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3. Kapitel.

Der neue Erzieher, Magister Melchior Thurnes, hatte sich der Frau Erbprinzessin vorgestellt und war von ihr wie es sich ziemte, huldreich, aber etwas von oben herab, empfangen worden. Sie betrachtete ihn neugierig und ein ganz klein wenig spöttisch durch ein goldenes Lorgnon, dessen sie gar nicht bedurft hätte, denn ihre Augen waren scharf. Doch Königin Marie Antoinette war kurzsichtig, und so verstand es sich von selbst, daß auch die Frau Erbprinzessin es unfein gefunden hätte, gut zu sehen. Nach einer Minute ließ sie das Lorgnon sinken, richtete ein paar gnädige Worte an den Magister und fragte ihn, ob er französisch spreche. Er antwortete ehrerbietig in dieser fremden Sprache, war auch in der Lage, das ganze Gespräch fließend französisch zu führen, wenngleich seine Aussprache hart war und den französischen Sing-Sang vermissen ließ. Die Frau Erbprinzessin war von dieser schlechten Aussprache weniger überrascht als von der Fertigkeit, mit der er die fremde Sprache beherrschte, im übrigen aber entsprach er dem Bilde, das sie sich von ihm gemacht hatte. Er war jung, groß und kräftig gebaut und hätte noch stattlicher aussehen können, wenn er nicht nach Art gelehrter Herrn einen Katzenbuckel gezogen hätte. Seine Art aufzutreten, sich zu bewegen und zu sprechen (er besaß eine sanfte, angenehme Stimme) war durchaus die bescheidene eines echten Pastorensohnes, ohne daß er indessen Verlegenheit gezeigt hätte. Sein junges Gesicht war ein wenig schwer in den Zügen und ganz verschlossen. Die hellen Augen von unbestimmter Farbe blickten jedem, so hoch er auch stehen mochte, fest ins Gesicht und hielten ohne Wimperzucken auch dem glitzernden Blick des Herzogs stand. Zuweilen nur fuhr es in diesen Augen wie eine Stichflamme der Leidenschaft auf, ohne daß man hätte sagen können, aus welchem Brand sie gezüngelt kam. Dann senkte der Magister schnell die Lider, als müsse er ein Geheimnis wahren, und wie er so dastand, mit dem jungen, verschlossenen Gesicht, dem gesenkten Blick und der großen Gestalt, die fest in den feierlichen, schwarzen Rock gezwängt war, gemahnte er, trotz der weißen Perücke und dem sorgsam gefälteten Jabot an einen klösterlichen Novizianten, und der Frau Erbprinzessin fiel das Wort des Herzogs »von sittigem Wesen« ein. Sie lächelte. Ja, wahrhaftig, dieser Pastorensohn schien zwar im allgemeinen ein »rustre«, besaß aber trotz dieser gewissen Bäuerlichkeit ein Ingenue, dem man nicht allen Reiz absprechen konnte. Die Stichflamme der Leidenschaft, die von der Frau Erbprinzessin alsbald bemerkt worden war, amüsierte sie höchlichst, denn sie meinte nicht anders, als daß die Anmut von Hochdero-Persönlichkeit sie entzündet hätte. Eine Annahme, die durchaus irrig war. – –

Der Erbprinz hatte die Nachricht von dem Wechsel in seiner Erziehung ziemlich gleichgültig hingenommen. Kein wärmeres Gefühl hatte ihn mit dem Abbé verbunden, und darum sah er ihn ohne Bedauern scheiden. Aber so etwas wie das Buch vom Baron Trenck wurde er wohl nicht mehr finden, denn der Herr Magister war sicher ebenso eingeschworen auf den Preußenfritz, wie der Großvater, sonst hätte Großvater ihn ja gar nie als Erzieher bestellt. Das Leben würde nun vermutlich recht langweilig werden, und die ersten Geschichtsstunden, die der Magister gab, bestätigten die trübe Ahnung des Erbprinzen vollauf. Auf Wunsch des Herzogs wurde nun französische Geschichte in den Hintergrund geschoben und dafür deutsche gelehrt. Völkerwanderung – Schlacht im Teutoburger Wald – Schwaben- und Hohenstaufenkaiser, Kreuzzüge, Canossa, 30jähriger Krieg, Übergang über das kurische Haff, »aus meinen Gebeinen wird ein Rächer entstehen« – alles mit Daten und Einzelheiten, alles farblos, schulmeisterlich vorgetragen, ohne innere Anteilnahme des Lehrers und also auch des Schülers. Wesentlich besser dagegen war es, wenn der Magister römische Geschichte lehrte, die ja neben der deutschen nicht vergessen werden durfte. Adalbert hatte allerdings schon beim Abbé viel von Rom gelernt, aber die römische Welt des Herrn in der seidenen Soutane sah ganz anders aus als die, welche der Pastorensohn vor dem Auge des jungen Prinzen auftat. Der Abbé war mit Vorliebe bei der Kaiserzeit verweilt, bei Magister Thurnes aber sahen die Römer anders aus, waren nicht glanzvoll sondern ehern, wollten nicht Ruhm sondern das Gemeinwohl, dachten nicht an persönlichen Ehrgeiz, sondern an den Staat. Sie waren ein wenig unwirklich, ein wenig allzu übermenschlich, aber der Magister war so von ihnen ergriffen, stellte sie und die römische Republik mit solcher Wärme und Hingerissenheit dar, daß auch Adalbert warm wurde und sich für Brutus und Cassius und wie sie sonst heißen mochten, weit mehr interessierte, als für Augustus oder auch den sanften Titus, der doch »die Wonne des Menschengeschlechtes« hieß. Wenn der Magister von Brutus sprach, leuchtete in seinen Augen die Flamme der Leidenschaft, ohne daß es ihm einfiel, sie unter gesenkten Lidern zu bergen, und selbst der Mord an Cäsar wurde in seiner Darstellung gerecht, ja erhaben, denn der Dolch, der das Herz des Ehrgeizigen traf, schützte die heilige Republik … Wunderhübsch, viel hübscher als beim Abbé war der Unterricht in der Naturkunde, der eigentlich gar kein Unterricht, sondern ein persönliches Beobachten der Natur war. Der Magister ging mit seinem Zögling spazieren, lehrte ihn auf den Stand der Sonne und des Schattens achten, um nach ihnen Tageszeit und Himmelsrichtung zu bestimmen, plagte ihn nicht mit botanischen Systemen, sondern lehrte ihn Pflanzen und Kräuter mit ihrem volkstümlichen Namen nennen, erzählte ihm von ihrer Heilkraft und von ihrer Schädlichkeit, wußte auch allerhand Sagen und Gebräuche, die sich an diesen Strauch oder an jene Blume knüpften. So schritt Adalbert an der Seite dieses Erziehers wohl behütet an die Schwelle der Jünglingsjahre hin. Wohlbehütet, aber ohne dem Manne, der ihn behütete, irgendwie näher zu kommen, ohne etwas von ihm zu wissen oder ihm zu verraten, als was Erzieher und Zögling voneinander wissen. Einmal freilich versetzte ihn der Magister in helles Entzücken. Adalbert, der sich langweilte, hatte seinen Erzieher gefragt, ob er ihm nicht ein schönes Buch geben wolle und der Magister hatte ihm »Robinson Crusoe« gegeben. Adalbert begann zu lesen und war gleich so vertieft und begeistert, daß er nur mit Mühe von dem Buch wieder wegzubringen war. Als er es zu Ende gelesen, fing er gleich wieder von vorne an und dann noch einmal und wußte nun nichts Schöneres zu reden und zu träumen als diesen auf eine einsame Insel verschlagenen Mann, der alles selber schaffen, sich seine ganze Welt neu erbauen muß, alles aus sich selber, alles aus dem Born der unerschöpflichen Natur, Karl Leopold (dessen Vater immer wieder von Zeit zu Zeit nachsah, ob der Erbprinz noch kein Todeskandidat sei), hatte schon ganz andere Dinge im Kopfe als Männer auf einer wüsten Insel, und sein schönes, freches Gesicht zuckte höhnisch, wenn Adalbert ihm von dem Buche sprechen wollte. Dagegen versuchte er den Prinzen in Geheimnisse und Geschichten einzuweihen, die er ungleich reizvoller fand, die aber zu seinem verächtlichen Staunen auf den jüngeren Vetter keinen Eindruck machten, ihn langweilten oder auch in Verlegenheit brachten, so daß er sich abwandte und gewaltsam irgendein anderes Gespräch begann. Bei Friederikchen, die ebenfalls ab und zu unter der Obhut ihrer Mutter und im Kreise der Geschwister erschien, hätte Adalbert allerdings mehr Glück gehabt, aber mit Friederikchen von dem Buche zu schwärmen oder von Robinson zu träumen, schien Adalbert sinnlos und unwürdig, denn auf Robinsons Insel war für Mädchen kein Raum. – –

Eines Tages kam der Hofprediger mit verstörtem Gesicht ins Schloß gelaufen. Seine Frau, die eine Tagesreise entfernt bei einer verheirateten Tochter zu Besuch weilte, war jählings schwer erkrankt, fühlte ihr Ende nahen und wünschte sehnlich noch einmal all ihre Kinder zu umarmen, ehe sie schied. So wurde dem Magister ein unbeschränkter Urlaub gegeben, und er warf sich in Eile auf ein Pferd (die Post fuhr erst am nächsten Tag) und sprengte davon, um die Mutter noch lebend anzutreffen. Abbé Clement sollte ihn während seiner Abwesenheit beim Prinzen vertreten, tat es auch mit sauersüßem Gesicht und ohne besonderen Eifer, was ihm wohl kein Mensch verdenken konnte. So verfügte Adalbert über mehr Freiheit, als sonst, und beschloß diesen angenehmen Zustand zu einer Erforschungsreise à la Robinson auszunützen. Doch gedachte er nicht eine wüste Insel aufzusuchen, wohl aber endlich in das Gemach seines Lehrers einzudringen, das dieser stets sorgfältig verschlossen hielt. Adalbert hatte gehofft, daß der Magister vielleicht in der Aufregung und Hast der Abreise den Schlüssel stecken lassen würde, sah sich aber in dieser Zuversicht getäuscht. Er besann sich ein Weilchen hin und her, was nun zu tun sei und zog Conrad Wenglein ins Vertrauen, der dem Prinzen in allem zu Willen war und vor Türschlössern offenbar keinen allzugroßen Respekt besaß. Er brachte zunächst einen großen Schlüsselbund herbei, probierte alle Schlüssel, mußte aber zu seinem Bedauern feststellen, daß keiner sperrte. Weil er aber ein erfahrener Mann war, fertigte er kunstvoll eine Drahtschlinge, die er ins Schlüsselloch einführte und mit ihrer Hilfe den Riegel im Innern des Schlüssellochs zurückschob.

»So!« sagte er befriedigt, »nun können Hoheit das Zimmer besichtigen, und wenn Hoheit die Türe wieder hinter sich zumachen, merkt kein Mensch, daß sie aufgesperrt war!«

Adalbert trat ein, blickte etwas enttäuscht um sich, denn auch die Bücherschränke, die nicht zu verschließen waren, sahen alles andere denn verlockend aus. Gesang- und Erbauungsbücher, allerlei theologische Schriften und etliche antike Klassiker, – das war alles, was da in gedoppelten Reihen stand. Adalbert ging daran, die frommen und gelehrten Bücher der ersten Reihe herabzunehmen, um die hintere zu erforschen. Besonders die versteckten, die der Magister so recht in den hintersten Winkel gekramt hatte, reizten seine Neugier, und als erstes fiel ihm ein schmales, in braunes Leder gebundenes Buch in die Hand, dessen Titel ihn nicht gelockt hätte und das er als langweilig schon wieder zu den anderen zurückstellen wollte. Aber das Buch, das abgegriffen und stark zerlesen war, fiel von selber auf und zeigte an vielen Stellen Bleistiftstriche und Anmerkungen des Magisters. Da wurde Adalbert doch neugierig und begann in dem abgegriffenen Buche zu lesen. Schon der erste Satz traf ihn mit solcher Wucht, wie kaum je zuvor ein gedrucktes Wort:

»Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Fesseln.«

Er atmete tief, da er es las. Ihm war's, als brause um ihn her ein Sturm, der vom Ozean hergefegt kam und die Freiheit, die Frische, die Gewalt des Ozeans in dies stille Zimmer trug. »Frei geboren – –« klang es nicht wie jubelnde Fanfaren, die der Welt eine Seligkeit verkündeten, wie sie keine zweite besaß und von der sie bis zur Stunde nichts gewußt hatte?! »Und überall liegt er in Fesseln.« Adalbert senkte von Traurigkeit übermannt das Haupt. Er wußte zwar keinen Menschen, der in Fesseln lag, bis ihm Trenck einfiel, der unglückselige Trenck, und da war's ihm mit einem Male, als ob er jetzt den tiefsten Sinn dieses Buches verstehen müsse, von dem er doch eben den ersten Satz gelesen hatte. Begierig las er weiter:

»Mancher hält sich für den Gebieter der Anderen und hört doch nicht auf, der größere Sklave zu sein, als sie.«

»Der Stärkste ist nie stark genug, um immer Herr zu bleiben, wenn er nicht seine Stärke in Recht und den Gehorsam in Pflicht verwandelt. Daher das Recht des Stärkeren, das scheinbar ironisch genommen, aber im Prinzip wirklich existiert.«

»Da kein Mensch von Natur aus Gewalt über seinesgleichen hat, und Kraft allein kein Recht gewährt, bleiben also nur als Grundlage jeder legitimen Gewalt die Vereinbarungen unter den Menschen übrig.«

»Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch, die Menschenrechte, selbst auf seine Pflichten verzichten. Für den, der auf alles verzichtet, ist keinerlei Entschädigung möglich. Ein solches Selbstverleugnen ist mit der Natur des Menschen unvereinbar und seinem Willen jede Freiheit nehmen heißt, seine Handlung ihres sittlichen Wertes berauben.«

Er hielt inne. Wer war es denn, der solche Worte sprach, Worte, die geheimnisvoll ergreifend, erschreckend und dennoch wundervoll, wie die Botschaft eines fernen unbekannten Landes klangen, von der vielleicht eine blasse Ahnung zuweilen durch die unbestimmten Träume des Knaben gezittert hatte? Erst jetzt sah er das Titelblatt aufmerksam an:

»Der Gesellschaftsvertrag«
oder
Grundzüge des politischen Rechts.
J. J. Rousseau,
Bürger von Genf.
Amsterdam.
Marc Michel Rey.
MDCCLXII.

Neben diesem Band standen noch andere von dem gleichen Verfasser und glühend vor Begier nahm Adalbert sie in die Hand, blätterte hastig darin umher, überschlug, was andere Knaben seines Alters wohl gereizt hätte, fand mit unfehlbarem Instinkt, als wiese ihn ein unsichtbarer Finger, immer neue Stellen, die ihn erregten, gerade weil er ihren Sinn nicht immer bis zuletzt verstand.

»Solange die Menschen sich mit ihren kunstlosen Hütten begnügten, solange sie ihre Bekleidung aus Häuten mit Dornen oder Fischgräten zusammenhielten, sich mit Federn und Muscheln schmückten, ihren Körper mit bunten Farben bemalten, solange sie sich noch mit der Vervollkommnung und Verschönerung ihrer Bogen und Pfeile beschäftigten oder mit Hilfe spitzer Steine Fischerboote und einige rohe Musikinstrumente fertigten, mit einem Wort, solange sie sich nur mit Arbeiten beschäftigten, die ein einzelner ausführen konnte, und Künste übten, die der Mithilfe anderer nicht bedurften, solange lebten die Menschen so frei, gesund, gut und glücklich, als sie es durch ihre natürliche Veranlagung sein konnten.«

»Kaum hatten die Reichen erkannt, was für ein Vergnügen das Herrschen bereitet, als sie schon alle andern verachteten und mit Hilfe ihrer erstmaligen Sklaven, aus denen sie ihre Soldaten machten, sich neue untertänig machten. Sie hatten kein anderes Streben als ihre Nachbarn und Nächsten zu unterdrücken und zu beherrschen, gleich den Wölfen, die, wenn sie einmal Menschenblut geleckt haben, alle andere Nahrung mißachten.«

»Die Könige wollen unumschränkt herrschen, aber vergebens ruft man ihnen zu, das beste Mittel, dies Ziel zu erreichen, sei, sich die Liebe ihrer Völker zu erwerben. Dieser Grundsatz ist sehr schön und in mancher Hinsicht sehr wahr, doch an den Höfen wird man sich stets über ihn lustig machen.«

»Alles trägt dazu bei, einem Menschen, der dazu erzogen worden ist, über andere zu herrschen, jedes Gefühl von Gerechtigkeit und Vernunft zu rauben. Wie man sagt, soll man sich die größte Mühe geben, den jungen Prinzen die Kunst des Regierens beizubringen, aber wie es scheint, ziehen sie wenig Nutzen davon.«

Noch andere Bücher fand Adalbert in der Bibliothek seines Magisters. Sie sprachen nicht so dröhnend, nicht als so furchtbare Richter über das, was sich menschliche Größe nennt, sondern beugten sich liebevoll über das tiefe Elend der Armen und entrollten vor Adalberts Augen Schicksale, von denen er nie gewußt hatte. Sie sprachen von den Mühseligen und Entrechteten, die im Dienste großer Herren frohndeten, während die lustige Pürsch jener Großen den Acker verwüstete, den die Entrechteten im Schweiße ihres Angesichts für die fröhlichen Jäger bestellten.

»Sie leben in furchtbarstem Elend, ohne Einrichtungsgegenstände, ohne Betten und die Mehrzahl von ihnen ermangelt während der Hälfte des Jahres des Gersten- und Haferbrotes, das ihre einzige Nahrung bildet und das sie sich und ihren Kindern vom Munde absparen, um die Steuern zu bezahlen.«

»Es sind armselige Sklaven, ins Joch gespannte Zugtiere, die dahin gehen, wohin man sie peitscht.«

Band um Band der verborgenen Bücherreihen nahm Adalbert heraus, und aus jedem schrie Klage, Anklage, Empörung und ein heißes Begehren nach neuem Recht, nach neuer Gerechtigkeit.

Der Prinz hatte einen ganzen Arm voll solcher Bücher in sein Zimmer geschleppt, hatte ein sicheres Versteck ausgefunden, das sie vor den Augen des Abbés verbarg und saß nun mit heißem Kopf über sie gebeugt, ohne selbstverständlich erfassen zu können, was sie in ihrem Zusammenhang bedeuteten oder begehrten. Diese Bücher aber redeten noch ganz anders zu ihm als Trencks Lebensgeschichte, und wie andere junge Leute seiner Jahre mit brennenden Wangen und klopfenden Adern lüsterne Geschichten verschlingen, so saß er in Qual und schmerzhaftem Glück vor ihnen, die zeigten, daß wie Trenck so die ganze Menschheit der Willkür Einzelner anheimgegeben war. Von allen aber, die voll Leid und Empörung nach Erlösung schrien, ergriff ihn keiner so tief wie der Mann, der als Eingang seines Buches das furchtbar-schöne Wort geschrieben hatte: »Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Fesseln.« Wie der Klang einer Glocke, die er nie zuvor vernommen hatte, umbrauste ihn das Wort, schlug mit eisernem Klöppel an sein verträumtes Herz: »Wach auf!« Er war erwacht, er verstand noch nichts von der Ordnung der Welt, aber er spürte, daß da eine Hand an allem rüttelte, alles stürzen und neu erschaffen wollte, was bis jetzt als unerschütterlich und unverletzlich gegolten hatte. Chaos und Wiedergeburt sollte diese Hand schaffen und Chaos wogte als Widerspiel in der Seele dieses jungen Menschen, der sich jetzt, unter der furchtbaren Anklage gegen die Könige, zum ersten Mal als ihresgleichen fühlte und schaudernd das Gesicht von dem Spiegel abwandte, den die unsichtbare Hand ihm und allen vorhielt. Doch noch Anderes wies er ihm als die eigene kleine Person, – die unabsehbare dunkle Masse, die man »das Volk« nannte und von der er bisher kaum Einzelne unterschieden hatte. Nun löste sich diese Masse in Einzelne, in Einzelschicksale auf, und alle waren dunkel und armselig, und alle lebten, von den Großen und Reichen verdrängt, in finsteren Winkeln, in die nie ein Strahl der Sonne und des Glücks fiel. Immer mächtiger schlug der eiserne Klöppel an das verträumte Herz: »Wach auf!« und eine neue Welt öffnete sich vor ihm, die Welt der Geschlagenen, der Entrechteten, die in Qualen röcheln, in Sehnsucht und Zorn nach Freiheit und Erlösung schreien … Voll tiefer Inbrunst gab er sich dieser Welt hin …

*

Mit großen Schritten ging Melchior Thurnes unablässig in seinem Zimmer hin und her. Es war schon spät abends, die Kerzen auf dem Tisch trugen große Bärte und verbreiteten einen abscheulichen Schwalm, aber er merkte es nicht und nahm die Schere nicht zur Hand, um sie zu putzen. In diesen letzten Tagen war so viel auf ihn eingedrungen, daß ihm der Kopf heiß war und er sich nicht zurecht finden konnte.

Er hatte seine Mutter noch lebend angetroffen; am Tag nach seiner Ankunft war sie in seinen Armen verschieden. Mit ihrer ahnenden Liebe hatte sie wohl gespürt, wenn auch nicht deutlich gewußt, daß dieser Sohn, ihr Liebling, Wege gehen wollte, von denen sein Vater und das ganze Haus sich mit Abscheu wandten, und so hatte er ihr geloben müssen, niemals von den Grundsätzen zu weichen, die der Pastor in ihn gepflanzt hatte und zu denen seine ganze Familie sich bekannte. Ohne Zögern hatte er der Sterbenden diese Beruhigung gegeben, obwohl er wußte, daß er sein Wort nicht halten konnte. Denn dieser Pastorensohn, der so bieder und sittsam aussah und jedem Menschen, auch seinem Herzog so fest ins Auge blicken konnte, war ein Rebell und haßte die »Tyrannen«. – –

Ein grüblerischer Phantast, hatte er sich schon frühzeitig die Stirne an der Enge des Elternhauses wund gestoßen, und dessen Demut hatte ihn immer zum Widerspruch gereizt. Kaum war er erwachsen, da klopfte er alle Dinge der Welt mit dem Worte »Warum« ab und fand, daß alles hohl und wurmzerfressen klang. Als blutjunges Studentlein wanderte er auf den Universitäten von Heidelberg und Göttingen umher, vernahm noch Erinnerungen und Legenden vom zerstobenen »Göttinger Hainbund« und hatte für eine kleine Weile bedauern wollen, daß er zu spät geboren war, um diesem Kreise näher zu treten und mit ihm Ansichten und Gefühle auszutauschen. Schnell aber wandte sich dies Bedauern in Geringschätzung. Nein, er hätte nichts Gemeinsames gehabt mit diesen Jünglingen, die »teutschen Trutz« gegen »welschen Nitznutz« setzen wollten, einen verstiegenen Klopstockkult trieben, im Mondschein Arm in Arm wandelten, ihre Hüte mit Eichenlaub kränzten, einander ohne jeden Grund weinend in die Arme sanken und meinten, ein neues Zeitalter sei angebrochen, weil sie von »Tyrannenhaß« sangen und weil ein paar dichtende Gräflein sich mit ihnen, den armen, bürgerlichen Dichtern, befreundet hatten … Nein, über sie und ihr Streben und Tun konnte er nur die Achseln zucken, denn was half all das Literaturgeschwätz von »Tyrannenhaß« und Freiheitsliebe, wenn nach wie vor der Bürger einen Maulkorb trug, den man ihm nur abnahm, wenn »Hoch unser allergnädigster Herr«, geschrien werden sollte …

Dann war der Ruf an ihn ergangen, der sein ganzes Leben durchklingen sollte, nun hatte er den Meister gefunden, der die Welt erlösen würde und dem er als demütiger Jünger folgen mußte. Für ihn und für die Taten, die er forderte, wollte Melchior Thurnes fortan leben und kämpfen, um seinetwillen machte er sich etliche Jahre zum »Fürstenknecht« (wie er es nannte) denn um den großen Kampf auszufechten, zu dem Rousseau aufrief, mußte man unabhängig sein und die Berufung zum Prinzenerzieher bedeutete ja nicht nur Gnade und Ehre, sondern auch ein schönes Einkommen für den Pastorensohn.

Die Kerzen brannten tiefer herab, tränten gotteserbärmlich und rauchten, daß er sich immer wieder räuspern mußte, ohne daß es ihm deshalb eingefallen wäre, die Lichtschere zur Hand zu nehmen. Unablässig ging er hin und her, überdachte die Tage seit seiner Rückkehr und diese letzte, eben verflossene Stunde mit seinem Zögling. Er war früher zurückgekehrt, als man ihn erwartet hatte, zum nicht geringen Schrecken Adalberts, dem es nicht mehr möglich war, die Bücher an ihren Platz zurückzubringen. Melchior Thurnes hatte auch, kaum daß er sein Zimmer betreten, sofort gemerkt, daß Unberufene in seiner Abwesenheit hier eingedrungen waren. Ein Papierstreifen, den er als Merkzettel in einen Band gelegt hatte, war auf den Teppich gefallen, und obwohl Adalbert sich Mühe gegeben hatte, die Bücher der ersten Reihe wieder in Reih und Glied zu stellen, sah der Magister doch sofort, daß sie herausgenommen worden waren. Dann fehlte fast der ganze Rousseau nebst anderen Bänden, und es befiel ihn ein großer Schreck. Wer konnte hier eingedrungen sein? Wer hatte ein Interesse daran, seine Bibliothek zu durchstöbern und versteckte Bücher zu stehlen? Sein erster Verdacht war auf den Abbé gefallen, den er zwar kaum kannte, der ihm aber sicherlich geheimes Übelwollen entgegenbringen mußte. Ja, so war es! Kein anderer als der Abbé hatte die Bibliothek ausgeschnüffelt und die umstürzlerischen Bücher mit befriedigtem Lächeln zum Herzog hingetragen. Schnell aber verwarf er diesen Gedanken als unlogisch und lächerlich. Der Herr Abbé und die Frau Erbprinzessin urteilten über Rousseau wohl ganz anders als der Herzog, merkten nicht, daß sie auf einem Pulverfaß saßen, das über kurz oder lang in die Luft fliegen mußte. Der Magister schloß für eine Sekunde die Augen und meinte dennoch zu sehen, wie die brennende Lunte näher und näher kroch, bis endlich in Rauch und Feuer aufging, was heute in Glanz und Macht prahlte. Die Frau Erbprinzessin hatte sich ja damals gründlich getäuscht, als sie meinte, daß die Stichflamme der Leidenschaft in Melchiors Augen hochdero Anmut gegolten hätte. Die Frau Erbprinzessin war für diesen jungen Mann nicht eine schöne Frau, sondern das verabscheuungswürdige Geschöpf der Eitelkeit und des Übermutes, das vom Schweiße des Volkes praßte … –

Wenn es nicht der Abbé gewesen war, wer sollte es sonst sein? Er wußte von keinem Feind, den er am Hofe hatte, und da fiel ihm endlich ein, daß der Bücherdieb vielleicht der junge Prinz sein könnte. Adalbert kam ihm mit einem rückhaltlosen und reumütigen Bekenntnis zuvor. In einer späten Dämmerstunde legte er es ab, da man sein Gesicht nicht mehr sehen konnte und hielt den Kopf tief gesenkt, weil er sich nun schämte, daß er gleich einem Dieb in ein verschlossenes Zimmer geschlichen war. Das erste Bekenntnis war schamhaft, das zweite aber leidenschaftlich, so leidenschaftlich, wie der Magister seinen stillen Zögling nie gesehen hatte. Mit einer Stimme, die bebte, sagte er:

»Ich habe Bücher aus Ihrem Schrank genommen, in denen Sachen stehen, die ich nie gewußt habe, die kein Mensch hier weiß, außer Ihnen! Immerfort muß ich darüber nachdenken und kann doch nicht alles verstehen … Sie müssen mir helfen. Ohne Sie komme ich nicht zurecht! Sie müssen

Wie ein Notschrei hatte es geklungen und als erschrecktes Stammeln kam hinterher: »Wie soll ich einmal herrschen können, wenn ich nicht alles bis zuletzt weiß!« »Ich muß doch einmal herrschen, – helfen Sie mir!«

Melchior Thurnes konnte das Gesicht seines Zöglings nicht unterscheiden, aber er wußte, daß Adalbert Tränen in den Augen hatte, und daß dieser Augenblick entscheiden würde, ob das Herz des Knaben sich seinem Lehrer ganz erschließen oder sich für immer von ihm abwenden würde. Da war Melchior Thurnes erschrocken und kaum weniger bestürzt als Adalbert. Erschüttert von dem leidenschaftlichen Geständnis, fühlte er sich unfähig, in diesem Augenblick eine Wahl zu treffen und sagte dem Prinzen, daß sie über diese Angelegenheit am nächsten Tage in aller Ruhe miteinander sprechen wollten … In aller Ruhe, – welch ein Hohn! Wenigstens jetzt, da er allein in seinem Zimmer war, erschien es ihm wie Hohn, daß er schon morgen ruhig sein sollte. War er doch jetzt so durchwühlt von Empfindungen aller Art, daß er alles um sich her vergaß und die Erregung seines Innern nur bändigen konnte, indem er rastlos hin und her ging.

Eine Lohe der Leidenschaft wogte um ihn her und in seine Augen kam ein fanatischer Glanz. – – Er trat zum Schreibtisch, schloß eine Lade auf und nahm aus einem Geheimfach, das er mit einem Fingerdruck öffnete, ein kleines, schwarzes Etui, das eine Silhouette barg. Es war Jean Jacques' Silhouette, die er lange und inbrünstig betrachtete und zu der er in Gedanken sprach:

»In deinem heiligen Namen soll es geschehen. Du führtest ihn zu mir her, ich führe ihn zu dir zurück! Dein Geschöpf soll er werden, dein echter Sohn, ein Bürger, wie du ihn willst …«

Er verschloß die Silhouette wieder in dem Geheimfach. Die Kerzen waren erloschen, schon fiel der erste Frühschein ins Gemach. Melchior Thurnes fröstelte und fühlte jetzt, daß er übernächtig und todmüde war. Er warf sich, ohne sich auszukleiden, aufs Bett und schlief in den dämmernden Morgen hinein.

*

Die Frau Erbprinzessin sah, ein wenig erstaunt, auf den heranwachsenden Sohn. Er war nun fünfzehn oder sechzehn, hochaufgeschossen, schlank, elegant, und wenn er sein goldgesticktes Staatskleid mit dem köstlichen Brüsseler Jabot trug, sah er wirklich wie ein kleiner Märchenprinz aus. So sagte wenigstens der Abbé, so wiederholten es die Blicke junger Hoffräuleins, und die alten Damen, die einst den Herzog in seiner Jugend gekannt hatten, nickten wehmütig und meinten, so, gerade so sei auch er einst einhergeschritten, obwohl Adalbert nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihm hatte. Er aber sah mit kindlichem Blick über alles hinweg, was ihn umflüsterte und bereit war, sich schmeichelnd an ihn zu drängen und darob eben war die Frau Erbprinzessin sehr erstaunt. Die Pagen seines Alters waren alle zum Mindesten verliebt, wenn sie nicht etwa schon ein kleines oder großes Abenteuer hatten, und sie wurden zum Mindesten rot und stolz, wenn das Auge einer Dame freundlich auf ihnen ruhte. Sie dachte: »Er gleicht seinem Vater. Er hat zwar keine Käfersammlung, dafür aber diesen Magister, den ihm mein Herr Schwiegervater ausgesucht hat, um ihn zu verbauern und mich zu ärgern! Dieser Mensch kann ihm eben nicht den Schliff und die Lebensart der großen Welt beibringen –«

Der Herzog war im letzten Jahr stark gealtert, und seine Menschenfeindlichkeit hatte sich krankhaft gesteigert. Sein verschrumpfendes Gehirn erinnerte sich nicht mehr an gute und schöne Tage, sondern nur noch der Bitternisse, die ihm Dummheit und Bosheit der Menschen bereitet hatten, und wenn man ihm zuhörte, war alles, was er je Großes gewollt, durch die Niedertracht seiner Untertanen vereitelt worden. Da er jung war, hatte es ihm Lust bereitet, auch gegen den Willen der Großen oder der Kleinen seinen Willen durchzusetzen, Verbesserungen und Neuerungen in Verwaltung, Justiz und Heer einzuführen und zu triumphieren, wenn der anfängliche Widerstand sich späterhin in Zustimmung und Bewunderung löste. Heute dachte er an diese Lösung nicht mehr, wußte nur noch, wie man ihm alles erschwert, alles durchkreuzt, alles vernichtet hatte. Er schimpfte auf die Menschen, daß man das Gruseln bekam, wenn man ihn hörte, und sein Lieblingswort war: »Der Mensch ist kein Mensch, ist kein Tier, sondern eine infame Canaille!« Je enger aneinandergedrängt ihm das verschrumpfende Gehirn die Dummheiten und Bosheiten früherer Geschlechter zeigte, umso lauter schrie er diesen Lieblingssatz hinaus und freute sich, wenn er sah, daß Adalberts Gesicht bei solchen Worten schmerzlich zuckte.

Mit dem verächtlichen Schimpfwort des Großvaters noch in den Ohren trat dann der Prinz in sein eigenes Gemach, wo Melchior Thurnes über einem Buche Jean Jacques saß, einem Buche, daß die süßen Worte sprach: »Der Mensch ist gut!« Gläubig wiederholte und erläuterte Melchior Thurnes die Rousseau'schen Worte: »Ja, der Mensch ist gut. Rein und gütig war er aus den Händen der Natur hervorgegangen. Rein und gut war er geblieben, solange er nur seinen Acker bestellte, und mit eigener Hand verfertigte, was des Lebens Notdurft begehrte, – erst die Kultur hatte ihn verderbt und unglücklich gemacht. Als Menschen gleicher Art und mit gleichen Rechten ausgestattet, waren sie alle von der Natur geformt worden, – erst die Anmaßung, die Härte der Kultur hatte Unterschiede zwischen sie gesetzt und die einen über die anderen gestellt, so daß die einen alles Glück und alle Schönheit der Freiheit und des Lebens genießen durften, während die andern in Ketten lagen und für die Glücklichen frohndeten und starben. Darum fort mit aller Kultur, aller Wissenschaft, allen Künsten, allen Büchern, zurück zur Gotteskindschaft der Natur, auf daß wir wieder frei und glücklich werden wie die Menschen des goldenen Zeitalters waren.«

Melchior Thurnes sprach oft und lange solche und ähnliche Worte, und nie kam ihm zum Bewußtsein, wie widersinnig es war, daß Jean Jacques Bücher und Künste verwarf und dabei selber Opern und eine ganze Reihe von Bänden geschrieben hatte …

Doch nicht nur von den Werken, auch von Jean Jacques selbst erzählte der Magister, und atemlos vernahm Adalbert den seltsamen Lebensgang dieses Mannes, den mehr noch als widriges Schicksal die eigene Unrast immer wieder von jeder Stätte und jedem Menschen wegtrieb, wo er Ruhe und Verständnis gefunden hätte. So deutlich sah Adalbert alles vor sich, als ob er es mit erlebt hätte –. Wie der Genfer Uhrmachersohn aus der Lehre entlief – wie er, der Calvinist, in ein geistliches Convict gesperrt wurde und seine Freiheit erst erhielt, als er den Glauben seiner Väter abgeschworen hatte – wie er (Adalbert standen die Tränen in der Kehle) sich als Lakai bei einem großen Herrn verdingen mußte – wie ein hochmütiger und hartherziger Edelmann, dem er Sekretär war, ihn beleidigte und erniedrigte – wie sein »Emile« (Melchior Thurnes' Evangelium) von der pfäffischen Akademie in Paris als gottlos erklärt und durch Henkershand verbrannt worden – wie dieselben Pfaffen ihn gepeinigt und verfolgt hatten, daß er ruhelos von Frankreich nach England floh, auch dort und nirgends eine bleibende Stätte finden konnte, bis er endlich mit der treuen Lebensgefährtin, »dem schlichten Kind des Volkes« (wie Melchior Thurnes sagte), das er »vor der Natur« geheiratet hatte, in Erménonville landete, um dort plötzlich und auf ungeklärte Weise zu sterben. »Natürlich«, sagte Melchior Thurnes, »haben die Pfaffen ausgesprengt, daß er Selbstmord begangen hat, weil es ihnen wohl passen möchte, daß er, der Gott nicht in ihnen, sondern in der großen Natur erkannte, sich und sein Andenken mit Selbstmord befleckt hätte. Warum auch hätte er Hand an sich legen wollen? Er hatte endlich eine Zuflucht gefunden, wo man ihn in Ruhe ließ, er hatte seine Bücher, seine Vögel und das schlichte Kind des Volkes, das ihm mit unwandelbarer Liebe und Treue anhing, als alle andern ihn verfolgten und verdammten –. Nein, sicher ist er eines natürlichen, sanften Todes gestorben, ganz so, wie er ihn immer gewünscht haben mag … –«

Jedes Mal aber schloß das Gespräch über Rousseau mit der Klage:

»Welch ein Schmerz für mich, daß ich ihn nie von Angesicht zu Angesicht sehen durfte! Monatelang hatte ich mühsam Pfennig auf Pfennig gespart, um die Reise zu ihm zu unternehmen, um einmal die Hand zu küssen, die der Welt das neue Evangelium der Liebe und Erlösung geschrieben hat! Aber noch ehe ich die Summe beisammen hatte, kam die Todesnachricht. Nun wird es mich mein Lebelang reuen, daß ich wie ein Kleinbürger meinte, ich müsse mit der Post fahren, statt daß ich mich zu Fuß auf den Weg gemacht hätte, wie es sich für eine Pilgerschaft ziemt! Eine Pilgerschaft wäre der Weg gewesen, und Jean Jacques' Anblick eine Wegzehrung für mein ganzes Leben. Nun muß ich warten, bis ich später sein Grab aufsuchen kann und das schlichte Kind des Volkes, das dann hoffentlich noch lebt und mir von ihm erzählen soll …«

Adalbert riß die Augen auf.

»Sie wollen später nach Frankreich?«

Ja, das wollte er. Bei dieser Gelegenheit kam auch heraus, was kein Mensch im Schloß oder im Pastorenhaus wußte: Melchior Thurnes unterhielt in großer Heimlichkeit eine Korrespondenz nach Paris, mit dem Stallarzt des Herzogs von Orleans, einem gebürtigen Deutschen, der alle Vorsichtsmaßregeln umsichtig getroffen hatte, damit nichts von dem, was sie einander schrieben, in unberufene Hände kam.

Neben der Geschichte, die Melchior Thurnes dem Prinzen gleichsam offiziell beibrachte und mit der beide den Herzog zufrieden stellten, lernte der Prinz noch eine andere, die wesentlich anders lautete und auch sehr verschieden von der Art und Denkungsweise war, die den Abbé ausgezeichnet hatten. Eine Geschichte der »Tyrannei«, war es, und die Könige und Herrscher nahmen sich in ihr ungleich unvorteilhafter aus, als in den Lehrstunden des Herrn in der seidenen Soutane. Der Sonnenkönig war nicht mehr der Halbgott, der voll Majestät und königlicher Anmut den Erdball beherrschte, sondern ein eitler, ruhmsüchtiger Mensch, der dem Volke das Mark aus den Knochen preßte, um seinen Bauwahnsinn zu befriedigen, der die Schlachtfelder der Welt mit den Leibern junger Soldaten bedeckte und, da er alt geworden, einer Frömmlerin zuliebe die Glaubensfreiheit, die sein Vorfahr gegeben hatte, widerrief und mit ihr alle Intelligenzen aus seinem Lande austrieb. Seinem Nachfolger wurde das schonende » ad usum delphini« nicht zugestanden.

Ganz so erbärmlich, herzlos, liederlich und verkommen, wie er in Wahrheit gewesen, stand Ludwig XV. vor dem Prinzen da, und um die beiden her scharten sich andere Tyrannen, denn Tyrannen waren sie alle, gleichviel, ob sie Kriege verloren oder gewonnen hatten, ob eine schmeichelnde Geschichtsbeschreibung sie »der Große« oder »der Weise« oder »der Gütige« nannte. Trencks Ketten klirrten, Schubart saß wegen eines Gedichts in langer, fürchterlicher Gefangenschaft auf dem Hohenasperg, hessische und sächsische Tyrannen verkauften Regimenter an fremde Völker, um Geld zu bekommen für ihre gierigen Maitressen oder auch Vasen aus kostbarem Porzellan, denen ihre zur Verbrecherleidenschaft gewordene Sammelpassion nicht widerstehen konnte.

Adalbert hörte zu, schauderte und fragte angstvoll: »Wie konnten Menschen überhaupt leben und froh sein, die solche Schuld auf sich geladen haben, auf denen so viele Flüche ruhten?«

»Schuld und Flüche kümmerten sie nicht. Aus dem Westen kommt das Heil, über den Ozean her nach Frankreich, denn dort haben Anmaßung und böser Wille die Menschheit in zwei Hälften geteilt. Die eine lebt in Glanz und Freude, die andere sitzt in Not und Dunkel und weint. Aber Jean Jaques' Hand wird all diesen Greueln ein Ende bereiten, das große Elend wird auflohen und nach allen Seiten hin zündende Funken stieben lassen. Dann endlich wird die Zeit kommen, da sich alle Menschen als Brüder fühlen, da keiner sich mehr über den anderen erhebt und Ihre große Aufgabe, Hoheit, wird es sein, allen deutschen Fürsten mit dem Beispiel voranzugehen. –

Darum wird es Ihre große Aufgabe sein, Ihr Volk zur Selbständigkeit zu erziehen, und wenn es mündig geworden ist, dann werden Sie ihm die freie Wahl seines Führers lassen, werden Herrscher nur dann sein wollen, wenn Ihr Volk Sie als Führer an seine Spitze stellt. Und nach Ihrem Beispiel werden alle Kronen in Europa von den Stirnen der Fürsten fallen, und es wird nur noch den ersten Mann der Republik geben.«

»Aber was bin ich dann, wenn ich kein Fürst mehr bin und wenn mein Volk vielleicht einen anderen wählt?«

»Sie werden ein freier Bürger unter freien Bürgern sein. Sie werden sich vor ihm beugen, den das Volk als den Würdigsten erkannt hat. Sie werden als freier, glücklicher Mann Ihren Acker bestellen, ein Gleicher unter Gleichen sein und an den Brüsten der Natur die Kraft und den Frohsinn saugen, deren sie für ihr Tagewerk und für das Gemeinwohl bedürfen. –«

»Wenn doch alle Menschen gleich sind, dann sagen Sie bitte nicht mehr »Hoheit« zu mir, sondern nennen Sie mich bei meinem Namen, wie Sie Ihre Freunde beim Namen nennen. Und wenn es Ihnen recht ist (er wurde rot, als er das Folgende sagte), dann sage ich nicht mehr »Herr Magister« sondern »Melchior« und betrachte Sie wie einen älteren Freund. O, es wäre so schön, wenn Sie ja sagten! Wir dürfen es natürlich nur tun, wenn wir allein sind, nicht vor andern Menschen, die uns gar nicht verstehen!« Der Magister stand überrascht. »Ja, der Mensch ist gut.« Wer wollte es leugnen, da selbst dieser Sproß einer alten Tyrannenrasse rein und brüderlich empfand, als wäre er eben aus den Händen der Natur hervorgegangen! Gerne hätte er Adalbert umarmt und ihm gesagt: »Wir sind Brüder und Freunde, also laß uns »du« sagen!« aber sie waren beide innerlich zu spröde, um sich ganz so zu geben, wie es ihnen ums Herz war. Melchior Thurnes besonders hatte große Angst, ein küssender und schluchzender Hainbruder zu sein, und so faßte er nur Adalberts Hand:

»Ja, wir wollen Freunde sein! Aber vergessen Sie nie, daß Sie zu einer großen Aufgabe heranwachsen. Der Mensch ist gut, und alle Menschen sind Brüder.«

Sie wären beide nicht jung und harmlos gewesen, wenn sie in der neuen Art ihres Verhältnisses nicht großen Reiz entdeckt und sich besonders über das Geheimnis gefreut hätten, das sie beide vor der Welt hatten und das sie noch enger miteinander verband. Und immer leidenschaftlicher schwärmten sie miteinander von dem neuen Tag, der anbrechen mußte, sprachen und schlürften mit Wonne Worte, aus denen eitel Glanz und Seligkeit träuften und an die sie unverbrüchlich glaubten, eben weil sie beide jung und unerfahren und reinen Herzens waren.

Dem Prinzen waren solche Worte und solche Stunden der Schwärmerei jetzt auch nötiger als sonst, denn seit einiger Zeit rief ihn sein Großvater drei oder vier Mal in der Woche zu sich, um ihn nach seiner besonderen Art auf künftige Regentenpflichten vorzubereiten.

»Auf drei Dingen ruht der Staat. Unterstehe dich nicht, an den drei Dingen zu rütteln: Verwaltung, Justiz, Armee. Wenn du dirs einfallen läßt, der Verwaltung durch die Finger zu sehen, wenn du der Justiz in den Arm fallen willst, wenn du die Armee verluderst, – noch aus dem Grabe steige ich heraus und erwürge dich, so wahr ich hier sitze.« Und dann kam wieder sein Lieblingsspruch: »Der Mensch ist kein Mensch, ist kein Tier, sondern eine niederträchtige Canaille, und jeder einzelne verdiente am Galgen zu hängen!« Merke dirs und lasse es dir ins Wappen setzen: »Der Mensch ist eine niederträchtige Canaille!« Du aber, der Fürst, du mußt für diese niederträchtige Canaille denken, und sorgen und schuften. Wenn im Sommer ein Gewitter auszieht, mußt du für die Ernte der Bauern zittern. Wenn du als Sieger aus der Schlacht heimkehrst, möchtest du einen Bogen um jede Frau herum machen, die draußen den Mann oder den Sohn verloren hat. – Wenn du ein Todesurteil unterzeichnet hast, stehst du vor dir selber und vor deinem Herrgott da, als wärest du der Armesünder und frägst dich zehnmal, ob du auch recht getan hast. Und in schlaflosen Nächten überlegst du dir, wie du das Volk aus Dreck und Dummheit und Auspowerung herausreißen kannst. Aber es geht nicht, denn es will in Dreck und Dummheit und Auspowerung sitzen bleiben, und aller Dank, den du erntest, ist Undank, und wenn du über fünfzig bist, lebst du ihnen schon zu lange, und sie denken: »Es wäre hohe Zeit, daß das alte Luder verreckt!«

Wie er das alles mehr sich selber als dem Enkel vorhielt, kam nicht ein einziges Wort der Güte oder der Freude, aber so hart auch alles klang, was er sagte, spürte Adalbert doch tiefes Mitleid mit ihm, weil er verstand, was der alte Mann unter Schwierigkeiten und Widerspruch durchgeführt und erreicht hatte. So gerne hätte er ihm irgend etwas Sanftes, Liebes gesagt, das diesem verwaisten Herzen noch ein wenig Wärme gegeben hätte, aber er wagte es nicht, und als er einen Augenblick lang bedachte, daß er dem alten, zornigen Mann die runzlige, gichtverzogene Hand leise streicheln könnte, wurde ihm heiß vor dem eigenen Gedanken solcher Vermessenheit. Aber eines tat er doch: heimlich, wie er meinte; er ergriff einen Rockzipfel des Herzogs und küßte ihn. Der Alte aber sah es, riß den Rockzipfel aus den Händen des Enkels:

»Laß das, Kröte! Was soll die Faxe sein?! Was willst du von mir? Menschen, die schmeicheln, wollen immer etwas!«

Gerne hätte Adalbert gesagt: »Herr Großvater, Sie tun mir leid!« aber er schwieg scheu, und der Herzog meinte, er gestehe, weil er sich durchschaut fühlte. Er wetterte nun weiter über die Abscheulichkeit der Schmeichler, die meinen, mit List zu ergattern, was sie durch Kraft nicht erreichen können, und endete mit dem alten Kehrreim:

»Der Mensch ist eine Canaille!«

Stumm, mit gesenkten Augen hörte ihn Adalbert und fühlte in sich die ganze Menschheit beleidigt. Seine stumme Ergebenheit reizte den Alten noch mehr:

»Warum sitzest du mit solch einem Armesündergesicht da? Glaubst wahrscheinlich nicht, was ich sage! Weißt es wahrscheinlich besser! Wer noch nicht trocken hinter den Ohren ist, weiß ja bekanntlich alles besser! Darum sage ich dir noch einmal: »Der Mensch ist eine niederträchtige Canaille. Ist es und bleibt es, solange es Menschen gibt!«

Da hob Adalbert den Kopf. Mitleid und tiefe Überzeugung drängten ihn zum Bekenntnis. Zögernd aber dennoch fest sagte er:

»Herr Großvater, mit Verlaub, der Mensch ist gut! Böse ist er nur, wenn er getreten und böse gemacht wird! Aber von Natur aus ist er gut!«

Es war heraus. Entsetzt über den eigenen Mut saß Adalbert in einer Minute voll quälender Stille. Sah dem Großvater ins Gesicht und meinte, noch nie etwas so Schreckliches gesehen zu haben, wie jetzt dessen Augen glitzerten und unheimlich leuchteten, als wäre hinter der kleinen Pupille ein grünliches Licht angezündet worden. Doch ob ihm auch graute, wiederholte er: »Der Mensch ist gut« und gleich einem Bekenner, der nicht versagen darf, zum dritten Mal: »Der Mensch ist gut!«

In die quälende Stille hinein tönte jetzt schallendes Zorngelächter. Der Blick des Herzogs glitzerte so unheimlich, daß es kaum zu ertragen war.

»Der Mensch ist gut, – sage es noch einmal, dann schlage ich dir den Schädel entzwei! Gut ist er?! Wer hat dir den Unsinn beigebracht? Ich will dich lehren, wie gut er ist!« Er hob den Stock, der neben seinem Stuhl lehnte, wollte auf den Enkel eindringen. Adalbert bückte sich, hob abwehrend die verschränkten Arme über den Kopf. Dann schrie er laut auf … –

Das linke Auge des Herzogs hatte sich plötzlich dunkel gefärbt, so daß die Pupille nicht mehr in dem großen Weiß schwamm, sondern von ihrer Umgebung kaum zu unterscheiden war. Die Hand mit dem erhobenen Stock fuhr ziellos in der Luft hin und her, als gehörte sie einem Irrsinnigen, und wie ein Irrsinniger lallte der Herzog: »Ich will – – ich will – –« Dann sank die Hand herab, der Stock fiel polternd zu Boden, und der Herzog schlug besinnungslos hintüber zur Erde … –

*

Nun war im Schloß ein hastiges Kommen und Gehen, ein Fragen und Flüstern, ein Achselzucken und Augenbrauen-in-die-Höhe-ziehen. Ärzte kamen, Wundgehilfen, Minister, Schranzen. Lanzetten wurden hergetragen, Verbandzeug, Kataplasmen, Adam Wenglein kam aus dem Schlafgemach des Herzogs und trug eine Schüssel voll dicken, schwarzen Blutes. Der Herzog hatte einen Schlaganfall erlitten, war einseitig gelähmt und der Sprache beraubt. In dem linken Auge war eine Blutader gesprungen, und ihr Erguß würde wohl für lange Zeit die Sehkraft dieses Auges verschleiern, – sofern man überhaupt noch mit langer Zeit rechnen durfte. Die Ärzte äußerten sich vorsichtig. Der allergnädigste Herr hatte ja eine kräftige Konstitution und konnte sich wohl durchreißen, es war aber ebensogut möglich, daß der Schlaganfall sich wiederholte und dann – – Die Frau Erbprinzessin hörte ihnen mit Fassung zu und sagte, sie hoffe, daß Seine Hoheit sich erholen und noch lange zur Freude seines Landes regieren würde. Adalbert hatte sich blaß und entsetzt in sein Gemach geflüchtet und klagte sich bei Melchior Thurnes an.

»Hätte ich ihm doch nicht widersprochen. Sicherlich hat ihn aus Aufregung über mich der Schlag getroffen!«

Der Magister tröstete ihn, meinte, daß der Herzog wohl apoplektisch veranlagt und auch in den Jahren sei, da Schlaganfälle häufig sind.

Der Herzog schien sich wirklich zu erholen. Nach langer Bewußtlosigkeit kam er wieder zu sich, konnte sich aber nur durch Zeichen verständlich machen, die keiner so schnell verstand wie Adam Wenglein, der dem Herzog nicht von der Seite wich.

»Seine Hoheit wünscht den Hofprediger!«

Der alte Thurnes kam, sprach fromme Worte zu dem stumm Daliegenden, reichte ihm das Abendmahl. In derselben Nacht erlitt der Herzog einen neuen Schlaganfall, dem er erlag.

Karl Leopolds Vater und die Frau Erbprinzessin in tiefer Trauerkleidung knieten betend zu beiden Seiten des Sterbebettes. Zögernd trat Adalbert ein, sah ängstlich auf das Feldbett hin, als fürchtete er, daß der Tote ihn noch einmal mit den schrecklich glitzernden, dunkel gewordenen Augen anblicken könnte. Da er eintrat, erhob sich die Frau Erbprinzessin, ging ihm entgegen, und während zwei schickliche Tränen über ihre Wangen liefen, sank sie vor ihm in tiefer Verbeugung zusammen, wie einst vor ihrem Schwiegervater. Sprach mit leiser Stimme, durch die gedämpftes Glück klang:

»Hoheit, o mon fils bien aimé, nun sind Sie Herzogs,

*


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