulla condizione attuale degli studi economici in Germania, 1873, deutsch von Emele, 1881), – der letztere über die Theorie des Kapitals (Saggio sulla teoria del capitale, 1877), der Löhne (Del salario e delle sue leggi, 1878) und der Staatsschulden (Teoria generale dei prestiti pubblici, 1877). Auch G. Toniolo, E. Nazzani Vergl. seine »Saggi di economia politica«, 1881. und A. Loria haben sowohl die Theorien der Grundrente und des Kapitalgewinnes als einige der wichtigsten praktischen Tagesfragen geschickt erörtert. A. Loria's »Teoria economica della costituzione politica«, 1886, letzte Auflage 1901, wurde in mehrere europäische Sprachen übersetzt, deutsch von Grünberg 1894. A. Graziani ist Verfasser von »Istituzioni di economia politica«, 1903, und von »Lezioni di economia politica, 1902. Cossa selbst, dem wir die meisten der angeführten Einzelheiten verdanken, ist Verfasser verschiedener Werke, welche ihm grossen Ruf verschafft haben. (Siehe die Anmerkung auf S. 280.)

Von grösserem Interesse als ein unvollständiges Verzeichnis von Schriftstellern ist die Tatsache, dass der wirtschaftswissenschaftliche Dualismus, den wir bereits als kennzeichnendes Merkmal unserer Zeit erwähnt haben, auch in Italien auftritt. Auch hier stehen sich die beiden Schulen – die alte oder sogenannte orthodoxe und die neue oder historische – jede mit ihren verschieden gearteten Formen einander gegenüber. Cossa berichtet uns, dass die Lehrer der jüngeren Nationalökonomen in Norditalien im Jahre 1874 öffentlich als Deutschtümler, Sozialisten und Verführer der italienischen Jugend denunziert wurden. Auf diesen Vorwurf hin beriefen Luzzatti, Lampertico und Scialoja 1875 nach Mailand den ersten Kongress der Nationalökonomen zu dem Zwecke, sich öffentlich gegen den Gedanken zu erklären, welchen man ihnen aufzudrängen versuchte, »dass die Wissenschaft mit Adam Smith und dessen Erklärern geboren und gestorben sei.« Ueber den Stand der wirtschaftlichen Forschungen in Italien während der hierauf folgenden Jahre unterrichtet uns Emile de Laveleye in seinen interessanten »Lettres d'Italie« (1878–79). Bei Gelegenheit des Festmahls, welches die italienischen Nationalökonomen de Laveleye zu Ehren veranstalteten, sprach der den Vorsitz führende Minister Minghetti von den »beiden Strömungen«, welche sich geoffenbart hätten, und liess durchblicken, dass er selbst den neuen Anschauungen zugetan sei. Carlo Ferraris, ein Zögling Wagners, folgt derselben Richtung. Förmliche Darlegungen und Verteidigungen der historischen Methode haben geliefert R. Schiattarella: »Ueber die Methode in der Sozialwirtschaftslehre« (Del metodo in economia sociale, 1875), und S. Cognetti de Martiis: »Ueber das Verhältnis der Sozialwirtschaftslehre zur Geschichte« (Delle attinenze tra l'economia sociale e la storia, 1865). Einer äusserst beifälligen Aufnahme begegnet die historische Methode ferner in Ricca-Salerno's gelehrten und scharfsinnigen Einzelschriften (siehe insbesondere seine Abhandlung »Del metodo in econ. pol.«, 1878). Luzzatti und Forti gaben vorübergehend eine Zeitschrift »Giornale degli Economisti« heraus, welche das Organ der neuen Schule war, jedoch ihr Erscheinen bereits eingestellt hatte, als Cossa sein Buch schrieb. Cossa selbst will der neuen Schule nicht beitreten, und zwar weil sie die Volkswirtschaftslehre zu einer blossen Aufzählung von Tatsachen erniedrige – eine Bemerkung, die, wie uns zu sagen gestattet werden muss, eine völlige Verkennung ihrer wahren Grundsätze verrät. Nichtsdestoweniger räumt er ein, dass sie in verschiedener Hinsicht äusserst nützlich gewesen sei, insbesondere dadurch, dass sie das Signal zu einer heilsamen, obschon seines Erachtens übermässigen Reaktion gegen die doktrinären Uebertreibungen der älteren Theoretiker gegeben habe Vgl. ferner über neuere Entwickelungen der Wirtschaftswissenschaft in Italien: H. von Schullern-Schrattenhofen, die theoretische Nationalökonomie Italiens in neuester Zeit, 1891, und A. Loria, über die Entwickelung der italienischen Nationalökonomie in jüngster Zeit, im »Archiv für Sozialwissenschaft«, Band 19 (1904) S. 678..

 

Frankreich.

In Frankreich hat die historische Schule einen weniger starken Eindruck gemacht, was wohl zum Teil dem Umstande zuzuschreiben ist, dass die ausschweifenden Theorien des Ricardo'schen Systems zu keiner Zeit dort erheblichen Rückhalt fanden. Jevons wurde durch die Erkenntnis, dass sich dieses Land von jenen Uebertreibungen freigehalten habe, zu der Erklärung veranlasst, »die Wahrheit finde sich bei der französischen Schule«, während er von den englischen Nationalökonomen sagt, »sie hätten im Schlaraffenlande gelebt«. Nationale Vorurteile mögen ebenfalls zu dem angeführten Ergebnis beigetragen haben, da der Durchschnitts-Franzose nach dem Kriege leicht geneigt war, die Frage aufzuwerfen, ob überhaupt etwas Gutes aus Deutschland kommen könne. Wie wir indessen gezeigt haben, wurden die philosophischen Theorien, auf welche sich die gesamte Entwickelung der historischen Schule gründet, zuerst durch einen französischen Denker verkündet, dessen glänzenden Leistungen gegenüber sich die meisten seiner Landsleute auffällig teilnahmlos verhalten. Eine weitere Ursache hat man vielleicht in dem offiziellen Einflusse zu suchen, der in Frankreich vermöge seiner Einwirkung auf das höhere Unterrichtswesen die freie Bewegung unabhängiger Ueberzeugung hindert, wie sich dies besonders in dem zeitweiligen Beifall bemerklich machte, welchen er auf dem weiteren philosophischen Felde dem seichten Eklektizismus eines Cousin zuteil werden liess. Wie anderswo hat sich auch in Frankreich eine Hinneigung zum historischen Standpunkt gezeigt; indessen offenbarte sie sich weniger in einer Umgestaltung der allgemeinen Theorie als darin, dass sie zu einer sorgfältigeren Erforschung der wirtschaftlichen Ansichten und Einrichtungen der Vergangenheit führte.

Viel Brauchbares ist von Franzosen (welchen die Belgier hier zugesellt werden mögen) auf dem Gebiete der Geschichte der politischen Oekonomie geleistet worden, betrachte man nun letztere als ein theoretisches Ganze oder als ein politisches System (bezw. als eine Reihe solcher Systeme). Blanqui's Geschichte (Histoire de l'économie politique, 1837-38, 4. éd. 1860; deutsch von Buss, 1840-41) hat allerdings keinen Anspruch auf einen besonders hohen Rang, doch war sie immerhin als ein erster allgemeiner Abriss von Nutzen. Auch jene von Villeneuve-Bargemont (Histoire de l'économie politique, 1839 u. 1841), war insofern interessant und brauchbar, als sie die katholischerseits gehegte Ansicht über Entwickelung und Bestrebungen der Wissenschaft darstellte. C. Périn's »Die volkswirtschaftlichen Theorien seit einem Jahrhundert« (Les doctrines économiques depuis un siècle, 1880, deutsch 1882) ist vom gleichen Standpunkt aus geschrieben. Ausserdem ist eine grosse Anzahl wertvoller Monographien über einzelne Staatsmänner oder Denker von Franzosen geliefert worden, so z. B. von A. Batbie über Turgot (Turgot philosophe, économiste et administrateur, 1861), von A. Neymarck über denselben Staatsmann (Turgot et ses doctrines, 1885), von Pierre Clément über Colbert (Histoire de Colbert et de son administration, 2. éd. 1875), von H. Baudrillart über Bodin (J. Bodin et son temps; tableau des théories politiques et des idées économiques au 16e siècle, 1853), von Léonce de Lavergne über die französischen Nationalökonomen des 18. Jahrhunderts (Les économistes français du 18e siècle, 1870), von G. Schelle über Dupont de Nemours (Dupont de Nemours et l'école phyisocratique, 1888). Ferner sind wirklich bedeutende Werke über einzelne Seiten der wirtschaftlichen Entwickelung geschaffen worden, so z. B. jene von L. de Lavergne über die Landwirtschaft Frankreich's (Economie rurale de la France depuis 1789, 1860, 3. éd. 1866) und England's, Schottlands und Irland's (Essai sur l'économie rurale de l'Angleterre, de l'Ecosse et de l'Irlande, 1854; 5. éd. 1882). Besonderer Erwähnung verdient das Werk E. de Laveleye's »Ueber das Ureigentum« (De la propriété et de ses formes primitives, 1874, 2. éd. 1877; deutsch von Bücher, 1879), und zwar nicht nur wegen seiner Zusammenstellung von Tatsachen, welche die ersten Formen des Eigentums betreffen, sondern weil es kräftig die Tendenz der neuen Schule unterstützt, jede Stufe des Wirtschaftslebens vom relativen Standpunkt aus zu betrachten als das Ergebnis einer geschichtlichen Vergangenheit, welches sich mit der Gesamtheit der zeitgenössischen sozialen Verhältnisse im Einklang befindet und die Keime einer Zukunft in sich birgt, deren wesentlicher Charakter vorherbestimmt ist, deren sekundäre Züge indessen der Einwirkung unterliegen.

E. de Laveleye hat viel getan, um die Aufmerksamkeit auf die allgemeinen Grundsätze der historischen Schule hinzulenken und wirkte hierdurch als Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich äusserst nützlich. In einer neueren Kundgebung – »Die Naturgesetze und das Ziel der Volkswirtschaftslehre« (Les lois naturelles et l'objet de l'économie politique, 1883) – trennt er sich indessen offenbar von den besten Mitgliedern dieser Schule und verfällt jedenfalls in entschiedenen Irrtum, wenn er der Volkswirtschaftslehre den Charakter einer wahren Wissenschaft (oder Abteilung einer Wissenschaft) – als verschieden von einer Kunst – versagt und das Bestehen wirtschaftlicher Gesetze oder von dem Einzelwillen unabhängiger Tendenzen leugnet. Aus einer derartigen Leugnung ist die Verneinung sozialer Gesetze überhaupt zu folgern – fürwahr eine auffällig rückschrittliche Haltung für einen Denker unserer Zeit, welche sich seit dem Erscheinen der »Philosophie positive« nicht rechtfertigen lässt. Der Gebrauch der metaphysischen Wendung »notwendige Gesetze« verdunkelt die Frage; es genügt von tatsächlich vorwaltenden Gesetzen zu reden. M. de Laveleye beruft sich auf die Sittenlehre, welche insofern einen ähnlichen Fall darbiete, als wir in ihr nicht mit Naturgesetzen, sondern mit »befehlenden Vorschriften« zu tun hätten, als ob diese Vorschriften nicht als ihre Grundlage einschlössen, was als gleichzeitig Vorhandenes und Aufeinanderfolgendes beobachtet worden, und als ob es keine sittliche Entwickelung gebe. Er scheint von dem richtigen Standpunkt in einer Hinsicht ebensoweit entfernt zu sein, als seine Gegner von der alten Schule es in anderer sind. Was seine Argumente in Wirklichkeit allenfalls zu beweisen vermöchten, ist der unzweifelhaft wahre Satz, dass volkswirtschaftliche Tatsachen nicht durch eine Theorie erklärt werden können, welche die übrigen sozialen Gesichtspunkte ausser Acht lässt, und dass sich daher unsere Forschungen und Erklärungen wirtschaftlicher Erscheinungen stets in engem Zusammenhang mit den Schlüssen der umfassenderen Gesellschaftswissenschaft befinden müssen.

Von den erläuternden Darstellungen, welche in einer fast ununterbrochenen Reihe seit der Zeit Say's, oder vielmehr seit dem Erscheinen von Germain Garnier's »Abrégé des principes de l'économie politique« (1796) einander gefolgt sind, können wir nur einige kurz erwähnen. Destutt de Tracy's »Traité de l'économie politique« bildet einen Teil seiner »Eléments d'idéologie« (1823). Droz betonte insbesondere die Beziehungen der Wirtschaftstheorie zur Sittenlehre und die des Reichtums zum menschlichen Glück (Economie politique, 1829; deutsch von Keller, 1830). Pellegrino Rossi – ein Italiener, der sich durch Studien in der Schweiz zum Nationalökonomen heranbildete – war Professor der Volkswirtschaftslehre in Paris und schrieb in französischer Sprache (Cours d'économie politique, 1838-54); er lieferte in klassischer Form eine Darstellung der Theorien Say's, Malthus' und Ricardo's. Michel Chevalier (1806-1879) bringt in seinem »Cours d'économie politique« (1845–50) insbesondere schätzbares Material über die in neuerer Zeit auf wirtschaftlichem Gebiet hervorgetretenen Erscheinungen sowie über das Geld und die Produktion der Edelmetalle. Henri Baudrillart, Verfasser von »Die Beziehungen der Moral zur Volkswirtschaftslehre« (Les rapports de la morale et de l'économie politique, 1860, 2. éd. 1883) und der »Historie du luxe« (1878), veröffentlichte im Jahre 1857 ein »Manuel de l'économie politique« (3. éd. 1872), welches Cossa ein »vortreffliches Kompendium« nennt. Joseph Garnier (Traité de l'économie politique, 1860; 8. éd. 1880) folgt in mancher Beziehung Dunoyer. J. G. Courcelle-Seneuil, der Uebersetzer J. S. Mill's, von welchem Professor F. A. Walker sagt, »er sei vielleicht der fähigste Nationalökonom, welcher nach J. B. Say in französischer Sprache schrieb«, verfasste ausser einem Buche über Bankgeschäfte und wirtschaftliche Unternehmungen (Traité théorique et pratique des opérations de banque et théorie des entreprises industrielles, 1856) einen »Traité d'économie politique« (1858-59; 3. éd. 1891), welcher als vorzüglich gilt. Endlich ist der Genfer Antoine Elise Cherbuliez (gest. 1869) als Verfasser einer Darstellung des Wissenszweiges (Précis de la science économique, 1862) anzuführen, welche Cossa als die beste in französischer Sprache geschriebene bezeichnet. L. Walras folgt in seinen »Eléments d'économie politique pure« (1874 bis 77; 2. éd. 1889), »Théorie mathématique de la richesse sociale« (1883), »Etudes d'économie sociale« (1896) und »Etudes d'économie politique appliquée«, (1898) dem Beispiele Cournot's, indem er den Versuch einer mathematischen Behandlung des Gegenstandes unternimmt. Ein fernerer Vertreter der mathematischen Methode ist V. Pareto in seinem »Cours d'économie politique«, 2 vols, 1897.

Seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist der herrschenden orthodoxen Richtung eine Gegnerschaft erstanden, die der deutschen historischen Schule nahesteht, andererseits sich in mancher Hinsicht an die österreichischen Theoretiker anlehnt. Diese neue Bewegung gruppiert sich um die »Revue d'économie politique«, welche 1887 gegenüber dem seit 1841 bestehenden, die klassische Richtung vertretenden »Journal des économistes« gegründet wurde. Die Führer dieser Bewegung sind Charles Gide dessen Hauptwerk »Principes d'économie politique« (1883) bereits in 9. Auflage (1905) erschienen ist, und Paul Cauwès, Verfasser eines »Cours d'économie politique« (1878), 3. éd., 4 vols, 1892-93.

 

England.

Von Cairnes haben wir – die strenge chronologische Ordnung der Geschichte der Wirtschaftstheorie tiefer liegenden Rücksichten opfernd – bereits gesprochen, indem wir ihn als den letzen originellen englischen Schriftsteller schilderten, welcher der alten Schule rückhaltslos anhing. Sowohl hinsichtlich der Methode als hinsichtlich der Theorie war er im wesentlichen Ricardianer, und obwohl er hohe Achtung für Mill an den Tag legte und wirklich fühlte, blieb er doch geneigt, hinter ihn zurückzugreifen und sich an ihren gemeinsamen Meister zu halten. Mr. Sidgwick hat zweifellos recht, wenn er glaubt, dass seine »Leitenden Grundsätze« sehr dazu angetan waren, »das Ansehen ohne gleichen, welches Mill's Darstellung fast während einer halben Generation genossen hatte«, zu erschüttern, und in dieser wie in anderer Hinsicht mag Cairnes als auflösende Kraft gewirkt und auf eine gründliche Veränderung hingearbeitet haben, obwohl er diesen Einfluss jedenfalls unbewusst und unfreiwillig betätigte. Uebrigens hatten seit einiger Zeit im Stillen mancherlei Einflüsse die Grundlagen des alten System's untergraben. Die Anhänger Comte's hatten erkannt, dass die Methode dieses Systems eine irrtümliche sei. Die erhabenen Sittenlehren eines Carlyle hatten die besten Gemüter mit Widerwillen gegen die niedrigen Grundsätze der Manchesterschule erfüllt. Ruskin war nicht nur gegen den selbstsüchtigen Geist der herrschenden Lehre aufgetreten, sondern hatte auch auf einige tatsächliche Schwächen hingewiesen, die ihr in wissenschaftlicher Beziehung anhafteten Das bemerkenswerte Buch »Das Geld und die Sittenlehre« (Money and morals) von John Lalor, 1852, wurde teilweise unter dem Einflusse Carlyle's geschrieben. Eine gute Monographie über Ruskin erschien 1884: John Ruskin, economist, by P. Geddes. Von den verschiedenen, in deutscher Uebersetzung erschienenen Schriften Ruskins gehört insbesondere hierher der 5. Band seiner »Gesammelten Werke«: Vier Abhandlungen über die ersten Grundsätze der Volkswirtschaft, 1902.. Man fühlte allmählich, und sogar ihre wärmsten Verfechter räumten es zuweilen ein, dass sie nunmehr das ganze, in der Hauptsache zerstörende Werk verrichtet habe, dessen sie fähig gewesen. Cairnes selbst erklärte, dass, während die meisten Gebildeten diese Lehre zu künftiger Unfruchtbarkeit verdammt glaubten, einige tatkräftige Geister sie vielmehr als positives Hindernis einer nützlichen Reform betrachteten. Miss Martineau, welche in ihren früheren Jahren durch und durch Ricardianerin gewesen, gelangte zu der Ansicht, dass die Volkswirtschaftslehre in der von ihren Zeitgenossen ausgearbeiteten Gestalt streng genommen überhaupt keine Wissenschaft sei, und dass sie notwendig eine so wesentliche Veränderung erfahren müsse, dass künftige Geschlechter ihr wenig mehr verdanken würden als die Feststellung der Existenz allgemeiner Gesetze innerhalb eines Gebietes menschlicher Angelegenheiten Siehe ihre »Autobiography«, 2. ed., vol. II., p. 244.. Die instinktive Abneigung der arbeitenden Klassen hatte ihren Fortgang genommen, ungeachtet der Bemühungen ihrer Oberen, ihnen die Vorschriften dieser Lehre zur Befolgung anzuempfehlen, Bemühungen, die vielleicht nicht selten eher von einem Klasseninteresse als von einem Sinne für das gemeine Beste diktiert waren. Alle Anzeichen deuteten auf eine bevorstehende Veränderung hin, doch waren sie mehr auf dem Felde der allgemeinen Litteratur und in der Atmosphäre der gesellschaftlichen Anschauungen bemerkbar als innerhalb des engeren Kreises der Volkswirtschaftslehre Einen kräftigen Anlauf gegen das herrschende System unternahm David Syme in seinen »Umrissen einer Wirtschaftswissenschaft« (Outlines of an industrial science, 1876).. Als indessen bekannt wurde, dass, besonders in Deutschland, eine gewaltige, neueren und hoffnungsreicheren Bahnen folgende Bewegung im Gange sei, begannen selbst die englischen Nationalökonomen die Notwendigkeit einer Reform einzusehen und sogar deren Eintreten zu fördern. Von den treibenden Kräften in dieser Richtung sind Bagehot, Leslie und Jevons als jene anzuführen, welche in erster Reihe den Weg zur Erneuerung der Wissenschaft ebneten. Der erste beschränkte die Sphäre des herrschenden Systems, um es innerhalb engerer Grenzen zu erhalten. Der zweite griff es direkt an und stellte die neue Methode als Nebenbuhlerin und voraussichtliche Nachfolgerin der alten auf. Der dritte erkannte den Zusammenbruch der bisher am Ruder gewesenen Dynastie an, verkündete die Notwendigkeit eines veränderten Regiments und gestattete dem jüngeren Bewerber als zukünftigen Mitherrscher Einlass. Somit hat der auf dem Festlande bestehende Dualismus auch in England platzgegriffen, und es steht zu erwarten, dass in diesem Lande die historische Schule ihren Widersacher schneller und entscheidender aus seiner Stellung vertreiben wird als in Frankreich und Italien. Jedenfalls ist ausser in Deutschland zunächst in England mit der Verkündigung der neuen Ansichten in wirksamster und nachhaltigster Weise begonnen worden.

Walter Bagehot (1826 - 1877) ist Verfasser eines vortrefflichen Werkes über den englischen Geldmarkt und die Umstände, welche dessen besonderen Charakter bestimmen (Lombard Street, 1873, 8. ed. 1882; deutsch von Beta, 1874) sowie verschiedener Einzelschriften über spezielle Fragen auf dem Gebiete des Geldwesens, zu deren Behandlung ihn seine praktische Erfahrung, vereint mit der ihm eigenen Gewandtheit im wissenschaftlichen Denken, in hervorragendem Grade befähigte. Ueber die allgemeinen Grundsätze der Wirtschaftstheorie schrieb er einige hochbedeutsame Abhandlungen, welche in den von R. H. Hutton 1880 herausgegebenen »Economic Studies« gesammelt sind. In diesen unternahm er es, den Nachweis zu führen, dass das überkommene System der Volkswirtschaftslehre – das System Ricardo's und J. S. Mill's – auf gewissen grundlegenden Voraussetzungen ruhe, welche in Wirklichkeit keineswegs allgemein vorhanden, vielmehr nur innerhalb sehr enger zeitlicher und räumlicher Grenzen erfüllt seien. Anstatt sich auf alle gesellschaftlichen Zustände anwenden zu lassen, bewähre es sich nur hinsichtlich jener, »in welchen der Verkehr ein hochentwickelter ist, und wo dessen Entwickelung eine solche oder eine ähnliche Gestalt angenommen hat, wie sie der Verkehr in England aufweist«. Es sei »die Wissenschaft des Geschäfts, wie es in grossen und handeltreibenden Gemeinschaften beschaffen ist, – eine Analyse des grossartigen Verkehrs, durch welchen England reich geworden«. Mehr als eine solche sei es indessen nicht. Es erkläre weder das Wirtschaftsleben früherer Zeiten, noch selbst das anderer Gemeinschaften unserer Zeit. Aus letzterem Grunde sei es ein insulares geblieben und habe in andern Ländern niemals eine so umfassende Geltung erlangt wie in seiner Heimat. Es sei in Wahrheit eine Art Schnellrechner, welcher uns in den Stand setze, ungefähre Berechnungen darüber anzustellen, was sich unter gegebenen Umständen in Lombardstreet, auf der Fondsbörse und auf den grossen Weltmärkten ereignen wird. Es sei »eine bequeme Reihe von Schlussfolgerungen aus angenommenen Axiomen, die niemals ganz zutreffen und für manche Zeiten und Länder durchaus unzutreffend sein würden, die sich indessen den hauptsächlichen Verhältnissen der modernen ›englischen‹ Welt hinlänglich nähern, um deren Würdigung auf ihrer Basis nützlich erscheinen zu lassen«.

Mill und Cairnes hatten bereits darauf hingewiesen, dass die von ihnen gelehrte Wissenschaft insofern eine hypothetische sei, als sie nicht mit wirklichen, sondern mit fingierten Menschen zu tun habe – mit »Wirtschaftsmenschen«, die einfach als »geldverdienende Tiere« aufgefasst würden. Bagehot ging jedoch weiter: er zeigte, – was diese Schriftsteller, wenn auch vielleicht angedeutet, so doch nicht klar zum Ausdruck gebracht hatten Jones, dessen Schriften Bagehot anscheinend nicht kannte, war ihm, wie wir gesehen haben, in dieser Erklärung gewissermassen zuvorgekommen. – dass die Welt, in der man diese Menschen handeln lasse, ebenfalls »eine sehr beschränkte und eigentümliche Welt« sei. Was diese besondere Welt auszeichnet, das ist, wie er uns mitteilt, die Schnelligkeit der Uebertragung von Kapital und Arbeit von einer Beschäftigungsart auf eine andere, welche Uebertragung durch Unterschiede in der Belohnung dieser verschiedenen Beschäftigungsarten bestimmt wird. Was das tatsächliche Vorhandensein dieser Schnelligkeit in der zeitgenössischen englischen Welt anlangt, so ist er sehr schwankender Meinung, im grossen ganzen erachtet er sie indessen als im wesentlichen verwirklicht.

Bagehot bezeichnet sich als den »letzten Mann der Vor-Mill'schen Periode«, da er sein nationalökonomisches Wissen von Ricardo habe; dieser Schriftsteller ist also von ihm ganz erheblich überschätzt worden. Indessen lebte er lang genug, um die historische Methode einigermassen kennen zu lernen, und stand ihr »nicht feindlich, sondern vielmehr sehr sympatisch« gegenüber. »Fasst man sie richtig auf«, sagte er, »so ist sie für die richtig aufgefasste abstrakte Methode keine Nebenbuhlerin.« Wir wollen uns nicht abermals auf eine Kritik des Ausdrucks »abstrakte Methode« einlassen, der hier auf das Verfahren der alten Schule Anwendung findet, oder die Wahrheit betonen, dass alle Wissenschaft notwendig abstrakt ist, während es sich allein darum handeln kann, das gehörige Mass der Abstraktion zu finden, oder im allgemeinen das Verhältnis zwischen dem Abstrakten und Konkreten richtig festzustellen. Es ist hier vielmehr die Bemerkung am Platze, dass Bagehot's Ansicht über die Versöhnung der beiden Methoden von jener der meisten »orthodoxen« Nationalökonomen gänzlich verschieden ist. Letztere behandeln die historische Methode in der Regel mit einer Art gnädiger Duldung, da sie brauchbare Exemplifikationen oder Erklärungen ihrer Theoreme liefere. Bagehot ist indessen der Meinung, dass sich die beiden Methoden auf völlig verschiedenen Gebieten anwenden lassen. Für die von ihm als »abstrakte« bezeichnete Methode beansprucht er das enge, jedoch zunächst interessierende Bereich des modernen, hochentwickelten Wirtschaftslebens und überlässt der historischen Methode die wirtschaftlichen Erscheinungen der gesamten menschlichen Vergangenheit und alles übrige der menschlichen Gegenwart. Er selbst verrät viele Begabung für derartige geschichtliche Forschungen und hat insbesondere über die bisher weniger beachteten ökonomischen und sozialen Wirkungen der Einführung des Geldes sowie über die Kapitalbildung in den früheren Entwickelungsstadien der Gesellschaft wesentliche Aufschlüsse geliefert. Seine hauptsächliche Wirksamkeit bestand indessen darin, dass er durch die von uns bereits angeführten Erwägungen noch mehr als seine Vorgänger unsere Vorstellungen von dem einschränkte, was die aprioristische Methode zu leisten vermag. In der Tat beseitigte er die Annahme, dass sie je den Zweig der allgemeinen Gesellschaftswissenschaft schaffen könne, welcher den Reichtum zum Gegenstande hat. Was die Beziehungen der Volkswirtschaftstheorie zu den übrigen Gebieten der Gesellschaftslehre anlangt, so hält er dafür, dass die »abstrakte« Wissenschaft sie mit Recht unbeachtet lässt. Sie berücksichtigt weder die Unterschiede in den menschlichen Bedürfnissen, noch die sozialen Ergebnisse der verschiedenen Arten ihrer Befriedigung, wenigstens sofern diese nicht die Produktion des Reichtums beeinflussen. Ihrer Auffassung zufolge »verdienen ein Krug Bier und ein Gemälde – ein religiöses Werk und ein Kartenspiel gleichmässig Aufmerksamkeit«. Sie lässt daher freien Spielraum für eine Wissenschaft, welche sich die Aufgabe stellt, einerseits den Reichtum als eine gesellschaftliche Tatsache in allen seinen aufeinanderfolgenden Formen und Wandlungen zu studieren, und andrerseits ihn in seiner wahren Bedeutung als Werkzeug zur sittlichen sowohl als materiellen Erhaltung und Entwickelung menschlicher Gesellschaften zu würdigen.

Es ist hier der geeignete Ort, obwohl es eine kleine Abschweifung mit sich bringt, einer weiteren Einschränkung der Aufgaben der deduktiven Methode zu erwähnen, auf welche H. Sidgwick in seinem unlängst erschienenen bedeutenden wirtschaftswissenschaftlichen Werke (Principles of political economy, 1883, 2. ed. 1887) treffend hinweist. Dieser Schriftsteller macht die Beobachtung, dass J. S. Mill, während er das aprioristische Verfahren als die richtige Methode der Wissenschaft bezeichne und erkläre, dass »sie von all' deren ausgezeichnetsten Lehrern als solche aufgefasst und gelehrt worden sei«, dass Mill selbst bei der Behandlung der Produktion eine induktive (oder wenigstens eine sich von der deduktiven wesentlich unterscheidende) Methode befolge und zu seinen Resultaten gelange, indem »er einzig und allein unsere gewöhnliche, erfahrungsmässige Kenntnis der Tatsachen des Wirtschaftslebens analysiert und systematisiert«. Zur Erklärung dieser kennzeichnenden Unbeständigkeit macht Sidgwick darauf aufmerksam, dass Mill, als er damit beschäftigt gewesen sei, allgemeine Grundsätze hinsichtlich der Methode aufzustellen, nur die Statik der Verteilung und des Austausches im Auge hatte. Auf letzterem Gebiete, meint Sidgwick, erweise sich die aprioristische Methode – unter der Voraussetzung einer entwickelten industriellen Gesellschaft – »im wesentlichen nicht als falsch oder irreleitend«, wenn sie nur mit Vorsicht verfolgt werde, wenn ferner die vereinfachten Prämissen richtig gedacht seien und die Schlüsse »durch eine ungefähre Veranschlagung der in den Prämissen nicht berücksichtigten Elemente modifiziert würden«. Ihre Schlüsse seien hypothetisch gültig, »insofern sie aber als Mittel zur Auslegung und Erklärung konkreter Tatsachen dienen sollen, ist ihr Nutzen davon abhängig, dass sie in Verbindung mit einer möglichst umfassenden Kenntnis der Ergebnisse der Beobachtung und Induktion Anwendung finden«. Gegen diese Ausführung lässt sich unseres Erachtens nichts einwenden, obwohl wir geneigt sind, in der von der Hypothese ausgehenden Deduktion eher einen gelegentlich brauchbaren, als solcher sowohl auf diesem wie auf anderen Forschungsgebieten vollkommen berechtigten logischen Behelf zu erblicken als die Hauptform der Methode in irgend einer Abteilung der Wirtschaftstheorie. Indem Sidgwick die Deduktion in Fragen der Verteilung auf »einen Stand der Dinge« beschränkt, »der als das Vorbild gilt, welchem sich die zivilisierte Gesellschaft im allgemeinen nähert«, scheint er mit Bagehot der Meinung zu sein, dass für solche Zeiten und Oertlichkeiten, welche diesem Vorbild nicht entsprechen, die historische Methode Anwendung finden müsse – eine Methode, welche, wie hier bemerkt sei, die »gedankliche Zergliederung« der Tatsachen und deren Erklärung »aus den Beweggründen menschlicher Triebe« sowie aus anderen bestimmenden Ursachen nicht ausschliesst, sondern geradezu einschliesst. Was das dynamische Studium des gesellschaftlichen Reichtums anlangt, d. h. der Veränderungen, welche sowohl in dessen Verteilung als auch in dessen Produktion eintreten, so gibt Sidgwick zu, dass hierbei die aphoristische Methode »nur eine sehr untergeordnete Stelle einnehmen kann«. Wir würden uns dahin äussern, dass sie auch hier, wenn auch nur in geringerem Umfange, als logischer Behelf bisweilen nützlich sein kann, obzwar die angenommenen Hypothesen nicht dieselben sein dürften wie die für eine reife Wirtschaftsstufe zutreffenden. Das Hauptwerkzeug muss indessen die historische Methode bleiben, welche die verschiedenen Phasen gesellschaftlicher Entwickelung vergleichend erforscht.

Mit der Theorie der neuzeitlichen Wirtschaft im Zusammenhang steht ein Thema, welches Bagehot, obwohl nur nebenbei, viel befriedigender behandelte als seine Vorgänger – nämlich die Tätigkeit des Unternehmers, in welchem sowohl Mill als Cairnes kaum etwas anderes sehen als den Kapitaleigentümer. Es ist ganz merkwürdig, in wie geringem Masse in den »Leitenden Grundsätzen« des letzteren die tätige Mitwirkung des Unternehmers berücksichtigt wird. Bagehot tritt dem, in der Regel zur Bezeichnung seiner »Vergütung« gebrauchten Ausdruck »Lohn für die Oberaufsicht« mit dem Bemerken entgegen, dass diese Bezeichnung durchaus irrtümliche Begriffe über die Natur seines Wirkens aufkommen lasse, und schildert in trefflicher Weise das weite und abwechselnde Feld seiner Tätigkeit und Nützlichkeit sowie die ungewöhnliche Vereinigung von natürlichen Anlagen und erworbenen Fähigkeiten, mit denen der Unternehmer ausgerüstet sein muss. Es ist wohl kaum zweifelhaft, dass Nationalökonomen zuweilen nur durch eine vorgefasste Meinung zu gunsten des sogenannten Genossenschaftssystems verleitet worden sind, diese wichtigen Punkte zurücktreten zu lassen. In letzter Zeit sind sie in den systematischen Darstellungen der Professoren Marshall und Walker in das gehörige Licht gerückt worden; indessen haben diese Schriftsteller den Grundsatz, nach welchem sich der Betrag des Unternehmerlohn's bestimmt, wohl kaum klargelegt und sicherlich nicht gerechtfertigt.

Wie wir sahen, hatte Jones durch seine dogmatische Lehre die Stellung der neuen Schule in einem gewissen Grade schon vorweg genommen. Ferner sind bedeutende Werke über den Gang der englischen Wirtschaftsgeschichte geliefert worden insbesondere von Thomas Tooke und William Newmarch, »Geschichte der Preise« (History of prices, 1838-57, deutsch von Asher, 1858), von James E. Thorold Rogers, »Geschichte der Landwirtschaft und der Preise in England« (History of agriculture and prices in England, 1866-88) Rogers hat auch ein Werk über die ersten 9 Jahre der Bank von England (»The first nine years of the Bank of England«, 1887) veröffentlicht.. Die erste systematische Rechenschaft indessen, welche ein englischer Schriftsteller von der philosophischen Grundlage der historischen Methode als des geeigneten Werkzeugs wirtschaftlicher Forschung gegeben, findet sich in einem Aufsatz von T. E. Cliffe Leslie (zum erstenmale in der Dubliner Universitäts-Zeitschrift »Hermathena«, 1876, erschienen und später seinen »Essays moral und political«, 1879, einverleibt). Dieser Aufsatz war das Bedeutendste, was über die logische Seite der Wirtschaftswissenschaft seit dem Mill'schen Essay in seinen »Ungelösten Fragen« veröffentlicht wurde, denn obwohl die Mill'schen Ansichten durch Cairnes erweitert und erläutert worden, hatte dieser in Wahrheit ihrem wesentlichen Inhalt doch nur wenig hinzugefügt. Der Standpunkt Leslie's ist dem ihrigen geradezu entgegengesetzt. Kräftig und schwungvoll kritisiert er die Grundsätze und das Verfahren der »orthodoxen« Schule. Wer mit dem bekannt ist, was Knies und andere Deutsche über dieses Thema geschrieben, wird die Frische und Ursprünglichkeit der Leslie'schen Darstellung zu schätzen wissen. Er legt das Haltlose und Unbestimmte des Grundsatzes dar, auf welchen die klassischen Nationalökonomen alle Erscheinungen, mit denen sie zu tun haben, zurückführen wollen, auf »das Streben nach Reichtum«. Dieser Ausdruck vertritt tatsächlich eine Mannigfaltigkeit von Bedürfnissen, Wünschen und Empfindungen, die sowohl in Wesen als wirtschaftlichen Wirkungen ganz erheblich von einander abweichen und in den verschiedenen aufeinanderfolgenden Stufen der gesellschaftlichen Bewegung wesentlichen Veränderungen unterliegen (was übrigens auch mit den Bestandteilen des Reichtums selbst der Fall ist). In Wahrheit gibt es viele verschiedene wirtschaftliche Triebkräfte, sowohl altruistische als egoistische, und es geht nicht an, sie alle durch eine derartige grobe Verallgemeinerung zusammenzufassen. Die aprioristische und rein deduktive Methode vermag keine Erklärung der Ursachen zu liefern, welche einerseits die Natur oder die Summe des Reichtums, andrerseits die Mannigfaltigkeiten der Verteilung innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Systeme, wie z. B. in jenen Frankreichs und Englands, regeln. »Die gesamte Wirtschaft jeder Nation ist das Ergebnis einer langdauernden Entwickelung, die sowohl Stetigkeit als Wechsel aufweist und sich in ihrer wirtschaftlichen Seite nur unter einem besonderen Gesichtspunkte darbietet. Und die Gesetze, deren Ergebnis sie ist, sind in der Geschichte und in den allgemeinen Gesetzen der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Entwickelung zu suchen«. Die geistigen, sittlichen, rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Seiten des gesellschaftlichen Fortschrittes sind unauflöslich miteinander verknüpft. Es sind also durch die gesellschaftliche Bewegung hervorgerufene juristische Tatsachen, welche sich auf Eigentum, Beschäftigungsweise und Erwerb beziehen, auch zugleich wirtschaftliche Tatsachen. Und allgemeiner, »die wirtschaftliche Lage der englischen« oder irgend einer anderen »Gesellschaft unserer Tage ist das Ergebnis der Gesamtbewegung, welche die staatliche Verfassung, den Bau der Familie, die Religionsformen, die gelehrten Berufe, die Künste und Wissenschaften, den Zustand der Landwirtschaft, der Gewerbe und des Handels entfaltet hat«. Um existierende wirtschaftliche Verhältnisse verstehen zu können, müssen wir ihre geschichtliche Entwickelung verfolgen, und die »philosophische Methode der Volkswirtschaftslehre muss derartig beschaffen sein, dass sie diese Entwickelung zu erklären vermag«. Der Essay war eine deutliche Herausforderung, welche sich gegen die auf seiten der alten Schule hinsichtlich der Methode gehegten Anschauungen richtete, und wenn auch die darin enthaltenen Folgerungen manche Entgegnungen hervorriefen, so sind doch die Gründe, auf welche sie sich stützen, niemals widerlegt worden.

In betreff der dogmatischen Verallgemeinerungen der »orthodoxen« Nationalökonomen war Leslie der Meinung, dass einige falsch seien und sämtliche vorsichtiger Einschränkung bedürften. Schon im Beginne seiner wissenschaftlichen Laufbahn hatte er die Haltlosigkeit der Lohnfondstheorie dargetan, was übrigens schon vor ihm durch F. D. Longe geschehen war »Widerlegung der Lohnfondstheorie der modernen Volkswirtschaftslehre« (Refutation of the wage-fund theory of modern political economy, 1866). Leslie behandelte den Gegenstand in einem Artikel in Fraser's Magazine, July 1868, welcher übrigens auch seinem Werke »Land Systems and industrial economy of Ireland, England and continental countries«, 1870, als Anhang beigefügt ist.. Er verwarf die Theorie von einem Durchschnittssatze der Lohn- und Kapitalgewinne und liess einen solchen höchstens unter den von Adam Smith aufgestellten Beschränkungen gelten, welche einen »einfachen und nahezu stationären Zustand« der Wirtschaftswelt voraussetzen. Nach seinem Dafürhalten hatte die landläufige Annahme sowohl eines durchschnittlichen Lohnsatzes als eines Lohnfonds viel Unheil angerichtet, »indem sie die wirklichen Lohnsätze, die wirklichen Ursachen, welche sie beherrschen, und die wirklichen Quellen, aus denen die Löhne fliessen, übersehen liess«. Er entdeckte, dass die von ihm mit vieler Mühe gesammelten Tatsachen überall der Theorie widersprachen. In jedem Lande gibt es tatsächlich »eine grosse Anzahl von Lohnsätzen, und es handelt sich vor allem darum, die Ursachen zu erkunden, welche diese verschiedenen Sätze hervorrufen«. Hinsichtlich der Kapitalgewinne leugnet er, dass es irgend welche Mittel gebe, sich von den Gewinnen und Aussichten aller Arten von Kapitalsanlagen zu überführen und bezeichnet die Annahme, dass irgend ein Kapitalist das gesamte fragliche Gebiet überschaue, als eine blosse Erdichtung. Wir sahen, dass Bagehot die Theorie von einem innerhalb einer Nation vorhandenen gleichmässigen Stand der Löhne und Kapitalgewinne aufgab und sie nur für den besonderen Fall einer industriellen Gesellschaft aufrecht erhielt, wie ihn das gegenwärtige England darbietet. Leslie lässt sie indessen selbst für eine solche Gesellschaft nicht gelten. Mit dieser Theorie fällt zugleich jene von den Produktionskosten als preisbestimmenden Ursachen, und es ergibt sich der Grundsatz, dass es nicht die Produktionskosten, sondern Angebot und Nachfrage sind, von welchen sowohl die einheimischen als die internationalen Werte abhängen; doch bedarf diese Formel nach mancher Seite hin der Klärung, bevor sie mit Sicherheit und Nutzen Anwendung finden kann. Leslie dehnt somit die teilweise Leugnung des älteren Dogmas, welcher Cairnes durch seine Idee von nicht mit einander wetteifernden Gruppen Eingang verschafft hatte, auf die Gesamtheit der nationalen Wirtschaft aus. Selbstverständlich bestreitet er nicht, dass die Produktionskosten innerhalb des beschränkten Gebiets, in welchem sowohl Lohn- als Gewinnsätze bestimmt und bekannt sind, auf den Preis einen tatsächlichen Einfluss üben, behauptet indessen, dass ihre Wirkung im grossen Massstabe viel zu weit abliege und zu ungewiss sei, als dass wir berechtigt wären, sie als Regulatoren des Preises zu behandeln. Ist letzteres aber der Fall, so verschwindet das ganze, von Ricardo auf der Grundlage der Identität von Produktionskosten und Preis errichtete Gebäude mitsamt seiner scheinbaren, aber nicht wirklich vorhandenen Einfachheit, Ebenmässigkeit und Vollkommenheit, und der Boden ist für den Neubau geebnet, welcher dessen Stelle einnehmen muss. Leslie sagt voraus, dass, falls die Volkswirtschaftslehre als solche sich nicht der Aufgabe unterziehen sollte, einen solchen Bau zu errichten, die Gesellschaftslehre ihr unverzüglich diese Arbeit abnehmen werde.

Leslie beschäftigte sich erfolgreich mit dem Studium verschiedener spezieller Gebiete der Volkswirtschaftslehre, so mit jenen der Landwirtschaft, der Besteuerung, der Verteilung der Edelmetalle, der Geschichte der Preise und, wie erwähnt, der Lohnbewegung. Seine wichtigste, da zeitgemässeste und notwendigste Arbeit bezieht sich indessen auf die Methode und die Grundlehren der Wissenschaft. Und wenn auch seine Laufbahn im Interesse der Wissenschaft zu früh endete, und vieles von dem, was er geschaffen, das Merkmal des nur zufällig Entstandenen und Bruchstückartigen trug, so werden seine Leistungen doch jene mancher anderen überragen, welche systematischere, sorgfältiger ausgearbeitete und anspruchsvollere Werke hinterlassen haben.

Einer der ursprünglichsten der neueren englischen nationalökonomischen Schriftsteller war W. Stanley Jevons (1835-1882). In ihm vereinigten sich Vorliebe und natürliches Geschick für exaktes statistisches Forschen mit Scharfsinn und geistreicher Auffassung in der Auslegung der Ergebnisse in einem Masse, welches an Petty erinnert. Er hegte eine stark ausgesprochene Neigung, die Wirtschaftstheorie in enge Beziehung zur Naturwissenschaft zu bringen. Besonderes Interesse erregte in der Oeffentlichkeit sein Versuch einer Kapitalisierung unserer Kohlen-Hilfsquellen. Sein Gedanke eines Zusammenhangs zwischen der Wiederkehr von Handelskrisen und der Periode der Sonnenflecken zeugte von einer fruchtbaren und kühnen wissenschaftlichen Einbildungskraft, doch kann man nicht sagen, dass ihm der Nachweis einer derartigen Beziehung gelungen sei. Er war Verfasser einer trefflichen Abhandlung über Geld und Geldverkehr (»Money and the mechanism of exchange«, 1875; deutsch 1876) sowie verschiedener Aufsätze über Geldumlaufsmittel und Finanzwesen. Letztere sind nach seinem Tode gesammelt herausgegeben worden; sie enthalten scharfsinnige Erörterungen über einschlägige Themata, so z. B. über die Doppelwährung (mit entschiedener Neigung zu gunsten einer alleinigen Goldwährung), ausserdem verschiedene schätzenswerte Anregungen, wie z. B. hinsichtlich des vollkommensten Systems der Umlaufsmittel, sowohl der heimischen als der internationalen, und insbesondere hinsichtlich der Ausdehnung des Papiergeldes in England auf kleinere Beträge. In anderen Schriften (unter dem Titel »Methods of social reform« 1883 herausgegeben) schlug er eine Reihe von Massregeln vor, welche nur teilweise einen wirtschaftlichen Charakter trugen und insbesondere die Hebung der arbeitenden Klassen im Auge hatten; eine der wichtigsten betrifft die Verhältnisse der Arbeit verheirateter Frauen in Fabriken. Es ist dies eine der mehrfachen Gelegenheiten, bei welchen er den Grundsatz des »laisser faire« verwarf, den er übrigens am klarsten und überzeugendsten in seinem Buche über das Verhältnis des Staates zur Arbeit (The State in relation to labour, 1882) widerlegt hat, ohne dabei seine jederzeit behauptete Stellung als Anwalt des Freihandels aufzugeben. Gegen Ende seiner Laufbahn, welche vorzeitig schloss, entledigte er sich immer mehr »des drückenden Alps metaphysischer Begriffe und Redewendungen«, die noch der Erkenntnis sozialer Tatsachen im Wege ständen oder deren Würdigung erschwerten. Er kam, wie er selbst sagt, immer mehr zu dem Schlusse, »dass man nur dann hoffen könne, zu einem wahren System der Wirtschaftstheorie zu gelangen, wenn man ein für allemal die verkehrten und abgeschmackten Voraussetzungen der Ricardo'schen Schule zur Seite werfe«. In betreff der Methode hatten seine Anschauungen wohl keine endgültige Gestalt angenommen, obschon er erklärt, dass sein Streben darauf gerichtet sei, »die verwickelten Erscheinungen des Handels und der Industrie induktiv zu erforschen«. Der Herausgeber einiger seiner nachgelassenen Schriften sieht davon ab, die von ihm der historischen Schule gegenüber beobachtete Haltung klarzustellen. Die weitgehendsten Andeutungen, die wir in dieser Hinsicht besitzen, finden sich in einem, im Jahre 1876 gehaltenen Vortrag über die Zukunft der Volkswirtschaftslehre (On the future of political economy). Er erkannte die Wichtigkeit und das Bedürfnis geschichtlicher Forschung auf dem Gebiet der Volkswirtschaftstheorie, – eine Art des Studiums, welche er selbst vermöge eines natürlichen Hanges nach einigen Richtungen hin verfolgte. Doch begriff er wohl schwerlich die volle Bedeutung der historischen Methode, welche er irrtümlich der »theoretischen« gegenüberstellte, und hegte anscheinend die Meinung, dass sie sich allein damit befasse, gewisse abstrakte, auf unabhängigen Grundlagen ruhende Theorien durch Tatsachen zu bewahrheiten und zu erläutern. Während er sich zu gunsten einer »gründlichen Umgestaltung und Rekonstruktion« aussprach, suchte er daher das aprioristische Verfahren neben und als Mitbewerber dem geschichtlichen zu erhalten. Seiner Ansicht nach stand die Volkswirtschaftslehre allerdings im Begriffe, sich in mehrere, und wahrscheinlich viele verschiedene Forschungszweige aufzulösen, unter denen die »Theorie«, wie diese von seinen besten Vorgängern, insbesondere von den der französischen Schule angehörenden, hinterlassen worden, einen hervorragenden Platz behaupten, während einen anderen Zweig die »geschichtliche Forschung« darstellen würde, wie sie in England Jones, Rogers und andere verfolgt hätten und wie sie in ihren allgemeinen Grundzügen durch seinen Zeitgenossen Cliffe Leslie verkündet worden sei. Es war dies eine jener eklektischen Anschauungen, welche keinen dauernden Wert haben, jedoch insofern von Nutzen sind, als sie einen Uebergang erleichtern. Die beiden Methoden werden zweifellos eine Zeitlang nebeneinander bestehen, doch wird die historische ihre Nebenbuhlerin unvermeidlich verdrängen. Was Jevons unter der »Theorie« verstand, wollte er durch mathematische Methoden behandeln (vgl. seine »Theory of political economy«, 1871; 2. ed., 1879). Wie wir sahen, hatten schon andere vor ihm diesen Gedanken gehegt und teilweise auch verwirklicht, allein er vermehrt die Zahl derartiger früherer Versuche unzutreffend, wenn er z. B. Ricardo und J. S. Mill als mathematische Schriftsteller anführt, weil sie hie und da die Bedeutung ihrer Sätze durch Zuhilfenahme bestimmter arithmetischer Grössen veranschaulichten. Derartige Veranschaulichungen, von denen wir eine Probe in der Mill'schen Behandlung des Themas vom internationalen Handel besitzen, haben mit dem Gebrauch der Mathematik zu Zwecken der wirtschaftlichen Forschung, oder sogar zur Ueber-, Neben- und Unter-Ordnung wirtschaftlicher Wahrheiten tatsächlich nichts zu tun. Wir haben bereits gelegentlich der Besprechung Cournot's erklärt, warum unseres Erachtens die Anwendung der Mathematik im höheren Sinne auf die Volkswirtschaftstheorie notwendig ihr Ziel verfehlen muss, und wir glauben nicht, dass sie in Jevons' Händen von Erfolg begleitet war. Seine Idee eines »Grenznutzens« (final utility) zeugt von Scharfsinn. Sie ist jedoch nichts weiter als eine Art und Weise der Darstellung des Preisbegriffes in dem Falle, wo es sich um Waren handelt, die von gleichartiger Beschaffenheit sind und eine Vermehrung durch Hinzufügung unendlich kleiner Grössen gestatten, und die Hoffnung, mittelst ihrer die wirtschaftliche Theorie einer mathematischen Methode unterwerfen zu können, wird sich als trügerische erweisen. Als das Ergebnis eines hundert Seiten langen mathematischen Raisonnements bietet er Theory of political economy, 2. ed., p. 103., was er eine »überraschende Schlussfolgerung« Fortnightly review, November 1876, p. 617. nennt, in welcher der »Schlussstein der gesamten Lehre vom Austausche und der Hauptprobleme der Volkswirtschaftstheorie liegt«. Es ist dies der Satz, dass »das Austauschverhältnis zweier Waren gleich ist dem umgekehrten Verhältnis der letzten Nützlichkeitsgrade der nach vollendetem Austausch zu Konsumtionszwecken verfügbaren Warenmengen«. Nun ist dieses Theorem so lange unkontrollierbar und sogar unverständlich, als wir in dem Bereich der als Nützlichkeiten bezeichneten metaphysischen Wesenheiten verweilen, da wir keine Mittel zur quantitativen Schätzung des geistigen Eindrucks eines Grenz- oder irgend eines anderen Nutzens besitzen. Wenn wir es jedoch in die Sprache des wirklichen Lebens übersetzen und den Nutzen, welchen irgend etwas für einen Menschen besitzt, danach bemessen, was dieser dafür geben will, so erscheint der Satz sofort als selbstverständliche Wahrheit. Da das, was Jevons »Grenznutzen« nennt, einfach der Preis pro Mengeneinheit ist, so besagt das Theorem, dass bei einem Tauschvorgang das Produkt der Menge der abgegebenen Ware und ihres (in einem dritten Artikel geschätzten) Preises pro Mengeneinheit gleich dem entsprechenden Produkt der erhaltenen Ware ist – eine so offenkundige Wahrheit, dass es keineswegs der Anwendung der höheren Mathematik bedarf, um sie zu entdecken. Wenn wir nicht auf wesentlichere Ergebnisse rechnen können, als es dieses ist, so liegt hierin keine besondere Ermunterung, derartige Untersuchungen anzustellen, welche in der Tat nichts sind als akademische Spielereien und den sehr realen Missstand mit sich bringen, dass sie die früher verabschiedeten »metaphysischen Begriffe und Wendungen« wiedereinführen. Der Ruf Jevons' als eines scharfsinnigen und kraftvollen, von edlen Sympathien für das Volk erfüllten Denkers ist hinreichend begründet. Wenn aber versucht wird, ihn gegen seinen Willen als Nachfolger und Fortsetzer Ricardo's sowie als einen der Haupturheber der Entwickelung der volkswirtschaftlichen Theorie (wobei unter »Theorie« die alte aphoristische Lehre gemeint ist) hinzustellen, so kann ihn dies in der Achtung nur herabsetzen, da seine Leistungen hierdurch auf einen Boden übertragen werden, der keine Kritik aushält. Sein Name wird fortleben, nicht wegen neuer theoretischer Konstruktionen, sondern wegen seiner Behandlung praktischer Fragen, seiner frischen und lebendigen Darstellung und, wie wir bereits gezeigt haben, seines tatkräftigen Strebens nach einer Erneuerung der wirtschaftswissenschaftlichen Methode.

Arnold Toynbee (1852-1883), welcher, von Wahrheitsliebe und einem feurigen und tätigen Eifer für das allgemeine Wohl erfüllt, ein schönes Andenken hinterliess, war Verfasser einiger bruchstückartiger oder unvollendeter Abhandlungen, welche indessen volle Aufmerksamkeit verdienen, teils wegen ihres inneren Gehaltes, teils als ein Zeichen des Dranges, welcher gegenwärtig alle hochstrebenden Naturen, besonders unter unseren jüngeren Männern, in der Behandlung wirtschaftlicher Fragen beseelt Vgl. seine »Lectures on the industrial revolution in England, with memoir by the Master of Balliol«, 1884, 2. ed. 1887.. Er setzte in die organisierende Fähigkeit der Demokratie ein Vertrauen, welches man nicht leicht teilen wird, und hegte einige seltsame Anschauungen, die wohl jugendlichem Enthusiasmus zuzuschreiben sind, so z. B. wenn er sagt, dass Mazzini »der wahre Lehrer unseres Zeitalters« sei. Ferner verrät er in seinen Ansichten über die Ricardo'sche Volkswirtschaftslehre erhebliches Schwanken: an einer Stelle erklärt er sie als nunmehr enthüllten »geistigen Betrug«, während er an einer anderen, anscheinend unter dem Einflüsse Bagehot's, von ihr sagt, dass sie neuerdings »nur berichtigt, von neuem aufgestellt und in gehörige Beziehung zur Wissenschaft des Lebens« gebracht worden sei, wobei er unter der letzteren vermutlich die allgemeine Gesellschaftswissenschaft versteht. Indessen erkannte er, dass wir für die Zukunft vor allem auf den Beistand der historischen Methode zu rechnen hätten, welche uns bereits erhebliche Dienste geleistet habe, und welche er in seinen eigenen Untersuchungen vorwiegend anwandte. Auch erfasste er ihren wahren Charakter sogar besser, als manche von denen, welche sie empfohlen haben, denn er begriff, dass sie nicht allein die Wirkung erkläre, welche besondere örtliche oder zeitliche Verhältnisse auf wirtschaftliche Erscheinungen ausüben, sondern durch Vergleichung der sozialen Entwickelungsstufen verschiedener Länder und Zeiten »Gesetze von allgemeiner Anwendbarkeit« zu entdecken suche. Wenn, wie wir hören, in Oxford eine stets wachsende Gruppe von Männern besteht, die im Betreff des nationalökonomischen Denkens einen Standpunkt einnehmen, welcher mit dem Toynbee's im wesentlichen übereinstimmt, so berechtigt diese Tatsache zu den besten Hoffnungen für die Zukunft der Wissenschaft.

 

Amerika.

Wie bereits bemerkt, wurde auf dem Gebiete der Volkswirtschaftstheorie in Amerika lange Zeit wenig geleistet. Diese Tatsache, welche hinsichtlich philosophischer Studien überhaupt gilt, lässt sich wohl am natürlichsten dadurch erklären, dass die Kräfte der Nation durch Bestrebungen praktischer Natur vollauf in Anspruch genommen wurden. Weitere Gründe werden in den beiden lehrreichen Aufsätzen des Professors Charles F. Dunbar in der »North American Review«, 1876, und Cliffe Leslie's in der »Fortnightly Review«, Oktober 1880, geltend gemacht.

Alexander Hamilton's Bericht über die Manufakturen haben wir bereits erwähnt. Ferner verdient die Denkschrift, welche von Albert Gallatin (1832) verfasst und dem Kongress von Seiten der in Philadelphia zu gunsten einer Tarifreform tagenden Versammlung überreicht wurde, als eine geschickte Zusammenstellung der Gründe wider den Schutzzoll genannt zu werden. Vom »Völkerreichtum« erschienen in Amerika drei Ausgaben, – 1789, 1811 und 1818 – und Ricardo's Hauptwerk wurde dort im Jahre 1819 nachgedruckt. Die systematischen Darstellungen von Daniel Raymond (1820), Thomas Cooper (1826), Willard Phillips (1828), Francis Wayland (1837) und Henry Vethake (1838) vermittelten die Bekanntschaft mit den Grundsätzen, zu welchen Adam Smith und einige seiner Nachfolger gelangt waren.

John Rae, ein in Canada ansässiger Schotte, veröffentlichte (1834) »Statements of some new principles on the subject of political economy, exposing the fallacies of the system of free trade and of some other doctrines maintained in the Wealth of Nations« Vgl. darüber Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, Band I, 2. Auflage, 1900, S. 375 ff., von J. S. Mill (1. Buch, 11. Kap.) besonders wegen der darin enthaltenen Behandlung der die Kapitalanhäufung bestimmenden Ursachen sehr gelobt. Als die hauptsächlichsten der hierauf bis zur Zeit des Bürgerkriegs erschienenen Werke sind zu nennen: Francis Bowen's »Principles of political economy«, 1856, – später unter dem Titel »American political economy«, 1870, erschienen,– John Bascom's »Political economy«, 1859, und Stephen Colwell's »Mittel und Wege der Zahlung« (Ways and means of payment, 1859). Während des Krieges und des darauf folgenden Zeitraums erschienen Amasa Walker's »Science of wealth«, 1866; 18. ed. 1883, und A. L. Perry's »Elements of political economy«, 1866. A. Walker und Perry sind Freihändler; Perry ist ein Schüler Bastiats. Carey haben wir bereits ziemlich eingehend besprochen. Seine amerikanischen Anhänger sind: E. Peshine Smith (Manual of political economy, 1853; deutsch von Stöpel, 1878), William Elder (Questions of the day, 1871) und Robert E. Thompson (Social science, 1875). In hohem Ansehen steht der Name des Generals Francis A. Walker (Sohn Amasa Walker's), Verfasser von Schriften über die Lohnfrage (Wages question, 1876, 2. ed., 1891) und über das Geldwesen (Money, 1878, 3. ed. 1891), sowie einer ausgezeichneten Gesamtdarstellung (Political economy, 1883, 2. ed. 1887). Ferner sind zu erwähnen J. B. Clarks Werk über die Verteilung (Distribution of wealth, 1900) und S. N. Patten's »theory of welfare«, 1902. Die hauptsächlichsten Werke über die Wirtschaftsgeschichte Amerika's sind jene von A. S. Bolles: »Industrial history of the United States« (1880) und »Financial history of the United States 1774 bis 1885«, 1883–1886 erschienen Weitere Auskunft über die Geschichte der Wissenschaft in Amerika findet sich in Robert E. Thompson's Artikel »Political Economy« der »Encyclopaedia Americana«..

Die gründlichere und umfassendere Art des wirtschaftlichen Studiums, welche in den letzten Jahren in Amerika die Oberhand gewonnen, hat im Verein mit den auswärtigen Einflüssen auch in Amerika eine Spaltung der Nationalökonomen in zwei Schulen hervorgerufen, in eine alte und in eine neue Schule, ähnlich denen, welche wir anderwärts als einander gegenüberstehend angetroffen haben. Im September 1885 fand zu Saratoga eine Zusammenkunft statt, auf welcher eine Gesellschaft unter dem Namen »The American Economic Association« gegründet wurde. Diese Bewegung bezweckte, der Auffassung entgegenzutreten, dass das Gebiet des wirtschaftlichen Forschens abgeschlossen sei, und ferner ein eingehenderes und ergiebigeres Studium nationalökonomischer Fragen zu fördern. Derselbe Geist veranlasste die Gründung des »Quarterly Journal of Economics«, welches in Boston auf Kosten der Harvard-Universität erscheint und Ausgezeichnetes zu leisten verspricht. Der erste Artikel dieser Zeitschrift ist von C. F. Dunbar geschrieben, dessen Bericht über ein Jahrhundert amerikanischer Volkswirtschaftslehre wir bereits angeführt haben, und welcher in diesem Artikel im Interesse einer Versöhnung die Bestrebungen der beiden Schulen auseinandersetzt.

Der Zwiespalt der Meinungen ist scharf in einem Streite über die Methode und die Hauptgrundsätze der Volkswirtschaftstheorie zum Ausdruck gelangt, welcher in den Spalten der Zeitschrift »Science« ausgefochten wurde, und dessen Verhandlungen später ein »Science economic discussion«, Newyork 1886, betitelter Band veröffentlicht. In diesem Streite wurden die Anschauungen der neuen Schule mit grossem Geschick entwickelt und befürwortet. Die wahre Natur der wirtschaftswissenschaftlichen Methode, die Relativität sowohl wirtschaftlicher Einrichtungen als des wirtschaftswissenschaftlichen Denkens, welche ihren Ursprung hat in der Abhängigkeit letzterer von wechselnden sozialen Bedingungen, der enge Zusammenhang der ökonomischen Doktrin mit der zeitgenössischen Rechtswissenschaft, die Notwendigkeit, Wirtschaftstheorie und soziale Sittenlehre im Einklang zu erhalten, und die, von J. S. Mill und anderen geleugnete Wichtigkeit eines Studiums der Konsumtion – alles dies wurde klar und überzeugend dargelegt Von den Beitragliefernden gehörten der neuen Schule an: Dr. Edwin R. A. Seligman, Professor E. J. James, Professor Richard T. Ely, Henry C. Adams, Richmond Mayo Smith und Simon N. Patten. Die alte Schule war vertreten durch Professor Simon Newcomb, F. W. Taussig und Arthur T. Hadley.. Man hat allen Grund, mit Leslie den Glauben zu hegen, dass Amerika kräftig dabei sein wird, die wirtschaftswissenschaftlichen Aufgaben der Zukunft zu formulieren und ihre Lösung auszuarbeiten.

 

Englische Nationalökonomen der Gegenwart.

Es liegt nicht in unserer Absicht, ein Urteil über die Werke der zeitgenössischen englischen Schriftsteller abzugeben – ein Urteil, welches im allgemeinen kein abschliessendes sein könnte und dem Vorwurf der Parteilichkeit in höherem Masse ausgesetzt sein würde als eine Würdigung lebender Schriftsteller des Auslandes. Indessen seien als Fingerzeige für den Studierenden einige Aeusserungen gestattet, die von Fachleuten wohl kaum bestritten werden dürften. Die beste gedrängte Darstellung der Volkswirtschaftslehre, welche im wesentlichen mit dem Mill'schen Werk übereinstimmt, findet sich in Fawcett's »Manual«, (6. ed., 1884). Wer indessen die Ansprüche der neuen Schule teilweise anerkennt, wird Alfred Marshall's Ein neueres Werk dieses Autors sind die »Principles of political economy,« Vol. I, 1890, 4. ed., 1898. und seiner Frau »Economics of industry« (3. ed., 1899) vorziehen. In mancher Hinsicht besser als eines der beiden genannten ist die bereits erwähnte »Political economy« des amerikanischen Schriftstellers Francis A. Walker. Weitere verdienstvolle Werke sind J. E. T. Roger's »Manual of political economy«, 1870, John Macdonell's »Survey of political economy«, 1871, und John L. Shadwell's »System of political economy«, 1877. Professor W. E. Hearn's »Plutology« (1864) enthält eine der tüchtigsten vorhandenen Bearbeitungen der Lehre von der Produktion. Goschen's Werk über die ausländischen Wechselkurse (Theory of foreign exchanges, 10. ed. 1879, deutsch von Stöpel, 1875) ist das Beste, was über diesen Gegenstand existiert. Macleod hat anerkannt Brauchbares zur Theorie des Bankwesens geliefert, obwohl sein allgemeines wirtschaftswissenschaftliches System (Elements of economics, 2 vols, 1886-99) keinen Anklang fand. Professor Rogers' »Arbeit und Löhne in sechs Jahrhunderten« (Six centuries of work and wages, 1884) ist das zuverlässigste Werk über die Wirtschaftsgeschichte Englands für den von ihm behandelten Zeitraum. W. Cunningham's »England's Industrie und Handel in ihrem Entstehen und Werden« (Growth of english industry and commerce, 1882, 2. ed. 1890-92) unterrichtet uns über das Merkantilsystem. Dr. W. Neilson Hancock verrät in einer grossen Zahl von Schriften eine ausgedehnte und genaue Kenntnis der sozialen Wirtschaft Irland's. W. J. Ashley ist Verfasser von »An introduction to economic history and theory«, 2 vols, 1888-93; (deutsch von Oppenheim, 2 Bände, 1896; als Band 7 und 8 der von Leser und Brentano herausgegebenen »Sammlung älterer und neuerer staatswissenschaftlicher Schriften«) und von »Surveys, historic and economic«, 1900. Schmoller bezeichnet ihn und Cunningham als die ersten englischen durchgebildeten Wirtschaftshistoriker. (Grundriss I, S. 120).

Wir dürfen hier das Werk Sidgwick's (The Principles of political economy, 2. ed. 1887) nicht übergehen, auf welches wir uns bereits aus besonderer Veranlassung bezogen haben. Man wird nicht umhin können, der gewissenhaften und eindringenden Kritik, welche er dem aprioristischen System der Wirtschaftstheorie in dessen reifster Gestalt zuteil werden lässt, Anerkennung und Bewunderung zu zollen. Allein es bleibt immerhin fraglich, ob es weise gehandelt war, sich auf ein solches Unternehmen einzulassen. Es kann nicht dauernd unsere Aufgabe sein, mit dem Verbessern und Einschränken der Ricardo'schen Lehren fortzufahren und zuzusehen, ob man es nicht durch irgendwelche besondere Auslegungen von Redewendungen oder durch nachträgliche Milderungen dahin bringen könne, dass ihnen noch immer ein gewisser Wert beigemessen wird. Die Zeit für einen Neubau ist gekommen, und diesem oder wenigstens der Erforschung seiner Bedingungen sollte die Tätigkeit zuständiger, mit der gehörigen wissenschaftlichen Vorbildung ausgerüsteter Denker gewidmet sein. Es steht zu befürchten, dass Sidgwick's Werk, anstatt, wie er hofft, »unnötige Streitigkeiten zu bannen«, vielmehr dazu beitragen wird, »den unfruchtbaren Hader« und »müssigen Wortstreit« wieder zu beleben, welchen Comte an den früheren Nationalökonomen tadelte. Von Interesse ist übrigens die Wahrnehmung, dass gerade jener Teil des Buches der anerkannt wertvollste ist, in welchem er, die Erdichtungen der alten Schule abschüttelnd, selbständig im Lichte der Beobachtung und Analyse die Frage der wirtschaftlichen Wirksamkeit der Regierungen einer Prüfung unterzieht.


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