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Elftes Kapitel.

Lucy Westenraas Tagebuch

12. September. – Wie gut sie alle zu mir sind. Ich bin ganz verliebt in diesen prächtigen Dr. Van Helsing. Ich möchte wissen, warum er wegen der Blüten so ärgerlich war. Er hat mich mit seinem Wutausbruch tatsächlich erschreckt. Und doch muß er recht damit haben, denn ich habe das Gefühl, als ströme eine gewisse ruhige Behaglichkeit von ihnen aus. Jedenfalls fürchte ich mich nicht davor, heute Nacht allein sein zu müssen, und kann mich ohne Sorge zur Ruhe legen. Das Flattern außen an meinem Fenster stört mich nicht. Wenn ich denke, wie furchtbar ich in der letzten Zeit mich gegen den Schlaf gewehrt habe! Die doppelte Pein, der Schlaflosigkeit und die der Angst vor dem Schlafe, der für mich so unbegreifliche Schrecken hatte. Wie glücklich sind die Menschen, deren Leben ohne Furcht, ohne Angst dahinfließt, denen der Schlaf ein Tröster ist, der allnächtlich kommt und ihnen nur süße Träume bringt. Nun, so ist es denn Nacht geworden, und ich liege da wie Ophelia im Trauerspiel, mit »jungfräulichem Kranz und Mädchenschmuck« und warte auf den Schlaf. Früher konnte ich Knoblauch nicht leiden, aber heute Nacht ist er mir köstlich! Es liegt Friede in seinem Duft. Ich fühle, wie der Schlaf leise herankommt. Gute Nacht Ihr alle.

 

Dr. Sewards Tagebuch.

13. September. – Sprach im Berkeley-Hotel vor und fand Van Helsing, wie immer, bereit. Das vom Hotel bestellte Fuhrwerk wartete unten. Der Professor nahm seinen Koffer, den er jetzt stets mit sich führt.

Ich will alles der Reihe nach niederlegen. Van Helsing und ich kamen um acht Uhr nach Hillingham. Es war ein herrlicher Morgen. Der fröhliche Sonnenschein und der frische Hauch des Frühherbstes kam mir vor wie die Vollendung des jährlichen Werkes der Natur. Die Blätter hatten schon allerlei schöne Farben angenommen, hatten aber noch nicht begonnen von den Zweigen zu fallen. Als wir eintreten, begegnete uns Frau Westenraa, die eben aus ihrem Boudoir kam. Sie ist von jeher eine Frühaufsteherin. Sie begrüßte uns herzlich und sagte:

»Sie werden froh sein zu hören, daß es Lucy besser geht. Das gute Kind schläft noch. Ich sah in ihr Zimmer, ging aber nicht hinein, um sie nicht zu stören«. Der Professor lächelte und sah ganz triumphierend aus. Er rieb seine Hände aneinander und sagte:

»Aha, ich glaube, ich habe den Fall erkannt. Meine Behandlung hat scheinbar Erfolg.« Sie antwortete darauf:

»Sie dürfen nicht das ganze Verdienst für sich in Anspruch nehmen, Herr Doktor. Lucy hat ihr Wohlbefinden heute Morgen auch ein wenig mir zu verdanken.«

»Wie meinen Sie das, gnädige Frau?« fragte der Professor.

»Nun, ich sorgte mich um das liebe Kind heute Nacht und ging nach ihrem Zimmer. Sie schlief tief – so tief, daß sogar mein Kommen sie nicht zu erwecken vermochte. Aber das Zimmer war entsetzlich schlecht gelüftet. Überall waren diese häßlichen, scharfriechenden Blüten und sie hatte sogar einen Kranz davon um den Hals. Ich befürchtete, daß der schwere Geruch ihr in ihrem schwachen Zustande Schaden zufügen könnte, so nahm ich alles weg und öffnete das Fenster ein wenig, um frische Luft hereinzulassen. Sie werden Ihre Freude an ihr haben, ich bin fest davon überzeugt.«

Sie begab sich in ihr Boudoir zurück, wo sie frühzeitig ihren Morgenimbiß einzunehmen pflegte. Wie sie so sprach, beobachtete ich das Gesicht des Professors und sah, daß es aschfahl wurde. Er war imstande gewesen, seine Selbstbeherrschung so lange beizubehalten, als Frau Westenraa gegenwärtig war, denn er kannte ihren Zustand und wußte, wie verhängnisvoll ein Schrecken für sie werden konnte. Er lächelte ihr sogar noch zu, während er ihr die Türe zu ihrem Zimmer öffnete. Aber kaum war sie verschwunden, da zerrte er mich plötzlich und gewaltsam in das Speisezimmer und verschloß die Tür.

Da, das erste Mal in meinem Leben, sah ich Van Helsing die Fassung verlieren. In stummer Verzweiflung schlug er die Hände über dem Kopfe zusammen, hilflos und gebrochen. Dann warf er sich auf einen Stuhl, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und weinte, ein lautes, hartes Weinen, das aus den tiefsten Tiefen seines Herzens zu kommen schien. Dann erhob er wieder seine Arme, als wolle er das ganze Universum anrufen. »O Gott, o Gott, o Gott«, rief er. »Was haben wir, was hat das arme Ding getan, daß wir so furchtbar verfolgt werden? Gibt es denn noch das Fatum unter uns, ein Überbleibsel aus der antiken, heidnischen Welt, daß solche Dinge geschehen können und auf solche Weise? Diese arme Mutter tut unbewußt und in der besten Absicht etwas, das ihres Kindes Leib und Seele zerstört, und wir dürfen es ihr nicht einmal sagen, sie nicht warnen, sonst stirbt sie, und dann sterben beide. O Gott, wie hart sind wir gestraft! Warum hat sich denn die ganze Hölle gegen uns verbündet?« Plötzlich sprang er auf. »Kommen Sie«, sagte er, »kommen Sie, wir wollen sehen und handeln. Teufel oder nicht Teufel oder alle Teufel miteinander, das ist uns ganz gleich. Wir fechten gegen sie alle.« Er ging nach dem Haustor hinunter, um seinen Koffer zu holen, dann begaben wir uns mit einander in Lucys Zimmer.

Wiederum zog ich den Vorhang hoch, während sich Van Helsing dem Bette näherte. Diesmal erschrak er nicht über das schmale Gesichtchen mit derselben furchtbaren, wachsartigen Blässe wie zuvor. Tiefste, ernsteste Traurigkeit und unendliches Mitleid drückten sich in seinem Antlitz aus.

»Wie ich erwartet habe!« murmelte er, mit dem tiefen, zischenden Atemzug, der bei ihm so viel zu sagen hatte. Ohne ein Wort zu sprechen ging er an die Tür und schloß sie ab. Dann legte er auf dem kleinen Tische wiederum die Instrumente aus, um eine neue Transfusion vorzunehmen. Ich hatte auch schon längst die Notwendigkeit erkannt und begann meinen Rock auszuziehen, aber er gebot mir durch eine Handbewegung Einhalt. »Nein«, sagte er, »heute müssen Sie die Operation machen. Ich werde aushelfen. Sie sind schon zu sehr geschwächt.« Während er so sprach, zog er seinen Rock aus und stülpte die Hemdärmel hoch.

Wieder begann die Operation. Wieder das Narkotikum, wieder die Rückkehr von etwas Farbe in die kreidebleichen Wangen und der regelmäßige Atem gesunden Schlafes. Diesmal hielt ich Wache, während Van Helsing sich erholte und ausruhte.

Er nahm Gelegenheit, Frau Westenraa zu sagen, daß sie nichts aus Lucys Zimmer entfernen sollte, ohne seinen Rat eingeholt zu haben. Der Geruch der Blüten sei von medizinischem Werte und bilde einen Teil seines Heilverfahrens. Dann übernahm er selbst wieder die Behandlung des Falles, indem er mir sagte, daß er diese und die nächste Nacht bei Lucy wachen wolle und mir mitteilen werde, wenn er meiner bedürfe.

Nach einer weiteren Stunde erwachte Lucy aus ihrem Schlaf, frisch und munter und scheinbar gar nicht mehr so sehr angegriffen von der entsetzlichen Kraftprobe.

Was hat das alles zu bedeuten? Ich möchte wissen, ob mein immerwährendes Leben unter Irren nicht doch schon begonnen hat, auf mein Gehirn einzuwirken.

 

Lucy Westenraas Tagebuch.

17. September. – Vier Tage und vier Nächte des Friedens. Ich werde wieder so kräftig, daß ich mich kaum noch kenne. Es ist mir, als hätte ich ein langes, schweres Alpdrücken überstanden und sei gerade erst aufgewacht, um den herrlichen Sonnenschein zu sehen und die frische Luft rings um mich zu fühlen. Ich habe eine dunkle Erinnerung an lange, angsterfüllte Zeiten des Wartens und Fürchtens. Eine endlose Dunkelheit ohne die Pein der Hoffnung, die das gegenwärtige Elend noch drückender hätte machen können. Dann lange Pausen des Vergessens und die Rückkehr ins Leben, wie von einem Taucher, der aus großen Tiefen wieder an die Oberfläche kommt. Aber seit Dr. Van Helsing bei mir ist, scheinen diese bösen Träume verschwunden zu sein. Die Geräusche, die mich bis zur Verzweiflung zu ängstigen pflegten – das Flattern gegen die Fenster, die fernen Stimmen, die mir doch so nahe erscheinen, die rauhen Befehle, die, ich weiß nicht woher, kamen und mich zwangen, ich weiß nicht was, zu tun – alles das ist vorbei. Ich gehe jetzt ohne eine Spur von Furcht vor dem Schlafe zu Bett. Ich mache gar nicht einmal mehr den Versuch, wach zu bleiben. Ich habe den Knoblauch ganz lieb gewonnen, jeden Tag kommt eine Schachtel voll für mich von Haarlem an. Heute Nacht will Van Helsing wegfahren, da er einen Tag in Amsterdam zu tun hat. Aber ich bedarf keines Wärters mehr. Ich fühle mich kräftig genug, um allein bleiben zu können. Gott sei Dank, um Mutters und meines teuren Arthurs willen und für alle die guten Freunde, die so gütig gegen mich sind! Ich werde die Veränderung gar nicht zu sehr empfinden, denn heute Nacht schlief Van Helsing ein gut Teil der Zeit in seinem Lehnstuhl. Zweimal wachte ich auf und zweimal fand ich ihn schlafend. Aber ich fürchtete mich nicht, wieder einzuschlafen, wenn auch Zweige oder Fledermäuse oder irgend etwas anderes ziemlich heftig gegen die Fensterscheiben schlugen.

 

»The Pall Mall Gazette«, 18. September.

Der entflohene Wolf.
Gefährliches Abenteuer unseres Interviewers.

Interview mit dem Aufseher des Zoologischen Gartens.

Nach mancherlei Anfragen und fast ebensoviel Abweisungen gelang es mir, da ich immer die Worte »The Pall Mall Gazette« im Munde führte, wie ein Zauberwort, endlich den Aufseher des Teiles des Zoologischen Gartens ausfindig zu machen, in dem sich die Wölfe befinden. Thomas Bilder lebt in einem der Häuschen, die sich in der Einfriedigung hinter dem Elefantenhaus befinden, und saß gerade beim Tee dort, als ich ihn aufsuchte. Thomas und seine Frau sind gastfreundliche Menschen, schon etwas älter und kinderlos, und wenn ich aus der Art, wie ich bei ihnen aufgenommen wurde, einen Schluß ziehen darf, auch in guten Verhältnissen. Der Aufseher wollte vom »Geschäft« erst sprechen, wenn das Essen vorüber sei, und wir gaben uns alle zufrieden. Als dann abgetragen war und er seine Pfeife angezündet hatte, sagte er:

»Nun, Herr, können Sie daran gehen mich zu fragen, was Sie wünschen. Sie werden mir verzeihen, daß ich von geschäftlichen Dingen nicht gerne vor Schluß der Mahlzeiten spreche. Ich gebe auch den Wölfen und Schakalen und Hyänen in meiner Abteilung erst ihr Futter, ehe ich beginne, Fragen an sie zu stellen.«

»Was wollen Sie damit sagen: ›Fragen stellen‹?« fragte ich ihn, in der Hoffnung, ihn in eine etwas mitteilsame Stimmung zu versetzen.

»Sie mit einer Stange über den Kopf schlagen, ist das erste, das Krauen der Haare das zweite. Mit der Stange schlage ich sie über den Kopf, bevor ich ihnen ihr Futter hinwerfe. Das Krauen hinter den Ohren wage ich aber erst, wen sie ihren Sherry und ihren Kaffee, wenn man so sagen darf, bekommen haben. Glauben Sie mir«, fügte er philosophierend hinzu, »es ist ein gut Teil der gleichen Natur in uns wie in diesen Tieren. Da kommen Sie und fragen mich Verschiedenes über das Geschäft, und ich hätte lieber gesehen, daß Sie der Teufel geholt, als daß ich zu Ihnen darüber gesprochen hätte. Nicht einmal, wenn Sie mich sarkastisch gefragt hätten, ob es mir recht wäre, wenn Sie den Direktor bitten würden, an mich Fragen stellen zu dürfen. Ohne Sie beleidigen zu wollen, habe ich etwas davon gesagt, daß Sie zum Teufel gehen sollten?«

»Freilich.«

»Und wenn Sie dann sagen würden, Sie wollten über mich berichten, daß ich so grob mit Ihnen gesprochen, so wäre das so, wie ich meinen Tieren mit der Stange über den Kopf schlage. Doch ein halber Sovereign würde alles gut machen. Aber, Gott segne Sie, jetzt, wo meine Alte mir ein Stück Teekuchen in den Rachen geschoben, mich mit dem Inhalt ihres großen Teetopfes ausgeschwenkt hat und mein Pfeifchen brennt, können Sie mich hinter den Ohren kratzen, so viel Sie wollen, und ich werde nicht einmal knurren. Fragen Sie nur weiter. Ich weiß ja ohnehin, warum Sie kommen, es ist wegen des entflohenen Wolfes.«

»Ganz richtig. Ich wollte Sie bitten, mir Ihre Ansicht darüber zu sagen. Erst erzählen Sie mir, bitte, wie die Sache vor sich ging, und wenn ich dann die Tatsachen kenne, werde ich Sie ersuchen mir zu sagen, was der Grund war und wie Sie glauben, daß die Sache wohl enden wird.«

»Ganz recht, Herr. Der Wolf, den wir Bersicker nannten, war einer der grauen, die von Norwegen her zu Jamrach kamen, dem wir sie vor vier Jahren abgekauft haben. Es war ein hübscher, gutartiger Wolf, der nie Anlaß zu einer Klage gab. Ich hätte eher jedem anderen Tiere hier am Platze zugetraut, daß es ausbrechen würde, als gerade ihm. Aber, mein Gott, man kann Wölfen ebenso wenig trauen als Weibern.«

»Hören Sie nicht auf ihn, Herr!« warf Frau Tom mit fröhlichem Lachen ein. »Er ist so lange mit Tieren umgegangen, daß es ein Wunder wäre, wenn er nicht selbst schon ein alter Wolf geworden wäre. Aber er ist trotz allem ein guter Mann.«

»Also, Herr, es war gestern, etwa zwei Stunden nach der Fütterung, als ich Lärm vernahm. Ich machte gerade Streu zurecht für einen jungen Puma, der krank ist. Als ich das Bellen und Heulen hörte, lief ich sofort herbei. Es war Bersicker, der wie ein Narr am Gitter herumsprang und heulte, als wolle er heraus. Es waren an diesem Tage gerade nicht viele Leute da und in nächster Nähe befand sind nur ein Mann, ein großer, magerer Mensch mit Hakennase und zugespitztem, von weißen Haaren durchzogenen Barte. Er hatte einen harten, kalten Blick und rote Augen, und ich empfand gleich ein gewisses Mißbehagen bei seinem Anblick, denn er hatte etwas an sich, das mir gar nicht gefiel. Er trug weiße Lederhandschuhe. Er deutete auf die Tiere und sagte zu mir: ›Sie, Wärter, diese Wölfe scheinen über etwas aufgeregt zu sein.‹

›Vielleicht über Sie‹, sagte ich, denn ich konnte den Kerl nicht ausstehen. Er wurde gar nicht ärgerlich, wie ich es gern gehabt hätte, sondern lächelte mit einer unverschämten, höhnischen Miene, so daß die weißen, scharfen Zähne in seinem Munde sichtbar wurden. ›O nein‹, sagte er, ›mich möchten sie gar nicht fressen.‹

›O ja, die möchten wohl‹, sagte ich, ihn nachahmend. ›Die nehmen ganz gern ein paar Knochen, wie Sie sind, um ihre Zähne nach dem Fressen etwas zu reinigen.‹

Jedenfalls war es merkwürdig, daß die Tiere, als sie uns zusammen sprechen sahen, sich niederlegten und daß Bersicker sich, als ich zu ihm hinging, die Ohren kratzen ließ, wie gewöhnlich. Da kam der Mann heran und sagte, er wolle auch in den Käfig greifen und des alten Wolfes Ohren krauen.

›Nehmen Sie sich in acht‹, sagte ich, ›Bersicker ist flink.‹

›Schadet nichts‹, antwortete er, ›ich bin das gewöhnt.‹

›Treiben Sie am Ende gar selbst das Geschäft?‹ fragte ich ihn, indem ich meinen Hut abnahm, denn ein Mann, der mit Wölfen etc. handelt, ist immer ein guter Freund der Wärter.

›Nein‹, sagte er, ›nicht eigentlich das Geschäft, aber ich habe Freude daran‹. Damit lüftete er den Hut wie ein Lord und ging weiter. Der alte Bersicker sah ihm eine Zeit lang nach, dann drehte er sich um und legte sich in eine Ecke, aus der er den ganzen Abend nicht mehr herauskam. Nun, heute Nacht, gerade als der Mond aufgegangen war, begannen alle die Wölfe hier zu heulen. Es war eigentlich kein Grund ersichtlich, warum sie heulten. Es war nichts zu sehen als ein großer Hund, der sich außerhalb des Parkweges den Zaun entlang herumtrieb. Ein oder zwei Mal ging ich hinaus, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei. Ich fand nichts zu beanstanden und auch das Heulen war bald vorüber. Kurz bevor es 12 Uhr schlug unternahm ich noch einmal eine Runde, ehe ich mich zur Ruhe begab, und, der Teufel hol' mich, als ich an des alten Bersickers Käfig kam, fand ich die Gitterstäbe zerbrochen und den Käfig leer. Das ist alles, was ich gewiß weiß.«

»Ja, hat sonst niemand etwas bemerkt?«

»Einer unserer Gärtner kam um diese Zeit von einem Konzert nach Hause und sah einen großen grauen Hund durch die Hecke schlüpfen. Wenigstens sagt er so. Aber ich selbst gebe nicht viel darauf, denn er hatte, wie er heimkam, seiner Frau gar nichts davon erzählt. Erst als die Sache mit dem Wolfe bekannt wurde und wir die ganze Nacht den Park nach Bersicker durchsuchten, fiel es ihm plötzlich ein, daß er etwas gesehen habe. Meine Ansicht ist, daß ihm das Konzert in den Kopf gestiegen war.«

»Nun, Herr Bilder, können Sie sich denn das Entrinnen des Wolfes absolut nicht erklären?«

»Gewiß, Herr, kann ich es«, erwiderte er mit einer verdächtigen Bescheidenheit, »aber ich glaube, daß Sie mit dieser Erklärung nicht ganz zufrieden sein werden!«

»Sicherlich werde ich zufrieden sein. Wenn ein Mann wie Sie, der doch die Tiere aus Erfahrung kennt, keine geeignete Lösung des Rätsels finden würde, wer könnte es sonst?«

»Nun, Herr, ich kalkuliere so: ich glaube der Wolf ist ausgebrochen – – einfach, weil er herauswollte!«

Aus der herzlichen Art und Weise, wie Thomas und seine Frau über den Witz lachten, konnte ich entnehmen, daß er schon etliche Male gemacht worden und die ganze Erklärung ein vorbereiteter Ulk war. In Bezug auf Scherzhaftigkeit war mir der alte Thomas sicher über, aber ich wußte einen anderen Weg zu seinem Herzen und sagte:

»Nun, Herr Bilder, wir wollen diesen halben Sovereign als von Ihnen verdient betrachten und der Bruder dazu soll Ihnen gehören, wenn Sie mir Ihre Meinung darüber sagen wollen, was voraussichtlich weiter geschehen wird.«

»Sie haben ganz recht, Herr«, sagte er plötzlich. »Sie werden mir den Spaß nicht verübeln, den ich mir gemacht; aber die alte Dame da blinzelte mir immer zu, und so wagte ich es denn!«

»Was, ich? Niemals!« sagte seine Frau.

»Meine Meinung ist die, daß der Wolf jetzt irgendwo herumstreift. Der Gärtner, der sich nun genauer erinnert, sagte, er hätte ihn nordwärts laufen sehen, schneller als ein Pferd galoppieren kann. Aber ich glaube ihm nicht recht. Denn sehen Sie, Herr, ein Wolf kann das nicht, und ein Hund kann es auch nicht; sie sind dazu gar nicht gebaut. Wölfe sind ja etwas recht hübsches in Geschichtenbüchern, und ich glaube recht gern, daß, wenn sie in Rudeln kommen, und über etwas herfallen, das noch ängstlicher ist als sie selbst, sie einen furchtbaren Spektakel machen und es zerreißen, was es auch sein mag. Aber bei Gott, in Wirklichkeit ist ein Wolf eine ganz erbärmliche Kreatur, nicht halb so klug und kühn wie ein guter Hund und nicht ein Achtel so schneidig. Dieser eine war gar nicht gewohnt zu kämpfen, ja nicht einmal für sich selbst zu sorgen. Er wird wahrscheinlich in der Nähe des Parks herumstreifen und schnuppern und, wenn er überhaupt denken kann, sich überlegen, wie er zu einem Frühstück kommen könnte. Oder er ist irgendwo in einen Hof geraten und in einem Kohlenkeller eingesperrt. Mein Gott, mag das eine Köchin erschrecken, wenn sie hinunterkommt und sieht seine grünen Augen aus dem Dunkel sie anstarren! Wenn er kein Futter bekommt, so wird er sich wohl um etwas umsehen müssen; vielleicht gelingt es ihm irgendwo, in einen Fleischerladen einzubrechen. Gelingt es ihm nicht und findet er im Park einen unbeaufsichtigten Kinderwagen, während das Mädchen mit ihrem Soldaten lustwandelt, – – dann ist es nicht zu verwundern, wenn das Baby fehlt. Das ist alles.«

»Ich händigte ihm den halben Sovereign ein, als etwas vor dem Fenster auftauchte und Herrn Bilders Gesicht vor Überraschung sich in die Länge zog.

»Gott sei mir gnädig!« rief er. »Da ist wirklich der alte Bersicker von selbst heimgekommen!«

Er ging zur Türe und öffnete sie. Es schien mir das ziemlich überflüssig. Ich war von jeher der Ansicht, daß ein wildes Tier nie besser aussieht, als wenn ein Hindernis von garantierter Widerstandsfähigkeit zwischen mir und ihm liegt. Ein persönliches Erlebnis hat diese Überzeugung in mir eher verstärkt als abgeschwächt.

Übrigens scheint das nur eine Gewohnheit zu sein, denn Thomas und seine Frau dachten nicht mehr an das Tier, als ich an einen Hund gedacht hätte. Es war so friedfertig und gesittet, wie jener Vater aller Märchenwölfe – – Red Riding Hood's einstiger Freund, so daß ihre Vertrauensseligkeit nichts Besonderes war.

Das ganze Erlebnis war ein unaussprechliches Gemisch von Komik und Pathos. Der gefürchtete Wolf, der einen halben Tag lang London in lähmenden Schrecken versetzt hatte und die Kinder in der ganzen Stadt vor Angst hatte schlottern lassen, war reuig zurückgekehrt und wurde aufgenommen und verhätschelt wie der verlorene Sohn. Der alte Bilder betastete ihn von oben bis unten mit zarter Sorge, und als er die Untersuchung des Reuigen beendet hatte, sagte er:

»Da, ich wußte es, dem dummen Tier würde etwas passieren. Habe ich es nicht gleich gesagt? Sein ganzer Kopf ist zerschnitten und gespickt mit Glasscherben. Er ist über eine der Mauern gestiegen. Es ist aber auch ein Skandal, daß es gestattet ist, den oberen Rand der Mauern mit zerbrochenen Flaschen zu belegen. Das kommt davon. Komm mit, Bersicker!«

Er nahm den Wolf und brachte ihn in den Käfig. Dann verabreichte er ihm ein Stück Fleisch, das seiner Quantität nach einem gemästeten Kalb entsprochen haben dürfte, und begab sich dann in sein Haus, um Meldung zu machen.«

 

Dr. Sewards Tagebuch.

17. September. – Ich war nach Tisch in meinem Arbeitszimmer damit beschäftigt, Einträge in meine Bücher zu machen, die wegen anderweitiger Arbeitsüberhäufung und der häufigen Besuche bei Lucy etwas im Rückstande geblieben waren. Plötzlich wurde die Türe aufgerissen und herein stürzte mein Patient, das Gesicht von Leidenschaft verzerrt. Ich war wie vom Blitz gerührt, denn daß ein Patient aus eigenem Antriebe ins Zimmer des Direktors kam, war unerhört. Ohne Zögern kam er auf mich zu. Er hatte ein Tischmesser in der Hand, und als ich sah, daß es kein Spaß sei, versuchte ich, den Tisch zwischen mich und ihn zu bringen. Denn er war zu flink und zu stark für mich. Noch ehe es mir aber gelungen war, hatte er schon einen Streich nach mir geführt und mich ziemlich erheblich am Handgelenk verletzt. Ehe er noch einmal zustoßen konnte, war ich wieder Herr der Situation geworden und warf ihn der Länge nach auf den Rücken. Meine Hand blutete stark und eine kleine Lache glänzte schon am Boden. Ich sah, daß mein Freund eine weitere Attacke nicht beabsichtigte, und legte mir selbst einen Verband an, ohne die am Boden liegende Gestalt aus den Augen zu verlieren. Als die Wärter hereinstürzten und wir unsere Aufmerksamkeit auf ihn richteten, erregte das, was er tat, wirklich meinen tiefsten Ekel. Er lag auf seinem Bauche auf dem Boden und leckte wie ein Hund das Blut auf, das von meiner verwundeten Hand auf die Diele geflossen war. Er wurde ohne Schwierigkeit überwältigt und ging, wider mein Erwarten, vollkommen ruhig mit den Wärtern, indem er immer und immer wieder vor sich hinsagte: »Blut ist Leben! Blut ist Leben!«

Ich könnte jetzt kein Blut mehr entbehren. Ich habe in letzter Zeit mehr davon verloren als meinem Körper zuträglich ist. Dann diese immerwährende Beschäftigung mit Lucys Krankheit; deren wechselnde Phasen reiben mich auf. Ich bin äußerst erregt und ermattet, und ich brauche Ruhe, Ruhe, Ruhe. Zum Glück hat mich Van Helsing nicht in Anspruch genommen und ich brauche deshalb nicht auf den Schlaf verzichten. Heute Nacht könnte ich seiner ohnehin nicht entraten.

 

Telegramm. Van Helsing, Antwerpen, an Seward, Carfax.

(Da die Grafschaft nicht angegeben,
irrtümlich nach Carfax, Sussex, gesandt.
Vierundzwanzig Stunden zu spät abgegeben.)

17. September. Sie müssen unbedingt heute Nacht auf Hillingham sein. Wenn Sie auch nicht durchaus wachen, so sehen Sie doch fleißig nach, insbesondere ob die Blüten auf ihrem Platze. Von größter Bedeutung; kommen Sie bestimmt. Werde nach Ankunft so bald als möglich bei Ihnen sein.

 

Dr. Sewards Tagebuch.

18. September. – Sofort zum Londoner Zug. Die Ankunft von Van Helsings Telegramm erfüllte mich mit der lebhaftesten Sorge. Eine ganze Nacht verloren, und ich weiß aus eigener trauriger Erfahrung, was in einer einzigen Nacht alles geschehen kann. Möglich ist es ja, daß alles in Ordnung ist, aber was kann sich ereignet haben? Jedenfalls hängt ein eigenes Mißgeschick über unseren Häuptern, daß jeder erdenkliche Zufall sich uns auch tatsächlich in den Weg legt. Ich werde diesen Zylinder mit mir nehmen und kann dann meine Einträge auf Lucys Phonograph fortsetzen.

 

Memorandum, hinterlassen von Lucy Westenraa.

17. September, Nacht. – Ich schreibe dies und hinterlasse es, damit sich niemand wegen meiner Sorgen mache. Es ist ein genauer Bericht über alles das, was sich heute Nacht ereignet hat. Ich fühle, daß ich vor Schwäche sterben muß, und habe kaum noch Kraft zum Schreiben, aber es muß geschehen und wenn ich darüber sterben sollte.

Ich ging wie gewöhnlich zu Bett und achtete sorgfältig darauf, daß die Blüten so angebracht waren, wie Van Helsing es befohlen hatte, und verfiel bald in Schlaf.

Ich erwachte von dem Flattern am Fenster, das damals begonnen hatte, als ich auf dem Cliff in Whitby schlafwandelte, von wo mich dann Mina holte, und das ich nun so genau kenne. Ich fürchtete mich nicht, aber ich hätte gewünscht, daß Dr. Seward in dem Nebenzimmer sein möchte – wie Dr. Van Helsing es mir versprochen hatte – damit ich ihn bei Bedarf hätte rufen können. Ich versuchte einzuschlafen, aber ich konnte nicht. Dann kam die alte Angst vor dem Schlaf über mich und ich beschloß, wach zu bleiben. Eigensinnig schien der Schlaf sich meiner bemächtigen zu wollen, trotzdem ich ihn fernzuhalten versuchte. Da ich mich vor dem Alleinsein fürchtete, öffnete ich die Türe und rief hinaus. »Ist denn niemand da?« Keine Antwort. Ich fürchtete, Mutter zu wecken und schloß deshalb wieder meine Türe. Dann hörte ich draußen im Gebüsch ein Geheul wie von einem Hunde, nur wilder und tiefer. Ich ging ans Fenster und sah hinaus, konnte aber nichts bemerken als eine große Fledermaus, die offenbar immer mit ihren Flügeln an mein Fenster geschlagen hatte. Da begab ich mich wieder in mein Bett, beschloß aber nicht einzuschlafen. Plötzlich öffnete sich die Türe und meine Mutter sah herein. Sie bemerkte, daß ich noch wach sei, kam herein und setzte sich an mein Bett. Sie sagte zu mir, freundlicher und zärtlicher als je:

»Ich habe mich um Dich geängstigt, mein Kind, und kam herein, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist.«

Ich befürchtete, sie möchte sich erkälten, wenn sie so dasäße, und lud sie ein, hereinzuschlüpfen und mit mir zu schlafen. So kam sie herein und legte sich neben mich. Sie legte ihren Schlafrock nicht ab, denn sie wollte, wie sie sagte, nur eine Weile bleiben und dann in ihr eigenes Bett zurückkehren. Als sie so in meine Armen lag und ich den ihren, begann das Klatschen und Flattern am Fenster von neuem. Sie war erstaunt und auch ein wenig erschreckt und rief: »Was ist denn das?« Ich versuchte sie zu beruhigen. Es gelang mir schließlich auch und sie lag still da, aber ich konnte ihr schwaches Herz laut klopfen hören. Nach einiger Zeit ertönte draußen im Gebüsch wieder das tiefe Geheul. Bald darauf hörten wir das Klirren des Fensters, und eine Menge zerbrochenen Glases fiel auf die Diele. Der Fenstervorhang wurde von dem hereinströmenden Winde weggeblasen und in der Öffnung der zerbrochenen Scheibe erschien der Kopf eines großen, mageren, grauen Wolfes. Mutter schrie vor Entsetzen, richtete sich in sitzende Stellung auf und griff wild um sich. Dabei erfaßte sie den Kranz, den mir Van Helsing um den Hals zu tragen streng anbefohlen hatte und riß ihn ab. Ein paar Augenblicke saß sie so da, auf den Wolf deutend, und ein seltsames, schreckliches Gurgeln drang aus ihrer Brust. Dann fiel sie zurück, wie vom Blitze getroffen, und ihr Haupt schlug schwer auf meine Stirne, wodurch ich auf kurze Zeit die Besinnung verlor. Das Zimmer und alles rings um mich schien sich zu drehen. Ich sah starr nach dem Fenster, aber der Wolf zog seinen Kopf zurück und Tausende von fliegenartigen, kleinen Pünktchen wurden durch die zerbrochenen Scheiben hereingewirbelt und drehten sich im Kreise wie die Sandsäulen, die nach der Beschreibung der Reisenden der Samum mit sich führt. Ich versuchte mich zu rühren, aber es lag wie ein Bann auf mir, und der Körper meiner armen Mutter, der bereits kalt zu werden schien – das Herz hatte zu schlagen aufgehört – drückte mich nieder. Dann schwand mir auf einige Zeit die Erinnerung.

Die Zeit schien mir nicht lang, aber es war schrecklich, wirklich schrecklich, bis ich mein Bewußtsein wieder erlangte. Irgendwo in der Nähe läutete eine Totenglocke. Die Hunde rings in der Nachbarschaft heulten und im Gebüsch unseres Gartens, gerade vor dem Fenster, sang eine Nachtigall. Ich war betäubt und starr vor Schmerz und Angst und Schwäche, aber der Gesang der Nachtigall war wie die Stimme meiner toten Mutter, die zurückgekehrt schien, um mich zu trösten. Die Geräusche hatten scheinbar auch die Mägde geweckt, denn ich konnte ihre nackten Füße draußen vor der Türe schlürfen hören. Ich rief nach ihnen und sie kamen herein. Als sie sahen, was geschehen war und was da auf meinem Bett lag, schrieen sie auf. Der Wind blies durch das zerbrochene Fenster herein und die Türe schlug zu. Sie hoben den Leichnam meiner Mutter auf und legten ihn dann wieder, mit einem Laken bedeckt, auf das Bett zurück, nachdem ich aufgestanden war. Sie waren alle so erschreckt und aufgeregt, daß ich ihnen befahl, in das Speisezimmer zu gehen und ein Glas Wein zu trinken. Die Türe flog einen Augenblick auf und fiel dann gleich wieder zu. Die Mädchen schrieen laut und rannten miteinander ins Speisezimmer. Ich legte alles, was ich an Blüten besaß, meiner armen Mutter auf die Brust. Als ich es getan, fiel mir ein, was mir Van Helsing eingeschärft hatte, aber ich wollte die Blüten nicht wieder wegnehmen und außerdem beabsichtigte ich, eines der Mädchen zu bitten, bei mir zu wachen. Ich war sehr überrascht, daß keines von ihnen zurückkam. Ich rief, bekam aber keine Antwort. Deshalb begab ich mich in das Speisezimmer, um nach ihnen zu sehen.

Jäher Schreck fuhr mir durch die Glieder, als ich sah, was geschehen war. Sie lagen alle hilflos auf dem Boden und atmeten schwer. Die Karaffe mit Sherry stand halbvoll auf dem Tische, aber es machte sich ein eigentümlicher, scharfer Geruch bemerkbar. Ich schöpfte Verdacht und betrachtete die Flasche. Es roch nach Laudanum, und als ich auf den Seitentisch blickte, bemerkte ich, daß die Flasche, die der Doktor immer für Mutter verwendet – ach Gott, verwendet hat, leer war. Was soll ich tun? Was soll ich tun? Ich bin wieder bei Mutter im Zimmer. Ich kann sie nicht verlassen und bin allein mit den betäubten Mägden, die irgend jemand vergiftet hat. Allein mit den Toten! Ich darf nicht hinausgehen, denn ich höre von draußen durch das zerbrochene Fenster das tiefe Heulen des Wolfes.

Die Luft schien voll von kleinen Pünktchen, die im Windzuge vom Fenster her flatterten und kreisten. Die Lichter brannten blau und düster. Was soll ich tun? Gott schütze mich heute Nacht vor dem Bösen! Ich werde dieses Papier an meiner Brust verbergen, wo sie es finden werden, wenn sie kommen, mich hinauszutragen. Meine arme Mutter ist dahingegangen! Es wird Zeit, daß auch ich gehe. Lebe wohl, geliebter Arthur, falls ich diese Nacht nicht überstehen sollte. Gott schütze Dich, Liebster, und helfe mir!


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