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Neunzehntes Kapitel.

Jonathan Harkers Tagebuch

1. Oktober, 5 Uhr vormittags. – Ich ging verhältnismäßig leichten Herzens mit den Übrigen auf die Suche nach unserem Feind, denn mir kommt es vor, als hätte ich Mina nie wohler und frischer gesehen. Ich bin froh, daß sie eingewilligt hat, zurückzubleiben und uns Männer allein handeln zu lassen. Es war mir ja von Anfang an unangenehm, daß ich sie in dieses gefahrvolle Unternehmen hereingezogen hatte; nun aber, da ihr Werk getan ist und, dank ihrer Energie, ihres Verstandes und ihrer Überlegung, das ganze Material in einer Weise zusammengestellt und geordnet ist, die die Übersicht ungemein erleichtert, wird sie vielleicht selbst einsehen, daß ihre Aufgabe erfüllt ist und sie das Übrige getrost uns überlassen kann. Wir waren alle durch die Szene in Renfields Zimmer sehr erregt, denn als wir herauskamen, sprach keiner von uns ein Wort, bis wir das Arbeitszimmer erreicht hatten. Da sagte Morris zu Dr. Seward:

»Sagen Sie, Jack, wenn dieser Mensch uns nicht verblüffen wollte, ist er weitaus der vernünftigste Narr, den ich je gesehen. Ich weiß es nicht gewiß, aber ich vermute, daß er irgend eine ernstliche Absicht hatte. Wenn es der Fall war, wird es ihn wohl verdrossen haben, daß es ihm nicht gelang seinen Willen durchzusetzen.« Lord Godalming und ich schwiegen, aber Van Helsing setzte hinzu:

»Freund John, Sie verstehen ja mehr von Irren als ich, und ich bin eigentlich froh darum; denn ich fürchte, daß ich ihn, wenn ich zu entscheiden gehabt hätte, schon vor dem hysterischen Anfall frei gelassen hätte. Aber wir leben und lernen, und bei der uns bevorstehenden Aufgabe dürfen wir nichts außer acht lassen. Alles ist am besten so, wie es ist.« Dr. Seward antwortete:

»Ich weiß nichts, als daß ich mit Ihnen übereinstimme. Wenn dieser Mensch ein gewöhnlicher Narr wäre, so hätte ich ihm unbedenklich getraut; aber er ist förmlich ein Wegweiser auf den Pfaden des Grafen, sodaß ich fürchtete, ich könne etwas Unrechtes tun, wenn ich seine Wünsche erfüllt hätte. Ich kann es nicht vergessen, daß er fast mit der gleichen Leidenschaft einmal um eine Katze bat und dann kurz darnach den Versuch machte, meine Kehle mit den Zähnen zu zerreißen. Außerdem nannte er den Grafen seinen ›Herrn und Meister‹. Wer weiß, ob er nicht deshalb so dringend fortwollte, um ihm auf seinen verruchten Pfaden zu helfen. Diese scheußliche Kreatur hat Wölfe und Ratten und sein eigenes Gelichter in der Gewalt; es sieht ihm auch ähnlich, daß er sich eines Irren für seine Zwecke bedient. Es schien ihm in der Tat sehr angelegen zu sein. Ich hoffe nur, wir haben das getan, was das Beste für uns ist. Diese Dinge, in Verbindung mit dem blutigen Werk, das uns erwartet, sind wohl geeignet einen zu entmutigen.« Der Professor trat an ihn heran und sprach in seinem ruhigen, gütigen Tone zu ihm:

»Freund John, Sie dürfen den Mut nicht sinken lassen. Wir versuchen, in dieser traurigen und entsetzlichen Sache unsere Schuldigkeit zu tun; wir können nichts anderes tun als das, was uns das Beste erscheint. Womit können wir denn sicherer rechnen, als mit der Gnade Gottes?« Lord Godalming hatte sich hinausgeschlichen und kehrte nach einigen Minuten zurück. Er hielt ein silbernes Pfeifchen hoch und sagte:

»Dieses alte Gerümpel ist unter Umständen voller Ratten; wenn es so ist, habe ich ein gutes Gegenmittel, das ich mir herbeirufen kann.« Nachdem wir die Mauer überstiegen hatten, gingen wir geradewegs auf das Haus zu; wir hielten uns sorgfältig im Schatten, den die Bäume im Mondlicht auf das Gras warfen. Als wir an dem Tore ankamen, öffnete der Professor seinen Koffer und zog verschiedene Sachen heraus, die er auf der Treppenstufe, in vier Gruppen verteilt, bereitlegte, anscheinend eine für jeden von uns. Dann begann er:

»Liebe Freunde, wir gehen einer furchtbaren Gefahr entgegen, und wir brauchen Waffen verschiedenster Art. Unser Feind ist ja nicht nur ein Gespenst. Denken Sie daran, daß er die Kraft von zwanzig Männern besitzt und daß bei uns Hals und Rückgrat die gewöhnlichen Eigenschaften haben, also zerbrochen oder zerquetscht werden können, während ihm Gewalt allein nichts anhaben kann. Ein Mann, der stärker wäre als er, oder eine Anzahl Männer könnten ihn wohl zu bestimmten Zeiten festhalten, aber sie können ihn nicht verletzen, wie er uns Menschen verletzen kann. Wir müssen deshalb darauf bedacht sein, daß er uns nicht berühren kann. Bewahren Sie das auf der Brust«, dabei nahm er ein kleines silbernes Kruzifix und gab es mir, der ich ihm zunächst stand, »diese Blüten aber legen Sie um den Hals« – er gab mir einen verwelkten Kranz von Knoblauchblüten; »für andere Feinde, die mehr von dieser Welt sind, diesen Revolver und dies Messer, und für alle Fälle diese kleine elektrische Lampe, die sie an der Brust befestigen können; schließlich aber und als höchsten Schutz dies, aber wir dürfen es nicht ohne Not verwenden.« Es waren dies einige geweihte Hostien, die er in ein Futteral legte und mir übergab. Die Übrigen wurden in gleicher Weise ausgerüstet. »Nun«, sagte er, »Freund John, wo sind die Dietriche? Wenn wir damit in das Haus kommen, so brauchen wir nicht durch das Fenster den Eingang zu erzwingen, wie damals bei Fräulein Lucy.«

Dr. Seward versuchte es mit einigen Dietrichen, wobei ihm seine Handfertigkeit als Chirurg recht zu statten kam. Bald hatte er einen passenden gefunden; er drehte ein paar Mal hin und her, dann gab das Schloß nach und sprang mit einem schrillen Klang zurück. Wir drückten gegen die Tür, die rostigen Angeln kreischten und langsam ging sie auf. Es muß einen ähnlichen Eindruck auf uns gemacht haben wie der Eintritt in Lucys Gruft, den Dr. Sewards Tagebuch schildert, denn wir prallten alle zurück. Der Professor aber ging voraus und trat als erster in das offene Tor.

»In manus tuas Domine!« sagte er, indem er sich beim Überschreiten der Schwelle bekreuzigte. Wir schlossen die Tür ab, da wir befürchten mußten, von der Straße aus gesehen zu werden, wenn wir unsere Lampen leuchten ließen. Der Professor prüfte noch sorgfältig das Schloß, damit wir imstande wären, es rasch von innen zu öffnen, wenn ein plötzlicher Rückzug notwendig würde. Dann entzündeten wir unsere Lämpchen und gingen auf die Suche.

Die sich kreuzenden Lichtstrahlen der kleinen Lampen zauberten seltsame Effekte an die Wände, während unsere Körper bizarre Schatten warfen. Ich konnte mit dem besten Willen des Gefühls nicht Herr werden, daß sich irgend ein Fremder unter uns befinde. Vielleicht war es nur die Erinnerung an die grausamen Erlebnisse in Transsylvanien, die in dieser unheimlichen Umgebung wieder in meinem Gehirn auftauchte. Ich glaube, auch die anderen hatten das gleiche Gefühl, denn ich bemerkte, daß sie bei jedem Geräusch, bei jedem vorüberhuschenden Schatten sich umsahen, wie ich es ja an mir selbst beobachten konnte.

Alles war mit dichtem Staub bedeckt. Auf dem Gange lag er anscheinend mehrere Zoll tief, außer an den Stellen, die frische Fußspuren aufwiesen, in denen ich beim Scheine meiner Lampe die Abdrücke von Sohlennägeln erkennen konnte. Die Wände waren feucht und dick mit Staub überzogen und in den Winkeln hingen Unmengen von Spinnenweben, auf denen sich der Staub angesammelt hatte, so daß sie zerfetzten Lumpen glichen, umsomehr als sie teilweise durch das Gewicht des Staubes heruntergerissen waren. Auf einem Tische inmitten des Flures lag ein großer Schlüsselbund; jeder einzelne der Schlüssel war mit einem vergilbten Zettel versehen. Sie mußten schon mehrere Male benützt worden sein, denn auf dem Tische sah man verschiedene Eindrücke in der Staubdecke, ähnlich denen, die das Aufheben des Schlüsselbundes durch Van Helsing hervorgebracht hatte. Er wandte sich zu mir und sagte:

»Sie kennen diesen Platz, Jonathan. Sie haben sich Skizzen davon gemacht und wissen wahrscheinlich hier genauer Bescheid wie wir. Wie kommt man am raschesten zur Kapelle?« Ich wußte ungefähr die Richtung, obgleich es mir bei meinem früheren Hiersein unmöglich gewesen war, mir dort Eintritt zu verschaffen. So führte ich die anderen, und nachdem wir ein paar Mal fehlgegangen waren, standen wir endlich vor einer niedrigen gotischen Eichentür, die starke eiserne Beschläge aufwies.

»Da ist es«, sagte der Professor und richtete seine Lampe auf einen kleinen Lageplan des Hauses, eine Kopie meiner Skizze, die ich seinerzeit meiner Originalkorrespondenz über den Hauskauf beigefügt hatte. Nach kurzem Suchen fanden wir den zugehörigen Schlüssel im Bunde und öffneten das Tor. Wir waren ja schon vorbereitet, daß etwas Übles hier unser wartete, denn als wir vor der Tür standen, strömte ein schwacher, garstiger Geruch aus den Ritzen heraus; aber wer hätte einen derartigen Gestank für möglich gehalten, wie er uns hier nun entgegenschlug? Außer mir war noch keiner der Übrigen mit dem Grafen in einem geschlossenen Raum zusammengekommen, wenn ich in seiner Gesellschaft in seinen Zimmern war, befand er sich in dem ausgehungerten Stadium seiner Existenz; mit frischem Blute vollgesaugt habe ich ihn nur in der verfallenen Kapelle gesehen, wo der Wind freien Zutritt hatte. Der ihm hier zur Verfügung stehende Raum war aber klein und eng, und die Luft war stickend und moderig. Es roch erdig, ein Miasma schien in der übelriechenden Atmosphäre zu schweben. Wie soll ich aber den Gestank selbst beschreiben. Es war nicht der Leichendunst und der stechende, süßliche Geruch frischen Blutes, sondern als wenn die Fäulnis selbst wieder in Fäulnis übergegangen wäre. Pfui Teufel! Es wird mir ganz übel, wenn ich daran denke. Jeder Atemzug, den dieses Scheusal tat, schien sich in dem Raume festgesetzt und die Luft in ekelerregender Weise verpestet zu haben.

Unter gewöhnlichen Verhältnissen hätte der Gestank wohl unserem Unternehmen ein Ende gemacht. Aber das war ein außergewöhnlicher Fall, und der erhabene, wenn auch furchtbare Zweck unseres Kommens gab uns eine über das normale Maß hinausgehende Widerstandsfähigkeit. Nach dem ersten Zurückprallen vor dem ekelhaften Hauch gingen wir ohne Ausnahme an unser Werk, als sei der verpestete Raum ein Rosengarten.

Ehe wir mit der genauen Durchsuchung des Raumes begannen, sagte der Professor:

»In erster Linie handelt es sich darum, herauszubekommen, wie viel Kisten noch hier sind; wir müssen deshalb jedes Loch, jeden Winkel und jede Ritze durchforschen und versuchen, einen Aufschluß über den Verbleib der übrigen Kisten zu erhalten.« Ein Blick genügte, um zu sehen, wieviel Kisten vorhanden waren, denn sie waren sehr plump und groß, ein Irrtum bezüglich ihrer Anzahl deshalb ausgeschlossen.

Von den fünfzig waren nur noch neunundzwanzig übrig! Es überlief mich kalt, als ich bemerkte, daß Lord Godalming sich plötzlich umkehrte und aus der gewölbten Türöffnung einen Blick in den dunklen Gang draußen warf; mein Herz stand einen Augenblick still. Da, aus dem Schatten hervorstechend, meinte ich des Grafen verruchtes Gesicht zu erkennen, die hohe Nase, die rotglühenden Augen, die roten Lippen, die schreckliche Blässe. Es war nur einen Augenblick zu sehen, denn als Lord Godalming sagte: »Ich glaube ein Gesicht zu erblicken, aber es muß doch nur ein Schatten gewesen sein«, drehte ich meine Lampe nach der angegebenen Richtung und begab mich hinaus auf den Gang. Aber nichts mehr war zu sehen, und da sich dort keine Winkel, keine Türen, keine Öffnungen befanden, sondern nur die festen Mauern, bot sich kein Versteck, nicht einmal für ihn. Ich nahm an, daß die Furcht die Mutter dieses Phantasiegebildes gewesen sein, und sagte nichts weiter.

Einige Minuten später sah ich Morris plötzlich vor einem Winkel, den er durchsuchte, zurückschrecken. Wir verfolgten alle seine Bewegungen mit den Augen, denn eine gewisse Nervosität hatte sich zweifellos unserer bemächtigt; der ganze Winkel war voll phosphoreszierenden Lichtes, in dem es zuweilen blitzte wie von Sternen. Wir zogen uns unwillkürlich zurück. Der ganze Raum füllte sich mit Ratten.

Wir standen einige Minuten entsetzt da, nur Lord Godalming schien auf ein solches Ereignis gefaßt. Er sprang rasch auf das große, eisenbeschlagene Tor der Kapelle zu, das Dr. Seward von außen gesehen hatte und das auch ich kannte, drehte den Schlüssel im Loch, zog den Riegel zurück und riß den Flügel mit mächtigem Schwung auf. Dann zog er ein silbernes Pfeifchen aus der Tasche, setzte es an die Lippen und ließ einen lauten, schrillen Pfiff ertönen. Hinter Dr. Sewards Hause antwortete Hundegebell, und nach kaum einer Minute kamen drei Terriers um die Hausecke dahergeschossen. Unwillkürlich hatten wir uns alle gegen die Pforte zusammengedrängt, und als wir näher kamen, bemerkte ich, daß der Staub sehr zusammengetreten war; die Kisten waren auf diesem Wege entfernt worden. Es war nur kurze Zeit vergangen, dennoch hatten sich die Ratten bis ins Ungeheuerliche vermehrt. Überall schwärmten sie umher; im Scheine des Lampenlichtes, das auf ihre beweglichen Körper und ihre glitzernden Augen fiel, meinte man, der Boden, den sie bedeckten, sei ein Sandhaufen, auf dem sich unzählige Leuchtkäfer tummelten. Die Hunde sprangen herbei, auf der Schwelle aber blieben sie stehen und knurrten; dann hoben sie die Nasen hoch und begannen kläglich zu heulen. Die Ratten vermehrten sich immer noch und wir beeilten uns, aus der Kapelle herauszukommen.

Lord Godalming hob einen der Hunde auf und warf ihn über die Schwelle in das Innere. Kaum berührten seine Füße den Boden, da schien auch schon sein Mut wiederzukehren, und er griff schneidig seine natürlichen Feinde an. Diese flüchteten so rasch, daß er nur wenigen das Leben aus dem Leibe schütteln konnte; die anderen beiden Hunde aber, die auf dieselbe Weise herein befördert worden waren, machten fast gar keine Beute mehr, so schnell war die unheimliche Gesellschaft verschwunden.

Mit ihnen schien sich auch der Druck zu entfernen, der auf uns gelegen. Die Hunde wurden lebhafter und bellten fröhlich, indem sie noch einmal über ihre niedergestreckten Feinde herfielen, sie umherdrehten und wütend in die Luft warfen. Wir fühlten alle, wie wir wieder besserer Laune wurden. Vielleicht war es deswegen, weil durch das geöffnete Tor reine Luft eindrang und die verdorbene Atmosphäre verdrängte oder weil wir uns selbst wieder im Freien befanden. Jedenfalls wich das unbehagliche Gefühl, das wir bisher empfunden, von uns, und wir vergaßen auf Augenblicke den furchtbaren Zweck unseres Kommens, ohne daß wir aber im geringsten in unserem Entschlusse schwankend geworden wären. Wir verschlossen und verriegelten das äußere Tor wieder und legten die Ketten vor; dann setzten wir mit den Hunden unsere Suche fort. Wir fanden nichts als ungeheuere Mengen Staub, der, vollkommen unberührt, nur von meinem ersten Besuche her noch meine Fußspuren aufwies. Die Hunde gaben kein Zeichen der Angst mehr von sich, und selbst als wir in die Kapelle zurückkehrten, sprangen sie fröhlich umher, als gelte es einer Kaninchenjagd im sommerlichen Walde.

Der Morgen erwachte schon im Osten, als wir bei der Haupttür das Haus verließen. Dr. Van Helsing hatte den großen Schlüssel vom Bunde genommen und schloß sorgfältig ab, dann steckte er den Schlüssel in die Tasche.

»So weit«, sagte er, »wäre diese nächtliche Expedition erfolgreich verlaufen. Es ist uns kein Leid geschehen, wie ich sehr befürchtete, und wir wissen nun, wie viele Kisten fehlen. Mehr als alles andere aber freut mich der Umstand, daß dieser erste und vielleicht schwierigste und gefährlichste Schritt getan ist, ohne daß unsere verehrte Frau Mina in Mitleidenschaft gezogen worden ist, daß wir ihr Wachen und ihre Träume vor dem Entsetzlichen, was wir sehen, hören und riechen müssen und das sie nimmer vergessen würde, bewahrt haben. Eins haben wir außerdem noch festgestellt, wenn hier ein Schluß im besonderen zulässig ist: daß die scheußlichen Tiere, über die der Graf gebietet, selbst nicht mit seinen übernatürlichen Kräften ausgestattet sind; denn die Ratten kommen wohl auf seinen Ruf, wie damals die Wölfe, als er Sie am Verlassen des Schlosses verhindern, als er die jammernde Frau unschädlich machen wollte, aber obgleich sie seinem Rufe Folge leisteten, flohen sie doch Hals über Kopf vor den Hunden unseres Freundes Arthur. Wir haben nun andere Dinge vor uns, andere Gefahren, andere Sorgen. Dieses Scheusal hat heute Nacht nicht das erste Mal seine Gewalt über die Tiere gegen uns ins Treffen geführt. Vielleicht ist er auch fort. Gut! Jedenfalls haben wir Gelegenheit gehabt, ihm Schach zu bieten in diesem Spiele, wo es sich um Menschenseelen handelt. Und nun wollen wir nach Hause gehen. Der Morgen ist nahe, wir haben alle Ursache, mit dem Erfolg dieser ersten Nacht zufrieden zu sein. Es mag uns bestimmt sein, daß noch eine Menge Tage und Nächte, voll von Gefahren für uns, folgen. Aber wir müssen vorwärts und dürfen vor keiner Gefahr zurückschrecken.«

Als wir in unser Haus traten, war alles still; nur in weiter Ferne heulte irgend eine Kreatur und aus Renfields Zimmer kam ein leiser, klagender Laut. Der Mann peinigte sich jedenfalls selbst, nach der Art der Irren, mit unnützen, qualvollen Gedanken.

Ich trat auf den Zehen in unser Schlafzimmer und fand Mina schlafend; sie atmete so leise, daß ich mein Ohr auf ihre Brust legen mußte, um überhaupt etwas zu hören. Sie sieht blasser aus als sonst. Hoffentlich hat die nächtliche Besprechung sie nicht allzusehr angegriffen. Ich bin wirklich froh, daß sie künftig von unserer Arbeit, sogar von unseren Beratungen fern bleibt. Die Anstrengung wäre für eine Frau doch zu groß. Anfangs war ich ja nicht der Ansicht, aber heute weiß ich es besser. Es könnten doch Dinge besprochen werden, die sie in Sorge versetzen; dann würde es unter Umständen schlimmer sein, ihr etwas verheimlichen zu müssen, als es ihr zu sagen, wenn sie einmal argwöhnt, daß ihr etwas verheimlicht wird. So ist unser weiteres Werk für sie ein Buch mit sieben Siegeln, bis wir ihr endlich sagen können, daß alles vorüber und die Erde von dieser Ausgeburt der Hölle befreit ist. Es wird ja nicht leicht sein, nach dem Vertrauen, das wir ihr bisher erwiesen, sich nun plötzlich in undurchdringliches Schweigen zu hüllen. Aber ich muß stark sein. Morgen werde ich über die Ereignisse der Nacht Stillschweigen bewahren und mich weigern, über irgend etwas zu sprechen, was wir heute gesehen und erlebt haben. Ich lege mich auf das Sofa, um sie nicht zu stören.

1. Oktober, später. – – Es ist begreiflich, daß wir alle uns etwas verschlafen haben, denn den Tag über waren wir schon sehr beschäftigt und in der Nacht fanden wir ja auch keine Ruhe. Sogar Mina muß erschöpft gewesen sein, denn ich war, trotzdem ich schlief, bis die Sonne schon hoch stand, doch vor ihr wach und mußte sie zwei oder drei Mal rufen, ehe sie zu sich kam. Sie war noch so schlaftrunken, daß sie einige Augenblicke mich gar nicht erkannte, sondern mich schreckerfüllt anstarrte wie jemand, der aus einem bösen Traume erwacht. Sie klagte über Müdigkeit, weshalb ich sie noch länger ruhen ließ. Wir wissen nun, daß einundzwanzig Kisten fehlen, und wenn sie auf einmal wegtransportiert worden sind, so kommen wir ihnen doch leicht auf die Spur. Das wird unsere Arbeit bedeutend erleichtern, je eher wir die Sache in Ordnung bringen, desto besser. Ich werde heute noch Thomas Snelling aufsuchen.

 

Dr. Sewards Tagebuch.

1. Oktober. – Es war bereits nahe am Mittag, als der Professor in mein Zimmer trat und mich weckte. Er war fröhlicher und freundlicher als in der letzten Zeit; es ist ersichtlich, daß das Werk der letzten Nacht eine drückende Last von seiner Seele genommen hat. Er berührte nur kurz das nächtliche Abenteuer und sagte dann plötzlich:

»Ihr Patient erregt mein Interesse in hohem Grade. Könnten Sie es möglich machen, daß ich ihn in Ihrer Begleitung heute vormittag besuche? Oder wenn Sie zu sehr beschäftigt sein sollten, kann ich ihn ja auch allein aufsuchen. Es ist mir etwas ganz Neues, einen Narren philosophieren und klar diskutieren zu hören.« Ich hatte einiges Eilige zu tun und sagte ihm, es wäre mir lieb, wenn er ohne mich zu Renfield ginge, weil ich diesen dann auch nicht warten zu lassen brauchte. Ich rief einen Wärter und gab ihm die nötigen Instruktionen. Ehe der Professor das Zimmer verließ, warnte ich ihn noch eindringlich, ja keine falschen Eindrücke von meinem Patienten mitzunehmen. »Ich möchte«, sagte er, »mit ihm nur über ihn selbst plaudern und über seine fixe Idee, lebende Wesen verzehren zu müssen. Er sagte ja Frau Mina, wie ich ihrer gestrigen Tagebuchaufzeichnung entnahm, daß er an einer solche Idee gelitten habe. Warum lächeln Sie, Freund John?«

»Entschuldigen Sie«, sagte ich, »aber die Antwort ist hier.« Dabei legte ich meine Hand auf den maschinengeschriebenen Akt. »In dem Augenblick, als unser gesunder und gelehrter Narr erklärte, daß er die Gewohnheit, Lebewesen zu verschlingen, gehabt habe, war sein Mund noch beschmutzt von den Fliegen und Spinnen, die er einen Augenblick vorher, ehe Frau Mina eintrat, gegessen hatte.« Hier lächelte Van Helsing. »Gut!« sagte er. »Sie haben ein vorzügliches Gedächtnis. Ich hätte mich ja auch daran erinnern können. Gerade diese Unregelmäßigkeit des Denkens und des Erinnerns macht das Studium der Geisteskrankheiten so fesselnd. Vielleicht geben mir die Narrheiten dieses Narren mehr Aufschlüsse, als es die Lehren des Weisesten könnten. Wer weiß?« Ich setzte meine Arbeit fort und war bald wieder darin vertieft. In der Tat schien mir die Zeit sehr kurz, die Van Helsing ferngeblieben war. »Störe ich?« fragte er höflich, während er in der Türe stehen blieb.

»Nicht im geringsten«, antwortete ich, »kommen Sie nur herein. Ich bin mit meiner Arbeit zu Ende und stehe zu Ihrer Verfügung. Ich kann nun mit Ihnen gehen, wenn Sie wollen.«

»Es ist zwecklos, ich war schon bei ihm.«

»Wirklich?«

»Ich fürchte, er schätzt mich nicht sehr hoch ein. Unsere Besprechung war recht kurz. Als ich in sein Zimmer kam, saß er in dessen Mitte auf einem Stuhl, die Ellbogen auf die Knie gestützt; das Gesicht trug den Ausdruck äußerster Unzufriedenheit. Ich sprach ihn so freundlich an, als ich konnte, und mit aller Rücksichtnahme, deren ich fähig war. Er antwortete mir überhaupt nicht. »Kennen Sie mich nicht mehr?« fragte ich ihn. Seine Antwort war nicht gerade schmeichelhaft: »Ich kenne Sie recht gut; Sie sind der alte verrückte Van Helsing. Ich wollte, Sie scherten sich mitsamt Ihren blödsinnigen Gehirntheorien zum Teufel. Diese verfluchten Dickschädel von Holländern!« Dann sagte er kein Wort weiter, sondern saß in seiner unüberwindlichen Verdrießlichkeit da und kümmerte sich nicht mehr um mich, als sei ich gar nicht im Zimmer. Allmählich verlor ich die Hoffnung, an diesem so vernünftigen Narren etwas lernen zu können. Ich will nun, wenn es Ihnen recht ist, hinuntergehen und ein paar Worte mit Frau Mina wechseln. Freund John, es freut mich unsagbar, daß sie nichts mit den schrecklichen Sachen zu tun, sich nichts mehr darum zu kümmern hat. Wenn wir auch ihre Hilfe sehr vermissen werden, ist es doch besser so.«

»Da gebe ich Ihnen vollkommen recht«, antwortete ich nachdrücklich, denn ich wollte ihn in seinem Vorsatz nicht wankend werden lassen. »Frau Harker hält sich besser von diesen Dingen fern. Die Sachen stehen schon für uns übel genug, die wir Männer von Welterfahrung und schon ordentlich herumgeworfen worden sind. Aber für eine Frau ist da kein Platz, und wenn sie noch länger mit der Angelegenheit zu tun hätte, würde sie mit der Zeit unfehlbar Schaden nehmen.«

Van Helsing ist nun unten und konferiert mit Herrn und Frau Harker; Quincey und Arthur forschen nach dem Verbleib der Erdkisten. Ich will meine Arbeit noch vollenden, denn abends wollen wir uns wieder treffen.

 

Mina Harkers Tagebuch.

1. Oktober. – Es kommt mir ganz seltsam vor, daß ich über alles im Dunkeln gehalten werde, daß Jonathan nach so vielen Jahren vollkommenen Vertrauens mir nun angelegentlich vieles, und gerade das Wichtigste von allem, verschweigt. Heute früh schlief ich sehr lange nach den Anstrengungen des gestrigen Tages; Jonathan war, trotzdem er auch sehr lange schlief, immer noch früher auf als ich. Er sprach mit mir, ehe er wegging, liebenswürdig und freundlich wie immer, aber er erwähnte kein Wort von dem, was sich heute nacht bei dem Besuche im Hause des Grafen ereignet hatte. Und er mußte doch wissen, wie schrecklich gespannt ich darauf war. Ich glaube, es macht ihn noch trauriger als mich. Sie haben alle beschlossen, daß ich nicht weiter bei der grauenvollen Sache beteiligt sein sollte, und ich habe meine Zustimmung gegeben. Aber es ist mir trotzdem ein drückender Gedanke, daß er etwas vor mir geheim hält! Und nun weine ich wie ein Narr, obwohl ich weiß, daß die Maßregel der großen Liebe meines Mannes und der Fürsorge jener anderen starken Männer entspringt.

Jonathan wird mir doch eines Tages alles erzählen. Damit er nicht denkt, ich könnte ihm auch irgend etwas geheimhalten, will ich mein Tagebuch führen wie immer. Wenn er an mir zweifeln sollte, werde ich es ihm zeigen, und er wird jeden Gedanken meines Herzens lesen können. Ich fühle mich heute merkwürdig traurig und niedergedrückt. Wahrscheinlich ist es die Reaktion auf die Erregung der letzten Tage.

Gestern Nacht begab ich mich zu Bett, als die Herren gegangen waren, lediglich weil sie es mir geraten hatten. Ich fühlte keinen Schlaf, war aber voll verzehrender Angst. Ich dachte darüber nach, was sich alles ereignet hatte, seit Jonathan mich in London kennen lernte. Es ist wie eine grausige Tragödie, in der das Fatum unerbittlich auf ein unabwendbares Ende hindrängt. Alles, was wir tun, und mag es noch so gut gemeint sein, führt immer das herbei, was am meisten zu befürchten war. Wäre ich nicht nach Whitby gegangen, vielleicht weilte unsere gute Lucy heute noch unter uns. Es wäre ihr ohne mich gar nicht eingefallen, den Friedhof auf dem Cliff zu besuchen, und wenn sie tags nie dahin gekommen wäre, so wäre sie auch schlafwandelnd nicht hinaufgegangen; und wenn sie nicht nachts und im Schlafe dort gewesen wäre, dann hätte jenes Scheusal sie nicht zu Grunde richten können. Ach Gott, warum mußte ich auch nach Whitby kommen? Da weine ich nun schon wieder! Ich möchte nur wissen, was heute über mich gekommen ist. Ich muß es vor Jonathan verbergen; denn wenn er wüßte, daß ich zweimal an einem Vormittag geweint habe, ich, die ich meinetwegen nie geweint und der er nie Anlaß dazu gegeben hat, der gute Mann würde sich das Herz aus dem Leibe sorgen. Ich werde meine mutigste Miene aufstecken, und wenn mir wieder weinerlich zu Mute ist, so soll er es wenigstens nicht sehen. Ich glaube, es ist dies eine der Lektionen, die uns Frauen erteilt werden.

Ich kann mir gar nicht mehr denken, wie ich heute Nacht einschlief. Ich weiß nur, daß ich plötzlich das Bellen von Hunden und eine Reihe merkwürdiger Laute hörte, die aus Renfields Zimmer unter dem meinen zu kommen schienen; ich glaubte ihn in aufgeregter Weise beten zu hören. Dann ward es plötzlich still, so schrecklich still, daß ich entsetzt aufstand und zum Fenster hinaussah. Draußen war alles ruhig und dunkel; die tiefen Schatten schienen voll von Geheimnissen. Nichts rührte sich, alles war starr und unheimlich wie der Tod oder das Schicksal. Nur ein dünner Streifen weißen Nebels, der mit fast unmerklicher Bewegung über den Rasen gegen das Haus herankroch, schien Leben und Gefühl zu haben. Ich glaube, diese Ablenkung meiner Gedanken hatte mir gut getan, denn als ich wieder in mein Bett zurückging, fühlte ich, wie eine förmliche Erstarrung über mich kam. Ich lag eine Zeit lang da, konnte aber nicht schlafen; so stand ich denn wieder auf und sah zum Fenster hinaus. Der Nebel breitete sich aus und war nun ganz nahe am Hause; er legte sich ganz dicht an die Mauer, als wolle er sich zum Fenster hereinstehlen. Der Irre war lauter, als ich ihn je gehört habe, und obgleich ich keines seiner Worte verstand, konnte ich doch aus dem Tone derselben entnehmen, daß er flehentlich um etwas bat. Dann meinte ich ein Ringen zu vernehmen und wußte, daß er mit den Wärtern handgemein geworden war. Ich war so erschreckt, daß ich in mein Bett kroch, die Decke über den Kopf zog und die Finger in die Ohren steckte. Ich war nicht im geringsten schläfrig, wenigstens dachte ich so, aber ich muß doch eingeschlafen sein, denn außer einigen Träumen erinnere ich mich an gar nichts, bis mich Jonathan weckte. Ich glaube, es hat einige Zeit und Mühe gekostet, mir ins Bewußtsein zurückzurufen, wo ich eigentlich war, und daß Jonathan es war, der sich über mich beugte. Mein Traum war sehr merkwürdig und typisch dafür, wie sich die Gedanken des Wachenden in die Träume des Schlafenden vermischen und darin fortsetzen.

Ich wollte schlafen und doch wieder auf Jonathans Rückkehr warten. Ich sorgte mich sehr um ihn und war unfähig, irgend etwas zu tun; meine Füße, meine Hände, mein Gehirn waren mir so schwer, daß ich keinen Entschluß zu fassen imstande war. So schlief ich unruhig und dachte immer wieder nach. Dann fühlte ich plötzlich, daß die Luft schwer, feucht und kalt wurde. Ich schlug das Bettlaken von meinem Gesicht zurück und bemerkte zu meinem Erstaunen, daß es rings um mich ganz düster war. Die Gasflamme, die ich für Jonathan, etwas heruntergeschraubt, hatte brennen lassen, schimmerte nur mehr wie ein einziger roter Funken durch den Nebel, der offenbar dicker geworden und ins Zimmer gedrungen war. Dann fiel mir ein, ob ich, bevor ich wieder ins Bett ging, das Fenster geschlossen hätte. Ich wollte mich vergewissern, aber eine bleierne Schwere schien meine Glieder und sogar meinen Willen zu lähmen. Ich lag still und wartete; das war alles. Ich schloß die Augen, hatte aber den Eindruck, als sähe ich durch die Lider. (Es ist merkwürdig, welche Streiche uns die Träume zuweilen spielen und wie willig wir diesen Einbildungen nachgeben.) Der Nebel wurde immer dichter, und nun konnte ich auch bemerken, wie er herein kam; er war wie Rauch oder wie energisch strömender Wasserdampf, der nicht durch das Fenster, sondern durch die Türritzen hereindrang. Er wurde immer dicker und dicker und verdichtete sich schließlich zu einer Art Wolkensäule, an deren Spitze ich das Gaslicht wie ein rotes Auge glimmen sah. Die Gedanken begannen mir im Kopfe zu wirbeln, genau wie die Nebelsäule nun im Zimmer zu wirbeln begann, und mitten darinnen kamen mir ganz unvermittelt die Bibelworte in den Sinn: »Er ist wie eine Säule von Rauch bei Tage und von Feuer in der Nacht.« War es vielleicht wirklich ein solcher überirdischer Führer, der da in der Nacht zu mir kam? Aber die Säule war zusammengesetzt aus Rauch und Feuer, denn das Feuer lag in dem roten Auge. Bei diesem Gedanken spielte mir meine Phantasie einen neuen Streich, denn als ich näher hinsah, teilte sich das Feuer, und durch den Nebel starrten mich zwei glühende Augen an. Von solchen Augen hat mir damals Lucy erzählt, als wir auf dem Cliff spazieren gingen und sie in plötzlicher Geistesabwesenheit das Licht der untergehenden Sonne sich in den Fenstern der Marienkirche wiederspiegeln sah. Plötzlich packte mich ein jäher Schrecken; ich dachte daran, daß Jonathan jene entsetzlichen Weiber im Mondlicht sich aus dem wirbelnden Nebel hatte materialisieren sehen; ich muß im Schlafe ohnmächtig geworden sein, denn schwarze Finsternis umfing mich. Meine Phantasie ließ mich noch in einem letzten Aufzucken ein fahles, weißes Gesicht erkennen, das sich aus dem Nebel heraus über mich beugte. Ich muß mich vor solchen Träumen recht in Acht nehmen, denn sie können einem wohl den Verstand rauben, wenn sie sich öfter wiederholen würden. Ich hätte gerne Van Helsing oder Dr. Seward um ein Schlafmittel gebeten, aber ich fürchte, ich beunruhige sie damit. Ein solcher Traum würde sich ständig in ihre Sorgen um mich verweben. Heute Nacht will ich mich ernstlich bemühen, ohne künstliche Hilfsmittel zu schlafen. Wenn ich es nicht kann, werde ich sie morgen abend doch bitten, mir etwas Chloral zu verschreiben; einmal kann es nicht schaden und wird mir wenigstens eine Nacht ungestörter Ruhe verschaffen. Die letzte Nacht hat mich müder gemacht, als wenn ich überhaupt nicht geruht hätte.

2. Oktober, 10 Uhr Abends. – Letzte Nacht habe ich geschlafen, aber gar nicht geträumt. Ich muß sehr fest geschlafen haben, denn ich wachte nicht auf, als Jonathan sich zu Bett begab; aber der Schlaf hat mich nicht erfrischt; ich fühle mich heute sehr schwach und mutlos. Ich verbrachte den ganzen gestrigen Tag damit, daß ich zu lesen versuchte oder träumend herumlag. Nachmittags ließ mich Renfield fragen, ob er mich sprechen könne. Er war sehr liebenswürdig gegen mich, und als ich mich verabschiedete, küßte er meine Hände und segnete mich. Es hat mich ziemlich aufgeregt; ich muß weinen, wenn ich an ihn denke. Das ist eine neue Schwäche, vor der ich mich hüten muß. Jonathan wäre unglücklich, wenn er wüßte, daß ich geweint habe. Er und die Anderen waren bis kurz vor dem Abendtisch unterwegs und kamen recht ermüdet nach Hause. Ich tat mein Möglichstes, Jonathan aufzuheitern; ich glaube, dies tat mir gut, denn ich vergaß, wie müde ich war. Nach Tisch baten mich die Herren, schlafen zu gehen, und gaben vor, noch ein wenig miteinander rauchen zu wollen. Ich weiß aber sehr wohl, daß sie sich lediglich erzählen wollten, was sie im Laufe des Tages alles erlebt hatten. Ich konnte an Jonathans Verhalten erkennen, daß er wichtige Mitteilungen zu machen hatte. Ich war nicht so schläfrig als ich hätte sein müssen, und bat deshalb, ehe wir uns trennten, Dr. Seward, mir ein kleines Schlafmittel zu geben, da ich letzte Nacht nicht gut geschlafen hätte. Er bereitete mir bereitwilligst ein Tränkchen und bemerkte, daß es mild wirke und mir deshalb nicht schaden werde. Ich habe es genommen und warte auf den Schlaf, der sich immer noch fern hält. Ich hoffe, ich habe keine Dummheit gemacht, als ich darum bat, denn in dem Augenblick, als ich meine Lider zusinken fühlte, kam mir der Gedanke, daß ich mich leichtsinnigerweise der Fähigkeit, wach zu bleiben, beraubt habe. Vielleicht könnte es nötig werden. Nun kommt der Schlaf. Gute Nacht.


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