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Die sozialen Reformen

Der Kaiser hatte seine Gedanken über Streik und Arbeiterschutz zu festem Entschluß zusammengefaßt. Die Berichte des Oberpräsidenten der Rheinprovinz von Berlepsch hatte er nicht nur mit Hinzpeter und dem ihm befreundeten Bergwerksbesitzer Grafen Douglas durchgesprochen. Er hatte sich vor allem Statistiken aus allen Kohlenrevieren besorgt und erkannte die Notwendigkeit einer Besserung der Verhältnisse unter den Arbeitern zunächst aus gerechtem, menschlichem Empfinden an. Er sah sie auch aus praktischer Politik ein: die Neigung zu Umtrieben der Arbeiter mußte aufhören, wenn ihnen die Lebenssorgen genommen waren. Auch sie sollten lernen, daß sie im Falle der Gefahr ein Vaterland verteidigten, darin sich leben ließ. Dreimal hatte der Kaiser im Ablauf des Herbstes dem Fürsten Bismarck mitteilen lassen, daß er »eine Novelle über Arbeiterschutz« und eine anschließende Order vorgelegt wünsche, mit deren Veröffentlichung das große Reformwerk beginnen sollte. Er hatte den Kanzler darum erst gebeten, dann hatte er »ersucht«, endlich den Fürsten »seine Wünsche wissen lassen«. Fürst Bismarck hatte erst gar nicht, dann mit kurzem, ablehnendem Bescheid geantwortet. Aber der Kaiser war nicht geneigt, sich von seinen Plänen deshalb loszusagen. Er befahl einen Kronrat.

»Um Gottes willen, fangen Euere Majestät damit nicht an!« rief außer sich der Staatsminister von Bötticher, als der Kaiser ihm seinen Entschluß mitteilte, »denn der Fürst will von dem Anrühren der Arbeiterfrage nichts wissen!«

Für den Kronrat hatte der Kaiser eine Denkschrift ausgearbeitet. Er war für die Reform sichtlich Feuer und Flamme geworden, er brannte vor Eifer. Jetzt ließ er sich den Führer der Konservativen von Helldorff kommen. Seine Partei hatte den Wunsch ausgesprochen, daß der Kaiser den Abgeordneten noch höre, bevor am nächsten Tage endgültig über das Sozialistengesetz und damit über die Regierungsmehrheit des Kartells entschieden werde. Der Abgeordnete legte dem Kaiser dar, daß es für seine Partei unmöglich wäre, die Annahme des Sozialistengesetzes zu unterstützen, wenn die Vorlage der Regierung auf der Beibehaltung des Ausweisungsparagraphen 24 bestünde. Alle sozialdemokratischen Aufwiegler und Ruhestörer, die die Behörden damit aus den Städten abschaffen könnten, würden so in die Dörfer getrieben. Es wäre die Angst der Konservativen, daß die aus den Städten Verwiesenen ihnen die Bauern aufhetzten.

»Ich allein kann hier nichts machen«, erwiderte der Kaiser, »aber ich werde mich der Sache annehmen. Sie ermächtigen mich also, dem Fürsten zu erklären, daß Ihre Partei ihm die Durchbringung des Gesetzes verbürgt, wenn die Bestimmung fortfällt. Andernfalls müssen Sie ihm die Gefolgschaft kündigen.«

Der Abgeordnete von Helldorff stimmte zu und ging. Am Mittage traf Fürst Bismarck aus Friedrichsruh ein. Durch einen Depeschenwechsel mit dem Staatssekretär war er nur in unklaren Umrissen unterrichtet, daß Arbeiterfragen auf dem Programm des Kronrats stünden. Noch von Friedrichsruh aus hatte er einen Ministerrat für die dritte Nachmittagsstunde angesetzt, um die Haltung des Kabinetts gegenüber den kommenden Ereignissen zu regeln.

»Er wisse nicht, was im heutigen Conseil verhandelt werden solle«, setzte er den Ministern auseinander, »es sei ihm ohne weitere Vorbereitung durch einen Flügeladjutanten mitgeteilt worden, Seine Majestät wolle einen Kronrat abhalten. Was der Gegenstand der Beratung sein solle, wisse er nicht, vermute aber, es handle sich um Arbeiterschutzfragen. Seiner Ansicht nach dürfe das Staatsministerium nicht unvorbereitet in eine solche Diskussion eintreten, dürfe weder eine zustimmende noch eine ablehnende Erklärung abgeben, sondern müsse sich Zeit ausbitten zur Beratung entsprechender geeigneter Vorschläge.«

Sodann erweiterte der Fürst die Verhaltungsmaßregeln für die Minister.

»Sollte das Sozialistengesetz zur Sprache kommen, so dürfe man sich nicht für Annahme desselben ohne den Ausweisungsparagraphen 24 erklären. Man dürfe auch nicht im Reichstage durch Abgabe irgendwelcher Erklärungen die Annahme ohne diesen Paragraphen erleichtern.

Man habe schon bisher vielfach zu großes Entgegenkommen bei anderen Gesetzen betätigt, um Gesetze zustande zu bringen. Komme nichts zustande, so werde der Wähler, welcher geschützt sein wolle vor anarchistischem Umsturz, schon aufmerksam werden – nur die Parteiführer seien dagegen.«

Seiner Minister und der Möglichkeit, daß vorschnelle Entschlüsse schon im Kronrat zur Tat würden, hatte der Kanzler sich versichert. Er begab sich zum Kaiser, der ihn noch vor der Versammlung empfangen wollte, um ihn von dem Einspruch der Konservativen zu unterrichten. Der Monarch schilderte dem Fürsten die ganze Lage. Das Sozialistengesetz ließ sich retten, wenn der Kanzler erklärte, daß die Regierung das Gesetz ohne den Ausweisungsparagraphen »in Erwägung ziehe«. Die Partei wollte dann für die Annahme stimmen. Aber sie wollte sich gegen das Gesetz stellen, wenn der Kanzler stumm bliebe. Der Kaiser war für das gemilderte Gesetz. Er sah den Zusammenbruch des Kartells voraus. Wichtiger wäre ihm, daß die Kartellparteien sich behaupteten, daß die Regierung sie als Mehrheitsparteien behielt, als daß der Ausweisungsparagraph ertrotzt würde. Fürst Bismarck war anderer Meinung. Er sah weder die Wahrscheinlichkeit, daß das Regierungskartell zerfiel, noch die Zweckmäßigkeit, ob ein Sozialistengesetz ohne Abschaffungserlaubnis oder gar kein Sozialistengesetz besser war. Er sah nur den Widerstand, der sich gegen ihn erhob. Abermals kam dieser Widerstand von jener Partei, die als erste und ohne Vorbehalte zu ihm hätte stehen müssen: von den Konservativen. Der Zorn stieg maßlos in ihm auf. Er hieb mit geballter Faust auf den Tisch:

»Die Kerls machen immer Opposition! Sie haben das schon 1864 gemacht! Sie haben das 1866 gemacht! Sie machen das immer!«

Der Fürst war nicht zu beruhigen. Er war zu keinem Zugeständnis bereit. Indes traten die Staatsminister zum Kronrat ein. Der Kaiser übernahm den Vorsitz.

Er begann mit der »ungesunden Entwicklung der deutschen gegenüber der englischen Industrie«. Im ganzen und großen kümmerten die deutschen Industriellen sich um ihre Arbeiter überhaupt nicht. Sie hätten sie bisher »ausgepreßt wie Zitronen und dann auf dem Mist verfaulen lassen«. Er berief sich auf seine Berichte und Gespräche über das Thema mit Hinzpeter, mit dem Oberpräsidenten von Berlepsch, mit anderen noch –

»Wie eine Kompagnie verlottert, wo sich der Hauptmann nicht selbst um alles kümmert, sondern dem Feldwebel und den Unteroffizieren alles überläßt, so ist es in der Industrie mit den Arbeitern auch.«

Revolutionen entstünden aus unterlassenen Reformen. Er aber wolle »der Roi des gueux sein, die Arbeiter sollten wissen, daß er sich um ihr Wohl kümmere, er müsse in diesen Fragen das Prävenire spielen und täte es am liebsten bald in Form eines feierlichen Manifestes« – –

Die Minister saßen da: »mit steigendem Erstaunen, wer ihm solche Ratschläge und Ideen suppeditiert haben könne«. Aber schon übergab der Kaiser – damit seine Absichten in allen Einzelheiten klar würden – dem Staatsminister von Bötticher seine Denkschrift zum Verlesen. So ruhig und so deutlich mit hervorholender Betonung des Wesentlichen las sie der Staatsminister, daß der Kanzler ihn schon für lange vertraut mit ihrem Texte hielt. Der Kaiser wollte die Sonntagsruhe einführen. Die Arbeit von Kindern und Frauen einschränken. Den Frauen sollte Schonzeit gegeben werden, wenn sie Mütter wurden und niederkamen. Arbeiterausschüsse sollten errichtet werden, die selbst den Schutz ihrer Brüder vertraten. Einem großen Staatsrat wollte er auftragen, daß er sich mit diesen brennenden, an Wichtigkeit alles überbietenden Fragen beschäftige. Alle Staaten, die Großmächte und die Regierungen der kleinen Mächte, wollte er zu einem »internationalen Kongreß« in seiner Reichshauptstadt Berlin auffordern, damit die ganze Welt eine Arbeiterschutzgesetzgebung schaffen helfe. Die Beziehungen von Arbeitgebern und Arbeitern müßten in allen Ländern so einheitlich geregelt werden, daß niemand irgendwo im Nachteil vor einem anderen sei. Überall in den Gedankenreihen des Kaisers war wirkliches Feuer. In der Idee und im Ausdruck. Aber der Kanzler goß kein Öl darein. Er sah nur Jugend und Übereifer. Er beschloß, zu löschen.

Der Kaiser wartete auf die Meinung der Minister. Sie rückten sich zurecht und setzten zum Sprechen an. Aber jedesmal, wenn einer sich wirklich zum Reden entschlossen hatte, drehte sich ihm der Kanzler voll zu. Er blitzte drohenden Auges den Sprecher an: der Sprecher war stumm. Er selbst nahm das Wort. Was die Arbeiterfragen anging, so müsse das Staatsministerium sich vorbehalten, seine Ansicht erst nach genauer Durchberatung abzugeben. Er sei gegen die Herausgabe von Manifesten. Von seinen bekannten Bedenken, Reformen in der bezeichneten Art anzustreben, könne er nicht abgehen. Indes: »die nötigen Vorbereitungen zur Fertigstellung entsprechender Vorlagen sollten gemacht werden«, – das Thema war zunächst für den Kanzler zu Ende.

Ihn und alle anderen wollte der Staatsminister von Bötticher von der Verstimmung fortlenken. Er wollte wissen, ob der Kaiser in eigener Person den Reichstag zu verabschieden gedächte. Aber der Staatsminister kam vom Regen in die Traufe. Der Kanzler und der Staatssekretär Graf Herbert Bismarck waren gegen solche Bemühung des Kaisers.

»Ja«, erklärte der Monarch, »ich will diesen Reichstag, welcher sich doch sehr gut benommen hat, selbst schließen« – –

Allmählich wurde es ihm schwer, sich zu beherrschen. Er hatte gehofft, den Kanzler durch den Inhalt seiner Botschaft, auch wenn er politische Zweifel hatte, menschlich bewegen und zum Schlusse überzeugen zu können. Auch hatte er erwartet, daß wenigstens der eine oder andere unter den Ministern, wenn er ihn zum Sprechen ermunterte, den Mut eines Wortes finden werde. Aber jeden blitzte Fürst Bismarck nieder. Ihn selbst redete der Kanzler mit schlecht verdecktem Groll an. Er sah an ihm vorbei. Er nahm die Dinge nicht einmal sachlich. Seine Antworten waren kurz, unwillig und mit Absicht vor der ganzen Versammlung unehrerbietig im Ton. Zwar war der Kaiser der Vorsitzende im Kronrat und außerdem der Kaiser, aber Fürst Bismarck deutete seine Jugend und Unreife nicht sehr versteckt an. Jeder sah, daß der Kaiser blaß vor Erregung war. Dennoch behielt er die Ruhe. Er steuerte kurz dem Ende zu:

»Er wünsche, daß das Sozialistengesetz zustande käme und daß man den Ausweisungsparagraphen fallen lasse, weil das weniger wichtig sei, wie der Fortbestand des Kartells, welches gefährdet werde, wenn die Session mit einem Dissensus in dieser Richtung schließe.«

Aber auch hier gab es nur Widerspruch. Es stellte sich heraus, daß der Kanzler das Fallen des Sozialistengesetzes unzweideutig wünschte:

»Er könne nicht beweisen, daß diese Nachgiebigkeit Seiner Majestät verhängnisvolle Folgen haben werde, glaube es aber nach seiner langjährigen Erfahrung. Wenn Seine Majestät in einer so wichtigen Frage anderer Meinung sei, so sei er wohl nicht mehr recht an seiner Stelle.

Bleibe das Gesetz unerledigt, so müsse man sich ohne das behelfen und die Wogen höher gehen lassen, dann möge es zu einem Zusammenstoß kommen«.

Bismarck steuerte abermals seiner staatsmännischen Lieblingslösung für Deutschlands Innenpolitik zu: Verwirrung und Aufregung in der Sozialdemokratie – dann ihre Bändigung durch die Staatsgewalt. Bis dahin wollte er die Entwicklung nicht beeinflussen. Er war wieder dort, wo er in den Maiunruhen gestanden hatte. Der Gegensatz zum Kaiser und seinen Absichten wurde erkennbar in jedem Augenblick des Kronrats. Wenn der Kaiser anderen Auffassungen zuneigte: der Kanzler hatte ihm deutlich genug vorgeschlagen, daß er dann zu gehen wünsche. Aber Kaiser Wilhelm blieb dabei, daß er »ohne den äußersten Notfall, blutige Katastrophen verhüten, aber nicht seine ersten Regierungsjahre mit dem Blute seiner Untertanen färben« wolle. Von seinem Kronrat, den er sich so glanzvoll ausgedacht, hatte er vorläufig genug. Vor ihm saß der Fürst, ohne einen Augenblick seinen Zorn, seine Erbitterung zu verbergen. Alles war gewitterschwer und feindlich. Er entließ Kanzler und Minister. Er bemühte sich, freundliche Worte zu finden, dennoch war die Tiefe seiner Erregung nicht mehr zu verkennen. Der Kanzler machte eine halbe Verbeugung, sprach nichts und ging fort. Im Vorraum trat der diensttuende Adjutant auf ihn zu. Der Fürst blieb stehen und funkelte auch ihn an:

»Der Kaiser hat sein Portepée vergessen"« Er schrie es mit seiner hohen, hier aufkreischenden Stimme dem Erschrockenen zu. »Er weiß nicht mehr, daß er Offizier ist« –

Wie ein Gewitter grollte er vorbei. Die Minister sah er nicht mehr an diesem Abend. Der Staatsminister Freiherr Lucius von Ballhausen notierte:

»Die Krisis hat mit der heutigen Sitzung begonnen und wird sicher einen ernsten Verlauf nehmen.«

Im Schloß saß der Kaiser mit dem Chef des Zivilkabinetts von Lucanus allein. Er saß in wortloser Bedrücktheit. Er hatte den Kanzler gegen sich. Der Kronrat hatte gezeigt, daß die Staatsminister nicht die Helfer und Räte des Königs, sondern die Diener Bismarcks waren. Er gab sich nicht besiegt. Seine Ideen gab er nicht auf. Nur daß er allein war, daß niemand mit ihm ging, verschnürte ihm die Kehle.

 

Im Reichstage wurde am nächsten Morgen das Sozialistengesetz mit großer Mehrheit der Stimmen abgelehnt. Der Reichskanzler war bei seinem Entschluß geblieben, das Gesetz in abgeschwächter Form nicht zu befürworten. Die Partei der Konservativen hatte darum einem Vorschlag zu abgemildeter Vorlage nicht zugestimmt. Das Kartell zerfiel.

Als der Kaiser wenige Stunden darnach im »Weißen Saal« des Schlosses den Reichstag verabschiedete, war den Abgeordneten der Zwiespalt in den Auffassungen zwischen Kaiser und Kanzler klar, denn die Thronrede vermied auch die leiseste Andeutung auf das vom Kanzler empfohlene Sozialistengesetz. Daß der Kaiser selbst sich für das Gesetz ohne allzu scharfe Maßregeln eingesetzt hatte, war unter den Abgeordneten kein Geheimnis mehr.

Was sein Verhalten im Kronrat betraf, so hatte der Kanzler in ruhigerer Stunde doch das Gefühl, daß er weise Mäßigung hatte vermissen lassen. In vertraulicher Besprechung mit den Staatsministern, zwei Tage nach dem Kronrat, versicherte er, daß er den Kaiser »liebe als den Sohn seiner Vorfahren und als Souverain; er bedauere, daß er neulich, von der Reise und von der Verhandlung erregt, vielleicht weiter gegangen sei wie nötig«. Unmittelbar vor dem Kronrat, schon in der Sitzung der Staatsminister, hatte er allerdings große Ungleichheit der Stimmung gezeigt. Bedrücktheit hatte mit Gereiztheit gewechselt. Er hatte vor den Ministern mit dem Gedanken gespielt, sich von allen Ämtern mit Ausnahme der Führung auswärtiger Geschäfte trennen zu wollen. Nur zur Pflege der Beziehungen Deutschlands mit den fremden Staaten, die ihr Vertrauen seit zwei Jahrzehnten auf seinen Namen setzten, sei seine Arbeit noch nötig. Seit seine Erbitterung verraucht war, wog er die Lage kühler ab. Wenn der Kaiser den Rat des Oberpräsidenten von Berlepsch verlangt und angehört hatte, ohne sich vorher darüber mit dem zuständigen Handelsminister zu beraten, der er selber war, dann sollte der Oberpräsident fortan seine Ratschläge wenigstens unter voller Verantwortlichkeit geben. Der Kanzler schlug dem Kaiser vor, von dem Amte des Handelsministers zurückzutreten und an diese Stelle den Oberpräsidenten zu berufen. Der Kaiser stimmte zu. Der neue Handelsminister wurde ernannt. Gleichzeitig beschäftigte sich der Kanzler mit der Fertigstellung der beiden, vom Kaiser befohlenen Erlässe. Vor den Ministern wandte er sich noch immer gegen die Manifeste. Wenn er der Worte gedachte, mit denen er fünfzehn Jahre zuvor ähnliche Vorschläge von Abgeordneten begleitet hatte, so klängen sie jetzt wie Majestätsbeleidigungen. Sein Mißfallen an der ganzen Angelegenheit drückte er auch dem Professor Hinzpeter aus. Er hatte ihn zu sich gebeten, hatte sich einen eingehenden Vortrag von ihm über Arbeiterfragen halten lassen, nirgends widerlegte er die Berechtigung von Hinzpeters sozialen Forderungen, aber mit solcher Schärfe wandte er sich gegen alle Absichten des Kaisers, daß Hinzpeter in den Ruf ausbrach:

»Sie verachten ja meinen jungen Kaiser!«

Niemand gegenüber hielt der Fürst mit seinen Ansichten zurück. Vom Kaiser wußte er, daß auch der König von Sachsen im Sinne der kaiserlichen Pläne für Anträge gewonnen war, die der König beim Bundesrat einbringen wollte. Aber dem sächsischen Gesandten Grafen Hohenthal kündigte Fürst Bismarck an:

»Wenn der König von Sachsen einen Arbeiterschutzantrag einbringe, so werde er seinen Abschied fordern.«

Die beiden Erlässe mußte er vorlegen. Er fügte in die ersten Entwürfe des Kaisers, um ihre Verbindlichkeit abzuschwächen, verschiedene Änderungen und Zusätze ein. Endlich erschien er mit den Manifesten zur Unterschrift. Noch einmal versuchte er, den Monarchen von seinem Vorhaben abzubringen. Er sah nur schwere Folgen voraus. Die Menschlichkeit und Gerechtigkeit, die aus den Erlässen sprach, würde nur agitatorisch, nicht sittlich von den Sozialdemokraten ausgenützt werden. Die Neuwahl des Reichstages, die für den 20. Februar angesetzt war, würde den Nachweis erbringen. Er sagte das Anwachsen der sozialdemokratischen Stimmen an. Der Kaiser fand die Wahlen nicht durch seine Erlässe bedroht, vielmehr durch die Streiks des abgelaufenen Jahres und durch die Unhaltbarkeit der Lebensbedingungen unter den Arbeitern. Zuletzt empfahl der Kanzler, »die vorgelesenen Entwürfe in das gerade brennende Kaminfeuer zu werfen.« Aber der Kaiser nahm die Dokumente und unterschrieb sie. Der Wortlaut des ersten Manifestes war:

»Ich bin entschlossen, zur Verbesserung der Lage der deutschen Arbeiter die Hand zu bieten, soweit die Grenzen es gestatten, welcher meiner Fürsorge durch die Notwendigkeit gezogen werden, die deutsche Industrie auf dem Weltmarkte konkurrenzfähig zu erhalten. Und dadurch ihre und der Arbeiter Existenz zu sichern. Der Rückgang der heimischen Betriebe durch Verlust ihres Absatzes im Auslande würde nicht nur die Unternehmer, sondern auch ihre Arbeiter brotlos machen. Die in der Internationalen Konkurrenz begründeten Schwierigkeiten der Verbesserung der Lage unserer Arbeiter lassen sich nur durch internationale Verständigung der an der Beherrschung des Weltmarkts beteiligten Länder, wenn nicht überwinden, doch abschwächen. In der Überzeugung, daß auch andere Regierungen von dem Wunsche beseelt sind, die Bestrebungen einer gemeinsamen Prüfung zu unterziehen, über welche die Arbeiter dieser Länder unter sich schon internationale Verhandlungen führen, will ich, daß zunächst in Frankreich, England, Belgien und der Schweiz durch meine dortigen Vertreter amtlich angefragt werde, ob die Regierungen geneigt sind, mit uns in Unterhandlung zu treten behufs einer internationalen Verständigung über die Möglichkeit, denjenigen Bedürfnissen und Wünschen der Arbeiter entgegenzukommen, welche in den Ausständen der letzten Jahre und anderweit zutage getreten sind. Sobald die Zustimmung zu meiner Anregung im Prinzip gewonnen sein wird, beauftrage ich Sie, die Kabinette aller Regierungen, welche an der Arbeiterfrage den gleichen Anteil nehmen, zu einer Konferenz behufs Beratung über die einschlägigen Fragen einzuladen.

Wilhelm I. R.«

An den Reichskanzler

Der zweite Erlaß lautete:

»Bei meinem Regierungsantritt habe ich meinen Entschluß kundgegeben, die fernere Entwicklung unserer Gesetzgebung in der gleichen Richtung zu fördern, in welcher Mein in Gott ruhender Großvater sich der Fürsorge für den wirtschaftlich schwächeren Theil des Volkes im Geiste christlicher Sittenlehre angenommen hat. So wertvoll und erfolgreich die durch die Gesetzgebung und Verwaltung zur Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes bisher getroffenen Maßnahmen sind, so erfüllen dieselben doch nicht die ganze mir gestellte Aufgabe. Neben dem weiteren Ausbau der Arbeiterversicherungsgesetzgebung sind die bestehenden Vorschriften der Gewerbeordnung über die Verhältnisse der Fabrikarbeiter einer Prüfung zu unterziehen und den auf diesem Gebiet laut gewordenen Klagen und Wünschen, soweit sie begründet sind, gerecht zu werden. Diese Prüfung hat davon auszugehen, daß es eine der Aufgaben der Staatsgewalt ist, die Zeit, die Dauer und die Art der Arbeit so zu regeln, daß die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung gewährt bleiben. Für die Pflege des Friedens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind gesetzliche Bestimmungen über die Formel in Aussicht zu nehmen, in denen die Arbeiter durch Vertreter, welche ihr Vertrauen besitzen, an der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten beteiligt und zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Verhandlungen mit den Arbeitgebern und den Organen meiner Regierung befähigt werden. Durch eine solche Einrichtung ist den Arbeitern der freie und friedliche Ausdruck ihrer Wünsche und Beschwerden zu ermöglichen und den Staatsbehörden Gelegenheit zu geben, sich über die Verhältnisse der Arbeiter fortlaufend zu unterrichten und mit den letzteren Fühlung zu behalten.

Die staatlichen Bergwerke wünsche ich bezüglich der Fürsorge für die Arbeiter zu Musteranstalten entwickelt zu sehen und für den Privatbergbau erstrebe ich die Herstellung eines organischen Verhältnisses meiner Bergbeamten zu den Betrieben behufs einer der Stellung der Fabrikinspektionen entsprechenden Aufsicht, wie sie bis zum Jahre 1869 bestanden hat. Zur Vorbereitung dieser Fragen will ich, daß der Staatsrat unter meinem Vorsitze und unter Zuziehung derjenigen sachkundigen Personen zusammentrete, welche ich dazu berufen werde. Die Auswahl der letzteren behalte ich meiner Bestimmung vor. Unter den Schwierigkeiten, welche der Ordnung der Arbeiterverhältnisse in dem von mir beabsichtigten Sinne entgegenstehen, nehmen diejenigen, welche aus der Notwendigkeit der Schonung der heimischen Industrie in ihrem Wettbewerb mit dem Auslande sich ergeben, eine hervorragende Stelle ein. Ich habe daher den Reichskanzler angewiesen, bei den Regierungen der Staaten, deren Industrie mit der unsrigen den Weltmarkt beherrscht, den Zusammentritt einer Konferenz anzuregen, um die Herbeiführung gleichmäßiger internationaler Regelung der Grenzen für die Anforderungen anzustreben, welche an die Tätigkeit der Arbeiter gestellt werden dürfen. Der Reichskanzler wird ihnen Abschrift meines an ihn gerichteten Erlasses mitteilen.

Wilhelm R.

An die Minister der öffentlichen Arbeiten und für Handel und Gewerbe.«

Der Reichskanzler trug die Erlässe fort. Er veröffentlichte sie im »Reichs- und Staatsanzeiger« vom 4. Februar 1890. Er unterließ es, die Gegenzeichnung der Dokumente zu vollziehen. So lehnte er jede Verantwortung ab. Der Kaiser war wirklich ein Phantast.


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