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7. Kapitel.

Adalbert war noch nicht lange in Paris, da merkte er schon, daß er sich kein leichtes Studium erwählt hatte. Je länger er hier war, um so deutlicher kam ihm zum Bewußtsein, daß er diese Stadt und ihre Seele durchaus nicht kannte. Er hatte gemeint, sie gliche einem Hafen der Freiheit und fand nun, daß sie weit eher ein Erdbeben mit Pausen war. In den Pausen schien sie freilich eine Glückselige zu sein, lachte, funkelte, schäumte über von Fröhlichkeit und Gesundheit. Dann aber kam das Fieber wieder über sie und verkündete, daß sie in ihrem Innern Eiterherde trug, die ihr immer wieder das Blut vergifteten und tolle Phantasien erzeugten. Dann brüllten die Sturmglocken über die Stadt hin, die Nationalgarden rannten mit rasselnden Waffen zusammen; das Volk füllte Straßen und Plätze, drängte sich in die Gärten des Palais Royal und der Tuilerien, gestikulierte, schrie, drohte, brandete. Dann blieben die Fenster der Häuser die ganze Nacht über lichthell, gleich wachsamen Augen, hinter ihnen duckten sich ängstliche Bürger, die wußten, daß nun in den Vorstädten Pöbelbanden umherzogen, die plünderten und mordeten, und über die ganze Stadt hin murmelte, flüsterte, jammerte, drohte, schrie es: »Verrat! Verrat!« Verrat an der Freiheit war die Idee, von der sie alle besessen waren. Wie ein Giftkeim aus unbekannter Zone war ihnen diese Idee angeflogen, hatte sich in sie eingefressen und verwirrte ihnen den Sinn, daß sie nicht mehr begriffen, wie sie, das freiheitsvolle Volk, mit dieser ewigen Angst vor Verrat dem mißtrauischsten und erbärmlichsten aller Tyrannen ähnlich wurden. Nicht einmal Ludwig XIV. hatte so vor Verrat gezittert wie dies Geschlecht, aber wenn man sie gefragt hätte, »wo ist der Verräter?«, so hätte man auf die eine Frage hundert verschiedene Antworten bekommen. Denn es gab genau so viele Meinungen (und sogar noch etwas mehr) als Parteien in der Nationalversammlung saßen, und jede Partei behauptete von der anderen, daß sie schuftig und eine Brutstätte des Verrates sei. Es gab Royalisten und Monarchisten und Demokraten und Republikaner, Anhänger des Zweikammersystems und Anhänger des Einkammersystems, Männer, deren Ideal die englische, andere, deren Ideal die amerikanische Verfassung war und noch andere, wie den Dr. Marat, der überhaupt nichts von Verfassung, sondern nur von Pöbelherrschaft wissen wollte. Und es gab die Vertreter der verschiedenen Departements und auch die in Paris angesessenen Provinzialen, die nur durch den Namen »Frankreich« und »Freiheit« mit Paris verbunden, im übrigen aber eifrige Anhänger provinzialer Sonderrechte waren. All diese Provinzköpfe hingen mit zärtlicher Liebe an den Einrichtungen, Schlagbäumen, Zollschranken und anderen Beschränkungen, die zwar den Handel und insbesondere den Umlauf des Getreides einengten und Paris immer wieder vor die Hungersnot stellten, den Provinzen aber lieb und teuer blieben; erstens, weil sie Vorteile brachten, und zweitens, weil sie alt überkommen waren. Zu all den Parteien innerhalb und außerhalb der Nationalversammlung kam noch, daß jeder einzelne Bürger von Paris, ohne Ansehen des Alters, des Geschlechts und der Bildung, politisierte, ja, daß sich sogar die Kinder schon mit politischen Gesprächen befaßten, und es Pfarrherren gab, die den Säugling, den sie tauften, fragten, ob er auch gewillt sei, seinen politischen und staatsbürgerlichen Pflichten getreulich nachzukommen, was von seinen Paten mit eifrigem »Ja« beantwortet wurde. Dies Volk, das jahrhundertelang mundtot gewesen und gedrückt worden war, ergab sich nun einer Völlerei der Meinungsäußerung, wie sich andere Epochen dem Flagellantentum oder der Genußsucht ergeben hatten. Jedermann verstand kurzweg alles. Jeder hatte eine Meinung, und wer lesen und schreiben konnte, hatte eine Zeitung, die dieser Meinung Rechnung trug, und in der er vielleicht sogar einen »offenen Brief an …« veröffentlichen konnte, in dem er den anderen Lesern einen hochwichtigen Gedanken verriet. Von der Sanierung der Finanzen angefangen bis zu den Beziehungen zu den auswärtigen Kabinetten wußte jedermann über alles Bescheid, und wenn ein anderer Jedermann widersprechen wollte, schrie man ihm ins Gesicht: »Verrat! Verrat!« Überall witterte man Verrat, schnüffelte ihn aus, wollte ihn gehört oder gesehen haben, und tagtäglich wechselte das »Kreuzige« mit »Hosiannah« ab. Gestern noch war Necker der populärste Mann des ganzen Landes, dessen Rückberufung man dem Könige abgezwungen hatte. Heute aber ist er wegen seines Anleiheprojekts schon so unpopulär, daß er das Haus seiner Kontrollkommission von Nationalgarden bewachen läßt, und um ihn her raunt es giftig: »Verrat!« Dafür jauchzen sie Mirabeau zu, der die Finanzen nicht durch Anleihen, sondern durch Vermehrung von Assignaten retten will, und auf diese Weise in die leere Staatskasse mit einem Schlage 800 Millionen Livres zaubert. Heidi! Nun hat alle Not ein Ende, nun ist Frankreich gerettet! Aber – Mirabeau ist Monarchist, Mirabeau soll eine geheime Zusammenkunft mit der Königin gehabt haben, und schon schlägt die Stimmung um: »Verrat! Verrat!« Die Freude über den papiernen Reichtum dauert nicht allzulange, der Getreidepreis steigt, die Mehllieferungen bleiben aus, wo ist der Verräter? Schnell zeigt man mit dem Finger auf Philipp Capet, der, wie es heißt, das Getreide heimlich aufkaufen läßt, um Unruhen zu erregen und es später an die hungernde Menge zu Wucherpreisen loszuschlagen! »Verrat! Verrat!« In Nancy kommt es zu blutigen Unruhen zwischen Nationalgarden und königstreuen Regimentern, und nun geifert Dr. Marat: »Verrat! Verrat!« Diesmal soll, wie er sagt, kein geringerer als der König der Verräter sein, und der »Volksfreund« fordert, daß Ludwig in Sack und Asche bloßfüßig und mit dem Strick um den Hals öffentlich Buße tue für das Blut, das in Nancy geflossen ist … Weil jedermann schwatzen darf, wird die Luft nicht leer von unsinnigen Gerüchten. Heute heißt es, daß das Ausland sich in Frankreichs Angelegenheiten mischen, daß Oesterreich rüsten, daß Preußen ihm zu Hilfe kommen will. Das Ausland denkt natürlich vorerst nicht daran, in das französische Wespennest hineinzugreifen und das Gerücht verstummt, um, wie alle Gerüchte, nach kurzer Zeit neu aufzutauchen. Inzwischen wird es durch ein anderes ersetzt, das von einem aristokratischen Anschlag auf die Nationalversammlung wissen will, dann wieder wird alle acht bis vierzehn Tage wiederholt: »Der König ist entflohen! Er ist ins Ausland, um zum Krieg gegen die Freiheit zu hetzen!« Auch heißt es im allgemeinen, ohne nähere Bestimmung und besonderes Ziel: »Unruhen werden befürchtet!« »Die Vorstädte sind aufgeregt!« »Morgen gehts los!« »Heute Nacht soll man nicht zu Bett gehen!« usw. Und wiederum Nächte, auf die taghelle Fenster starren, über die Sturmglocken hinheulen, in denen Menschen zittern, schreien, drohen, bluten, und das Fieberthermometer steigt zu beängstigenden Graden …

Diese ewige Reizbarkeit, diese ewige Furcht verstand Adalbert nicht recht. Da sagte er wohl zu Thurnes:

»Was fürchtet ihr eigentlich?«

»Wir fürchten die Feinde der Freiheit, die Aristokraten!«

Adalbert mußte unwillkürlich lächeln.

» Die fürchtet ihr? Ihr, die ihr die Reichsstände gesprengt, die Bastille erstürmt, den König gezwungen habt, ihr fürchtet das Häuflein Aristokraten, das sich vor euch kaum zu rühren wagt?!«

Thurnes schüttelte den Kopf.

»O, sie sind immer noch stark. Vergiß nicht, daß sie große Verbindungen mit dem Auslande haben. Der Kaiser ist ein Schwager des Königs, und die Emigranten jenseits des Rheins hetzen die deutschen Fürsten auf!«

Adalbert machte eine wegwerfende Bewegung.

»Die Emigranten! Leute, die in der Stunde der Gefahr davongelaufen sind!«

Aber Thurnes blieb dabei, daß die Emigranten schreckliche Feinde seien, und neben ihnen mußte man ihre Bundesgenossin fürchten, die Königin, die samt ihrer österreichischen Sippschaft Frankreich zuerst ruiniert hatte und nun auf nichts anderes sann, als auf Ermordung der Freiheit und Wiederherstellung der unbeschränkten königlichen Macht. Denn was sollte sie, die intriganteste, die verschwenderischste, die lasterhafteste Frau, die jemals über die Erde gegangen war, beginnen, wenn die Macht des Königs zu dreiviertel dahin und er auf eine jährliche Apanage gesetzt war?

»Unser ganzes Finanzelend kommt doch nur von ihr her! Millionen und Millionen hat sie hinausgeschleudert für ihren Luxus, für ihre Günstlinge, für die verdammten Weiber, die sich vom Mark des Volkes nährten und jetzt draußen sitzen in Wien, in Koblenz und weiß Gott wo, und hetzen und schüren, damit die schönen Zeiten wieder kommen, in denen ihnen die Königin auf dem Schoß saß und die verruchten Hände mit Gold füllte …«

Adalbert wußte, wie schlecht die allgemeine Stimmung gegen die Königin war, wußte auch, wie schwer sie nach allen Seiten hin gefehlt hatte, aber trotzdem regte sich jetzt der Widerspruchsgeist in ihm, weil er die Behauptung Thurnes' absurd fand.

»Glaubst du wirklich, daß ein einziger Mensch, eine einzige Frau ein ganzes Land ruinieren kann, sofern es gesund ist? Wenn euch die Königin wirklich ruiniert hat, so konnte sie es nur, weil hier schon alles, schon das ganze System verfault war!«

Thurnes widersprach. Gewiß, der ganze Staat war verfault, das System veraltet und schlecht gewesen, aber er ließ es sich nicht nehmen, daß die Ursache alles Elends bei der Königin lag. Er brachte Argumente und Phrasen vor, die man in allen radikalen Blättern und Winkelblättchen lesen und von wütenden Schreiern hören konnte, und Adalbert brach das Gespräch ab, weil er spürte, daß es auf einen toten Punkt gelangt war. Mit Verwunderung und leisem Schmerz merkte er zum ersten Male, daß er und Thurnes zweierlei Menschen waren, die aus verschiedenen Welten herkamen. Nie zuvor hatte er darüber nachgedacht, war in seiner Begeisterung für Rousseau und die neue Lehre so eins mit dem ehemaligen Magister gewesen, daß es kaum je eine tiefe Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen gegeben hatte. Nun aber war sie zum ersten Male da, denn so jung und unerfahren Adalbert auch sein mochte, so begriff er doch aus alt ererbten Instinkten heraus manches anders, konnte manches besser überschauen und beurteilen als Thurnes, der in allen Dingen des großen Lebens ein naiver Neuling war. Nur ein Mensch, der keine praktische Vorstellung von der Verwaltung und der Finanzwirtschaft eines Staates hatte, konnte ernsthaft glauben, daß die Luxusbedürfnisse und die Torheiten einer einzigen Frau einen Staat innerhalb eines Jahrzehnts zum Bankrott treiben könnten, und nur Kleinbürgertum, dessen Väter nie das Schwert geführt hatten, konnte noch an den Mut jener kläglichen Emigranten glauben, die über den Rhein her mit dem Schwerte fuchtelten, tönende Phrasen in die Welt schleuderten, prunkvolle Manifeste verfaßten und sich im übrigen ihrer Sicherheit freuten. Thurnes mochte haßerfüllt noch an sie glauben, Adalbert, der Enkel eines Unerschrockenen, wußte, ohne daß er es zu bedenken brauchte, daß man den nicht zu fürchten hat, der in der Stunde der Gefahr nichts anderes kennt, als feige Flucht. Ja, das alles stand klar und fest vor ihm und in ihm, und es schmerzte ihn, daß Thurnes nicht empfand wie er. Er wurde seiner Überlegenheit nicht froh, denn sie trennte ihn ja von denen ab, die ihm am liebsten waren, wollte ihn verhindern, ihresgleichen zu sein, ein Bürger unter Bürgern, ein Mensch, der empfand wie alle um ihn her. Eine Weile plagte er sich mit solchen Grübeleien, dann warf er sie beiseite und lachte sich selber aus. War denn das Unglück groß, wenn man einmal über dies oder jenes verschiedene Ansichten äußerte? War es denn nicht gerade höchste Freiheit, die Meinung eines jeden zu respektieren, ohne seine eigene preiszugeben? Er wurde wieder fröhlich und gläubig und war's zufrieden, als Thurnes ihm, da der Trubel des Marsfeldes sich gelegt hatte, sagte:

»Nun ist es Zeit, daß du in den Klub eintrittst. Der politische Klub ist eine der köstlichsten Früchte der Revolution. Der Klub hält die Geister zusammen, gibt die Richtung an. Im Klub wirst du erst spüren, welche Macht ein Bürger haben kann!«

Es wimmelte in Paris von politischen Klubs, die teils geschlossene, teils öffentliche Sitzungen abhielten, sich bald nur aus Abgeordneten der Nationalversammlung zusammensetzten, bald freizügig Privatpersonen und auch Fremde aufnahmen. Sogar Frauenklubs gab es schon, in denen eifrig für die politischen Rechte der Frauen gesprochen und gestritten wurde. Thurnes selbst war Mitglied in zwei Klubs, im Jakobinerklub und in dem Friedensklub, den der Abbé Fauchet gegründet hatte. Der Jakobinerklub vereinigte die stark oppositionellen Elemente der Nationalversammlung, während der Friedensklub sich für die Glückseligkeit der ganzen Erde einsetzte und stolz von sich behauptete, daß die Nationalversammlung nur für Frankreich, der Friedensklub aber der ganzen Welt eine Verfassung und daneben auch noch den ewigen Weltfrieden geben wolle. Es schien ein bißchen widerspruchsvoll, daß ein Mann zu gleicher Zeit Oppositionspolitik und Weltfriedensträume vereinigen konnte, aber der Widerspruch war scheinbar, denn beide Klubs strebten, jeder nach seiner Art, dem gleichen Ziele entgegen: der Glückseligkeit des Menschengeschlechts.

Thurnes hielt den Eintritt Adalberts in den Jakobinerklub für unerläßlich, und Adalbert sagte gern ja, denn er war schon neugierig auf diesen Klub, von dem Thurnes unaufhörlich sprach und viel Interessantes zu berichten wußte.

»Aber werde ich auch aufgenommen werden können, da ich doch ein Ausländer bin?«

»Das tut nichts. Die Jakobiner sind großzügig, nehmen Fremde auf und fragen nicht allzuscharf, wer und woher. Allerdings mußt du zwei Paten haben, die für dich bürgen. Der eine bin ich, und einen anderen finden wir leicht, sobald ich dich erst vorgestellt habe. Wir wollen morgen abend hingehen, denn heute ist nichts los, weil nur einen Tag über den andern Sitzung ist. Also, auf morgen abend acht Uhr! Ich hole dich ab! Du wirst dich schnell wie zu Hause fühlen, denn im Jakobinerklub ist Rousseaus Reich. Jetzt noch ist es nur dort, aber die Jakobiner werden es bald in ganz Frankreich und dann in der ganzen Welt aufrichten. Der Vollstrecker seines Willens kommt aus dem Schoße der Jakobiner.

Adalbert konnte sich nicht enthalten zu fragen, welchen Zweck dann eigentlich der Friedensklub habe, und Thurnes entgegnete:

»Die Jakobiner sind zum Teil nur Politiker, aber im Friedensklub herrscht ausschließlich das Ethos. Ethos allein könnte natürlich die Welt nicht neu erschaffen, aber es ist die große Macht, die der Realität der Politik zu Hilfe kommt. Ethos als Triebkraft, Politik als Werkzeug, – so wird das Reich Rousseaus auferstehen!«

Der Jakobinerklub hielt seine Versammlungen in dem Jakobinerkloster in der Rue Saint Honoré ab. Er hatte in seinen Anfängen von den Mönchen das Refektorium, später, als seine Mitgliederzahl schnell wuchs, die Bibliothek gemietet, und tagte nun in dem schönen, großen Saale, dem die hohen Fenster ein freundliches, die mächtigen Schränke mit den frommen und gelehrten Büchern ein würdevolles Ansehen gaben. Auch der Kunst und leisem, echt französischem Spott war der Eintritt nicht verwehrt, denn über der Eingangstür hing ein großes Bild, das Thomas von Aquino darstellte, der aus einem Brunnen mit vielen Röhren das Wasser der Wahrheit rinnen ließ. Um ihn geschart sah man die Mönche aller Orden, die sich mit Schalen und Krügen drängten, um die Wahrheit aufzufangen. Nur der Jesuit stand abseits und überlegte, ob die Wahrheit ihm auch wirklich von Nutzen sein könnte … Dies Bild, das die frommen Mönche stets im Glauben gestärkt und daneben ergötzt hatte, schien nun, wenn die Jakobiner hier berieten und Zukunftspläne schmiedeten, ins Leben getreten zu sein. Wenn sie hier um den großen Tisch versammelt saßen, an dem sonst die Mönche über Inkunabeln oder scholastischer Weisheit sinnierten, wenn all diese jungen und jugendlichen Phantasten und Stürmer, all die klugen Juristen, die witzigen Journalisten, die gedankenreichen und entschlossenen Politiker ihre Meinungen austauschten und verfochten, wenn sie immer wieder von der allgemeinen Gleichheit sprachen und schwärmten, die sie herbeiführen wollten, wenn immer neue Vorschläge auftauchten, um endlich all die Unterschiede zu beseitigen, die Menschen zwischen Menschen aufgerichtet haben, dann traten wohl leise, die Hände in den Kuttenärmeln verborgen, die frommen Mönche lauschend unter die Tür der Bibliothek, näherten sich unvermerkt den Diskutierenden und dachten wohlgefällig, daß hier, ähnlich wie auf dem Bilde oben, die Wahrheit gelehrt werde, und daß das Reich Rousseaus von dem Reiche Gottes, dem sie nachstrebten, nicht weit entfernt sein könne …

Als Thurnes mit Adalbert ankam, war der Saal schon ziemlich gefüllt, aber die Sitzung begann erst viel später. Die Kontrolle war scharf; an der Eingangstür standen zwei Herren, die jeden Eintretenden nach seiner Mitgliedskarte fragten und sie vorzeigen ließen. Der eine von ihnen war Philipp Capet, gestern noch Herzog von Orleans, der andere irgendein Sänger zweiten Ranges. Auch die Galerie des Saales war von Männern und Frauen schon dicht besetzt, und einen Augenblick meinte Adalbert die braunlockige Unbekannte da oben zu sehen. Er hatte aber keine Zeit, ihr nachzuforschen, denn schon stürzte sein Reisegefährte, der verstorbene Baron Cloots, auf ihn zu und überschüttete ihn mit einem Hagel von Fragen, auf die er gar keine Antwort abwartete. Er war entzückt, Adalbert hier zu sehen; entzückt, daß er sich in den Klub aufnehmen lassen wollte, und erbot sich sofort, Patenstelle bei ihm zu vertreten. »Nur sollten Sie nicht »Pate« sagen!«, rief er laut und prahlerisch, »denn das erinnert mich zu sehr an die christliche Kirche. Sagen wir lieber, daß ich Ihr »Geburtshelfer« sein will. Ich helfe bei dem Geburtsakt, der Sie das Licht der Freiheit erblicken läßt!«

Adalbert war von der Wiederanknüpfung dieser Bekanntschaft wenig erbaut, denn seit der Szene auf dem Marsfelde kam ihm Cloots lächerlich und auch widerlich vor. Er erwiderte also die sich überstürzenden Liebenswürdigkeiten wohl höflich, aber doch mit gemessener Kühle, die Cloots aber gar nicht zu bemerken schien. Unvermittelt wie alles, was er sagte und tat, ließ er dann Adalbert und Thurnes plötzlich stehen, um einen anderen Neuangekommenen mit Fragen und Blitzworten zu ängstigen. Thurnes sagte:

»Laß uns noch ein wenig warten, wir finden einen anderen Paten, der dich besser einführt, als dieser Komödiant!«

Adalbert war zufrieden und ließ sich inzwischen einige der markantesten Köpfe mit Namen nennen und erklären. Er sah die Riesengestalt Dantons, den verkrachten Advokaten, der nie aus Schulden und Weibergeschichten herauskam, aber mit seinem fortreißenden Temperament und seiner wundervollen grollenden Stimme so mächtige Wirkungen erzielte, daß man sich von der äußersten Linken bis zum Grafen Mirabeau um ihn, seine Anhängerschaft und seine Rednergabe bemühte. Er sah Hébert, einen Menschen von dunkler Herkunft und Vergangenheit, der aber Einfluß besaß, weil er ein radikales Blatt »Père Duschêsne« herausgab, und um den ein gewisser pikanter Nimbus lag, weil man wußte, daß er Beziehungen zu einer entlaufenen Nonne unterhielt. Er sah Camille Desmoulins, den berühmten und gefürchteten Journalisten, dessen Witz ebenso flink wie seine stotternde Zunge schwer war, und noch viele andere zeigte ihm Thurnes, gelehrte Männer und Männer des Volkes, aber alle Jünger der künftigen Glückseligkeit. Dann trat der junge Mann im veilchenblauen Rock mit dem fahlen Armutsgesicht ein, der damals gerufen hatte, daß der König nur der Vollstrecker des Volkswillens sein dürfe, und ganz anders als in der Nationalversammlung kam man ihm hier entgegen. Man begrüßte ihn mit Freundschaft, viele sogar mit unverkennbarer Ehrfurcht, und er erwiderte alle Grüße und Händedrücke ernsthaft, zerstreut, wohl auch ein wenig hochmütig.

»Komm, ich will dich ihm vorstellen, er soll dein Pate sein. Besser, als durch ihn, kannst du nicht eingeführt werden!«

Sie standen vor ihm, Thurnes wechselte mit ihm einen Händedruck und sagte:

»Bürger Robespierre, hier ist ein junger Mann, ein Freund von mir, der sehnlich wünscht, in unseren Klub aufgenommen zu werden. Wollen Sie sein Pate sein?« Und zu Adalbert: »Dies ist der Bürger und Advokat Robespierre, Deputierter der Stadt Arras, von dem ich dir schon viel erzählt habe.«

Adalbert verneigte sich tief, der Deputierte von Arras etwas steif und weniger tief. Er war bereit, die Patenschaft zu übernehmen, sprach etliche knappe Worte, die vermutlich liebenswürdig sein sollten, aber nicht so wirkten und begab sich dann zum Klubpräsidenten, um die Aufnahme des neuen Mitgliedes in Gang zu bringen.

Adalbert hatte es mit diesem Abend gut getroffen. Es wurden zwar viele Phrasen und Gemeinplätze zutage gefördert, die er zur Genüge aus der Nationalversammlung und den Zeitungen kannte, dann aber wurde ein Antrag gestellt, der so recht dem Geiste der Menschlichkeit entsprach und geeignet war, die Verbitterung großer Massen über die ständig steigende Teuerung zu besänftigen. Es lag freilich nicht in der Macht des Klubs, die Preise der Lebensmittel sinken zu lassen, aber der Antrag lautete, daß die Klubmitglieder sich des Genusses von Kaffee und Zucker enthalten sollten, da das Volk wegen der hohen Preise auf diese Genußmittel verzichten müsse. Was das Volk nicht mehr kaufen könne, sollte auch kein Jakobiner kaufen, denn sie wollten ja mit dem Volke Not und Brot teilen und sich versagen, was ihm versagt bleiben müsse. Nur, wer durch seinen Beruf gezwungen sei, die Nacht hindurch zu arbeiten, dürfe sich Kaffee vergönnen, alle anderen müßten ihn samt dem Zucker von ihrem Tisch verbannen. Der Antrag wurde jubelnd aufgenommen. Selbst Camille Desmoulins und andere Journalisten, die sicherlich Nachtarbeiter sein mußten, beteuerten, daß kein Tropfen Kaffee und kein Stäubchen Zucker mehr über ihre Lippen kommen sollten. Die Mönche, die herbeigelockt durch das jubelnde »Ja, ja« den Tisch umstanden, nickten wohlgefällig ob solchen Opfermutes, und auch Adalbert war ein wenig gerührt und freute sich, daß er künftighin solcher Gemeinschaft angehören durfte. Dann aber kam für ihn noch etwas viel Schöneres: Oben auf der Galerie sah er die braungelockte Unbekannte und fragte Thurnes lebhaft:

»Sieh dir dort die Dame an! Kannst du mir sagen, wer sie ist?«

Thurnes sah in der Richtung, die er wies und entgegnete:

»Ob ich sie kenne! Das ist ein prachtvolles Weib! War ehemals Sängerin oder Schauspielerin oder irgend etwas Ähnliches, ist aber eine Patriotin, wie es kaum eine zweite gibt. Théroigne de Méricourt heißt sie, was ich aber unter uns gesagt für einen fingierten Namen halte. Derlei gibt es hier häufig, hauptsächlich bei Damen von der Bühne … Sie war beim Bastillensturm dabei, hat selbständig einen Turm erobert, ist mit nach Versailles gezogen und hätte, wenn es zum Äußersten gekommen wäre, beim Abfeuern der Kanonen geholfen.«

Adalbert war einen Augenblick erschrocken. Der Bastillensturm mochte noch hingehen, aber daß dies schöne Geschöpf im gemeinsamen Zug mit greulichen Fischweibern geschritten, ja vielleicht eine Gefährtin der »Feuerseele« gewesen sein sollte, – dieser Gedanke war ihm peinlich. Doch der Reiz, den die Braunlockige ausübte, war mächtiger als seine Bedenken, und er bat Thurnes, ihn doch so bald als möglich mit der Fremden bekannt zu machen. Da gerade in der Debatte eine Pause gemacht wurde, begaben sich beide auf die Galerie, und Thurnes sagte zu Théroigne:

»Bürgerin, ein junger Freund von mir, den Ihr Patriotismus entzückt, wünscht sehnlich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Er kommt aus Deutschland, das er verlassen hat, um hier Freiheit und Menschenrechte kennen zu lernen!«

Théroigne erkannte in Adalbert gleich wieder den jungen Herrn, der ihr auf dem Marsfelde hatte beistehen wollen, und als er sagte:

»Ich hatte schon einmal das Glück, Ihnen zu begegnen,« entgegnete sie ein wenig von oben herab:

»Sie wollen sagen, die Kühnheit!«

»Der Kühne hat immer Glück!«

Die Redensart glitt ihm fast gewohnheitsmäßig über die Lippen, wie einem Menschen, dem verbindliche und galante Redensarten schon in frühester Jugend beigebracht werden. Sie aber nahm seine Worte ernsthaft, überlegte sie wie ernsthafte und wenig schlagfertige Leute zu tun pflegen und sagte dann nachdenklich:

»Vielleicht ist es zuweilen so!«

»Ich hoffe, daß es immer so ist!«

Sie sprach ein etwas hartes Französisch und mit einer tiefen Stimme, die verriet, daß sie Altistin gewesen sein mochte. Adalbert hätte gern noch lange diese Stimme und dies harte Französisch gehört, aber schon stand wieder ein Redner auf der Tribüne, und nun war Théroigne für kein Gespräch mehr zu haben. Sie lauschte, ganz hingerissen, jedem Wort, das von der Tribüne ertönte, nickte bald beifällig, machte ein paar Mal eine verneinende Handbewegung und unwillkürlich entschlüpfte ihr auch wohl ein Laut der Zustimmung oder der Ablehnung. Auch während der Debatte, die sich an die Ausführungen des Redners knüpfte, war es Adalbert nicht möglich, irgendein Wort von ihr zu erhaschen, denn stumm und mit unwilligem Gesicht schüttelte sie den Kopf, sobald er etwas fragen wollte, was nicht mit den Dingen zusammenhing, die zwischen dem Redner und seiner Zuhörerschaft erörtert wurden. Erst als man sich zum Heimweg rüstete, fragte sie:

»Sind Sie musikalisch?«

Er gestand, daß er ein wenig, aber keineswegs meisterhaft die Flöte blies.

»O, das ist hübsch! Da bringen Sie Ihre Flöte mit! Kommen Sie morgen Nachmittag zu mir, da wollen wir zusammen musizieren!«

Thurnes stand dabei und schnitt ein Gesicht, weil er nicht mit eingeladen wurde. Adalbert aber freute sich auf diesen Nachmittag wie ein Kind auf Weihnachten und stand pünktlich zur festgesetzten Zeit vor Théroignes Tür.

Die Wohnung, in die er trat, war klein, aber hübsch und beinahe elegant ausstaffiert; die Zofe, die ihm die Tür öffnete und ihn meldete, war gut geschult, und dennoch wies dies kleine Heim keine eigentliche Frauenprägung auf. Kein Nähtischchen war zu sehen, kein zierliches mit Goldschnitt und feinen Arabesken verziertes Büchlein verriet schmachtenden oder lüsternen Inhalt, und keine sanfte Miniature an der Wand erzählte von Gesichtern, die der Bewohnerin dieser Räume teuer waren. Wer sichtbarlich lag, umwunden vom trikoloren Tuch auf einer Goldkonsole ein Stein der Bastille, der, wie Adalbert sich leider mit Ironie sagte, nachgerade wohl zu jeder Pariser Einrichtung gehörte, und um ihn her standen etliche kleine Andenken aus Marmor und Bronce, wie Reisende sie aus Italien mitzubringen pflegen. Und ein wunderschönes Clavecin stand da, an dem bald nach Adalberts Eintritt Théroigne Platz nahm und italienische Lieder sang. Sie hatte eine ungewöhnlich schöne und wohlgeschulte Stimme und sang mit so tiefer Leidenschaftlichkeit, daß Adalbert, der ihrem Drängen folgend sich nach ihr auf der Flöte produzierte, auf sich selber einen etwas albern-schäferlichen Eindruck machte. Nachdem man geraume Zeit abwechselnd gesungen und Flöte geblasen hatte, brachte die Zofe Tee, und nun saßen sie behaglich einander gegenüber, und Adalbert fragte, indem er mit dem Blick auf die kleinen marmornen und broncenen Andenken zeigte:

»Sie haben Italien bereist?«

»Jawohl. Ich war in Rom Schülerin des berühmten Grioletti. Meine Studien waren fast vollendet, und ich hatte schon Anträge zu großen Gastspielen, da aber schlug die Stunde der Erlösung. Da hielt mich nichts mehr, da ließ ich alles hinter mir und folgte dem Ruf des Vaterlandes!«

Adalbert sah sie erstaunt an und war wiederum betroffen von ihrem Blick. Seltsam war er wie damals auf dem Marsfelde, nur noch dunkler, schicksalsschwerer und beinahe unheimlich, so daß ihm war, als gehöre dieser Blick in eine Welt, die jenseits der seinen lag.

Als er Théroigne verließ, war er ganz erfüllt von ihrem Wesen. Sie war für ihn eine neue Art von Frau, wie er eine ähnliche nie gekannt hatte. Er wußte nur von Schmiegsamen, wie Friederike, von Leichtfertigen wie seine verschiedenen Liebchen, von Ehrgeizigen wie seine Mutter, für die Politik immer nur ein Ränkespiel hinter den Kulissen und für selbstsüchtige Zwecke war. Aber eine Frau, die sich dem Vaterlande hingab, die nichts für sich wollte, alles hinter sich ließ, um dem Vaterlande zu dienen, die ins Feuer lief und sich dem Soldatentode aussetzte, nein, von solch einer hatte er nie gewußt. Nur, daß sie mit den Fischweibern in Versailles gewesen sein sollte, war und blieb unerfreulich und an einem anderen Nachmittag (sie musizierten jetzt oft miteinander) fragte er einmal:

»Waren Sie wirklich dabei, als die Bastille gestürmt wurde?«

Sie sah ihn groß an, erwiderte überlegen:

»Natürlich war ich dabei. Ich habe sogar mit eigener Hand einen Turm erobert und wäre das Gebäude der Tyrannei nicht zerstört worden, so hätte man ihn nach mir genannt!«

Er lächelte. Er wußte, daß sie gelegentlich ein wenig flunkerte und sich größer machte, als sie war, aber diese harmlosen Aufschneidereien störten ihn nicht, er fand vielmehr, daß sie ihrem Wesen, das da und dort einen männlichen Zug trug, weibliche Anmut liehen.

»Und sind Sie wirklich mit in Versailles gewesen?«

Ja, natürlich war sie mitgewesen –

»Mit den Fischweibern?«

Sie setzte sich in Kampfesstellung.

»Was haben Sie gegen die Fischweiber einzuwenden?«

»Daß es Fischweiber sind! Wer diese Sorte kennt, braucht nichts weiter von ihnen zu wissen.«

»Ah, Sie sind ein verkappter Aristokrat?«

»Ah, Sie sind ein verkapptes Fischweib!«

»Wollen Sie mich beleidigen?«

»Ich denke, Sie hatten die Absicht, mir eine Beleidigung zu sagen!«

Wieder überlegte sie eine Weile den Inhalt des kleinen Wortgefechts, meinte dann kleinlauter:

»Sie müssen nicht jedes Wort, das ich sage, auf die Wagschale legen. Es geht zuweilen mit mir durch, ohne daß ich weiß wie es kommt.«

Und wie ein kleines Mädchen, das schüchtern und doch vertraulich ein Geständnis macht:

»Ich lasse nämlich auch gerne Dinge verbreiten, über die sich die Aristokraten ärgern sollen. Ihnen aber sage ich die Wahrheit. Also: die Sache mit dem Bastillensturm habe ich nur erfunden und in Versailles war ich allerdings, aber nicht bei den Fischweibern, sondern ich saß auf der Lafette einer Kanone.«

Das war sicherlich abermals geflunkert, aber es lag in ihrem Ton etwas so Kindliches, daß Adalbert ihr nicht böse sein konnte …

Im Laufe der Zeit lernte er noch eine neue Seite an ihr kennen, die er wiederum an keiner Frau je bemerkt hatte: sie war Frauenrechtlerin. Sie hatte gemeinsam mit etlichen anderen Frauen, ein paar Schriftstellerinnen, Schauspielerinnen und anderen Erwerbenden oder auch just erwerbslosen Frauen einen politischen Frauenclub begründet, in dem eifrig für die politische Gleichstellung des weiblichen Geschlechts und seine Heranziehung zu öffentlichen Ämtern und Körperschaften Propaganda gemacht wurde.

Adalbert, dem Bei ihren überhasteten Erklärungen etwas wirblig im Kopfe wurde, fragte:

»Wie kamen Sie nur auf solche Ideen? Haben Sie denn als Frau je etwas entbehrt, was ein Vorrecht des Mannes war?«

Sie gab zur Antwort:

»In Rom habe ich es zuerst erkannt. Da sah ich auf einem Grabmal einen Medusenkopf und unter ihm eingemeißelt einen Dolch, um den sich eine Schlange ringelte. Da wußte ich mit einem Male, daß wir Frauen unfrei sind und nach Freiheit streben müssen.«

Und da Adalbert, der zwischen ihren Worten und seiner Frage keinen rechten Zusammenhang fand, sie fragend anblickte, entgegnete sie mit leiser Ungeduld:

»Das begreifen Sie doch?«

Nein, er begriff es durchaus nicht. Er begriff nicht, wie eine Schlange und ein Dolch die Unfreiheit der Frau symbolisieren sollten, aber er sagte nichts mehr, denn ihr Blick war heute ebenso unklar wie ihre Worte – –

Wieder ein andermal aber verstand er sie bis zuletzt, denn da erzählte sie ohne Flunkerei, ohne Ausschmückung die Geschichte ihrer Kindheit und ihres Lebens. Mit zwei jüngeren Brüdern war sie früh verwaist zu bäuerlichen Verwandten gekommen, die sich zur Erziehung der armen, elternlosen Kinder erboten hatten. Sie lachte bitter auf. »Erziehung nannten sie es, es waren aber nur Prügel, Hunger und Ausbeutung. Die Jungen mußten die schwerste Arbeit tun, oder auch sich vor den Pflug spannen lassen, und ich führte die Kühe auf die Weide!«

»Sie!? O Gott, wie ist das möglich?!«

»Mir ging es noch nicht am schlechtesten. Am schlimmsten waren die Brüder dran. Die armen Kerle, die nie satt zu essen hatten und doch im Wachsen waren, wo kein Junge je satt zu kriegen ist. Kein ganzes Hemd hatten sie auf dem Leibe, das ganze Jahr über kein Spielzeug, nicht die kleinste Freude …«

Noch jetzt in der Erinnerung an diese fernen Leiden stiegen ihr Tränen in die Augen, ihre Stimme zitterte und Adalbert fühlte bewegt, wie dies leidenschaftliche Geschöpf mit fast fanatischer Hingebung an der eigenen Sippe, dem eigenen Blute hing. Mehr denn einmal hatte sie, wenn die Brüder irgendetwas verschuldet hatten, sich statt ihrer die Missetat aufgeladen und sich prügeln lassen und immer wieder hatte sie sich das karge Brot vom Munde abgespart, um die halbwüchsigen Burschen nicht hungern zu lassen.

»Ich habe gesehen, wie sie gleich dem Vieh den Acker furchen mußten und wie sie, halbtot vor Hitze und Durst, in glühheißer Sonne das Korn schnitten. Dann aber kamen die jungen Aristokraten hoch zu Roß einhergesprengt, lachend, satt gegessen, in Samt und Seide, mit Hunden und Piqueuren, den Fouragewagen hinter sich, und sie setzten über die Felder, die meine Jungen mit Mühe und Schweiß hatten ackern und bestellen müssen, und ihre Pferde zerstampften die Ernte und sie zogen uns mit der Reitgerte eins über den Rücken und, wenn sie gut gelaunt waren, warfen sie uns die Reste ihrer Mahlzeit vor, wie man sie Hunden vorwirft! O, wieviel Zorn und Wut habe ich damals hinunterschlucken müssen! Und unaufhörlich habe ich mir gesagt: »Dürfte ich doch den Tag erleben, an dem ihr hungern und euch schinden müßt, wie wir! Könnt ich euch ducken, wie ihr uns duckt, und hinterher alle mit meinen Händen erdrosseln!«

Sie ballte die Fäuste, ihre Augen blitzten, ihr Gesicht war rot vor Erregung, und sie atmete schnell. Adalbert sah sie staunend und ergriffen an. Wiederum erschien sie ihm wie ein Symbol, – das Symbol des rächenden Volkes, das alte Sünden heimsucht an Kindern und Kindeskindern … Die Jahre waren vergangen. Die Brüder waren nun doch zu ehrsamen Handwerkern in die Lehre gekommen, die hübsche Kuhhirtin aber wurde von einem der aristokratischen Jäger aufgespürt, und sie lief ihm ins Garn, wie eine Sechzehnjährige eben dem Manne ins Garn läuft, der sich verliebt anstellt und ihr ein Paradies auf Erden verspricht. Er hatte sie zuerst mit nach Paris, dann nach London genommen und schließlich im Elend sitzen lassen. Nun verkaufte sie in den Straßen Blumen, war Bänkelsängerin in Spelunken, ging die traurige Straße der Not und der Schande.

»Aber ich bin nicht zu Grunde gegangen. Ich habe immer in mir gespürt, daß ich mich nicht ganz hinunterdrücken darf! Immerfort habe ich mir gesagt, daß ich wieder hinaufkommen muß, und ich bin auch wieder hinaufgekommen!«

Adalbert horchte gespannt. Was sie da erzählte, war ihm in manchen Dingen weder neu noch verwunderlich erschienen, denn wenn auch nicht den Worten nach, so hatten doch die meisten seiner Liebchen ihm ähnliche Lebensbeichten abgelegt. Allerdings waren sie nicht Kuhhirtinnen gewesen, nicht in Elend und Schande gelassen worden, aber fast jede hatte eine Geschichte gewußt, wie sie als Halbwüchsige einem ungeliebten Gatten gegeben worden, wie er sie vernachlässigt, wenn nicht gar einem hohen Herrn zugeführt hatte und wie dann Verzweiflung über sie gekommen war. Und jede hatte ungefähr ihre Beichte so geendet: »Erst mit dir ist wieder das Glück in mein Leben gekommen! Ich weiß nicht, was geschehen würde, wenn du mich je verließest!« Hier aber nahm der Bericht eine andere Wendung. Hier suchte die Frau nicht Halt und Glück bei einem anderen Manne, sondern in sich selber, in der eigenen Kraft, und dies eben war für Adalbert das Ungewöhnliche.

Ein Zufall führte einen alten, reichen spleenigen Junggesellen über ihren Weg, dem die hübsche Stimme des Mädchens noch vor ihrem schönen Gesicht auffiel, und da er, spleenig wie er war, mit seiner ganzen Familie in Unfrieden und Prozessen lebte, bedachte er einen Augenblick, ob er den Seinen nicht einen großen Tort antun und das hübsche Bettelmädchen vom Fleck weg heiraten sollte. Es kamen ihm aber doch Bedenken, und er begnügte sich damit, sie mit einer nicht unbeträchtlichen Summe nach Rom zu Grioletti zu schicken, damit er sie zur Sängerin ausbilden sollte. Da hatte sie vor Freude gejauchzt und geweint, hatte alles abgetan, was hinter ihr lag, sogar ihren richtigen Namen Anna Terwagne. –

»Ich wollte als eine ganz Neue in mein neues Leben hineinkommen! Und das »de« ist nicht etwa, wie Sie vielleicht denken, ein Adelsprädikat, das ich vorschwindle, sondern es bedeutet nur, daß ich in Méricourt geboren bin!«

Ergriffen beugte er sich über ihre Hand und küßte sie ehrfurchtsvoller, als er je die Hand einer hochgeborenen Dame geküßt hatte. Es war die Hand der Armut, die sich aus Not und Tiefe zur Höhe und Reinheit echten Menschentums emporgearbeitet hatte, und darum dünkte sie ihm verehrungswürdiger als die Hand einer Fürstin …

Er sagte leise:

»Was müssen Sie gelitten haben!«

Ihre Erregung hatte sich gelegt und sie entgegnete ruhig:

»Es ist lange vorbei. Und den Brüdern geht es jetzt, Gott sei Dank, ganz gut!«

»Mich aber schmerzt es, daß Sie, gerade Sie, jemals leiden mußten!«

Sie sagte ernsthaft:

»Alle Armen leiden, und darum muß die Armut aus der Welt geschafft werden!«

Eine kleine Pause entstand. Dann fragte Adalbert vorsichtig, wie Théroigne sich nun ihre Zukunft dächte.

Sie lächelte. Daran dachte sie überhaupt nicht. Für die nächste Zeit war sie noch ohne Sorge und alles übrige würde sich finden.

»Wer denkt in einer Zeit wie der unsrigen an sich oder an Geld? Ich lebe in den Tag hinein und denke mir, daß es irgendwie gehen wird. Man ist ja nur ein Staubkorn vor dem Vaterland. Wenn nur die Freiheit besteht, – ob dann unsereins auf der Welt ist oder nicht, scheint mir so gleichgültig!«

»Théroigne, wenn Sie mir erlauben wollten, für Sie zu denken und zu sorgen, dann sollte nie mehr Leid an Ihre Türe klopfen.«

»Für mich denken? Nein, ich denke lieber für mich selber. Und für mich sorgen? – Wie meinen Sie das?«

Ihre Augen blickten stolz und auch mit mißtrauischer Frage.

»Ich meine es, wie nur die größte Verehrung und Hochachtung es meinen kann. Sie kränken mich, wenn Sie mir einen anderen Gedanken unterschieben wollen.«

Sie besann sich wieder ein Weilchen, sagte lächelnd:

»Sie sind ein großes Kind!«

»Sagen Sie das nicht zum zweiten Mal!«

»Warum sollte ich nicht?«

»Weil ich Ihnen sonst beweisen müßte, daß ich doch etwas mehr bin!«

»Werden Sie nicht keck!«

Ihrer Warnung zum Trotz versuchte er es aber doch mit Keckheit und es gelang ihm über Erwarten gut. Als er sie heiß geküßt aus den Armen ließ, sagte sie atemlos und lachend:

»Ja, du bist ein großes Kind, aber ein süßes, das ich sehr liebhaben muß!«

*


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