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8. Kapitel.

Der Jakobinerklub hielt jeden zweiten Tag eine kleinere Sitzung ab, rief einmal wöchentlich die große Masse des Volkes zu einer Versammlung herbei, in der den einfachen Leuten die Bestrebungen und Ziele des Klubs erklärt und Mitglieder geworben wurden. Nach den kleineren Sitzungen gingen zwanglose Zirkel noch ins Café (es hatte sich seit dem Antrag über Zucker und Kaffee plötzlich herausgestellt, daß fast sämtliche Jakobiner Nachtarbeiter waren!), und dort setzte man im intimen Kreise die Wortgefechte fort, die im Klub begonnen hatten. Adalbert fehlte bei keiner Sitzung, und da er auch die Nationalversammlung nicht versäumte, war sein Tag so reich ausgefüllt, daß er kaum Zeit fand, nach einem Buch zu greifen oder in die Heimat zu schreiben. Er machte sich darüber keine Gedanken. Wozu sollte er lesen und schreiben, da er doch Tag für Tag mehr erlebte, als sich aus Büchern lernen oder in Briefe fassen ließ, selbst wenn er die Absicht gehabt hätte, getreulich in die Heimat zu berichten, was er hier tat und empfing! Er war nun ein Mitarbeiter an dem großen Befreiungswerke, das der ganzen Welt zugute kommen sollte, denn die Jakobiner verbreiteten Tochterklubs über ganz Frankreich hin, und schon spürte man in der Nationalversammlung die Stärke, die aus all diesen Vereinigungen zusammen geschlossen strömte. Unter diesem starken Einfluß begann die Nationalversammlung so zu werden, wie alle Volksversammlungen werden, wenn die Hochstimmung vorüber ist und die Sitzungszeit zu lange währt. Sie fing an sich in endlosen Debatten zu verzögern, während im Jakobinerklub ein frischer, scharfer Luftzug wehte und genau Ziel wie Weg wies. Hier gab es keine zwecklosen Winkelzüge, kein schwächliches Kompromiß mit der dahinsterbenden Monarchie, die Mirabeau vergeblich zu stützen und neu zu beleben versuchte. Hier wollte man frank und frei die Republik, die einen nach amerikanischem Muster, die anderen nach klassischen Vorbildern, aber immerfort die Republik. Um dieses Zieles willen übersah man auch Spaltungen, die sich hier und da zeigten, hielt man Freundschaft mit dem Konkurrenzklub der Cordelliers, den Desmoulins soeben gegründet hatte, und der noch weit radikaler war als die Jakobiner. Vielleicht verzieh man Desmoulins auch deswegen so leicht, weil er ein Schulkamerad und Duzfreund Robespierres war, der ihn liebte wie sonst keinen und wiederholt sagte, daß Camille vielleicht für Augenblicke irren, niemals aber die große Sache der Freiheit verraten könne. Der Radikalste aller Radikalen, Marat, hatte sich aus guten Gründen seit einiger Zeit hier wie dort überhaupt unsichtbar gemacht. Wegen seiner ständigen Hetzereien war seine Verhaftung verlangt worden, und er hielt es darum für geratener, still zu verschwinden und bessere Zeiten abzuwarten …

All diese Sitzungen besuchte Adalbert gemeinsam mit Théroigne, die von früh bis spät unterwegs war, um nicht nur in ihrem Frauenklub, sondern auch in der Nationalversammlung und bei den Jakobinern rechtzeitig zu erscheinen. Mit der ganzen Leidenschaftlichkeit ihres Temperaments hing sie den Jakobinern an, heckte zuweilen allerhand wildfanatische Pläne aus, wie sie der Freiheit dienen und die immer noch bestehende Tyrannei ins Herz treffen wollte, und wenn Adalbert zuweilen auch über ihren allzugroßen Eifer lächeln und auf ihr Geheiß ein halbes Dutzend elender Freiheitsdramen lesen mußte, die eine ihrer Klubgenossinnen verfaßt hatte, so fand er doch bei dieser Frau alles, was er einst von seiner Ehe erträumt hatte: Liebe, Verständnis und jenen Rausch, der, beglückender als der Sinnenrausch, ein Paar umfängt, das nicht nur durch Liebe, sondern auch durch ein gemeinsames großes Streben verbunden ist. Neben sie und Thurnes, die bislang die einzigen Menschen gewesen waren, die er hier kannte, traten bald allerlei neue Bekanntschaften und Beziehungen. Er lernte Brissot kennen, den Freund und Gesinnungsgenossen der Abgeordneten aus der Gironde und diese Abgeordneten selber, Roland, Buzot, Valazé, Ducos und wie sie sonst noch alle heißen mochten, die, mit Ausnahme Rolands, fast alle jung, Juristen, in politischen Dingen unerfahren aber dafür umso eifriger bestrebt waren, sie zu erfassen und Einfluß zu gewinnen. Ein paar Mal erschien er auch im Hause Rolands, des braven langweiligen Fabrikinspektors, der seine junge, hübsche Frau hatte nach Paris kommen lassen, wo sie nun voll Eifer und Ehrgeiz einen politischen Salon hielt. Sie war die Sekretärin ihres Mannes, war sehr stolz darauf, daß sie unter seinem Diktat allerlei öde Akten und Briefe verfassen durfte, spielte aber stets die Rolle der Bescheidenheit, saß, wenn die politischen Kollegen ihres Mannes kamen, an einem Nebentischchen und schien ganz in eine Privatkorrespondenz versenkt. Sie hörte aber alles, was gesprochen wurde, und war außer sich vor Wonne, daß jedermann sie bewunderte und mehr denn einer in sie verliebt war. Auf Adalbert dagegen machte sie keinen Eindruck. Er verglich sie im Stillen mit Théroigne, und der Vergleich fiel zu ihren Ungunsten aus. Dort war trotz gelegentlicher Flunkereien alles Natur, alles Temperament; Frau Roland dagegen zitierte für Adalberts Geschmack zu oft lateinische und griechische Philosophen, sagte zu häufig »ehrenwert«, »Tugend«, gutgesinnt«, spielte sich zu sichtbarlich auf die »römische Bürgerin« hinaus. Wie alle Leute, die an einem Hofe aufgewachsen sind, hatte er ein scharfes Auge für die Eitelkeit der Menschen, auch wenn sie noch so verborgen war, und er dachte bei sich: »Wäre diese Frau eine Hochgeborene, hätte sie in Versailles ein Tabouret gehabt, so wäre sie vermutlich niemals eine Priesterin der Freiheit geworden!« Er hätte gerne gewußt, was Robespierre von ihr dachte, der häufiger Gast bei den Rolands war, aber der saß stets schweigsam, mit verschlossenem Gesicht und abwesendem Blick, so daß man nicht wußte, ob er überhaupt dem Gespräch zuhörte oder es nur an seinem Ohr vorüberrauschen ließ, um desto ungestörter seinen eigenen Gedanken nachhängen zu können. Wenn Adalbert ihn so sah, fragte er sich, was viele andere sich ebenfalls fragten: »Was ist dieser Mann und was will er?« Aber keiner hätte Antwort darauf geben können, nicht einmal Camille Desmoulins, den er doch zärtlich liebte. Niemand wußte, was in ihm vorging und keinem gelang es, ihn auf eine Partei festzulegen. Er ließ sich umwerben, bestürmen, mit Vernunftsgründen überschütten und entgegnete nur knapp und kühl: »Ich gehöre nur einer Partei an und keiner andern: der Partei der Freiheit und der Menschlichkeit!«

Thurnes, der ein großer Verehrer Robespierres war, sagte einmal zu Adalbert:

»Du mußt ihm einen Besuch machen!«

Doch Adalbert weigerte sich zuerst, und auf Thurnes' Frage nach dem Grund der Weigerung, sagte er:

»Ich habe die Empfindung, daß ich ihm nicht sympathisch bin! Er ist stets so ablehnend gegen mich, daß ich mir aufdringlich vorkäme, wenn ich zu ihm hingehen würde!«

Thurnes lachte und belehrte Adalbert eifrig, daß Robespierre gegen alle Menschen diese seltsame Art der Ablehnung zeige. –

»Aber für hochmütig darfst du ihn deswegen nicht halten, denn kein Mensch ist gütiger als er!«

Da fiel es Adalbert ein, daß diese ablehnende Art wohl aus innerlicher Schüchternheit herkommen könne, und er erinnerte sich, daß er selber bei Audienzen und feierlichen Anlässen die eigene Befangenheit oft hinter einer Miene versteckt, die wie Hochmut hatte wirken können. Da überwand er seine Bedenken und ließ sich von Thurnes zu einem Besuch bei Robespierre abholen.

Robespierre wohnte als Zimmerherr bei einer Schreinersfamilie Duplay in der Rue St. Honoré, in einem unscheinbaren Hause, dessen Rückseite an zwei große Gärten anstieß, sonst aber keinen Reiz aufzuweisen hatte. Als Adalbert in das Zimmer des Deputierten trat, war er betroffen über die Armseligkeit dieser Umgebung. Über dem Bett aus Tannenholz eine geblümte Decke, der man ansah, daß sie aus einem alten Kleid der Hauswirtin zusammengeflickt war. Ein kleiner, ärmlicher Tisch, der ans Fenster geschoben war, diente als Schreibtisch. Nicht ein einziger Polsterstuhl oder sonst ein bequemes Möbel war zu sehen, nur ein paar Holzsessel, auf denen sich allerlei Blätter und Schreibereien herumtrieben, standen da, und der Deputierte mußte erst einen Bücherpack auf den Boden werfen, ehe er seinem Besuch Platz anbieten konnte. An der Wand stand eine verschließbare Lade und über ihr hing ein kleines Bücherbrett, das ganz vollgestopft war mit Bänden, Akten und Broschüren. In dieser von Geistigkeit und Dürftigkeit erfüllten Umgebung wirkte der Deputierte mit seiner schmächtigen Gestalt und dem fahlen Armutsgesicht wie der typische Hungerstudent. Doch schärfer, seltsamer noch als sonst trat hier der Gegensatz zwischen seiner persönlichen Erscheinung und seinem Anzug zu Tage: Auf dem Rock aus braunem Tuch lag kein Stäubchen, das Jabot war wie immer blütenweiß und fein gefältelt, das Haar kokett frisiert und gepudert wie nur ein Friseur es frisieren und pudern kann, die Hände, trotz eines großen Tintenflecks am Mittelfinger der Rechten, zart, feingepflegt mit sorgsam zugeschnittenen Nägeln. Unverkennbar war dieser Mann, den es nicht kümmerte, wie ein Hungerstudent zu wohnen, persönlich sehr eitel, und Adalbert spürte auch hier diese Eitelkeit sofort heraus. Sie war ihm aber nicht unsympathisch, sondern eher wie eine liebenswürdige Schwäche, die dem Manne, der sonst bis zur Farblosigkeit ernsthaft und verschlossen war, eine gewisse menschliche Weichheit lieh …

Das Gespräch ging zuerst etwas mühsam und banal, wurde lebhafter, als man auf politische Dinge kam, denn ohne Politik gab es überhaupt kein Gespräch mehr. Adalbert verlor die Empfindung, daß er Robespierre unsympathisch sei, merkte mit Vergnügen, daß er ihm sogar gefiel, weil dieser, der selber so ernsthaft war, an Allen Gefallen fand, die unbefangen und kindlich waren oder sein konnten. Auch an Desmoulins liebte er gewisse Kindlichkeiten: die unbekümmerte Draufgängerei, die stammelnde Sprache und das töricht-rührende Lachen, das Camille ohne Grand immer wieder anwandelte, nur weil er gerade als glückseliger Ehemann Flitterwochen verlebte und sich einbildete, er würde zeitlebens Arm in Arm mit seiner hübschen Frau im siebenten Himmel spazieren gehen …

Beim Abschied lud Robespierre Herrn von Halman ein, doch an einem Donnerstag abend wiederzukommen, denn jeden Donnerstag hielt er für seine politischen Freunde gleichsam Cercle. Diesmal wurden sie in der guten Stube der Familie empfangen, wo Mann, Frau, zwei Töchter und Robespierre um den runden Tisch saßen und eifrig Lotto spielten. Wiederum war Adalbert von der kleinbürgerlichen Atmosphäre betroffen. Diese gute Stube sah aus wie die guten Stuben aller kleinen Bürgersleute, auf alten Nußbaummöbeln buntgestreifte Kattunbezüge, an den Wänden etliche wertlose aber patriotische Stiche, und unwillkürlich sah sich Adalbert nach dem Stein der Bastille und dem Trikolorentuch um, das ihn umhüllen sollte. Aber selbst dieses Zeichen einer großen Begebenheit fehlte. Frau Duplay saß bürgerlich aufgeputzt und mit vor Erregung roten Wangen auf dem unbequemen Sofa, der Schreinermeister war ein behäbiger Spießbürger, dem auch die Mitgliedschaft im Jakobinerklub eine gewisse Behaglichkeit nicht abgewöhnt hatte, die beiden Töchter, Elisabeth und Eleonore, räumten, als die ersten Gäste eintraten, hastig und ein wenig verlegen die Karten und Nummern des Lotto beiseite und nahmen Stickereien zur Hand, in die sie den ganzen Abend über vertieft blieben. Oder nein, nicht den ganzen Abend über! Die hübschere und jüngere von ihnen, Elisabeth, ließ die Nadelarbeit zuweilen sinken, man sah ihr an, daß sie weder an die Stickerei noch an irgendeinen der Anwesenden dachte, sondern offenbar an irgend jemand, der nicht da war, während die Schwester sich immer eifriger über die Stickerei beugte, als sollte niemand sehen, wie ihr Gesicht von Spannung und Unruhe durchwühlt war …

Allmählich waren zehn oder zwölf Klubmitglieder gekommen, Robespierre lehnte sich in etwas gezierter Haltung an den Kamin, griff nach einem Buche, das er schon vorhin bereitgelegt hatte, und begann eine Szene aus Racines »Andromeda« vorzulesen. Seine schwache Stimme hob sich zuweilen zum Pathos und geriet dann in ein leichtes Näseln, aber alle rundum waren begeistert, klatschten frenetisch Beifall, und man sah, wie er sich über diesen Erfolg freute. Eleonore hatte langsam ihre Stickerei sinken lassen und ihr kantiges, blasses Gesicht sah mit einem Ausdruck ekstatischer Hingebung zu dem Vorlesenden hin. Er aber achtete gar nicht auf sie, und als sie ihn, da er nicht weiter las, schüchtern fragte, ob sie ihm nicht eine kleine Erfrischung bringen dürfte, sagte er höflich und gleichgültig: »Bitte, wenn Sie so gut sein wollen!« und vertiefte sich mit den übrigen Klubisten in das gewohnte Gespräch. Eleonore hatte indessen aus dem Nebenzimmer eine Orange geholt und begann sie langsam zu schälen. Sie hatte ungewöhnlich schöne Hände und so hätte es wie Koketterie erscheinen können, daß sie sich mit der Orange gar so langsam und ausführlich beschäftigte, die Schale vorsichtig wie einen Stern auseinanderschnitt, die Frucht sorgsam teilte, dann wiederum Schalenstern und Frucht in der Hand fest zusammenschloß, so daß man kaum sah, wo das Messer zerschnitten hatte. Wie Koketterie sah alles aus und war doch nur eine Liebkosung, die sie der Goldfrucht für den angebeteten Mann mitgab. Sie war glücklich, als sie zu ihm hintrat und ihm auf einen kleinen Teller die Orange anbieten durfte, er aber sagte nur nebenhin: »Danke, Eleonore!« und erklärte dann ausführlich und nicht ohne Eitelkeit, daß er im Stande sei, eine Orange mit einer Hand ohne Beihilfe der andern zu schälen und zwar so, daß jede einzelne Spalte wie von einem kleinen Band der ausgeschnittenen Schale festgehalten werde. Dann kümmerte man sich nicht weiter um die Frauen. Die Mädchen stickten, Eleonore warf noch ab und zu einen Blick zu Robespierre hin, der ihn niemals erwiderte. Frau Duplay nickte allmählich sanft ein, um immer wieder erschrocken über die eigene Unfähigkeit emporzutaumeln, der Schreinermeister lauschte gespannt auf das Gespräch seiner bewunderten Gäste, wagte sogar ab und zu ein Wort dazwischenzuwerfen. Um elf Uhr war alles zu Ende, die Gäste gingen, und Robespierre zog sich in sein Zimmer zurück, um noch bis zum Morgengrauen zu arbeiten.

Im Laufe der Zeit erfuhr Adalbert dann doch ein Weniges über Robespierre, es war nicht allzuviel, denn der Deputierte von Arras sprach kaum je über die Zeit, die hinter ihm lag, und was Adalbert erfuhr, kam von andern. Die Robespierre waren in Arras ansässig, der Vater ein tüchtiger Advokat, schien nach dem frühen Tode seiner Frau etwas geistesgestört geworden zu sein, denn eines Tages hatte er seine Kanzlei und seine drei kleinen Kinder verlassen, war in die Fremde gezogen, ohne daß man je wieder von ihm gehört hätte. Verwandte mußten sich der Waisen annehmen; der älteste, Maximilian, der heute seine Vaterstadt in der Nationalversammlung vertrat, erfuhr auf Freiplätzen in Lehranstalten und bei Gewährung von Stipendien all die kleinen Demütigungen und Kränkungen, die ein empfindlicher und eitler Mensch niemals vergessen kann. Er studierte Jurisprudenz, dachte einen Augenblick daran, die Richterlaufbahn zu wählen, gab den Plan aber wieder auf, weil er seiner weichen Natur kein Todesurteil hätte abringen können. So wurde er wie sein Vater Advokat, schien aber auch hier Schiffbruch zu leiden, denn bei der ersten Rede, die er hielt, zog ihm seine schrille Stimme, die er nicht in der Gewalt hatte, einen ungewollten Heiterkeitserfolg zu. Allmählich aber merkte man, daß trotz dieser schrillen Stimme in dem jungen Menschen etwas steckte, was andern Juristen vielleicht fehlte; neben großem Verstand eine ebenso große Weichheit, und so wurde er insbesondere ein Anwalt der Armen und Unterdrückten. Als die Reichsstände einberufen wurden, wußte Arras keinen Bessern zu wählen als ihn, der ganz anders als etwa Mirabeau oder Danton, nichts von den Schwelgereien des Lebens wissen wollte, sondern ernsthaft, ohne Freude und persönliche Bedürfnisse in der ärmlichen Stube der Tischlersleute hauste. In diesem Leben fand sich kein Frauenname, keine Erinnerung an lustige Trinkgelage, an Spiel oder Tollheiten übermütiger Jugend. Nichts von alledem hatte er kennen gelernt als spießbürgerliche Tanzkränzchen in Arras und einen dilettantischen Literaturverein, in dem der Verfasser des besten Gedichtes – er selber – mit einem Rosenkranz gekrönt worden war, dessen vertrocknete Blätter er noch heute in einem Schubfach seines Schreibtischs aufbewahrte. Da Adalbert ihn kennen lernte, war er knapp dreißig und begehrte von den Äußerlichkeiten des Lebens nichts als den feinen Rock, die blütenweiße Wäsche und den Friseur, der täglich kam, um das Haar zierlich zu frisieren, – ein Zug von Fraueneitelkeit, der aber doch mehr war als er schien; dies sorgfältig gehaltene Äußere sollte nicht nur seine Armut vor den Augen der Welt verbergen sondern auch zeigen, daß er nichts mit der Partei der wilden, vernachlässigten Elemente zu tun haben wollte, die sich im Jakobinerklub um Marat scharten. Da Adalbert langsam aus all diesen Zügen sein Wesen zusammensetzte und ihn dann mit dem fahlen Gesicht, das die Armut früh gezeichnet hatte, in dem engen Stübchen vor sich sah, empfand er ähnlich, wie er bei Théroignes Bekenntnissen empfunden hatte. Wiederum war es ein kraftvoller, aber armer Mensch, den ein altes verrottetes System unterdrückt hatte, wenn nicht zur rechten Zeit die Freiheit ihm zu Hilfe gekommen wäre. Er pries sich glücklich, daß er zum zweiten Mal einen solchen Menschen hatte kennen lernen dürfen …

Nun gab es allerdings in Robespierres Leben ein Begebnis, das ihn reicher machte, als irgend jemand sich träumen ließ. Ein Begebnis, von dem keiner wußte, denn er hütete es, wie man ein Heiligtum vor profanen Augen hütet. Dies Begebnis war der Stolz seines Daseins, die Erinnerung vieler in Träumen und Grübelei verbrachter Stunden, und es lieh ihm eine innere Überlegenheit, die ihn mit Stolz erfüllte und über andere, die sich Gott weiß wie groß dünkten, insgeheim verächtlich lächeln ließ. An einem regenschweren Frühsommertage erfuhr dann Adalbert von diesem Begebnis, erfuhr es aus Robespierre's Munde und war so betroffen und ergriffen, daß Robespierre nicht bereute, sich ihm eröffnet zu haben.

Sie waren einander im Laufe der Zeit nähergekommen, zuerst zufällig, indem sie sich auf einsamen Wegen im Bois de Boulogne oder draußen vor der Stadt trafen, denn sie beide liebten es, allein und fern dem Menschengewühle zu wandeln und sich ihren Gedanken hinzugeben. Robespierre hatte an Adalbert Gefallen gefunden, wie an allen, die kindlich waren, und denen er die Bewunderung für seine Person vom Gesicht ablesen konnte, und so gab es manche Stunde, in der Adalbert im Hause des Tischlers anklopfte und sich mit dem Zimmerherrn in Gespräche vertiefte, bei denen sie beide noch in sinkender Nacht kein Ende finden konnten. An einem regnerischen Nachmittag war er wieder einmal gekommen, saß mit Robespierre am offenen Fenster, durch das aus den Nachbargärten ein köstlicher Duft von feuchtem, jungem Gras und blühendem Flieder hereindrang. Ein feiner Regen rieselte gleichmäßig hernieder, ließ frühe Dämmerung ahnen und erfüllte alles mit einer sanften, schmerzlich süßen Schwermut. Die beiden jungen Männer sprachen, was sie immer sprachen, was sie und ihre Zeit mächtig bewegte, und Adalbert erzählte, wie er, ein Halbwüchsiger, unversehens zu Jean Jacques Schriften gekommen war, und wie ihn seit diesem Tage der Gedanke an die Ungerechtigkeit menschlicher Errichtungen nicht mehr verlassen und wie er sich fest vorgenommen hatte, nach seinen Kräften mitzuarbeiten an dem großen Werke der Befreiung. Alles, was er empfunden und gewollt hatte, strömte ihm von den Lippen, nur eines verschwieg er, wie er es allen bis jetzt verschwiegen hatte; seine fürstliche Herkunft. Hier, in Paris, war er nichts anderes und wollte er nichts anderes sein, als ein begüterter, deutscher Edelmann, dessen Erzieher Thurnes gewesen und der aus Bewunderung für die große Sache gekommen war, wie Cloots und noch manch anderer aus deutschen Landen. Robespierre hörte schweigend, wie der junge Mann ihm gegenüber immer wärmer, immer leidenschaftlicher sprach. Draußen rieselte der Regen, Dämmerung schlich leise auf durchsichtigen Sohlen ins Gemach und begann die Gesichter zu verschleiern, aber seltsam! gerade in dieser Verschleierung und trotz seiner Ergriffenheit fiel es Adalbert in diesem Augenblick auf, wie leblos Robespierre aussah. Nicht etwa nur verschlossen, sondern wirklich leblos mit den hageren, fahlen Wangen, dem schmalen, zusammengepreßten Mund, den kurzsichtigen, eingedrückten Augen und der unbeweglichen Haltung des Kopfes. Ohne daß er es hindern konnte, fiel ihm ein, daß Cloots, der Robespierre nicht leiden konnte, in seiner barocken Art einmal gesagt hatte: »Glauben Sie wirklich, daß Robespierre ein lebendiger Mensch ist? Keine Rede davon! Er lebt nicht, er spukt nur –« Und doch regte sich hinter dieser Leblosigkeit jetzt etwas, was sonst starr lag, und Mitteilungsbedürfnis und Eitelkeit schickten sich an, ein Herz zu entriegeln, das sonst verschlossen blieb. Das große Begebnis, das Robespierre so geheim hielt und ihn so reich machte, wurde, gleich einem Allerheiligsten, vor Adalbert enthüllt … »Wenn schon Jean Jacques geschriebenes Wort solch mächtigen Eindruck auf Sie machte, was hätten Sie empfunden, wenn Sie ihn gekannt hätten, wie ich, wenn Sie das Glück gehabt hätten, ihm gegenüber zu stehen, seine Hand zu küssen, seine Stimme zu hören, in sein Antlitz zu sehen?!«

Adalbert sah ihn entgeistert an. Es kam ihm so unwahrscheinlich vor, daß Jean Jacques noch als Lebender unter ihnen allen gewandelt, daß es einen Menschen geben sollte, der diesen Großen gekannt hatte, wie man gewöhnliche Sterbliche kennt, daß einer sich über die Hand geneigt haben konnte, die der Menschheit neue, sanfte Gesetze schrieb … Er stotterte:

»Sie … Sie … Sie haben ihn gekannt!? O Gott, wie glücklich müssen Sie sein!«

Und leiser, als dürfe man von dieser Begegnung nur im Flüsterton sprechen, bat er inbrünstig und dennoch zögernd:

»Wie war es? Wie haben Sie das Glück gehabt, vor ihm stehen zu dürfen?«

Robespierre weidete sich einen Augenblick an der Wirkung, die seine Enthüllung hervorgebracht hatte. Dann überwältigte auch ihn die Erinnerung, und mit feierlich-leiser Stimme, als erzählte er eine Legende, sprach er von dem Besuch, den er, als er von Arras nach Paris fuhr, in Erménonville gemacht hatte. Vor Adalberts Augen erstand der kleine Pavillon in dem weiten Park, darin ein hochherziger Edelmann dem verfolgten und scheuen Philosophen samt seinem »schlichten Kind des Volkes« ein idyllisches Asyl gewährt hatte.

»Ich kann Ihnen nicht schildern, was ich damals empfand! Es war hinreißend, es war wie eine Offenbarung! Jean Jacques war ganz so wie seine Verkündigung. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er von seinem Morgenspaziergang in den Pavillon zurückkam, wo ich ihn erwarten durfte; wie ein einfacher Bürger, ja, beinahe wie ein Bauer sah er auf den ersten Blick aus, in dem unscheinbaren, braunen Rock, mit den schweren, groben Schuhen und dem dicken Stock, auf den er sich beim Gehen stützte. Aber in der andern Hand hielt er ein Bündelchen Spitzwegerich für seine Vögel, und aus seinen Augen leuchtete ein Himmel voll Güte. Güte war um ihn her, Güte war jedes Wort, das er sprach, wenn man ihn hörte und in seiner Nähe war, vergaß man, daß es überhaupt Böses auf der Welt gibt. So sah ich ihn, so verließ ich ihn, um ihn nie wieder zu sehen. Seltsam und unheimlich, – am Tag, nachdem ich ihn verlassen hatte, war er tot.«

Tiefes Schweigen folgte diesen Worten. Die Dämmerung sank tiefer, und der Regen rauschte mächtiger, wie eine Begleitmelodie zu den schweren Worten:

»Er war tot.«

Nach einer langen Pause griff Adalbert voll Ehrfurcht nach Robespierres Hand:

»Ich danke Ihnen … Ich werde diese Stunde nie vergessen, in der Sie mir dies offenbarten. Ihr Vertrauen macht mich stolz und glücklich!«

Wiederum ein langes Stillschweigen. Dann fühlte Adalbert, wie zwei Arme seine Schultern umfingen und ein Männermund an seinem Ohr flüstert:

»Nach dieser Stunde kann nichts Fremdes mehr zwischen uns sein. Wir sind Brüder in seinem Geiste! Brüder aber sagen zueinander »du«!«

Adalbert war überwältigt. Wie kam es nur, daß dieser Verschlossene, Stolze, sich ihm in Freundschaft näherte?! Und mit dieser Frage überschlich ihn eine kindliche Scham, daß er noch ein Geheimnis barg, da doch der andere das seine preisgegeben hatte. Er hob den Kopf und sagte schüchtern:

»Mein Bruder, ich danke dir! Aber Brüder müssen offen sein und darum muß ich dir jetzt, in dieser Stunde, ein Geständnis ablegen. Ich bin nicht der, für den alle mich halten, und für den auch du mich hältst –«

Robespierres Bewegung wich alsbald dem Ausdruck forschenden Mißtrauens.

»Du … du bist nicht? Wer bist du?«

Er fragte es mit der schrillen Stimme, die sich in Augenblicken der Erregung überschlug.

»Ich bin nicht der kleine, deutsche Edelmann, für den ich mich ausgab. Mein Haus ist ein regierendes Haus in Deutschland, und ich bin sein Herzog.«

Robespierre saß ohne sich zu rühren, ohne eine Geste der Überraschung, und trotzdem das Gemach jetzt völlig im Dämmer lag, merkte Adalbert, daß sein Gesicht wieder leblos aussah. In den kurzsichtigen Augen aber flackerte Mißtrauen. – –

Adalbert griff wieder nach seiner Hand.

»Ich bin der regierende Herzog, aber ich werde es nur bleiben, wenn mein Volk es will. Ich bin hierher gekommen von Sehnsucht getrieben, die wahre Freiheit zu sehen und zu lernen, wie ein rechter Fürst sein Volk glücklich machen kann. Wenn ich heimkehre, werde ich meinen Untertanen die Wahl lassen, ob sie mich oder einen andern zum Oberhaupte haben wollen, und wenn sie einen andern wählen, will ich wie ein Bürger mit den andern Bürgern leben und mich glücklich preisen, daß ich tun durfte, wie ich tat!«

Was er da sprach, war so rührend-jung, so von Überschwang getragen, daß das Mißtrauen in Robespierres Augen erlosch. Er ergriff feierlich Adalberts Hände:

»Du bist ein Fürst, du stammst aus Tyrannenblut, aber du entsühnst dich, da du das Gute willst und dem Rufe der Freiheit folgst! In ihrem Namen, im Namen des Großen, der diese Stunde geweiht hat, fordere ich jetzt ein Gelöbnis von dir –«

Adalbert sah ihn fragend an.

»Schwöre mir bei dem Namen Jean Jacques', daß du seiner Lehre nachfolgen, sein Reich aufrichten und mir, seinem Vollstrecker, Treue halten wirst, bis zum Tode!«

»Ich bin bereit, mit dir das Abendmahl darauf zu nehmen!«

Robespierre schüttelte verneinend den Kopf.

»Es bedarf keines solchen Symbols. Mir genügt dein Schwur. Sprich mir nach: »Ich schwöre bei dem Namen Jean Jacques', daß ich seiner Lehre nachfolgen, sein Reich aufrichten und seinem Vollstrecker Treue halten will bis zum Tode!«

Weihedurchschauert, als stünde er vor dem Altar, sprach Adalbert die Worte nach. Robespierre umarmte ihn schweigend und drückte ihn fest an sich. Dann ging er zu dem Bücherbrett, nahm ein kleines, abgegriffenes Bändchen heraus und sprach:

»Dies schenke ich dir als Andenken an diese Stunde. Es ist das Buch eines deutschen Dichters, der Jean Jacques begriffen hat, und darum eben will ich es dir schenken. Nimm es als Zeichen, daß in Jean Jacques' Reich alle Schranken und Unterschiede der Völker fallen müssen, daß es nur eine einzige Nation geben kann: die Nation der Freiheit und der Menschlichkeit.«

Adalbert nahm das Bändchen aus Robespierres Hand und schlug es auf, um den Titel zu lesen. Es waren Schillers »Räuber«.

»Ich will dir eine Widmung hineinschreiben!«

Und mit seiner flotten Schrift, die so seltsam mit seinem kargen, unfrohen Wesen kontrastierte, schrieb er als Widmung das Zitat ein:

»Das Gesetz hat noch keinen großen Mann hervorgebracht, die Freiheit Kolosse!«

Er hatte eben Streusand auf die Worte geschüttet, als es heftig an der Türe pochte und Thurnes eintrat, ohne erst das »Herein« abzuwarten. Aufgeregt fragte er:

»Wißt ihr es schon? Mirabeau ist vor einer halben Stunde gestorben!«

Es gab zunächst Rufe des Staunens, des Schreckens und dann wiederum ein langes, schweres Schweigen. Niemand hatte an Mirabeaus Tod gedacht, obgleich er schon seit Tagen schwer krank lag. Mirabeau tot, – jeder empfand, was diese Worte bedeuteten. Hatte das ewig rege Mißtrauen von Paris auch »Verrat« geflüstert, gelegentlich sogar geschrien, so war Mirabeau doch der gewaltige Wagenlenker der Revolution gewesen und nun, da der Tod ihm die Zügel aus der Hand genommen hatte, konnte niemand sagen, wohin das Gefährt rollte. Vielleicht gedachte die Reaktion, sich jetzt auf den Kutschbock zu schwingen, vielleicht raste es führerlos dem Abgrund zu …

Robespierre hatte den Kopf tief gesenkt. Ihm wars, als sei in Mirabeaus Todesstunde eine weites Tor zu Jean Jacques' Reich aufgeschlagen worden. Adalbert aber durchflog für eine Sekunde die Erinnerung an den Blick, den das Königspaar auf dem Marsfeld gewechselt hatte, jenen Blick voll Grauen vor dem Tiergesicht, das vielleicht durch dies weitaufgeschlagene Tor hereinspähte.

*


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