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Zwölftes Kapitel.

Dr. Sewards Tagebuch

18. September. – Ich fuhr sofort nach Hillingham und kam frühzeitig an. Ich ließ meinen Wagen am Gittertor halten und ging allein die Allee hinauf. Ich klopfte leise an und läutete so rücksichtsvoll als möglich, denn ich fürchtete, Lucy oder ihre Mutter zu stören, und hoffte, lediglich einen Dienstboten herbeizurufen. Nach einer Weile, da mich niemand gehört zu haben schien, klopfte und läutete ich nochmals. Wieder rührte sich nichts. Ich verfluchte die Faulheit der Dienstboten, die zu dieser Zeit noch im Bett zu liegen schienen – es war schon zehn Uhr und klopfte und läutete wiederum, diesmal aber etwas ungeduldig; wieder ohne Erfolg. Bisher hatte ich nur die Dienstboten im Verdacht gehabt. Nun aber packte mich eine entsetzliche Furcht. War diese Totenstille ein neues Glied in der Kette des Verderbens, die sich enge um uns zusammenzuziehen schien? War es wirklich ein Haus des Todes, zu dem ich gekommen war – zu spät? Ich wußte, daß Minuten, ja Sekunden der Verzögerung Stunden der Gefahr für Lucy bedeuteten, wenn sie wieder einen jener entsetzlichen Rückfälle hatte. Ich lief rund um das Haus, um vielleicht durch Zufall einen Eingang zu entdecken.

Ich fand jedoch keine Möglichkeit, hineinzukommen. Jedes Fenster, jede Türe war fest verschlossen und ich kehrte enttäuscht zur Vorhalle zurück. Als ich dort ankam, hörte ich das rasche Traben eilender Pferdehufe. Sie hielten am Torweg an, und einige Sekunden später sah ich Van Helsing die Allee heraufrennen. Als er meiner ansichtig wurde, rief er keuchend:

»Das waren also Sie, und Sie sind gerade erst angekommen. Wie geht es ihr? Sind wir zu spät daran? Haben Sie denn mein Telegramm nicht erhalten?«

Ich antwortete ihm so rasch und zusammenhängend als möglich, daß ich sein Telegramm erst heute in aller Frühe erhalten hätte und, ohne einen Augenblick zu zögern, hierher geeilt sei, und daß es mir bis jetzt nicht geglückt sei, mich irgend jemand im Hause bemerklich zu machen.

Er nahm nach einer kurzen Pause den Hut ab und sagte:

»Ich fürchte, daß wir zu spät kommen. Gott sei ihnen gnädig.« Dann fuhr er aber gleich mit seiner hinreißenden Energie fort: »Kommen Sie! Wenn wir keinen Eingang ins Haus offen finden, nun, dann schaffen wir uns eben einen. Zeit bedeutet jetzt für uns alles.«

Wir begaben uns auf die Hinterseite des Hauses, wo sich ein Küchenfenster befand. Der Professor nahm eine kleine Knochensäge aus seinem Kasten und deutete, indem er sie mir übergab, auf die Eisenstangen, mit denen das Fenster vergittert war. Ich nahm sie sofort in Angriff und hatte bald drei von ihnen durchgeschnitten. Dann schob er ein langes, dünnes Messer durch die Ritze zwischen Fensterrahmen und Fenster und legte den Riegel um, worauf sich ohne weiteres die Öffnung bewerkstelligen ließ. Ich half dem Professor hinein und folgte ihm dann nach. In der Küche und in den sich daneben befindlichen Dienstbotenzimmern war niemand. Wir sahen in alle Zimmer, an denen wir vorbeikamen, und fanden im Speisezimmer, in das durch die geschlossenen Läden nur schwaches Licht eindrang, vier Dienstmädchen auf dem Boden liegend. Es war unmöglich, sie für tot zu halten, denn ihr keuchender Atem und der scharfe Geruch von Laudanum, der das ganze Zimmer durchdrang, ließen keine Zweifel über die Art ihres Zustandes.

Van Helsing und ich sahen einander erstaunt an und er sagte im Weggehen: »Wir können ihnen später Hilfe bringen.« Dann begaben wir uns in Lucys Gemach. Ein paar Augenblicke blieben wir an der Tür stehen, um zu horchen. Aber kein Laut war zu vernehmen. Mit blassen Gesichtern und zitternden Händen öffneten wir leise die Tür und traten in das Zimmer.

Wie soll ich den Anblick beschreiben, der sich uns hier bot? Auf dem Bette lagen zwei Frauen, Lucy und ihre Mutter. Die letztere lag auf der Wandseite und war mit einem weißen Laken bedeckt, dessen einer Zipfel von dem Windhauche zurückgeschlagen worden war, der durch das zerbrochene Fenster eindrang, und das bleiche, verzerrte Gesicht frei ließ, auf dem ein Ausdruck des tiefsten Entsetzens lag. Neben ihr lag Lucy. Ihr Gesicht war weiß und noch mehr verzerrt. Die Blüten, die sie um den Hals getragen, bemerkten wir auf der Brust ihrer Mutter. Ihre Kehle war bloß und zeigte die zwei kleinen, weißen Wunden, die wir schon früher gesehen hatten und die entsetzlich blutleer und zerfetzt waren. Ohne ein Wort zu sagen, beugte sich der Professor über das Bett, so daß sein Kopf fast die Brust der armen Lucy berührte. Dann drehte er rasch den Kopf, wie einer, der lauscht, und rief aus, indem er sich aufrichtete:

»Es ist noch nicht zu spät! Rasch! Rasch! Bringen Sie den Brandy!«

Ich eilte so schnell als möglich die Treppe hinunter und holte das Gewünschte. Ich roch daran und nahm einen Schluck, um zu sehen, ob er nicht auch, wie die Sherrykaraffe auf dem Tische, vergiftet sei. Die Mädchen röchelten noch, lagen aber nicht mehr so unbeweglich, woraus ich den Schluß zog, daß die Wirkung des Narkotikums zu verfliegen beginne. Ich nahm mir jedoch nicht die Zeit zu verweilen, sondern eilte zu Van Helsing zurück. Er rieb mit dem Brandy, wie schon früher öfter, ihre Lippen, Ihr Zahnfleisch, ihre Handflächen und ihre Handgelenke. Dann sagte er:

»Es ist das alles, was im Augenblick geschehen kann. Sie werden jetzt hinuntergehen und versuchen, die Mädchen wieder zu sich zu bringen. Fahren Sie ihnen mit einem nassen Tuch über das Gesicht, aber nicht zu sanft. Sie sollen dann gleich einheizen und ein warmes Bad herrichten. Diese arme Seele ist fast ebenso kalt wie die neben ihr. Sie muß vor allem erwärmt werden, ehe wir etwas anderes vornehmen können.«

Ich ging sofort hinunter und weckte drei der Mädchen ohne Mühe. Die vierte war noch ein ganz junges Ding, das Gift hatte sie scheinbar besonders angegriffen. Deshalb hob ich sie auf Sofa und ließ sie noch schlafen. Die anderen waren anfangs verwirrt, als ihnen aber das Bewußtsein zurückkehrte, schrieen und weinten sie in geradezu fassungsloser Weise. Trotzdem war ich ziemlich streng mit ihnen und duldete nicht, daß sie miteinander plauderten. Ich sagte ihnen, daß ein verlorenes Leben vollständig genüge und daß sie, wenn sie sich nicht beeilten, auch noch Fräulein Lucy töten würden. So gingen sie denn unter Weinen und Klagen, halb angezogen, an ihre Arbeit und stellten Wasser auf das Feuer. Zum Glück war das Küchen- und Kesselfeuer noch nicht ausgegangen und deshalb war an heißem Wasser kein Mangel. Wir richteten ein Bad her und legten Lucy hinein, wie sie war. Während wir eifrig ihre Glieder frottierten, ertönte unten am Haupteingang ein lautes Klopfen. Eines der Mädchen rannte hinunter, warf in der Eile einige Kleidungsstücke über und öffnete. Dann kehrte sie zurück und teilte uns flüsternd mit, daß ein Herr unten sei, der eine Botschaft von Herrn Holmwood zu überbringen habe. Ich bat sie ihm mitzuteilen, daß er jetzt sich noch gedulden müsse, da wir uns um niemand kümmern könnten. Sie richtete es aus, und vertieft in unsere Arbeit, vergaßen wir seiner vollkommen.

Nie in meiner Praxis hatte ich den Professor mit solch furchtbarem Ernst arbeiten sehen. Ich wußte es – genau so gut wie er daß es ein harter Kampf auf Leben und Tod war, den wir da auszufechten hatten, und sagte ihm dies, während er sich einen Augenblick ausruhte. Er antwortete mir in einer Weise, die ich nicht verstand, aber mit dem ernstesten Ausdruck in seinem Antlitz:

»Wenn es damit auch wirklich vorbei wäre, dann ließe ich die Sache, so wie sie jetzt ist, und ließe Lucy in Frieden hinüberschlummern, denn ich sehe kein Lichtlein an ihrem Horizont.« Dann fuhr er in seiner Arbeit fort, mit erneutem, fast verzweifeltem Eifer.

Bald bemerkten wir, daß die Wärme einen günstigen Einfluß auf sie auszuüben begann. Lucys Herz klopfte wieder etwas hörbarer, wie wir durch das Stethoskop feststellten, und auch die Lungen hatten ihre Tätigkeit wieder aufgenommen. Van Helsings Gesicht strahlte fast, und als wir sie aus dem Bade hoben und in ein heißes Laken einschlugen, um sie abzutrocknen, sagte er:

»Fürs erste hätten wir gewonnen! Schach dem König!«

Wir trugen Lucy in ein anderes Zimmer, das unterdessen hergerichtet worden war, legten sie ins Bett und flößten ihr einige Tropfen Sherry ein. Ich bemerkte, daß Van Helsing ein weiches, seidenes Tuch um ihren Hals wand. Sie war immer noch bewußtlos und eben so elend, wenn nicht elender, wie wir sie je gesehen hatten.

Van Helsing rief eines der Mädchen herein und befahl ihm, solange bei Lucy zu bleiben und kein Auge von ihr zu verwenden, bis wir zurückkämen, und winkte mir zu, mit ihm hinauszugehen.

»Wir müssen uns beraten, was nun zu tun ist«, sagte er, als wir die Treppen hinuntergingen. Dann öffnete er die Türe des Speisezimmers und wir begaben uns hinein, indem er sorgfältig hinter uns abschloß. Die Läden waren geöffnet, die Vorhänge aber hatte man heruntergelassen. So wollte es die Traueretikette, die von den englischen Frauen, insbesondere der unteren Klassen, streng eingehalten wird. Das Zimmer war deshalb ziemlich finster. Für unseren Zweck aber war es immerhin hell genug. Van Helsing sah nicht mehr ernst, er sah verstört aus. Augenscheinlich zermarterte er sein Gehirn über irgend etwas. Es dauerte daher eine Weile bis er sagte:

»Was sollen wir nun tun? An wen sollen wir uns um Hilfe wenden? Wir müssen nochmals eine Bluttransfusion vornehmen, und zwar so bald als möglich, denn sonst hat das arme Ding keine Stunde mehr zu leben. Sie sind schon erschöpft; ich ebenfalls. Eines jener Mädchen möchte ich nicht ins Vertrauen ziehen, selbst wenn es geneigt wäre, die Operation an sich vornehmen zu lassen. Was würden wir für jemand geben, der seine Adern für sie öffnen ließe?«

»Wie wäre es denn mit mir?«

Die Stimme kam vom Sofa her, aus der entgegengesetzten Ecke des Zimmers. Wie erlösende Freude zuckte es mir durch das Herz: es war Quincey Morris' Stimme. Van Helsing fuhr beim ersten Ton ärgerlich auf, dann aber nahm sein Gesicht einen milderen Ausdruck an und seine Augen leuchteten froh, als er ausrief: »Quincey Morris!« und mit ausgestreckten Händen auf ihn zueilte.

»Wie kommen Sie denn hierher?« rief ich, als wir uns die Hände reichten. »Wahrscheinlich Arthurs wegen.«

Er händigte mir ein Telegramm ein:

»Habe seit drei Tagen nichts mehr von Dr. Seward gehört. Bin in schrecklicher Angst. Kann nicht weg. Vater immer noch ebenso krank. Bitte um Nachricht, wie es Lucy geht. Ohne Aufschub. Holmwood.«

»Ich glaube, ich bin gerade noch rechtzeitig gekommen. Sie wissen, daß Sie mir nur zu sagen haben, was ich tun soll.«

Van Helsing ging auf ihn zu. Er ergriff seine Hand, sah ihm gerade in die Augen und sagte:

»Das Blut eines braven Mannes ist das Beste auf Erden, wenn ein Weib in Not ist. Sie sind ein Mann und nicht der Schlechtesten einer. Meinetwegen kann der Teufel gegen uns wüten, wie er will, wenn uns nur immer Gott zur rechten Zeit Männer schickt, wie wir sie brauchen.«

Wiederum schritten wir zu der unheimlichen Operation. Ich habe gar nicht den Mut, auf alle Einzelheiten einzugehen. Lucy hatte einen furchtbaren Schock erlitten und sie war mehr mitgenommen als je zuvor. Obgleich eine Menge Blut in ihre Adern kam, hatte ihr schwacher Körper gar nicht mehr die Kraft, entsprechend zu reagieren. Es war entsetzlich anzuhören und zu sehen, wie sie sich wieder in das Leben zurückkämpfte. Schließlich aber begannen doch Herz und Lungen ihre Tätigkeit, und Van Helsing machte, wie immer eine subkutane Morphiumeinspritzung, die von recht guter Wirkung war. Ihre Ohnmacht ging unmerklich in einen tiefen Schlummer über. Der Professor blieb bei ihr, während ich mit Quincey Morris die Treppen hinunterging und ein Mädchen hinaussandte, um einen der Kutscher abzulohnen, die draußen noch warteten. Ich veranlaßte Quincey sich niederzulegen, nachdem er ein Glas Wein getrunken hatte, und beauftragte den Koch, ein recht gutes Frühstück zuzubereiten. Dann kam mir eine Idee und ich begab mich in das Zimmer, in dem Lucy jetzt lag. Als ich leise eintrat, fand ich Van Helsing dort sitzen, ein paar Briefbogen in der Hand. Er hatte sie offenbar gelesen und dachte darüber nach, denn er stützte den Kopf mit den Händen. Es lag ein Ausdruck wilder Genugtuung in seinem Antlitz, wie bei einem, der nun einen Zweifel gelöst findet. Er übergab mir das Papier und sagte: »Es fiel von Lucys Brust, als wir sie ins Bad trugen.«

Als ich gelesen hatte, blickte ich den Professor an und fragte ihn dann nach einer Pause: »Um Himmelswillen, was soll das heißen? War sie oder ist sie irrsinnig, oder was für eine entsetzliche Gefahr schwebt über uns?« Ich war so erregt, daß ich nicht weiter zu sprechen vermochte. Van Helsing streckte seine Hand aus und nahm das Papier wieder zu sich, indem er sagte:

»Lassen Sie sich jetzt darüber keine grauen Haare wachsen. Vergessen Sie es überhaupt zunächst. Sie werden alles noch rechtzeitig erfahren und verstehen, aber später erst. Nun, was wollten Sie mir sagen?« Das führte mich auf meine Absicht zurück und ich war wieder ich selbst.

»Ich kam, um mit Ihnen über den Totenschein zu sprechen. Wenn wir nicht sorgfältig und klug verfahren, könnte es unter Umständen zu einer Untersuchung kommen, und es würde dabei dieses Papier zu Tage gefördert. Ich hoffe, daß es nicht so weit kommen wird, denn wenn das eintreten sollte, würde dies, wenn nichts anderes, genügen, die arme Lucy zu töten. Ich weiß und Sie wissen, und auch der andere Arzt, der sie behandelt hat, weiß, daß Frau Westenraa herzleidend war, und wir können alle bestätigen, daß sie daran gestorben ist. Wir wollen den Totenschein sofort ausfüllen, und ich werde ihn eigenhändig zum Standesbeamten tragen und den Leichenbestatter bestellen.«

»Recht so, Freund John! Es ist gut, daß Sie daran denken! Wenn Fräulein Lucy auch Feinde hat, die ihr hart zusetzen, so ist sie aber auch mit prächtigen Freunden gesegnet, die sie lieben. Einer, zwei, drei öffnen ihre Adern für sie, nebenbei noch ein alter Mann. Ja ja, ich weiß, Freund John, ich bin nicht blind. Ich liebe euch alle nur noch viel mehr deswegen! Nun gehen Sie aber.«

Unten im Hausflur traf ich Quincey Morris an mit einem Telegramm für Arthur des Inhaltes, daß Frau Westenraa tot sei; daß Lucy ebenfalls krank gewesen sei, sich aber nun auf dem Wege der Besserung befinde, und daß Van Helsing und ich sie behandelten. Ich sagte ihm, wohin ich ginge; er empfahl mir, mich zu beeilen, flüsterte mir aber im Fortgehen noch zu:

»Wenn Sie zurückkommen, Jack, habe ich ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen, aber ganz unter uns.« Ich nickte zustimmend und entfernte mich. Auf dem Standesamt wurden mir keine Schwierigkeiten bereitet, und mit dem Leichenbestatter traf ich die Übereinkunft, daß er abends kommen solle, um das Maß für den Sarg zu nehmen und die übrigen Arrangements zu treffen.

Als ich zurückkam, wartete Quincey auf mich. Ich versprach ihm, sofort zu seiner Verfügung stehen zu wollen, sobald ich mich um Lucy umgesehen hätte, und begab mich in ihr Zimmer. Sie schlief noch und der Professor war scheinbar nicht von ihrer Seite gewichen. Er legte einen Zeigefinger an die Lippen, woraus ich entnahm, daß er erwartete, sie werde in Bälde erwachen, und fürchtete, der Natur vorzugreifen. So ging ich denn zu Quincey hinunter und nahm ihn mit in das Frühstückszimmer, wo die Vorhänge nicht zusammengezogen waren und das ein wenig freundlicher, oder besser gesagt weniger trostlos aussah als die anderen Räume. Als wir allein waren, sagte er:

»Jack Seward, ich liebe es nicht, mich in irgend etwas zu mischen, was mich nichts angeht; aber das ist eben ein außergewöhnlicher Fall. Sie wissen, ich hatte das Mädchen gern und wollte sie heiraten; aber obgleich das alles vergangen und vorbei ist, kann ich doch nicht umhin, in Sorge um sie zu sein. Was ist denn eigentlich mit ihr los? Der Holländer – – er ist ein prächtiger Mensch, ich kenne das – – sagte, als Sie beide in das Zimmer traten, daß noch eine weitere Bluttransfusion gemacht werden müsse und daß er und Sie erschöpft seien. Nun weiß ich ja wohl, daß ihr Doktoren immer im Geheimen handelt und daß kein Mensch erwarten darf, etwas von dem zu erfahren, was Ihr da unter euch beratet. Aber das ist doch kein alltäglicher Fall, und, was es auch sein mag, ich habe doch auch etwas geleistet. Ist es nicht so?«

»Es ist so«, sagte ich, und er fuhr fort:

»Ich vermute, daß Sie und Van Helsing bereits das getan haben, was ich heute tat. Ist es nicht so?«

»Ja, es ist so.«

»Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich behaupte, daß auch Arthur beteiligt war. Als ich ihn vor vier Tagen sah, machte er einen ganz seltsamen Eindruck. Ich habe noch nichts so rasch dahinsiechen sehen, seit ich in den Pampas weilte und ein Pferd hatte, das ich gern nachts weiden ließ. Eine jener großen Fledermäuse, die man Vampyre nennt, hatte es in der Nacht überfallen; als ich es dann antraf, mit angebissener Kehle und offenen Adern, hatte es nicht mehr so viel Blut im Leibe, um sich noch aufrichten zu können, und es blieb mir nichts anderes übrig, als ihm eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Jack, sagen Sie mir, wenn Sie es, ohne einen Vertrauensbruch zu begehen, sagen können: Arthur war der erste; ist es nicht so?« Quincey Morris sah, als er so sprach, ganz verängstigt aus. Er wurde von Sorge um die geliebte Frau gequält, und die vollkommene Unkenntnis des schrecklichen Geheimnisses, das sie umgab, machte seine Pein noch unerträglicher. Sein Herz blutete, und er bedurfte aller seiner Selbstbeherrschung – – und davon besaß er ein gut Teil – – um nicht umzusinken. Ich antwortete nur zögernd, denn ich wollte doch nichts verraten, was der Professor geheim zu halten mich gebeten hatte. Bald aber wußte er und erriet er so viel, daß ich keine Ursache mehr hatte, ihm etwas zu verheimlichen, und deshalb antwortete ich ihm: »Es ist so.«

»Und wie lange spielt das schon?«

»Etwa zehn Tage.«

»Zehn Tage! Dann hat also das arme, süße Geschöpf innerhalb dieser Zeit das Blut von vier starken Männern in sich aufgenommen. Die Männer sind am Leben, ihr Körper aber hat das Blut wieder verloren.« Er trat näher an mich heran und flüsterte rauh: »Wer hat es ihr genommen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Das«, sagte ich, »ist eben das Rätsel. Helsing ist einfach außer sich und ich bin auch am Ende meines Witzes. Ich kann nicht einmal eine Möglichkeit erraten. Es sind allerdings mehrere Umstände eingetreten, die unsere Maßnahmen zu strenger Bewachung Lucys vereitelten. Aber das soll nicht wieder vorkommen. Hier wollen wir bleiben, bis alles entschieden ist, zum Guten oder zum Schlimmen.« Quincey hielt mir die Hand hin.

»Rechnen Sie auf mich«, sagte er, »Sie und der Holländer werden mir sagen, was zu tun ist, und ich werde es tun.«

Als Lucy spät am Nachmittag erwachte, war ihre erste Bewegung ein Griff nach ihrer Brust; zu meiner Überraschung zog sie das Notizblatt heraus, das Van Helsing mir zu lesen gegeben hatte. Der vorsorgliche Arzt hatte es wieder dahin gelegt, woher er es genommen, damit sie nicht beim Erwachen in Unruhe geriete. Ihre Augen glitten über Van Helsing und dann über mich und erglänzten. Nun sah sie rings um sich, und als sie bemerkte, wo sie sich befand, flog ein leichter Schauer über sie; sie stieß einen lauten Schrei aus und schlug ihre abgezehrten Hände vor das bleiche Gesichtchen. Wir beide verstanden, was das zu bedeuten hatte – – daß sie sich jetzt erst des Todes ihrer Mutter vollkommen bewußt wurde. Wir versuchten nach Möglichkeit, sie zu trösten. Ohne Zweifel tat ihr unsere Teilnahme wohl, aber sie war doch seelisch ganz gebrochen und weinte immerwährend leise vor sich hin. Wir versprachen ihr, von nun an abwechselnd oder zusammen die ganze Zeit bei ihr bleiben zu wollen, was sie ersichtlich freute. Gegen Abend verfiel sie in einen leichten Schlaf, während dessen sich etwas Sonderbares ereignete. Sie nahm im Schlummer das Papier von ihrer Brust und zerriß es. Van Helsing näherte sich leise und nahm ihr die Stücke ab. Trotzdem setzte sie die Bewegung des Zerreißens immer noch fort, als ob das Papier noch in ihren Händen sei. Schließlich erhob sie die Hände und breitete sie aus, als wollte sie die Stücke davonflattern lassen. Van Helsing war ersichtlich sehr erstaunt und seine Augenbrauen zogen sich wie bei scharfem Nachdenken zusammen, aber er sagte kein Wort.

19. September. – Die ganze letzte Nacht schlief sie sehr unruhig, da sie sich immer vor dem Einschlummern fürchtete, und jedesmal wachte sie ein wenig schwächer auf. Der Professor und ich übernahmen abwechselnd die Wache und ließen sie keinen Augenblick unbeaufsichtigt. Quincey Morris sagte nichts, was er vorhatte, aber ich wußte, daß er jede Nacht rund um das Haus herum ging.

Als der Tag anbrach, sahen wir in seinem fahlen Lichte die furchtbaren Verheerungen, die der letzte Rückfall in Lucys Organismus angerichtet hatte. Sie war kaum im Stande den Kopf zu drehen, und das bischen Nahrung, das sie zu sich nahm, schien ihr gar nicht zu bekommen. Zeitweise schlief sie; mir sowohl als Van Helsing fiel der Unterschied auf, den ihr Aussehen zeigte, je nachdem sie wachte oder schlief. Im Schlafe sah sie kräftiger, wenn auch magerer aus und ihr Atem war sanfter; ihr offener Mund zeigte das blasse Zahnfleisch, das sich von den Zähnen zurückgezogen zu haben schien, die dadurch länger und schärfer aussahen wie gewöhnlich. Wenn sie wach war, änderte der milde Schimmer der Augen ihren Gesichtsausdruck wesentlich, denn sie glich sich selbst wieder mehr, wenn wir uns auch nicht verhehlen konnten, daß hier eine Sterbende vor uns lag. Nachmittags verlangte sie nach Arthur und wir telegraphierten ihm.

Als er ankam, war es beinahe sechs Uhr, und die Sonne ging voll und warm unter; ihr rotes Licht strömte durch das Fenster herein und verlieh den bleichen Wangen der Sterbenden einen rosigen Schein. Arthur war, als er sie sah, völlig fassungslos, und wir vermochten alle kein Wort zu sprechen. In den vergangenen Stunden hatten die Schlafanwandlungen oder vielmehr die Ohnmachtsanfälle, die deren Stelle einnahmen, die Augenblicke, in denen eine Unterhaltung möglich war, immer mehr verkürzt. Arthurs Gegenwart aber wirkte belebend auf sie ein; sie raffte sich ein wenig auf und sprach fröhlicher mit ihm, als wir sie seit unserer Ankunft gesehen hatten. Er selbst nahm sich zusammen und plauderte so vertrauensvoll mit ihr als möglich; so tat jeder sein Bestes, um diesen Stunden einigermaßen ihren furchtbaren, traurigen Charakter zu nehmen.

Es ist jetzt fast neun Uhr, Arthur und Van Helsing leisten ihr Gesellschaft. Ich bin auf eine Viertelstunde weggegangen, um dies in Lucys Phonograph niederzulegen. Sie wollen bis sechs Uhr bei ihr bleiben. Ich fürchte, daß morgen unsere Nachtwachen zu Ende sein werden, denn der Anfall war doch zu heftig; Lucy kann sich unmöglich erholen.

 

Brief. Mina Harker an Lucy Westenraa.

(Von der Adressatin nicht mehr geöffnet.)

17. September.

Teuerste Lucy!

Es ist mir, als sei ein Jahrhundert verflossen, seit ich das letzte Mal von Dir hörte, oder vielmehr seit ich Dir schrieb. Du wirst mir großmütig verzeihen, ich weiß es, wenn Du den Pack Neuigkeiten erfahren haben wirst, den ich Dir zu berichten habe. Also: ich habe meinen Mann wohlbehalten nach Exeter zurückgebracht; als wir dort ankamen, erwartete uns an der Station ein Wagen, und in ihm, trotz eines Gichtanfalles, Herr Hawkins. Er nahm uns mit in sein eigenes Haus, wo er einige Zimmer reizend und bequem für uns hatte einrichten lassen, und wir speisten gemeinschaftlich. Nach Tisch sagte Herr Hawkins:

»Meine Lieben, ich trinke auf euer Glück und Wohlergehen; ich wünsche, daß euch jederzeit reicher Segen zu Teil werde. Ich kenne euch beide von Jugend auf und habe euch mit Liebe und Stolz heranwachsen sehen. Nun wünsche ich, daß ihr euer Heim hier bei mir aufschlagt. Ich habe nicht Kind noch Kegel, alle sind dahin; und wenn ich einmal nicht mehr bin, so ist das, was ich besitze, euer Eigen.«

Liebste Lucy, ich weinte, als Jonathan und der alte Herr sich die Hände drückten. Wir verlebten einen sehr, sehr glücklichen Abend. So sind wir denn hier in diesem herrlichen alten Hause; sowohl von meinem Schlafzimmer als auch vom Wohnzimmer aus sehe ich auf die Ulmen, die die Kathedrale umgeben und sich mit ihren dicken, dunklen Stämmen scharf von den gelblichen Wänden abheben. Ich höre Tag für Tag die Raben hoch oben krächzen, schnattern und klatschen, wie eben die Raben es tun – und die Menschen. Ich werde Dir wohl nicht besonders versichern müssen, daß ich sehr fleißig bin, denn in einem neuen Haushalt gibt es ja unendlich viel zu besorgen. Jonathan und Herr Hawkins sind auch den ganzen Tag beschäftigt; jetzt, da Jonathan sein Teilhaber ist, hat er ihm über die Klienten manches zu sagen.

Wie geht es Deiner guten Frau Mutter? Ich wollte, ich könnte rasch auf ein paar Tage nach der Stadt kommen, um Euch zu sehen, Liebste. Aber ich kann ja nicht weg mit dieser Arbeitslast auf den Schultern. Und Jonathan bedarf doch auch immer noch der Pflege. Allmählich setzt er wieder Fleisch an, er war furchtbar mitgenommen von der langen Krankheit. Auch jetzt noch fährt er zuweilen nachts aus dem Schlafe auf und zittert an allen Gliedern, bis es mir gelingt, ihn zu seiner gewohnten Ruhe zurückzubringen. Gottlob werden diese Anfälle immer seltener, und ich hoffe, daß sie über kurz oder lang ganz verschwinden. Nun habe ich Dir aber genug von mir erzählt, nun will ich auch etwas von Euch wissen. Wann Ihr heiraten werdet und wo, wer die Trauung vollziehen wird und was Du anziehst. Laß mich alles erfahren, Herzchen, erzähle mir alles, denn es gibt nichts, was für Dich von Interesse ist und mir gleichgültig wäre. Jonathan beauftragt mich, Dir seine »respektvollsten Empfehlungen« zu übermitteln, aber ich glaube, daß das von dem jüngsten Teilhaber der angesehenen Anwälte Hawkins & Harker nicht genug ist. Deshalb, weil Du mich gern hast und er mich und ich Dich im vollsten Sinne des Wortes, so richte ich Dir einfach seine »herzlichsten Grüße« aus. Also genug für heute, liebste Lucy, ich wünsche Dir alles Gute. Stets Deine

Mina Harker.

 

Bericht von Patrick Hennessey,
Dr. med., Mitglied der K. Ärztlichen Gesellschaft, k. Rat etc. etc.,
an John Seward, Dr. med.

20. September.

Werter Herr!

Ihrem Wunsche entsprechend lege ich einen Bericht bei über alles, was Sie mir übertragen haben. Was den Patienten Renfield betrifft, habe ich Ihnen viel zu sagen. Er ist ein zweites Mal ausgebrochen. Die Sache hätte ein sehr unangenehmes Ende nehmen können; sie ist aber noch glücklich abgelaufen und hatte weiter keine üblen Folgen. Heute Nachmittag fuhr ein Frachtwagen an dem verlassenen Hause vor, das uns benachbart ist; an dem Hause, zu dem der Patient, wie Sie sich erinnern werden, zweimal geflüchtet ist. Die Leute hielten an unserem Gittertor, um den Portier nach dem Wege zu fragen, da sie fremd seien. Ich selbst sah gerade zum Fenster des Arbeitszimmers hinaus und rauchte meine Zigarre, als ich einen von ihnen direkt auf das Haus zukommen sah. Als er unten an Renfields Fenster vorbeiging, begann der Patient von innen heraus auf ihn zu schelten und legte ihm alle erdenklichen Schimpfnamen bei. Der Mann, der sehr bescheiden zu sein schien, begnügte sich damit, ihn einen frechmäuligen Bettler zu nennen, worauf unser Freund ihm vorwarf, daß er ihn beraube, und ihm drohte ihn zu ermorden, selbst wenn er dafür an den Galgen käme. Ich öffnete das Fenster und machte dem Manne ein Zeichen, er solle keine Notiz davon nehmen. Er gab sich zufrieden, sah im Garten umher und schien plötzlich sich bewußt zu werden, wo er sich befand. Dann sagte er: »Gott segne Sie, Herr, ich werde doch nicht darauf achten, was mir in einem Narrenhause gesagt wird. Aber ich bedaure Sie und den Direktor, daß Sie mit einem solch schlimmen Patron unter einem Dach leben müssen.« Dann erkundigte er sich sehr höflich nach dem Wege, und ich erklärte ihm, wo sich die Einfahrt zu dem leeren Hause befand. Er ging nun weg, verfolgt von Drohungen, Flüchen und Schmähungen unseres Patienten.

Ich begab mich hinunter, um die Ursache von Renfields Ärger zu erfahren, da er sonst ein wohlerzogener Mann ist und außer seinen Tobsuchtsanfällen noch nie sich etwas derartiges ereignet hatte. Ich fand ihn zu meinem Erstaunen vollständig beruhigt vor und nach seiner Art ganz lustig. Ich wollte das Gespräch auf den Zwischenfall lenken, aber er fragte mich freundlich, was ich meine, und schien den Glauben in mir erwecken zu wollen, daß er von der ganzen Sache absolut nichts mehr wüßte. Es war das, leider muß ich es sagen, wieder ein neues Beispiel seiner Verschlagenheit, denn nach kaum einer halben Stunde hörte ich schon wieder von ihm. Diesmal war er aus dem Fenster seines Zimmers gestiegen und rannte die Allee hinunter. Ich beauftragte die Wärter, mir zu folgen, und lief ihm nach, da ich fürchtete, er könne etwas Übles im Schilde führen.

Mein Verdacht bewahrheitete sich auch. Ich sah den Wagen, der vorher an unserem Hause vorbeigefahren war, den Weg daherkommen; er hatte nur einige große hölzerne Kisten aufgeladen. Die Leute wischten ihre Stirnen und sahen ganz rot aus, wie von einer großen Anstrengung. Ehe ich ihn noch erreicht hatte, sprang schon unser Patient auf sie zu, riß einen von ihnen vom Wagen und stieß ihn mit dem Kopf auf die Erde. Hätte ich ihn nicht noch rechtzeitig gepackt, ich glaube, er hätte den Mann getötet. Der andere Fuhrmann sprang herunter und schlug ihn mit dem Stiele seiner Peitsche über den Kopf. Es war ein furchtbarer Schlag, aber Renfield schien ihn nicht zu beachten, sondern faßte auch den neuen Gegner und rang nun mit uns dreien, indem er uns herumwarf, als wären wir junge Kätzchen. Sie wissen, ich bin gerade kein Leichtgewicht, und die beiden anderen waren plumpe Kerle. Anfangs kämpfte er stillschweigend. Als wir aber allmählich seiner Herr wurden und die Wärter ihm die Zwangsjacke anlegten, begann er zu schelten: »Ich will euch lehren, mich zu berauben! Ihr sollt mich nicht Zoll für Zoll umbringen! Ich werde für meinen Herrn und Meister kämpfen!« Er erging sich noch in allen möglichen, unzusammenhängenden Wahnreden. Nicht ohne bedeutende Schwierigkeiten brachten wir ihn nach Hause in seine Gummizelle. Einer der Wärter, Hardy, hatte sich den Finger gebrochen. Ich habe ihn sogleich in Behandlung genommen, es geht ihm ganz gut.

Die beiden Fuhrleute drohten zuerst laut mit einer Schadenersatzklage und schworen, die ganze Strenge des Gesetzes gegen uns in Anwendung bringen lassen zu wollen. In ihre Drohungen aber mischte sich leise eine Art Beschämung, daß sie zu zweien sich von einem schwachen Narren hatten besiegen lassen. Sie sagten, wenn sie nicht schon ihre ganze Kraft beim Aufheben und Verladen der schweren Kisten hätten dransetzen müssen, hätten sie kurzen Prozeß mit ihm gemacht. Sie gaben als weiteren Grund für ihre Niederlage ihren außerordentlichen Durst an, den sie bei ihrer staubigen Beschäftigung und bei der großen Entfernung von jeglichem Wirtshause bekommen hätten. Ich verstand ihre Anspielung wohl, und nach einem Glas steifen Grogs, besser gesagt mehrerer solcher, und nachdem ich jedem einen Sovereign in die Hand gedrückt, ließ die Heftigkeit ihrer Drohungen nach. Sie schworen, daß sie es gerne mit noch bösartigeren Narren aufnehmen würden, wenn ihnen dadurch das Vergnügen zu Teil würde, einen eben so »netten Mann« wie den Unterzeichneten kennen zu lernen. Ich schrieb mir Namen und Adresse auf für den Fall, daß man ihrer einmal bedürfen sollte.

Ich werde Ihnen alles Wichtige, was hier vorfällt, berichten, und wenn sich etwas von besonderer Bedeutung ereignen sollte, telegraphieren. Gestatten Sie den Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung.

Patrick Hennessey.

 

Brief.
Mina Harker an Lucy Westenraa.

(Von der Adressatin nicht mehr geöffnet.)

18. September

Meine liebe Lucy!

Ein furchtbarer Schlag hat uns getroffen. Herr Hawkins ist plötzlich gestorben. Manche mögen ja sagen, das sei doch nicht so schlimm für uns; aber wir haben ihn so lieb gewonnen, daß es uns ist, als hätten wir einen Vater verloren. Ich kannte ja weder Vater noch Mutter, und so ist mir der Tod des edlen, guten Mannes wirklich ein Schlag. Auch Jonathan ist sehr verstört. Nicht die Trauer, die tiefe Trauer allein ist es um den teuren, lieben Mann, der ihm sein ganzes Leben lang ein Freund gewesen ist, ihn wie einen Sohn gehalten und ihm nun schließlich ein Vermögen hinterlassen hat, das für so bescheidene Leute, wie wir, fürstlich zu nennen ist. Jonathan fühlt es auch in anderer Hinsicht. Er sagt, daß die Verantwortung, die von nun ab auf ihm laste, ihn nervös mache. Er beginnt, an sich selbst zu zweifeln. Ich versuche ihn aufzuheitern, und mein Glaube an ihn hilft ihm, wieder an sich selbst zu glauben. Aber auch der furchtbare Schock, den er erlitten, hängt ihm noch nach. O, es ist zu traurig, daß eine so gute, einfache, edle, starke Natur wie die seine – eine Natur, die es ihm ermöglichte, mit Hilfe unseres guten, teuren Freundes in wenigen Jahren vom Praktikanten zum Chef aufzusteigen – so sehr angegriffen ist. Verzeih mir, Liebste, wenn ich Dir mitten in Deinem Glück mit meinem Jammer das Herz schwer mache. Aber, ich muß irgend jemand mein Herz ausschütten, denn es macht mich schrecklich müde, Jonathan immer eine tapfere, liebenswürdige Miene zu zeigen; hier habe ich niemand, dem ich mich anvertrauen könnte. Mir ist ganz angst, daß wir übermorgen nach London müssen, aber Herr Hawkins hat letztwillig angeordnet, daß er in einem Grabe mit seinem Vater ruhen wolle. Da gar keine Verwandten da sind, kommt Jonathan als Hauptleidtragender in Betracht. Ich werde zu Euch kommen, liebe Lucy, und sei es auch nur auf ein paar Minuten. Mit herzlichem Glückwunsch stets Deine

Mina Harker.

 

Dr. Sewards Tagebuch.

20. September. – Nur Selbstüberwindung und Gewohnheit können mich heute veranlassen, einen Eintrag in das Tagebuch zu machen. Ich bin so elend, so niedergedrückt, so verzweifelt an der Welt und allem, was in ihr ist, daß es mir ganz gleich wäre, wenn ich jetzt das Rauschen der Fittiche des Todesengels vernehmen müßte. Und seine grausigen Fittiche haben gerauscht. Lucys Mutter und Arthurs Vater, und nun – –. Ich will weiter an meine Arbeit gehen.

Ich löste, unserer Abmachung gemäß, Van Helsing in der Wache an Lucys Bett ab. Wir baten Arthur, sich auch etwas Ruhe zu gönnen, aber anfänglich lehnte er ab. Ich mußte ihm erst klar machen, daß wir ja seiner Hilfe unter Umständen morgen wieder bedürfen und daß Lucy darunter leiden müßte, wenn wir alle vor Erschöpfung zusammenbrächen. Das wirkte und er entschloß sich zum Gehen. Van Helsing redete ihm sehr gütig zu. »Kommen Sie, mein Freund«, sagte er. »Kommen Sie mit mir. Sie sind auch krank und schwach und hatten außer dem Angriff auf Ihre körperliche Leistungsfähigkeit, den wir ja alle kennen, noch genug Sorge und innere Pein zu erdulden. Sie dürfen nicht allein bleiben, denn allein sein, heißt der Angst und dem Schrecken ausgesetzt zu sein. Kommen Sie in das Wohnzimmer, dort stehen zwei Sofas und dort brennt ein warmes Feuer. Sie werden auf dem einen, ich auf dem andern Sofa liegen, und unsere Sympathie wird uns gegenseitig ein Trost sein, auch wenn wir nicht sprechen, und selbst wenn wir schlafen.«

Arthur entfernte sich mit ihm, indem er noch einen langen, sehnsüchtigen Blick auf Lucy warf, die in ihren Kissen lag, fast weißer als die Leinwand. Sie lag ganz still, und ich sah mich im Zimmer um, ob alles in gehöriger Ordnung sei. Der Professor hatte in diesem und im anliegenden Zimmer von Knoblauch reichlich Gebrauch gemacht. Die Fenstergesimse waren damit bekränzt, und um Lucys Hals, über dem seidenen Tuch, das Van Helsing ihr angelegt, schlang sich ein Gewinde der stark duftenden Blüten. Lucy atmete keuchend. Ihr Gesicht sah schauerlich aus, denn der offene Mund zeigte ihr bleiches Zahnfleisch. Ihre Zähne sahen in dem schwachen, ungewissen Licht länger und schärfer aus als am Morgen. Im besonderen – es war vielleicht auch eine Täuschung durch das Licht – schienen die Eckzähne länger und schärfer als die anderen. Ich setzte mich an ihrem Bette nieder, und im gleichen Augenblick bewegte sie sich, als sei sie ungehalten. Zugleich vernahm ich vom Fenster her ein dumpfes Klopfen und Flattern. Ich schlich mich leise hin und spähte durch einen Ritz des Vorhanges hinaus. Es war heller Mondenschein und ich konnte erkennen, daß das Geräusch von einer großen Fledermaus herrührte, die, in großen Kreisen fliegend zweifellos durch das, wenn auch schwache Licht angezogen hin und wieder mit ihren Schwingen das Fenster streifte. Als ich auf meinen Platz zurückkehrte, bemerkte ich, daß Lucy ihre Lage etwas verändert und die Knoblauchblüten von ihrem Halse gerissen hatte. Ich brachte sie so gut als möglich wieder in Ordnung und nahm dann meine Wache auf.

Nach einiger Zeit wachte sie auf, und ich gab ihr etwas zu essen, wie es Van Helsing angeordnet hatte. Sie nahm nur wenig zu sich, und auch das nur mühsam. Das unbewußte Ringen um Kraft und Gesundheit, das ihre bisherige Krankheit immer begleitet hatte, schien sie aufgegeben zu haben. Eigentümlich war es, daß sie in dem Augenblick, da sie wieder zu sich kam, die Knoblauchblüten krampfhaft an sich zog. Wenn sie in ihrem lethargischen Schlaf lag und schwer atmete, stieß sie die Blüten von sich; sowie sie aber erwachte, griff sie rasch danach. Ein Irrtum war in diesem Punkte nicht möglich, denn in den noch folgenden Stunden wechselten Schlaf und Wachen häufig und man konnte jedesmal die entsprechende Bewegung beobachten.

Um sechs Uhr löste mich Van Helsing ab. Arthur war gerade in einen Halbschlummer verfallen; wir gönnten ihm seine Ruhe. Als Van Helsing Lucy ansah, konnte ich das zischende Atemholen wieder vernehmen. Er flüsterte: »Ziehen Sie die Vorhänge auf; ich brauche Licht!« Dann beugte er sich nieder und untersuchte sie genau, wobei sein Gesicht fast ihren Körper berührte. Er entfernte die Blüten und lüftete das seidene Tuch um ihren Hals. Er prallte erschreckt zurück und ich hörte ihn rufen: »Mein Gott!« als seien die Worte in seiner Kehle erstickt. Ich beugte mich nun auch über die Kranke und sah sie an; ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Die Wunden an der Kehle waren vollkommen verschwunden.

Ganze fünf Minuten stand Van Helsing und starrte sie an; in seinem Antlitz lag furchtbares Grauen. Dann wandte er sich an mich und sagte:

»Sie muß sterben. Es wird nicht mehr lange dauern. Es ist nun ein großer Unterschied, ob sie bei vollem Bewußtsein oder bewußtlos stirbt. Wecken Sie Arthur; er verläßt sich auf uns, wir haben es ihm ja versprochen.«

Ich ging in das Speisezimmer und weckte Arthur auf. Er wußte ein paar Augenblicke nicht, wo er war. Als er aber das Sonnenlicht durch die Fensterläden hereindringen sah, dachte er, er sei schon zu spät daran und gab seiner Befürchtung Ausdruck. Ich versicherte ihm, daß Lucy immer noch schlafe, und teilte ihm dabei schonend mit, daß Van Helsing und ich fürchteten, das Ende sei nahe. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und sank am Sofa in die Knie. Er betete, das Haupt auf den Armen liegend, etwa eine Minute, während seine Schultern vor Schmerz zuckten. Ich nahm seine Hand und hob ihn auf. »Kommen Sie, mein lieber, guter Freund«, sagte ich, »nehmen Sie alle Ihre Kraft zusammen; so ist es am besten und Sie machen es ihr nicht noch schwerer.«

Als wir in Lucys Zimmer traten, sah ich, daß Van Helsing mit seiner steten Fürsorge alles etwas in Ordnung gebracht hatte. Er hatte sogar Lucys Haar gekämmt, so daß ihre goldigen Locken über das Kissen niederfielen. Bei unserem Eintritt öffnete sie die Augen und flüsterte, indem sie Arthur anblickte:

»Arthur, Du mein Liebster, wie froh bin ich, daß Du kommst!« Er trat näher heran, sie zu küssen, aber Van Helsing hielt ihn zurück. »Nein«, sagte er leise, »noch nicht! Halten Sie ihre Hand, das wird ihr wohler tun.«

Arthur ergriff ihre Hand und kniete neben ihrem Bette nieder; sie sah ihn voll Liebe an. Ihr Gesicht war mild und die Augen strahlten in engelhafter Schönheit. Dann schlossen sich allmählich ihre Augen und sie fiel in Schlaf. Einige Zeit hob und senkte sich ihre Brust ruhig und regelmäßig, und ihr Atem war sanft wie der eines schlafenden Kindes.

Dann aber kam plötzlich jene seltsame Veränderung, die mir schon in der Nacht aufgefallen war. Ihr Atem wurde keuchend, der Mund öffnete sich und das bleiche, zurückgezogene Zahnfleisch ließ die Zähne überaus lang und spitz erscheinen. Suchend, unbewußt, wie eine Nachtwandlerin, öffnete sie ihre Augen, die zugleich hart und traurig aussahen, und sagte mit leiser, wollüstiger Stimme, wie ich sie noch nie von ihr gehört:

»Arthur, mein Geliebter, ich bin so froh, daß du gekommen bist! Küsse mich!« Arthur beugte sich hastig über sie, um sie zu küssen. Aber im gleichen Augenblick sprang Van Helsing, der, wie ich, über den Klang ihrer Stimme erstaunt war, auf ihn zu und riß ihn, ihn am Genick packend, mit beiden Händen weg. Einen so furchtbaren Kraftaufwand hatte ich noch nie bei ihm gesehen und hätte ihn dessen auch nicht für fähig gehalten. Er schleuderte ihn förmlich durch das Zimmer zurück.

»Um Himmels Willen nicht!« rief er, »retten Sie Ihre Seele und die Ihrer Braut!« Und er stand zwischen ihnen wie ein Löwe, der sich zur Wehr setzt.

Arthur war so erstaunt, daß er nicht wußte, was er tun oder sagen sollte. Einen Augenblick sah es aus, als wolle er sich auf Van Helsing stürzen; aber dann beherrschte er sich und blieb schweigend, abwartend auf dem gleichen Fleck stehen.

Ich hielt meine Augen beobachtend auf Lucy gerichtet, ebenso auch Van Helsing, und wir sahen, wie einen Augenblick lang eine furchtbare Wut ihr Antlitz verzerrte. Die scharfen Zähne bissen auf einander. Dann schlossen sich ihre Augen und der Atem ging mühsam aus und ein.

Kurze Zeit danach schlug sie wieder die Augen auf, in denen die uns so bekannte Güte schimmerte. Sie streckte ihre bleiche, abgemagerte Hand aus dem Bett und ergriff die große, braune Hand Van Helsings; sie zog sie an sich und küßte sie. »Mein treuer Freund«, sagte sie, »und auch der seine! O, stehen Sie ihm bei und geben Sie mir den Frieden!«

»Ich schwöre es!« sagte er feierlich, indem er neben ihr niederkniete und die Hand emporhob, wie einer, der einen Eid leistet. Dann wandte er sich an Arthur und sagte zu ihm: »Kommen Sie her, lieber Freund, nehmen Sie Lucys Hand und geben Sie ihr einen Kuß auf die Stirn, aber nur einen.« Ihre Augen trafen sich anstelle der Lippen, und so schieden sie.

Lucys Augen schlossen sich wieder. Van Helsing, der in nächster Nähe geblieben war, nahm Arthur am Arm und zog ihn hinweg. Der Atem der Sterbenden wurde dann keuchend und hörte plötzlich auf.

»Es ist alles vorüber«, sagte Van Helsing leise. »Sie ist tot!«

Ich nahm Arthurs Arm und führte ihn in das Wohnzimmer, wo er sich niedersetzte und das Gesicht in den Händen verbarg; er weinte, daß mir fast das Herz brach.

Ich begab mich in das Sterbezimmer zurück und traf Van Helsing, wie er unverwandt auf die Leiche blickte; sein Gesicht war furchtbar ernst. Die Tote schien sich verändert zu haben. Der Tod hatte ihr einen Teil ihrer Schönheit zurückgegeben; ihr Gesichtchen hatte wieder etwas Rundung bekommen und die Lippen hatten ihre gespenstische Blässe verloren. Es war, als hätte der Tod das Blut, das nun nicht mehr nötig war, um das Herz im Gange zu erhalten, dazu verwendet, um die rauhen Linien, die seine grausame Hand in das Antlitz gerissen, etwas auszugleichen.

»Wir glaubten sie sterbend, als sie schlief,
Und schlafend, als sie starb.«

Ich stand neben Van Helsing und sagte: »Nun hat sie wenigstens Frieden gefunden, das arme Mädchen. Nun ist alles zu Ende!«

Er wandte mir sein Gesicht zu und sagte mit tiefem, feierlichem Ernst: »Nein, leider, nein! Das ist erst der Anfang!«

Ich fragte, was er damit sagen wolle. Er aber schüttelte nur den Kopf und antwortete: »Wir können für den Augenblick nichts tun. Nur abwarten und die Augen offen halten.«


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