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Siebzehntes Kapitel.

Dr. Sewards Tagebuch

(Fortsetzung.)

Als wir im Berkeley-Hotel ankamen, fand Van Helsing ein Telegramm vor, das für ihn abgegeben worden war:

»Ich komme mit dem Zuge; Jonathan ist in Whitby. Wichtige Neuigkeiten. – Mina Harker.«

Der Professor war erfreut. »Diese prächtige Frau Mina«, sagte er, »eine Perle unter den Frauen! Sie kommt hierher, und ich kann nicht dableiben. Sie muß bei Ihnen wohnen, Freund John. Sie müssen sie hier auf der Station erwarten. Telegraphieren Sie ihr, damit sie vorbereitet ist!«

Als das Telegramm aufgegeben war, trank er noch eine Tasse Tee. Dabei erzählte er mir von einem Reisetagebuch des Herrn Harker und übergab mir eine mit der Maschine geschriebene Kopie desselben, sowie des Tagebuches Frau Minas, geschrieben in Whitby. »Nehmen Sie das«, sagte er, »und lesen Sie es gründlich. Wenn ich zurückkomme, werden Sie die Sachlage kennen, wir können dann rascher zu den Vorbereitungen übergehen. Bewahren Sie es sorgfältig auf, denn es ruhen Schätze darin. Sie werden aller Ihrer Vertrauensseligkeit bedürfen, selbst Sie, der doch heute eine derartige Erfahrung gemacht hat. Das, was hier erzählt wird«, sagte er, indem er seine Hand ernst und schwer auf das Paket mit den Papieren legte, »ist vielleicht die Ursache von Ihrem, meinem und manchem anderen Ende, oder aber es bedeutet das Grabgeläute für die Un-Toten, die hier auf Erden wandeln. Lesen Sie alles, ich bitte Sie, und denken Sie darüber nach; und können Sie aus eigener Erfahrung irgend etwas beifügen, so tun Sie es; selbst das kleinste kann bedeutungsvoll werden. Sie selbst haben über alle diese seltsamen Dinge ein Tagebuch geführt, nicht wahr? Ja! Gut, dann wollen wir das alles zusammen besprechen, wenn ich zurückkommen werde.« Er machte sich reisefertig und fuhr bald darauf nach Liverpool-Station ab. Ich machte mich auf den Weg nach Paddington, wo ich fünfzehn Minuten vor Ankunft des erwarteten Zuges eintraf.

Die Menge verlief sich geräuschvoll, wie immer auf den Bahnsteigen. Ich konnte mich eines gewissen Unbehagens nicht erwehren, wenn ich dachte, daß ich vielleicht meinen Gast übersehen haben könnte. Da kam eine liebliche, elegante, mädchenhafte Dame auf mich zu und fragte mit einem prüfenden Blick: »Sie sind Dr. Seward, nicht wahr?«

»Und Sie Frau Harker!«, antwortete ich gleichzeitig, worauf sie mir die Hand gab.

»Ich kenne Sie aus den Beschreibungen meiner lieben Lucy, aber – – – –.« Sie hielt plötzlich inne, und ein heißes Erröten überzog ihr reizendes Gesicht.

Das Rot, das auch mir sofort in die Wangen stieg, war eine stumme Antwort auf ihr eigenes. Ich nahm ihr das Gepäck ab, bei dem sich auch eine Schreibmaschine befand, und wir fuhren mit der Untergrundbahn nach Fenchurch Street, nachdem ich meine Haushälterin durch Stadttelegramm angewiesen hatte, für Frau Harker sofort ein Wohn- und ein Schlafzimmer bereit zu halten. Rechtzeitig kamen wir an.

Sie war sich ohne Zweifel dessen bewußt, daß mein Haus ein Irrenasyl sei, trotzdem konnte sie, wie ich bemerkte, einen leichten Schauder beim Eintritt doch nicht unterdrücken.

Sie sagte mir, daß sie, wenn es mir angenehm wäre, am liebsten gleich in mein Arbeitszimmer käme, da sie mir vieles mitzuteilen habe. So will ich einstweilen für heute mein phonographisches Tagebuch schließen und sie hier erwarten. Bis jetzt war es mir noch nicht möglich, in die Papiere Einblick zu nehmen, die Van Helsing mir übergab, obgleich sie da offen vor mir liegen. Ich muß versuchen, ihr Interesse auf irgend etwas anderes zu lenken, damit ich vielleicht Gelegenheit finde zu lesen. Sie weiß jedenfalls nicht, wie kostbar meine Zeit ist und welch wichtige Aufgabe wir uns gestellt haben. Ich muß vorsichtig sein, damit ich sie nicht ängstlich mache. Da ist sie!

 

Mina Harkers Tagebuch.

29. September. – Nachdem ich etwas Toilette gemacht hatte, begab ich mich in Dr. Sewards Arbeitszimmer. An der Tür blieb ich einen Augenblick stehen, da ich ihn mit jemand sprechen zu hören meinte. Weil er mir aber gesagt hatte, ich möchte mich beeilen, klopfte ich und leistete seinem »Herein« Folge.

Zu meinem größten Erstaunen war er allein. Er war ganz allein; auf dem Tische, ihm gegenüber, stand etwas, was ich nach den Beschreibungen für einen Phonographen hielt. Ich hatte noch keinen gesehen und interessierte mich deshalb sehr dafür.

»Hoffentlich habe ich Sie nicht warten lassen«, sagte ich. »Aber ich verhielt mich noch ein wenig an der Tür, da ich Sie sprechen hörte und glaubte, Sie hätten Besuch.«

»O«, antwortete er lächelnd, »ich habe nur mein Tagebuch eingetragen.«

»Ihr Tagebuch?« fragte ich zweifelnd.

»Ja«, sagte er, »ich spreche es hier herein.« Dabei legte er die Hand auf das Instrument. Ich war ganz entzückt über die Sache und rief aus:

»Nun, das übertrifft ja sogar das Stenographieren! Wollen Sie mich etwas hören lassen?«

»Gewiß«, erwiderte er lebhaft, und stand auf, um den Apparat in Gang zu setzen. Dann hielt er plötzlich inne und errötete.

»Allerdings«, begann er zögernd, »spreche ich nur in mein Tagebuch hinein, und da es ganz, fast ganz, nur meine intimsten Angelegenheiten betrifft, wäre es seltsam – das heißt – ich meine –«.Er schwieg, und ich versuchte, ihm aus der Verlegenheit zu helfen.

»Sie haben doch die arme Lucy bis zu ihrem Ende gepflegt. Darf ich nichts über ihr Sterben hören; für alles, was ich von ihr erfahre, werde ich Ihnen dankbar sein. Sie war mir sehr, sehr teuer.«

Zu meiner Überraschung antwortete er mit einer Miene des furchtbarsten Entsetzens:

»Ihnen von ihrem Tode erzählen? Nicht um alles in der Welt!«

»Warum denn nicht?« fragte ich, denn ein unbehagliches, schreckliches Gefühl überkam mich. Wieder schwieg er, und ich konnte bemerken, wie er sich abmühte, eine Entschuldigung zu erfinden. Dann stotterte er plötzlich:

»Wissen Sie, ich kann keinen Teil des Tagebuches heraussuchen.« Während er so sprach, schien ihm eine neue Idee aufzutauchen, und er sagte mit unbewußter Einfalt, mit verstellter Stimme und mit der Naivität eines Kindes: »Das ist wirklich wahr, auf Ehre. Auf Indianerehre!« Ich konnte mich nicht enthalten zu lachen, worauf er ein verlegenes Gesicht machte. »Wissen Sie«, sagte er, »obgleich ich das Tagebuch seit Monaten führe, kam mir niemals in den Sinn, wie ich es wohl machen sollte, einen besonderen Teil der Aufzeichnungen herauszubringen, wenn ich seiner bedürfte.« Da begriff ich plötzlich, daß das Tagebuch des Arztes, der Lucy behandelt hatte, wohl geeignet sein würde, unserem Wissen von jenem entsetzlichen Gespenst einiges beizufügen, und ich sagte kühn:

»Dann wäre es vielleicht besser, Herr Doktor, ich schreibe es für Sie auf der Schreibmaschine auf.« Er wurde leichenblaß, als er sagte:

»Nein! Nein! Nein! Nicht um die Welt, ich kann Sie dieses schreckliche Erlebnis nicht lesen lassen!«

Dann war es also wirklich etwas Schreckliches; meine Ahnung hatte mich nicht getäuscht! Einige Augenblicke dachte ich nach, und wie meine Blicke so durch das Zimmer schweiften, unbewußt nach irgend etwas suchend, das mir helfen könnte, blieben sie auf einem großen Paket Aufzeichnungen in Maschinenschrift hängen, das auf dem Tische lag. Seine Augen folgten der Richtung der meinen, ohne daß er es wußte. Als er das Paket sah, begriff er sofort, was ich meinte.

»Sie kennen mich nicht«, sagte ich. »Wenn Sie diese Papiere gelesen haben werden – es ist mein Tagebuch und das meines Mannes, das ich mit der Maschine kopiert habe –, dann werden Sie mich besser kennen. Ich habe keinen Augenblick gezögert, jeden meiner Gedanken hier niederzulegen; aber wie gesagt, Sie kennen mich bis jetzt nicht, und ich darf gar nicht erwarten, daß Sie mir sofort Vertrauen schenken.«

Er ist jedenfalls ein Mann von vornehmer Denkungsart; Lucy hatte ihn ganz richtig beurteilt. Er stand auf und öffnete eine große Schublade, in der geordnet eine Anzahl hohle Metallwalzen mit dunklem Wachsüberzug standen, und sagte:

»Sie haben ganz recht. Ich habe Ihnen nicht getraut, weil ich Sie eben nicht kannte. Aber jetzt kenne ich Sie, lassen Sie sich sagen, ich hätte Sie eigentlich schon länger kennen sollen. Ich weiß, daß Lucy Ihnen von mir erzählte; sie hat mir aber auch von Ihnen erzählt. Darf ich Ihnen die einzige Genugtuung geben, die ich Ihnen geben kann? Nehmen Sie die Zylinder und lassen Sie sich alles von ihnen erzählen. Das erste halbe Dutzend bringt rein persönliche Dinge und wird Sie nicht erschrecken, dann werden Sie mich besser kennen. Unterdessen wird das Essen fertig sein. Ich werde mich einstweilen damit beschäftigen, einige dieser Dokumente durchzulesen und dann imstande sein, einiges besser zu verstehen.« Er brachte mir den Phonographen auf mein Wohnzimmer und bereitete ihn vor. Nun werde ich wohl verschiedenes Unterhaltende zu hören bekommen, denn ich werde die Episode einer treuen Liebe nun von der anderen Seite sehen, während ich sie bisher nur von der einen kannte.

 

Dr. Sewards Tagebuch.

29. September. – Ich war so vertieft in das merkwürdige Tagebuch Jonathan Harkers und das seiner Frau, daß ich die Zeit verrinnen ließ, ohne mir dessen bewußt zu werden. Auch Frau Harker war noch nicht zugegen, als das Mädchen meldete, daß angerichtet sei. Ich sagte deshalb: »Vielleicht ist sie recht müde; servieren Sie in einer Stunde nochmals«; dann fuhr ich fort zu lesen. Gerade hatte ich Frau Harkers Tagebuch zu Ende, als sie hereinkam. Sie sah sehr lieblich aus, aber sie war traurig und ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Das regte mich sehr auf. Vor kurzem hätte ich selbst noch alle Ursache gehabt zu weinen, aber die erleichternden Tränen blieben mir versagt. Der Anblick dieser schönen Augen, die noch von frischen Zähren glänzten, griff mir ans Herz. Ich sagte so mild ich konnte:

»Ich mache mir große Vorwürfe, daß ich Sie betrübt habe.«

»O nein«, sagte sie, »Sie haben mich nicht betrübt, aber Ihr Leid, das Sie tragen müssen, hat mich mehr gerührt, als ich zu sagen imstande bin. Dies ist ein wundervoller Apparat, aber von erschreckender Naturtreue. Er schilderte mir wie in Wirklichkeit den tiefen Kummer Ihres Herzens. Es war, als schreie eine arme Seele in ihrer Pein zum allmächtigen Gott. Niemand soll das außer mir vernehmen. Sehen Sie, ich habe versucht, mich nützlich zu machen. Ich habe das Gehörte auf meiner Maschine nachgeschrieben; kein anderer wird die Schläge Ihres Herzens so deutlich mehr hören, als ich es durfte.«

»Ja, niemand weiter soll es wissen, wird es wissen«, sagte ich leise. Sie gab mir ihre Hand und sprach in tiefem Ernst:

»Aber dennoch muß es geschehen!«

»Muß! Warum denn?« fragte ich.

»Weil es einen Beitrag zu der entsetzlichen Geschichte liefern wird, zu der Geschichte von Lucys Sterben, und von all dem, was dazu hinleitete. In dem heißen Kampfe, den wir vor uns haben, um die Erde von dem Scheusal zu befreien, ist jede Kenntnis, jede Hilfe für uns von Wert. Ich glaube, die Zylinder, die Sie mir gaben, enthielten mehr, als Sie mich eigentlich wissen lassen wollten; aber ich habe schon gesehen, daß Ihre Aufzeichnungen manches Licht in das düstere Geheimnis bringen werden. Wollen Sie mir helfen? Ich weiß jetzt alles, bis zu einem gewissen Zeitpunkt; ich sehe schon, obgleich ich Ihr Tagebuch erst bis zum 7. September gelesen, wie Lucy leiden mußte und wie ihr entsetzliches Schicksal sie ereilte. Jonathan und ich haben Tag und Nacht fieberhaft gearbeitet, seit Van Helsing bei uns war. Jonathan ist nach Whitby gefahren, um sich genauer zu informieren, und wird morgen wieder hier sein und uns zur Verfügung stehen. Geheimnisse brauchen wir vor einander nicht zu haben. Wenn wir gemeinschaftlich und mit unbedingtem gegenseitigen Vertrauen arbeiten, sind wir jedenfalls stärker, als wenn einer von uns im Dunkeln tappt.« Sie sah mich so flehend an und trug doch zu gleicher Zeit so viel Mut und Entschlossenheit zur Schau, daß ich mich unbedingt ihrem Wunsche fügen mußte.

»Sie können«, sagte ich, »in dieser Angelegenheit handeln, wie Sie es für das Beste halten. Sie werden noch ganz entsetzliche Dinge zu hören bekommen; aber da Sie einmal so weit in der Kenntnis von Lucys Tod vorgeschritten sind, werden Sie über das Weitere nicht im Unklaren bleiben wollen. Nun, das Ende – das wirkliche Ende – mag Ihnen wieder einen Schimmer von Frieden geben. Kommen Sie, es ist serviert. Wir müssen uns gegenseitig aufrecht erhalten für das, was uns bevorsteht; wir haben eine grauenvolle, schreckliche Aufgabe zu erfüllen. Wenn Sie gegessen haben, sollen Sie noch das Übrige erfahren. Ich werde bei Ihnen bleiben, um Ihnen auf etwaige Fragen Auskunft zu erteilen, denn es ist nicht ausgeschlossen, daß Ihnen Verschiedenes unklar sein wird, obgleich es für uns, die wir dabei waren, offenkundig ist.«

 

Mina Harkers Tagebuch.

29. September. – Nach Tisch ging ich mit Dr. Seward in sein Arbeitszimmer. Er brachte den Phonographen wieder herunter und ich holte meine Schreibmaschine. Dann schob er mir einen bequemen Stuhl hin und stellte den Apparat so auf, daß ich ihn erreichen konnte, ohne aufzustehen, und zeigte mir, wie ich ihn abstellen könne, wenn ich eine Pause machen wolle. Dann ließ er sich gedankenvoll in einen Stuhl nieder, mit dem Rücken gegen mich, um mich nicht zu stören, und begann zu lesen. Ich legte die Metallgabel ans Ohr und lauschte.

Als ich den furchtbaren Bericht von Lucys Tod und all dem, was danach kam, zu Ende gehört, sank ich kraftlos in meinen Lehnstuhl zurück. Glücklicherweise habe ich keine Neigung zu Ohnmachtsanfällen. Als Dr. Seward meinen Zustand bemerkte, sprang er mit einem Schreckensrufe auf, riß eine Flasche vom Bordbrett und gab mir etwas Brandy zu trinken, der mich rasch wieder kräftigte. Mein Kopf war verwirrt, und nur der Gedanke an den heiligen Frieden, den meine geliebte Lucy nach all dem Leide gefunden, ließ mich das Schreckliche ertragen, ohne daß ich einen Nervenanfall bekam. Es ist alles so wild, geheimnisvoll und seltsam, daß ich es nie geglaubt haben würde, hätte ich nicht vorher Jonathans Aufzeichnungen über seine Erlebnisse in Transsylvanien gelesen. So wie die Dinge lagen, wußte ich überhaupt nicht mehr, was ich glauben solle, und beschloß deshalb, um mich abzulenken, irgend etwas anderes zu tun. Ich nahm den Deckel von meiner Maschine und sagte zu Dr. Seward:

»Lassen Sie mich dies alles übertragen. Wir müssen fertig sein, wenn Dr. Van Helsing zurückkommt. Ich habe an Jonathan ein Telegramm geschickt, er soll sofort nach seiner Rückkehr von Whitby hierher kommen. In dieser Sache sind Daten alles; ich denke, wenn wir das ganze Material fertig und in chronologische Ordnung gebracht haben, ist ein großer Schritt vorwärts getan. Sie haben mir gesagt, daß Lord Godalming und Herr Morris auch kommen werden. Wir wollen uns bereit halten, sie zu empfangen.« Er stellte den Phonographen etwas tiefer und ich begann, vom siebenten Zylinder an alles niederzuschreiben. Ich machte von dem Tagebuch drei Durchschläge, wie ich es auch bei den übrigen Aufzeichnungen getan hatte. Es war spät, als ich fertig wurde; Dr. Seward hatte seinen Rundgang bei den Patienten gemacht und setzte sich lesend in meine Nähe, damit ich mich während der Arbeit nicht allzu einsam fühle. Wie gut und rücksichtsvoll er ist; die Welt birgt doch noch gute Menschen, wenn sie auch Ungeheuern Raum gewährt. Ehe ich schlafen ging, fiel mir ein, daß, wie Jonathan in seinem Tagebuche berichtete, Van Helsing sehr erschreckt war, als er auf der Station Exeter in einem Abendblatte las. Da ich bemerkte, daß Dr. Seward gerade diese Zeitungen in Händen hatte, erbat ich mir die »Westminster Gazette« sowie die »Pall Mall Gazette« und nahm sie mit auf mein Zimmer. Ich dachte daran, wie viel uns die »Whitby Gazette« und »The Dailygraph«, von denen ich mir seinerzeit Ausschnitte gemacht, geholfen hatten, die furchtbaren Dinge zu verstehen, die sich in Whitby bei der Landung des Grafen Dracula ereigneten. Ich werde also die Zeitungen von da ab durchsehen, vielleicht bringe ich dadurch neue Gesichtspunkte zutage. Ich bin nicht schläfrig; die Arbeit wird mir helfen, meine Ruhe zu behalten.

 

Dr. Sewards Tagebuch.

30. September. – Herr Harker traf um neun Uhr ein. Er hatte das Telegramm seiner Frau erhalten, kurz ehe er von Whitby abfuhr. Er ist außergewöhnlich klug, wie ich aus seinem Gesicht schließen zu können glaube, und voll Energie. Wenn sein Tagebuch auf wahren Erlebnissen beruht – wenn ich meine eigenen merkwürdigen Erlebnisse in Betracht ziehe, kann das auch wahr sein – ist er auch ein Mann von bedeutender Seelenstärke. Dieser zweite Abstieg zu den Grabgewölben war ein bemerkenswerter Beweis von Wagemut. Nach der Lektüre seines Berichtes hätte ich erwartet, einen Repräsentanten unerschrockener Männlichkeit, nicht den ruhigen, geschäftsmäßigen Gentleman in ihm kennen zu lernen, der heute bei uns eintraf.

Später. – Nach dem Lunch zogen sich Herr und Frau Harker in ihr Zimmer zurück, und als ich eine Weile später vorbeiging, hörte ich das Klappern der Schreibmaschine. Sie sind fleißig an der Arbeit. Frau Harker sagte, daß sie sich bemühten, jedes, auch das kleinste Beweisstück, in die chronologische Ordnung einzufügen. Harker hat den Briefwechsel zwischen dem Adressaten der Kisten in Whitby und den Spediteuren in London ausfindig gemacht. Nun liest er gerade mein Tagebuch in der Übertragung seiner Frau. Ich möchte wissen, was sie darüber denken. Da kommt er!

Es ist doch merkwürdig, daß mir nie die Idee kam, daß unser Nachbarhaus das Versteck des Grafen sein könnte! Wir hätten doch genug Schlüsse aus dem Verhalten des Patienten Renfield ziehen können. Das Bündel mit Papieren, den Kauf des Grundstücks betreffend, lag bei den Akten. Hätten wir sie nur früher besessen, wir hätten dann Lucys Leben retten können! Halt! Auf diesem Wege lauert der Wahnsinn. Harker ist wieder hinaufgegangen und ordnet sein Material. Er versprach, zu Tisch eine vollkommen zusammenhängende Aufzählung der Tatsachen mitzubringen. Er meinte, ich solle inzwischen Renfield besuchen, der doch bisher eine Art Anzeiger für das Kommen und Gehen des Grafen gewesen war. Vorläufig glaube ich nicht fest daran, wenn ich aber die Daten vergleiche, so kann ich doch die Möglichkeit nicht von der Hand weisen. Es ist doch gut, daß Frau Harker die phonographischen Aufzeichnungen mit der Maschine niederschreibt. Wir hätten sonst die Daten nie genau finden können.

Als ich bei Renfield eintrat, saß er friedlich mit gefalteten Händen da und lächelte gutmütig. In diesem Augenblick kam er mir so vernünftig vor wie jeder andere Mensch. Ich setzte mich zu ihm, plauderte mit ihm über alles Mögliche, und er ging in ungezwungener Weise darauf ein. Er sprach auch, ohne daß ich ihm dazu Veranlassung gegeben hätte, davon, heimgehen zu wollen, ein Thema, das er meines Wissens noch nie berührt hat, so lange er hier weilt. Tatsächlich sprach er von seiner demnächstigen Entlassung wie von einer ausgemachten Sache. Ich glaube, wenn ich nicht mit Harker über diese Angelegenheit gesprochen und die Daten seiner Ausbrüche mit den Briefen verglichen hätte, ich hätte ihm nach einer kurzen Beobachtungszeit jetzt den Entlassungsschein geschrieben. Wie ich aber die Verhältnisse kenne, habe ich doch einen finsteren Verdacht. All diese Anfälle waren in irgend einer Weise mit der Anwesenheit des Grafen verknüpft. Was bedeutet also diese Miene absoluter Zufriedenheit? Ist es möglich, daß sein Instinkt eine gewisse Genugtuung über den endlichen Sieg des Vampyrs empfindet? Halt! Er ist ja selbst Zoophagus, und in seinen wilden Rasereien vor dem Kapellentor des verlassenen Hauses sprach er immer von seinem »Meister«. Dies befestigt mich wieder in meiner Auffassung. Nach einer Weile entfernte ich mich; Renfield ist augenblicklich zu vernünftig, als daß man es wagen dürfte, ihn zu viel mir Fragen zu behelligen. Er könnte schließlich nachdenklich werden – und dann! So ging ich denn. Ich mißtraute diesem seinen ruhigen Verhalten und habe den Wärter angewiesen, ein wachsames Auge auf ihn zu haben und für alle Fälle eine Zwangsjacke bereit zu halten.

 

Jonathan Harkers Tagebuch.

29. September. Im Zuge nach London. – Nachdem ich Herrn Billingtons Mitteilung erhalten hatte, daß er mir jede in seinem Vermögen stehende Auskunft erteilen wolle, hielt ich es für das Beste, direkt nach Whitby zu gehen und an Ort und Stelle die nötigen Nachforschungen anzustellen. Es war vorerst meine Aufgabe, die geheimnisvolle Schiffsladung vom Schlosse des Grafen aus bis zu ihrem Platze in London zu verfolgen, da wir später vielleicht Nutzen daraus ziehen können. Billington junior, ein hübscher, junger Mensch, erwartete mich auf dem Bahnhofe und brachte mich nach dem väterlichen Hause, wo alles schon darauf eingerichtet war, daß ich dort übernachtete. Es ist ein gastfreundliches Haus; sein Grundsatz schien: gib dem Gaste, was du hast, aber laß ihm seine Freiheit. Sie wußten alle, daß ich sehr beschäftigt war und daß ich nicht aufgehalten werden dürfe. Herr Billington hatte deshalb alle Papiere, die den Transport der Kisten betrafen, bereitgelegt. Es durchzuckte mich, als ich einen der Briefe wiedererkannte, die ich auf dem Tische im Bibliothekzimmer des Grafen hatte liegen sehen, ehe ich von seinen teuflischen Plänen die geringste Ahnung hatte. Alles war sorgfältig überdacht und systematisch und genau ausgeführt worden. Er schien sich auf jedes Hindernis vorbereitet zu haben, das sich der Ausführung seines Planes zufällig in den Weg legen konnte. Er hatte keine Möglichkeit außer Acht gelassen. Die völlige Genauigkeit, mit der seine Aufträge ausgeführt worden waren, war die logische Folge der aufgewendeten Sorgfalt. Ich sah die Anweisung und nahm eine Abschrift davon: »Fünfzig Kisten gewöhnlicher Erde für Experimentzwecke.« Auch die Kopie des Briefes an Carter Paterson und die Antwort darauf sah ich; von beiden nahm ich ebenfalls Abschrift. Das war alles, was mir Billington an Informationen geben konnte. Ich begab mich deshalb zum Hafen hinunter und suchte die Küstenwächter, die Zollbeamten und den Hafenmeister auf. Sie wußten alle etwas über die seltsame Ladung des gespenstischen Schiffes zu sagen, das schon seinen Platz in der Lokaltradition gefunden hatte, aber keiner von ihnen konnte die einfache Bezeichnung: »Fünfzig Kisten gewöhnlicher Erde« irgendwie ergänzen. Ich besuchte auch den Stationsmeister, der mir in zuvorkommender Weise die Leute angab, die die Kisten in Empfang genommen hatten. Ihre Angaben stimmten genau mit denen des Scheines überein, aber sie hatten nichts weiter hinzuzufügen, als daß die Kisten groß und sehr schwer gewesen seien und daß ihr Transport ein böses Stück Arbeit war. Einer von ihnen fügte noch hinzu, daß es ihnen sehr leid gewesen sei, daß kein Herr in der Nähe war, »ein solcher wie Sie, Herr!«, der ihnen für ihre schwere Dienstleistung eine Anerkennung in flüssiger Form hätte zukommen lassen. Ein anderer warf ein, daß der Durst, den sie damals bekamen, ein so furchtbarer gewesen sei, daß sie ihn, trotz der Zeit, die seitdem vergangen, immer noch spürten. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß ich diese Quelle von Vorwürfen, ehe ich fortging, in hinreichender Weise verstopfte.

30. September. – Der Stationsmeister hatte noch die Güte, mir einige Zeilen an seinen alten Freund, den Stationsmeister von Kings Croß, mitzugeben, damit ich von ihm, wenn ich am nächsten Morgen dahin käme, sogleich befriedigende Aufschlüsse über die Ankunft der Kisten erhielte. Auch setzte er mich mit den eigenen Beamten in Verbindung und ich erfuhr, daß ihre Angaben mit der Originalanweisung völlig übereinstimmten. Die Möglichkeit, sich einen außerordentlichen Durst zu erwerben, war hier eine geringere gewesen; trotzdem hatten sie aber von dieser Gelegenheit Gebrauch gemacht, und wieder war ich genötigt, postnumerando eine Entschädigung für die gehabten Anstrengungen zu gewähren.

Von da begab ich mich zu Carter Patersons Zentralbureau, wo ich auch mit der größten Zuvorkommenheit aufgenommen wurde. Sie schlugen ihr Tagebuch und ihr Briefbuch nach und telephonierten sogleich an ihre Geschäftsstelle in Kings Croß, um nähere Einzelheiten zu erhalten. Zum Glück warteten dort gerade die Leute, die damals die Fuhre gemacht hatten, auf Arbeit. Der betreffende Beamte schickte sie herüber und gab einem von ihnen den Frachtbrief und alle Papiere mit, die mit der Ablieferung der Kisten in Carfax zusammenhingen. Auch hier stimmten sämtliche Aufzeichnungen genau; die Fuhrleute waren imstande, die Knappheit der geschriebenen Worte durch einige Einzelheiten zu ergänzen. Diese bezogen sich, wie ich sofort bemerkte, auf die staubige Beschaffenheit der Ladung und den dadurch verursachten Durst der Transporteure. Da ich doch noch mehr erfahren wollte, so gab ich auch ihnen Gelegenheit, nachträglich dieses angenehme Übel gut zu machen. Dann sagte einer von ihnen:

»Ja, Herr, das Haus, in dem wir damals zu tun hatten, war das verrückteste, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Weiß der Teufel, es muß mindestens hundert Jahre lang nicht mehr bewohnt worden sein. Da lag ein Staub, der war so dicht, daß man sich darin hätte schlafen legen können, ohne sich die Beine blutig zu stoßen. Das Ganze war so vernachlässigt, daß man beinahe noch den alten Jerusalem herausroch. Aber die alte Kapelle, die war doch das Tollste, wirklich! Ich und mein Kamerad, wir konnten gar nicht rasch genug wieder herauskommen. Herr, nicht um eine Prise Schnupftabak möcht' ich dort bei Dunkelheit auch nur einen Augenblick mich aufhalten.«

Da ich das Haus gesehen hatte, konnte ich ihm wohl nachfühlen; wenn er aber alles das gewußt hätte, was ich weiß, würde er wahrscheinlich sich etwas stärkerer Ausdrücke bedient haben.

Eines ist mir sehr lieb: daß alle Kisten, die auf der »Demeter« von Varna nach Whitby angekommen sind, auch wirklich in der alten Kapelle zu Carfax abgeladen wurden. Es sollten eigentlich fünfzig Stück dort sein; nach Dr. Sewards Tagebuch aber steht zu befürchten, daß einige von ihnen entfernt wurden.

Ich werde den Versuch machen, den Fuhrmann aufzufinden, der die Kisten von Carfax abholte und von Renfield angegriffen wurde. Wenn ich dieser Spur nachgehe, werde ich wohl eine Menge Aufschlüsse erhalten.

Später. – – Mina und ich haben den ganzen Tag gearbeitet und jetzt endlich alle Papiere in Ordnung gebracht.

 

Mina Harkers Tagebuch.

30. September. – Ich bin so froh, daß ich mich kaum zu fassen weiß. Vermutlich, weil die drückende Furcht von mir gewichen war, daß die furchtbaren Erlebnisse und die Berührung seiner kaum vernarbten Wunden nachteilig auf Jonathans Gesundheitszustand einwirken könnten. Ich ließ ihn nach Whitby abreisen und hielt mich dabei so tapfer als möglich, aber trotzdem war ich krank vor Angst. Die geistige Anspannung hat ihm jedenfalls gut getan. Ich hatte ihn noch nie so entschlossen, kräftig und voll Energie gesehen wie jetzt. Es ist genau, wie der gute, teure Professor Van Helsing sagte: »Er ist von gutem Schrot und Korn und bewährt sich, wo andere längst versagen würden.« Er kam zurück voll von Lebensmut, Hoffnung und Entschlossenheit. Wir haben für heute Abend alles in Ordnung gebracht. Ich selbst bin ganz aufgeregt. Eigentlich müßte man ja Mitleid mit jemand haben, der so furchtbar verfolgt wird wie der Graf. Aber schließlich ist er doch kein menschliches Wesen, nicht einmal ein Tier. Wenn man aber Dr. Sewards Bericht über Lucys Tod und das, was nachfolgte, liest, dann müssen einem die Quellen des Mitleids in der Brust versiegen.

Später. – Lord Godalming und Herr Morris kamen früher, als wir erwartet hatten. Dr. Seward hatte auswärts zu tun, und Jonathan war mit ihm gefahren; so mußte ich also die beiden allein empfangen. Dies war mir eine sehr schmerzliche Aufgabe, denn sie rief mir alle die süßen Hoffnungen ins Gedächtnis zurück, die Lucy noch vor wenigen Monaten gehegt. Ohne Zweifel hatte ihnen Lucy von mir erzählt, und ich hatte auch den Eindruck, als hätte Van Helsing ihnen beiden gegenüber mein Lob gesungen. Arme Menschen, keiner von ihnen hat eine Ahnung davon, daß ich weiß, wie sie um Lucy geworben haben. Da sie nicht wußten, wie weit meine Kenntnisse gingen, wußten sie auch nicht, was sie sagen und tun sollten; deshalb drehte sich das Gespräch nur um nichtssagende Dinge. Ich überlegte mir die Sache und kam zu dem Entschlusse, daß es das Beste wäre, sie vollständig aufzuklären. Ich wußte aus Dr. Sewards Tagebuch, daß sie beide bei Lucys Tode – ihrem wirklichen Tode – anwesend waren und daß ich nicht zu befürchten hatte, ich könnte ihnen vor der Zeit ein Geheimnis verraten. So erzählte ich ihnen so gut ich konnte, daß ich all die Papiere und Tagebücher gelesen hatte und daß mein Mann und ich soeben damit fertig geworden seien, sie in Ordnung zu bringen. Ich gab jedem von ihnen eine Kopie, die sie in der Bibliothek lesen sollten. Als Lord Godalming die seine in Empfang nahm – es ist schon ein ansehnliches Bündel – sagte er:

»Haben Sie dies alles geschrieben, Frau Harker?«

Ich nickte, und er fuhr fort:

»Ich sehe ja Ihre Beweggründe dazu nicht ein, aber Sie sind alle so gut und edel und haben so eifrig und energisch gearbeitet, daß ich nichts Besseres tun kann, als Ihnen blindlings zu folgen und zu versuchen, mich Ihnen nützlich zu machen. Ich habe schon eine Lektion bekommen, die einen bis zum letzten Stündchen des Lebens demütig machen könnte. Außerdem weiß ich, daß Sie meine arme Lucy lieb gehabt haben – – –.« Hier wandte er sich ab und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Ich konnte sein Weinen vernehmen. Herr Morris legte nur einen Augenblick die Hand auf die Schulter des Freundes und ging dann geräuschlos aus dem Zimmer. Ich glaube, es liegt etwas in der Natur der Frau, was einen Mann veranlaßt, seinem Schmerze freien Lauf zu lassen und seine Gefühle vor ihr zu gestehen, ohne daß seiner Männlichkeit dadurch Abbruch geschieht, denn als Herr Morris das Zimmer verlassen hatte und Arthur sich allein mit mir sah, setzte er sich auf das Sofa und sprach sich rückhaltlos aus. Ich setzte mich neben ihn und nahm seine Hand. Ich hoffe nicht, daß er es unweiblich fand und auch später, wenn er wieder daran zurückdenkt, es unweiblich finden wird. Doch tue ich ihm da Unrecht. Ich weiß, daß dies nie der Fall sein wird; dazu ist er ein viel zu vornehmer Mann. Ich sagte, da ich seinen großen Schmerz sah:

»Ich habe Lucy sehr lieb gehabt und weiß, was sie Ihnen war, was Sie ihr waren. Sie und ich, wir waren wie Schwestern. Nun, da sie von uns gegangen ist, wollen Sie mir nicht erlauben, Ihnen in Ihrem Leide eine Schwester zu sein? Ich weiß, welche Pein Sie auszustehen hatten, wenn ich auch ihre Tiefe nicht zu ermessen vermag. Wenn Sympathie und Mitleid imstande sind, Ihnen Ihren Kummer etwas zu erleichtern, wollen Sie mich nicht mittragen lassen – um Lucys willen?«

Eine Zeitlang war der Lord eine Beute des tiefsten Grames. Ich hatte den Eindruck, als fände das Leid, das er die letzten Tage her schweigend getragen, nun einen plötzlichen, gewaltsamen Ausweg. Er war völlig fassungslos und rang die Hände in unsäglicher Verzweiflung. Er stand auf, setzte sich wieder, und die Tränen rollten über seine Wangen. Ich fühlte unendliches Mitleid mit ihm und schloß ihn unwillkürlich in meine Arme. Mit einem Seufzer legte er seinen Kopf an meine Schulter und weinte wie ein müdes Kind, während ihn der Schmerz schüttelte.

Wir Frauen haben den Mutterinstinkt, der uns über alles andere wegsehen läßt, wenn er einmal wachgerufen ist. Ich ließ den Kopf des gramerfüllten Mannes an meiner Brust ruhen, als sei es das des Kindes, das einst mein eigen sein wird, und streichelte sein Haar. Der Gedanke, daß dies doch sehr seltsam sei, kam mir im Augenblick nicht.

Nach einer Weile ließ sein Weinen nach und er riß sich mit einer Entschuldigung los, obgleich er aus seiner Bewegung kein Hehl machte. Er erzählte, daß er die vergangenen Tage und schlaflosen Nächte unfähig war, mit irgend jemand zu sprechen, wie man im Kummer sprechen muß. Er kannte auch keine Frau, die ihm ihr Mitgefühl bezeugt hätte oder mit der er, ohne Rücksicht auf die grausigen Umstände, mit denen sein Leid verbunden war, hätte reden können. »Jetzt weiß ich erst, was ich gelitten«, sagte er, indem er seine Augen trocknete, »ich kann niemand sagen, wie wohl mir die Teilnahme tut, die Sie mir heute bewiesen. Ich werde sie ja mit der Zeit noch besser einzuschätzen wissen. Glauben Sie mir, wenn ich schon jetzt nicht undankbar bin, meine Dankbarkeit wird immer mehr wachsen, je mehr mir alles zum Bewußtsein kommt. Darf ich Ihnen ein Bruder sein, mein Leben lang – um Lucys willen?«

»Um Lucys willen«, sagte ich, als wir uns die Hände reichten.

»Ja, aber auch um Ihretwillen«, fügte er hinzu, »denn wenn die Achtung und Dankbarkeit eines Mannes wert ist, gewonnen zu werden, die meinige haben Sie heute gewonnen. Wenn je in Zukunft eine Zeit kommen sollte, wo Sie der Hilfe eines Mannes bedürfen, rufen Sie mich, Sie werden mich nicht umsonst rufen. Gott gebe, daß niemals eine solche Zeit hereinbreche und den Sonnenschein Ihres Lebens trübe; wenn es Ihnen aber doch beschieden sein sollte, so versprechen Sie mir, mich zu benachrichtigen.« Er sagte das so ernst, und sein Kummer war so groß, daß ich fühlte, meine Zusage würde ihn trösten. So antwortete ich denn:

»Ich verspreche es.«

Als ich den Korridor entlang ging, sah ich Herrn Morris, der zum Fenster hinausschaute. Er fuhr herum, als er meine Schritte vernahm. »Wie geht es Arthur?« fragte er. Meine rotgeweinten Augen mußten ihm aufgefallen sein, denn er fuhr fort: »Ich sehe, Sie haben ihn getröstet. Es tat ihm Not. Niemand als eine Frau kann dem Manne helfen, wenn ihn das Herzeleid zu erdrücken droht, und er hatte keine, die ihm hätte helfen können.«

Er trug sein eigenes Leid so tapfer, daß er mich innig rührte. Ich sah das Manuskript in seiner Hand und wußte, daß, wenn er es gelesen hatte, ihm auch klar sein mußte, in welchem Umfange ich über alles unterrichtet war. Ich sagte:

»Ich wollte, ich könnte alle trösten, die Herzeleid tragen. Darf ich Ihre Freundin sein, und wollen Sie sich von mir trösten lassen, wenn Sie dessen bedürfen? Sie werden später einsehen, warum ich das sage.« Er sah, daß es mein voller Ernst war, trat näher, beugte sich tief auf meine Hand und küßte sie. Das schien mir ein zu geringer Trost für diese edle, selbstlose Seele; unwillkürlich küßte ich ihn auf die Stirn. Tränen traten in seine Augen und mit leiser Stimme sagte er:

»Süßes Weib, Sie werden Ihre Güte und Ihren Edelmut nie zu bereuen haben, solange Sie leben!« Dann begab er sich in das Arbeitszimmer zu seinem Freunde.

»Süßes Weib!« – dieselben Worte hatte er einst zu Lucy gesagt, und wie hatte er sich als Freund bewährt!


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