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II. Der reine Tor

In Arras floß das Leben äußerlich vermutlich im Jahre 1781 ebenso gleichmäßig und ruhig dahin wie etwa ein oder anderthalb Jahrzehnte früher. Man wurde geboren, gründete eine Familie und starb. Und nach wie vor blickte man gehässig, gruselnd und dennoch bewundernd auf Paris, das sich gesetzmäßig, wie es einem richtigen Erdkreis ziemt, um seine Sonne – Versailles – drehte. Trotzdem hatten viele Leute die Empfindung, daß irgend etwas in diesem Sonnensystem nicht mehr recht stimmen wollte. Der Erdkreis drehte sich zwar immer noch vorschriftsmäßig, die Sonne lieh ihm gnädig ihr Licht, aber dennoch – –

Nein, es stimmte durchaus nicht mehr, und die Unstimmigkeiten hatten schon bald nach der Thronbesteigung des jungen Königs begonnen, in dessen Ehrlichkeit und guten Willen das Volk so großes Vertrauen gesetzt hatte. In dieser Hinsicht brachte der sechzehnte Ludwig auch gewiß keine Enttäuschung, denn er war ein kreuzbraver, anspruchsloser Mensch, der herzlich gerne jedem geholfen hätte; doch um diesem Lande zu helfen, bedurfte es weniger Bravheit denn herkulischer Kraft und eines eisernen Willens. Von einem festen Willen aber wußte Versailles seit dem Tod der Frau von Pompadour (1764) nichts mehr. Seit sie, die Egeria der antipreußischen Politik, nicht mehr die Zügel der Regierung in ihrer schmalen Hand hielt, gab es in Versailles eigentlich nur mehr Cliquenwirtschaft, Kabalen, Gegenkabalen und Damenlaunen.

Zu besagten Launen lieferte die junge Königin Marie Antoinette ihr vollgerüttelt Maß. Über sie, ihr Wesen, ihre Schuld an künftigen Ereignissen und ihr Geschick ist schon so viel geschrieben, behauptet, widerlegt, gefaselt, geschluchzt und gezürnt worden, daß es sich erübrigt, allzu viele Worte über diese anmutige und tragische Frauenerscheinung zu verlieren. Nur so viel muß gesagt werden, daß sie weder der Engel an Schönheit, Güte und hoher Einsicht war, als den

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Ludwig XVI. mit seiner Familie.
Kupferstich von N. Heideloff.
Wien, Porträtsammlung der Nationalbibliothek

ihre Lobhudler sie zeigen möchten, noch auch »die österreichische Wölfin«, die eine tendenziöse Geschichtenschreibung aus ihr gemacht hat. Die mangelhaft und bigott erzogene Tochter Maria Theresias kam als Fünfzehnjährige an einen Hof, dessen Schamlosigkeit selbst für Rokokobegriffe beträchtlich war. Sie, das kaum den Kinderschuhen entwachsene Mädchen, sah, wie der alte Ludwig XV. sich mit der Dubarry vergnügte und wie der ganze Hof vor diesem ehemaligen Lasterdirnchen kroch. Ja sie selbst, die Kaisertochter, mußte auf allerhöchsten Befehl ihrer Mutter, um der Politik willen, der Mätresse freundlich begegnen und, den Töchtern des Königs gesellt, stand sie, solange Ludwig lebte, im Schatten der Dubarry. Mußten sich da in einem fünfzehnjährigen, nicht eben übermäßig klugen Frauenkopf nicht alle Begriffe von Recht und Sitte verwirren? Der Gatte aber, dem man sie angetraut, der dieser in fremdem Land und fremder Lasterhaftigkeit Einsamen hätte Halt und Führer sein sollen, der Gatte bereitete die bitterste Enttäuschung, auf die weder sie noch sonst jemand vorbereitet gewesen war. Ach, dieser Ludwig würde niemals eine wüste Mätressenherrschaft haben, denn er war nicht nur schwach an Geist und Willen, sondern leider auch in jenem Punkt, der zu erörtern heikel, aber zur Erhaltung der Dynastie unerläßlich nötig ist. Betrübliche Ausläufer einer einst hochberühmten Liebesrasse, lebten er und sein Bruder, der Graf von Provence, er jahrelang, Provence dauernd, in kinderloser Ehe, während sein jüngster Bruder, der Graf von Artois, den alten Traditionen treu blieb und dem Vaterland allerlei erlauchte und minder erlauchte Sprößlinge schenkte …

Als der fünfzehnte Ludwig gestorben war, erging es Marie Antoinette ungefähr wie Kronprinzen (auch Industrie-, Handels- und Finanzkronprinzen!), die allzu jung zur Herrschaft gelangen: Freiheit und Machtrausch stiegen ihr zu Kopf. Ob der vielgeplagte österreichische Gesandte, Mercy d'Argenteau, auch immer wieder bat und beschwor, ob die kaiserliche Mama auch strenge Mahnbriefe schrieb, – es half alles nichts: Frau Marie Antoinette war und blieb außer Rand und Band. Sie warf das Geld mit vollen Händen hinaus, stieß jeden Menschen, der ihr aus irgendeinem nichtigen Grunde nicht genehm war, vor den Kopf, benannte die Minister mit verletzenden Spitznamen, bevorzugte Damen, die sich für eine junge und auf ihren Ruf bedacht sein sollende Königin wenig schickten, war mit ihnen bald intim befreundet, bald ebenso intim verfeindet, mischte sich, schlechten Ratschlägen trauend, auf törichte Weise in die Staatsgeschäfte, ohne das geringste davon zu verstehen, – kurz, sie benahm sich, wie sich eben ein junges, oberflächliches Ding benimmt, dem kein vernünftiger Mensch zur Seite steht und das, in läppische Zerstreuungen versenkt, vergessen möchte, daß es weder einen Mann noch Kinder hat. Und da dies verheiratete, leidlich hübsche Mädchen eben innerlich zerfahren und auch viel zu kurzsichtig ist, um die Folgen ihrer Handlungen zu bedenken, weiß sie wohl nach einiger Zeit, daß das Ehepaar Provence ihr nicht wohlwill, aber sie merkt nicht oder es kümmert sie nicht, daß der Graf von Provence (»der Vater der Ränke«) heimlich anonyme Schmähschriften und Spottverse auf sie fertigt oder fertigen läßt, die geschickt in Paris vertrieben werden und das Ansehen der Königin ruinieren. Hilfreiche Hand bei dieser niederträchtigen Minierarbeit leistet des Königs Vetter, der Herzog von Orléans …

Ein schwacher, unbedeutender König, eine leichtsinnige und obendrein kinderlose Königin, dazu Familienmitglieder, die, beide lüstern nach der Krone, vor keiner Verleumdung zurückscheuen, – kann man sich da wundern, daß das Sonnensystem Versailles-Paris ins Wanken geraten wollte? – Obendrein leuchteten in Paris Sterne immer heller auf, die trotz aller Verdunklungsmethoden nicht zum Erlöschen gebracht werden können. Wie grimmig die Zensur auch waltete, wie auch des Henkers Hand unliebsame Bücher verbrannte – die Aufklärungsarbeit der Enzyklopädisten besteht, und ihr Werk vollendend ruft Rousseau sein neues Evangelium der Natur über die betroffene Menschheit hin.

Auch in die Provinz, auch nach Arras dringt dies neue Evangelium hin, ruft aber dort schwerlich die Sensation hervor, die ihm in Paris zuteil geworden. Die Provinz, fast durchwegs Agrarland, steht der für die Großstädter neuentdeckten Natur ja ungleich näher als die Salonwelt von Versailles, und außerdem ist die Provinz strenggläubig und darum mit dem Antichristentum Jean Jacques' keineswegs einverstanden. Was soll denn das heißen, daß der Mensch von Natur gut und erst von der Kultur verdorben worden ist? Der Pfarrer, der die Gebote der Kirche kennt, weiß das besser. Der Mensch ist von Geburt an mit der Erbsünde beladen und kann daher nur durch strenge Selbstzucht und Gebet gut werden. Und »der Mensch ist frei geboren, doch überall liegt er in Fesseln!« Nein, Herr Rousseau, der Mensch liegt nicht überall in Fesseln, denn er hat freien Willen, mit dem er Tugend üben und Böses meiden kann. Ja, den hat er, aber – –

Es gibt ein großes »Aber«, das für Herrn Rousseau spricht. Es bezieht sich allerdings nicht auf Moralbegriffe, sondern auf sehr reale Dinge: die Provinz, besonders die Landbevölkerung, leidet schwer unter dem veralteten System der Feudalrechte, der Steuer-Verteilung und -Eintreibung, der Zollschranken und anderer Übel und Schikanen, die ihr das Leben unerträglich machen. Darum horchen sie auch in der Provinz gerne auf, wenn das neue Evangelium verkündet wird, daß alle Menschen gleich und daß gewisse unveräußerliche Rechte jedem Menschen eingeboren sind und ihm nicht genommen werden dürfen oder dürften … Wer immer statt eines strenggläubigen Herzens ein feuriges, drängendes im Busen trägt, schwört auf Jean Jacques' Lehre, doch keiner leistet den Schwur mit tieferer Inbrunst als der Sohn des verschwundenen Rechtsanwalts Robespierre … –

Nach dem Abgang aus dem Kolleg hatte sich Maximilien, gleich seinem Vater und seinem Großvater, dem Studium der Rechte zugewandt. Er hatte seine Examina mit Glanz bestanden und sogar ein Stipendium von 600 Livres heimgetragen. Solch ein Stipendium ist eine Auszeichnung, und 600 Livres sind für einen eben aus dem Examen gestiegenen Rechtsgelehrten eine hübsche Summe, aber diesem jungen Menschen brannte das Geld gewiß wie Säure in der Hand, denn er war stolz, und darum bedrückte ihn jegliches Almosen, in welcher Form immer es gegeben wurde. Oh, endlich einmal herauskommen aus dieser ewigen Freiplatz- und Wohltatenatmosphäre, endlich auf eigenen Füßen stehen und geben dürfen statt zu nehmen!

Schon die nächste Zeit kann dies bescheidene Glück bringen, allerdings nicht in Paris, sonders in Arras, wo er in die Kanzlei seines Vaters einrücken will. Doch ehe er in die Heimat zurückkehrt, unternimmt er eine geheimnisvolle Reise, deren Ziel man wohl kennt, über die uns aber leider alle Einzelheiten fehlen. Die Fahrt ging nach Ermenonville, wo damals (1781) Rousseau als Gast des Marquis von Girardin lebte. Der junge Robespierre hatte ja, wie sich leicht denken läßt, jede freie Minute benützt, um sich in Bücher zu vergraben, und zwar nicht etwa in Pandekten, sondern in die moderne Literatur, die neue philosophische und soziale Probleme behandelte. Neben Voltaire war Jean Jacques der Autor gewesen, der ihn vor allen am mächtigsten angezogen hatte, und immer sehnlicher war der Wunsch geworden, den Mann kennenzulernen, der die großen, aufrüttelnden Wahrheiten in die Welt schleuderte. Wie diese Begegnung verlaufen ist, wissen wir leider nicht. Nur vermuten können wir, wie Robespierre, bleich vor Erregung, zitternd vor Ehrfurcht, die Hand küßte, die den »Contrat social« und den »Émile« geschrieben hatte, und wie er aus des Meisters Mund Worte vernahm, die ihm eine neue Welt auftaten. Nach dieser im Dunkel gebliebenen Reise ließ sich Robespierre als Advokat in Arras nieder.

Innerhalb seiner Familie hatte sich im Laufe der Zeit mancherlei verändert. Seine eine Schwester, Henriette, war gestorben, die andere aber, Charlotte, war nun ein erwachsenes Mädchen, wohl befähigt, dem Bruder den Haushalt zu führen. So bezog er mit ihr das kleine Haus, das ihnen als einziger Besitz geblieben war, und wartete auf Klienten, die sich auch bald einfanden. Reiche Leute waren freilich kaum darunter, aber die Lebensansprüche des neugebackenen Rechtsanwalts waren ja auch bescheiden genug! Als Frühstück eine Tasse Milch, ein frugales Mittagmahl, zum Abend ein paar Früchte – so waren seine leiblichen Bedürfnisse gestillt. Nach der Arbeit ein Spaziergang in frischer Luft und als Tagesschluß ein gutes Buch, ein Rousseau-Buch, mehr verlangte er nicht vom Leben. Er trank keinen Wein, er hatte keine Liebschaft, war nur Mitglied eines literarischen Vereins, der »Rosati«, die alljährlich im Juni ein verstiegenes Rosenfest feierten, bei dem es Wein gab, in dem Rosenblätter schwammen, und bei dem es nicht an brüderlichen Umarmungen und lateinischen Versen fehlte.

Dem jungen Rechtsanwalt mochte dies alles wohlgefallen, besser aber noch gefielen ihm die Prozesse, die er führen durfte, gefielen ihm just, weil er nicht Reiche sondern die bedrängte Armut, die Unterdrückten vertrat. Denn dies stolze und verschlossene Herz quoll über von Mitgefühl für alle, die mühselig und beladen waren, erhob sich in Zorn, wo das Recht des Stärkeren triumphieren wollte. Und das Recht des Stärkeren gehörte in jener Zeit nicht nur dem Adel, dem Finanzpächter, dem Reichen, sondern auch dem starren Glauben und dessen unerbittlichen Vertretern. So wuchs die Wirkung der Prozesse, die Robespierre führte, bald über bloßen Rechtsstreit hinaus: sie stritten um Gleichheit vor dem Gesetz, um Gewissensfreiheit, um den Fortschritt der Menschheit. Schnell wuchs das Ansehen des jungen Rechtsanwalts, und einer seiner Prozesse wurde beinahe berühmt und verdient Erwähnung, weil er ein kulturhistorisches Dokument ist. Da hatte ein neuzeitlich gesinnter und vorsichtiger Mann in Saint-Omer auf seinem Hause einen Blitzableiter anbringen lassen, was den Unwillen der bigotten Bevölkerung erregte, die einen Blitzableiter als einen Eingriff in das Walten der göttlichen Vorsehung betrachtete. Der liebe Gott würde schon wissen, ob das Haus dieses Dreisten verbrannt oder geschont werden sollte, – Herr Franklin, oder wie der Frevler sonst heißen mochte, der solch gotteslästerliche Dinge erfand, sollte die Hand aus dem Spiel lassen! Das Gericht schloß sich dieser geistreichen Meinung an, doch Robespierre vertrat das Recht auf den Blitzableiter so gewandt und überzeugend, daß Franklins Teufelserfindung sich dem lieben Gott gegenüber behaupten und der neuzeitliche und vorsichtige Mann in Saint-Omer seinen Blitzableiter behalten durfte!

Das Ansehen des Rechtsanwalts stieg, und der Mann Robespierre begann die Gemüter von Arras lebhaft zu beschäftigen. Man wußte, daß er zärtlich an seinen Geschwistern und den alten Tanten hing, daß er ein Herz für die Armen und Bedrückten hatte und daß er eine gutbezahlte Richterstelle beim bischöflichen Patrimonialgericht wieder aufgegeben hatte, weil es ihm unmöglich war, ein Todesurteil zu fällen. Sonst aber wußte man nichts von ihm, denn er blieb verschlossen und wortkarg, so daß keiner ahnen konnte, was in ihm vorging und was er träumte. Wahrscheinlich wußte er selbst nicht ganz genau, was er träumte. Vermutlich wogten in seinem wohlfrisierten Kopf damals nur unbestimmte Phantasien von einer neuen Weltordnung, in der er, Maximilien Robespierre, eine weithin sichtbare Stellung einnahm; denn ihn, den armseligen Sohn verschämter Dürftigkeit, ihn dürstete nicht nach Reichtum, den er verachtete, wohl aber schrien sein Ehrgeiz nach Bedeutung und seine Eitelkeit nach Anerkennung, nach Huldigung. Eitel war er schon in allem, was sein Äußeres betraf. Stets war er zierlich frisiert, tadellos rasiert, hielt auf peinliche Sauberkeit der Wäsche und des Anzugs, mochte seine Kleidung auch fadenscheinig und zuweilen beim Trödler gekauft sein. So radikal sich seine politischen Ansichten später auch äußern mochten, – nie, gar nie wollte er verschlampt wie ein Sansculotte einherkommen, sondern immer einem gepflegten Bürger gleichen. Noch als »Schreckensmann« hat er die Jakobinermütze verachtet, weil sie die rote Mütze der Galeerensträflinge nachahmte, und nie trug er das geknotete Halstuch über entblößter Brust, sondern stets das sorgfältig gefältelte weiße Jabot. Er war eben ein Bürger, Abkömmling einer bürgerlichen Rasse, ist in seinem Privatleben immer ein Bürger, um nicht zu sagen ein Spießbürger, geblieben. Durchaus bürgerlich ist ja auch sein beinahe überzüchteter Familiensinn, der ihn in Arras wie später in Paris immer wieder einen Familienkreis aufsuchen ließ, so daß Danton, der große Genießer, höhnend von ihm sagen wird: »Robespierre verbringt seine Tage inmitten von Klatschbasen und alten Jungfern!«

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Robespierre als junger Rechtsanwalt .
Nach einem Gemälde von Boilly.
Aus: Buffenoir, Les Portraitsde Robespierre. Paris 1910. Tafel 1

Mit dieser absonderlichen Zweiteilung in Radikalismus und Bürgerlichkeit stellt er den Typ des Franzosen dar; denn in einer richtig französischen Brust wohnen zwei Seelen: die einer Hyäne und die einer Hauskatze. Die Hyäne will zerfleischen und Blut sehen, die Hauskatze dagegen will behaglich in der Sonne liegen und schnurren. Aus dieser seelischen Kreuzung entstand das Wesen der französischen Nation, entstanden all die schrecklichen großen Revolutionäre, die Tausende aufs Schafott schickten und daheim, im häuslichen Kreise, gütige, brave Familienväter waren …

Man kann nicht mit Bestimmtheit behaupten, daß Robespierre in Arras mit irgendeinem Altersgenossen freundschaftliche Beziehungen unterhielt, und kein Frauenkleid rauscht in das Leben dieses Verschlossenen hinein. Doch gerade diese Enthaltsamkeit reizt die Neugier und auch die stille Bewunderung; denn allzeit hat »der reine Tor« auf die Phantasie der Frauen gewirkt, und es gab mehr denn eine, die diesem keuschen Manne gerne Geheimnisse offenbart hätte, an denen er bislang gleichgültigen Blicks vorbeigegangen war. Junge und hübsche Frauen umwarben ihn, obschon er keineswegs eine bestrickende Erscheinung war. Schmächtig, fahl von Gesichtsfarbe, mit schmalen, kußfremden Lippen, mit sehr kurzsichtigen Augen, die er auch noch häufig mit einer blauen Brille deckte, sehr korrekt, doch kühl und kurz in der Rede, dazu mit einer flachen Stimme begabt, schien er wahrlich nicht geeignet, Frauenherzen in Brand zu setzen. Aber die Reinheit, die Reinheit! Ein Mann ohne Liebschaft – unfaßlicher Gedanke für ein französisches Hirn, gleichviel, ob es einem Manne oder einer Frau gehört! Und wenn man der Wahrheit die Ehre geben will, muß man zugestehen, daß fast alle hohen Kulturen die Erfüller einer großen Sendung mit physischer Reinheit ausstatten, wenn sie auch nur angedichtet ist. Nun konnte allerdings in Arras niemand wissen, ob der Rechtsanwalt Robespierre zu einer solchen Mission berufen sei, denn die Reinheit allein ist natürlich keine Gewähr dafür; aber immerhin breitet sie um ihn einen gewissen Nimbus, den seine Streiterschaft für Armut und Bedrückung noch erhöht. Und die alten Damen, in deren Kreis er sich so wohlfühlt, sagen wörtlich von ihm: »Er ist ein Engel! Ein Engel, den gewiß böse Menschen betrügen und ausbeuten werden!«

Robespierres Eitelkeit schlürft solche und ähnliche Worte mit Wonne, ob sie auch nur von den welken Lippen alter Damen kommen. Den Lockungen der jungen aber widersteht er schweigend, gelassen. Vielleicht sind es für seine kühle Art gar keine Lockungen sondern nur Regungen, die er nicht recht versteht, wie die Lockenden wohl nicht verstehen würden, daß er nur ein leidenschaftliches Herz, nicht aber leidenschaftliches Blut besitzt und darum nicht die Liebe einer Frau sondern den Beifall der Menge begehrt. Der Erfüllung dieses Begehrens scheint allerdings zu seinem Leidwesen ein körperliches Hindernis entgegenzustehen: die flache Stimme, die um so schriller wurde, je mehr er sich für eine Sache erwärmte. Weiß Gott, bei seinem ersten Plädoyer wurde er ob dieser Stimme ausgelacht. Richtig ausgelacht, er, Maximilien Robespierre, der ob seiner Rhetorik in Paris preisgekrönt worden war! Doch ob sie auch lachten – gewonnen hat er seine Prozesse dennoch! Was bliebe ihm denn auch im Leben, wenn nicht der Erfolg ihm lächelte!? Er ist ja nur ein Kleinstädter, der nicht einmal, wie es dem richtigen Kleinstädter ziemt, eine Familie gründen will. Er würde also, sofern eben nicht eines Tags der große Erfolg käme, von dem er träumt, in seiner Kanzlei als Hagestolz versauern. Würde alt, krittlig, vielleicht nach Hagestolzenart auch geizig werden, um schließlich in hohem Alter, von einer zänkischen Wirtschafterin betreut, einsam zu sterben. An seinem Grabe würde irgendein juristischer Kollege oder Beamter banale Worte über »diesen würdigen Sohn der Stadt« sprechen, etliche Blumen und Kränze würden niedergelegt, und kaum ein Jahr später würde der Rechtsanwalt Robespierre vergessen sein, wie alle, die Großes gewollt, es aber nie erreicht haben … –


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