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Netotschka Njeswanowa

*

1849


Erstes Kapitel

Meines Vaters erinnere ich mich nicht. Er starb, als ich zwei Jahre alt war. Meine Mutter verheiratete sich zum zweitenmal. Diese zweite Ehe brachte ihr viel Leid, obgleich sie aus Liebe geschlossen war. Mein Stiefvater war Musiker. Sein Schicksal war sehr merkwürdig: er war der seltsamste, wunderlichste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe. Sein Wesen hat, als ich noch ein kleines Mädchen war, einen so starken Eindruck auf mich gemacht, daß dieser Eindruck für mein ganzes Leben nachwirkte. Damit meine Erzählung verständlich sei, will ich vor allen Dingen seinen Lebenslauf hier hersetzen. Alles, was ich jetzt erzählen werde, habe ich später von dem berühmten Geiger B*** gehört, der in seiner Jugend ein Kamerad und intimer Freund meines Stiefvaters gewesen war.

Der Familienname meines Stiefvaters war Jesimow. Er war in dem Dorfe eines sehr reichen Gutsbesitzers geboren, als Sohn eines armen Musikers, der nach langen Irrfahrten sich auf dem Gute dieses Gutsbesitzers niedergelassen hatte und von diesem für sein Orchester engagiert worden war. Der Gutsbesitzer lebte sehr üppig und liebte vor allem leidenschaftlich die Musik. Man erzählte von ihm,obgleich er sonst nie sein Dorf verlassen habe, nicht einmal, um nach Moskau zu fahren, habe er sich einmal plötzlich entschlossen, ins Ausland nach einem Badeorte zu reisen, und zwar nur auf wenige Wochen, einzig und allein, um einen berühmten Geiger zu hören, der, wie die Zeitungen gemeldet hatten, in jenem Badeorte drei Konzerte zu geben beabsichtigte. Er hielt sich ein tüchtiges Orchester, auf das er fast seine ganzen Einnahmen verwendete. In dieses Orchester trat mein Stiefvater als Klarinettist ein. Er war zweiundzwanzig Jahre alt, als er mit einem seltsamen Menschen bekannt wurde. In demselben Kreise wohnte ein reicher Graf, der sich durch die Unterhaltung eines Haustheaters ruinierte. Dieser Graf hatte den Kapellmeister seines Orchesters, einen Italiener, wegen schlechter Aufführung entlassen. Der Kapellmeister war wirklich ein schlechter Mensch. Nachdem er weggejagt worden war, kam er vollständig herunter, trieb sich in den Dorfschenken umher, betrank sich, bettelte manchmal und fand im ganzen Gouvernement niemanden mehr, der Lust gehabt hätte, ihm eine Stelle zu geben. Mit diesem Menschen befreundete sich mein Stiefvater. Dieser Freundschaftsbund war unerklärlich und insofern seltsam, als niemand bemerkte, daß mein Stiefvater sich in seinem Betragen unter dem Einflusse seines Kameraden irgendwie geändert hätte; sogar der Gutsbesitzer, der ihm anfangs den Verkehr mit dem Italiener verboten hatte, sah dann durch die Finger und duldete diese Freundschaft. Schließlich starb der Kapellmeister ganz plötzlich. Bauern fanden ihn eines Morgens in einem Graben beim Mühlendamme. Es wurde eine Untersuchung eingeleitet, deren Resultat war, daß er am Schlagfluß gestorben sei. Seine Habe befand sich in Verwahrung bei meinem Stiefvater, der sogleich den Beweis führte, daß er ein volles Recht habe, diese Hinterlassenschaft zu erben: der Verstorbene hatte ein eigenhändiges Schriftstück hinterlassen, in welchem er Jesimow im Falle seines Todes zu seinem Erben einsetzte. Die Erbschaft bestand aus einem schwarzen Frack, den der Verstorbene sorgsam geschont hatte, weil er die Hoffnung, wieder eine Anstellung zu finden, immer noch nicht hatte aufgeben mögen, und aus einer Geige, anscheinend einem ziemlich gewöhnlichen Instrumente. Niemand machte meinem Stiefvater diese Erbschaft streitig. Aber einige Zeit darauf erschien bei dem Gutsbesitzer der erste Geiger des gräflichen Orchesters mit einem Briefe vom Grafen. In diesem Briefe bat der Graf, der Gutsbesitzer möchte meinem Stiefvater zureden, die von dem Italiener hinterlassene Geige zu verkaufen, da der Graf den lebhaften Wunsch habe, sie für sein Orchester zu erwerben. Er bot dafür dreitausend Rubel und fügte hinzu, er habe Jegor Jesimow schon mehrmals zu sich bestellt, um den Handel persönlich abzuschließen; dieser aber habe sich hartnäckig geweigert zu kommen. Zum Schlusse schrieb der Graf, dies sei der wahre Wert der Geige; er werde nichts weiter zulegen und sehe in Jesimows Hartnäckigkeit den für ihn beleidigenden Verdacht, als wolle er sich bei dem Handel die Einfalt und Unkenntnis des Eigentümers zunutze machen. Er bat daher, diesen zur Vernunft zu bringen.

Der Gutsbesitzer ließ meinen Stiefvater sofort rufen.

»Warum willst du die Geige nicht verkaufen?« fragte er ihn; »du kannst sie ja doch nicht gebrauchen. Man bietet dir dreitausend Rubel; das ist der wahre Wert, und du handelst unverständig, wenn du meinst, es werde dir jemand noch mehr geben. Der Graf wird dich nicht betrügen.«

Jesimow erwiderte, freiwillig werde er zum Grafen nicht hingehen; wenn aber sein Herr es ihm befehle, so werde er demselben gehorchen. Die Geige werde er dem Grafen nicht verkaufen; wolle man sie ihm mit Gewalt wegnehmen, so werde er sich auch darin dem Willen seines Herrn fügen.

Es war klar, daß er durch diese Antwort die empfindlichste Seite in dem Charakter des Gutsbesitzers berührte. Die Sache war die, daß dieser mit Stolz davon sprach, er wisse, wie er mit seinen Musikern umzugehen habe, weil sie alle bis auf den letzten Mann wahre Künstler seien; infolgedessen sei sein Orchester nicht nur besser als das gräfliche, sondern auch nicht schlechter als das hauptstädtische.

»Gut!« antwortete der Gutsbesitzer; »ich werde den Grafen benachrichtigen, du wollest die Geige nicht verkaufen, weil du es eben nicht wollest, und weil du ein volles Recht hättest, sie zu verkaufen oder nicht zu verkaufen; verstehst du? Aber ich selbst frage dich nun: Was willst du mit der Geige? Dein Instrument ist die Klarinette, obwohl du ein schlechter Klarinettist bist. Überlasse sie mir! Ich werde dir dreitausend Rubel dafür geben.« Und im stillen fügte er hinzu: »Wer hätte gedacht, daß das ein so gutes Instrument wäre!«

Jesimow lächelte.

»Nein, gnädiger Herr, ich werde sie Ihnen nicht verkaufen,« antwortete er. »Allerdings, wenn Sie befehlen …«

»Aber dränge ich dich etwa? Zwinge ich dich etwa?« schrie der Gutsbesitzer außer sich, um so mehr, da das Gespräch in Gegenwart des gräflichen Musikers stattfand, der aus dieser Szene einen sehr ungünstigen Schluß auf die Stellung sämtlicher Musiker des gutsherrlichen Orchesters ziehen konnte. »Mach, daß du hinauskommst, undankbarer Mensch! Laß dich nicht wieder vor mir blicken! Was wäre ohne mich aus dir und deiner Klarinette geworden, auf der du nicht einmal zu spielen verstehst? Bei mir hast du satt zu essen, bist ordentlich gekleidet und erhältst Gehalt; du lebst auf einem anständigen Fuße, du bist ein Künstler; aber du hast für all das kein Verständnis und kein Gefühl. Mach, daß du hinauskommst, und reize mich nicht durch deine Gegenwart!«

Der Gutsbesitzer pflegte sonst jeden, auf den er zornig wurde, fortzujagen, weil er sich vor sich selbst und vor seinem Jähzorn fürchtete. Aber um keinen Preis hätte er gegen einen »Künstler« streng verfahren mögen, wie er seine Musiker nannte.

Der Handel kam nicht zustande, und die Sache schien damit zu Ende zu sein, als plötzlich, ungefähr einen Monat nachher, der gräfliche Geiger eine schreckliche Geschichte anrührte: mit seiner Namensunterschrift reichte er gegen meinen Stiefvater eine Anzeige ein, in der er behauptete, daß dieser an dem Tode des Italieners schuld sei und ihn in gewinnsüchtiger Absicht umgebracht habe: nämlich um in den Besitz der reichen Erbschaft zu gelangen. Er behauptete, das Testament sei dem Italiener listig abgenötigt worden, und machte sich anheischig, Zeugen für seine Beschuldigung beizubringen. Weder die Bitten noch die Ermahnungen des Grafen und des Gutsbesitzers, der für meinen Stiefvater warm eintrat, vermochten den Angeber in seiner Absicht wankend zu machen. Sie stellten ihm vor, die ärztliche Untersuchung des Leichnams des Kapellmeisters sei ordnungsmäßig vorgenommen worden; der Angeber setze sich mit dem Augenschein in Widerspruch, vielleicht aus persönlichem Groll und Ärger, weil es ihm nicht gelungen sei, in den Besitz des wertvollen Instrumentes zu gelangen, das für ihn hätte gekauft werden sollen. Der Musiker blieb bei seiner Angabe, schwur, daß er die Wahrheit sage, behauptete, daß der Schlaganfall nicht von Trunkenheit, sondern von Vergiftung hergerührt habe, und forderte eine nochmalige Untersuchung. Auf den ersten Blick schien es, daß seine Behauptungen nicht von der Hand zu weisen seien. Natürlich ließ man der Sache ihren Gang. Jesimow wurde festgenommen und nach der Stadt in das Gefängnis geschickt. Es begann ein Prozeß, der das ganze Gouvernement interessierte. Er nahm einen sehr schnellen Verlauf und endete damit, daß der Musiker einer unwahren Denunziation schuldig befunden wurde. Er wurde zu der gesetzlichen Strafe verurteilt, blieb indessen bei seiner Behauptung, daß er die Wahrheit sage. Schließlich aber räumte er doch ein, daß er keinerlei Beweise habe, und daß er die von ihm vorgebrachten Behauptungen sich selbst ersonnen habe; er habe aber, als er sie ersann, sich von seinen Vermutungen und Kombinationen leiten lassen; denn bevor die zweite Untersuchung angestellt und Jesimows Unschuld formell erwiesen worden sei, sei er immer noch fest überzeugt gewesen, daß Jesimow die Ursache des Todes des unglücklichen Kapellmeisters sei, wenn er ihn auch vielleicht nicht mit Gift, sondern auf irgendeine andere Weise umgebracht habe. Aber das gegen ihn gefällte Urteil kam nicht zur Ausführung: er erkrankte plötzlich an Gehirnentzündung, verlor den Verstand und starb im Gefängnislazarett.

Während dieses ganzen Prozesses benahm sich der Gutsbesitzer auf die edelste Weise. Er bemühte sich für meinen Stiefvater so, als ob dieser sein leiblicher Sohn wäre. Mehrere Male kam er zu ihm ins Gefängnis, um ihn zu trösten, schenkte ihm Geld, brachte ihm, da er gehört hatte, daß Jesimow gern rauche, die besten Zigarren, und als mein Stiefvater freigesprochen war, veranstaltete er ein Fest für das ganze Orchester. Er betrachtete Jesimows Sache als eine, die das ganze Orchester angehe, weil er auf die gute Aufführung seiner Musiker wenn nicht mehr, so doch mindestens ebensoviel Wert legte wie auf ihre Begabung.

Es verging ein ganzes Jahr, als sich plötzlich in dem Gouvernement das Gerücht verbreitete, daß ein berühmter Geiger, ein Franzose, in der Gouvernementsstadt angekommen sei und auf der Durchreise einige Konzerte zu geben beabsichtige. Der Gutsbesitzer bemühte sich sogleich, den Franzosen zu einem Besuche auf seinem Gute zu überreden. Dies gelang ihm: der Franzose versprach zu kommen. Alles war schon zu seiner Abreise nach dem Gute bereit, und der Gutsbesitzer hatte den ganzen Kreis zu sich eingeladen, als plötzlich alles eine andere Wendung nahm.

Eines Morgens wurde gemeldet, Jesimow sei verschwunden, man wisse nicht wohin. Es wurden Nachforschungen angestellt, aber keine Spur von ihm gefunden. Das Orchester befand sich in einer peinlichen Lage (die Klarinette fehlte!), als plötzlich, drei Tage nach Jesimows Verschwinden, der Gutsbesitzer von dem Franzosen einen Brief erhielt, in welchem dieser die Einladung hochmütig ablehnte und, allerdings nur in andeutenden Redewendungen, hinzufügte, er werde künftig außerordentlich vorsichtig sein in der Anknüpfung von Beziehungen zu Herren, die sich ein eigenes Orchester hielten; es sei ein unästhetischer Anblick, ein wahres Talent unter der Leitung eines Mannes zu sehen, der es nicht zu schätzen verstehe; das Beispiel Jesimows, eines echten Künstlers und des besten Geigers, den er überhaupt in Rußland jemals getroffen habe, diene als hinreichender Beweis für die Richtigkeit des Gesagten.

Als der Gutsbesitzer diesen Brief gelesen hatte, war er im höchsten Grade darüber erstaunt. Er war in tiefster Seele beleidigt. Wie? Jesimow, dieser selbe Jesimow, für den er so freundlich gesorgt, dem er so viele Wohltaten erwiesen hatte, dieser Jesimow verleumdete ihn in einer so schonungslosen, gewissenlosen Weise bei einem ausländischen Künstler, einem Manne, auf dessen gute Meinung er den höchsten Wert legte! Und ferner war der Brief auch noch in einer andern Beziehung unverständlich: es hieß darin, Jesimow sei ein Künstler mit wirklichem Talente; er sei ein Geiger; aber man habe nicht verstanden, sein Talent zu erkennen, und ihn gezwungen, ein anderes Instrument zu spielen. Alles dies versetzte den Gutsbesitzer in solches Erstaunen, daß er sich sofort anschickte, zum Zwecke einer persönlichen Aussprache mit dem Franzosen nach der Stadt zu fahren, als er plötzlich ein Briefchen von dem Grafen erhielt, in welchem dieser ihn einlud, schleunigst zu ihm zu kommen, und ihm mitteilte, er kenne die ganze Angelegenheit; der fremde Virtuose sei jetzt bei ihm und mit diesem zusammen auch Jesimow; er habe den letzteren, erstaunt über seine Dreistigkeit und Verleumdung, festhalten lassen; die Anwesenheit des Gutsbesitzers sei auch schon deswegen erforderlich, weil Jesimows Beschuldigung sogar ihn, den Grafen, selbst betreffe; die Sache sei sehr wichtig und müsse möglichst bald aufgehellt werden.

Der Gutsbesitzer eilte unverzüglich zum Grafen hin, machte sogleich die Bekanntschaft des Franzosen und setzte diesem die ganze Geschichte meines Stiefvaters auseinander; er fügte hinzu, er habe keine Ahnung davon gehabt, daß Jesimow ein so gewaltiges Talent sei; Jesimow sei bei ihm im Gegenteile ein sehr schlechter Klarinettist gewesen, und er höre jetzt zum ersten Male, daß der Musiker, der ihn verlassen habe, ein Geiger sei. Des weiteren bemerkte er noch, Jesimow sei ein freier Mensch, der tun und lassen könne, was er wolle, und hätte ihn immer, zu jeder Zeit, verlassen können, wenn er sich wirklich bedrückt gefühlt hätte. Der Franzose war verwundert. Jesimow wurde gerufen und war jetzt kaum wiederzuerkennen: er benahm sich hochmütig, gab spöttische Antworten und verblieb hartnäckig dabei, daß alles, was er dem Franzosen gesagt habe, wahr sei. Dies alles brachte den Grafen aufs äußerste auf, und er sagte meinem Stiefvater geradezu, er sei ein Taugenichts, ein Verleumder und verdiene die schmählichste Bestrafung.

»Regen Sie sich nicht auf, Erlaucht; ich kenne Sie zur Genüge,« antwortete mein Stiefvater. »Ihnen habe ich es zu verdanken, daß ich vors Kriminalgericht kam und nur mit Mühe der Bestrafung entging. Ich weiß, auf wessen Anstiften Alexei Nikiforowitsch, Ihr ehemaliger Musiker, die Anzeige gegen mich erstattet hat.«

Der Graf war außer sich vor Zorn, als er eine so entsetzliche Beschuldigung hörte. Er konnte sich kaum beherrschen; aber ein zufällig im Saale anwesender höherer Beamter, der in einer geschäftlichen Angelegenheit zum Grafen gekommen war, erklärte, er könne das nicht so hingehen lassen; Jesimows beleidigende Grobheit schließe eine böswillige, falsche Beschuldigung und Verleumdung ein, und er bitte ergebenst um die Erlaubnis, ihn sofort im Hause des Grafen arretieren zu dürfen. Der Franzose drückte seine starke Entrüstung aus und sagte, ein so schwarzer Undank sei ihm unbegreiflich. Da antwortete mein Stiefvater in ausbrechendem Jähzorn, er ziehe sogar eine neue kriminelle Untersuchung und Gericht und Bestrafung jenem Leben vor, das er bis dahin als Mitglied des gutsherrlichen Orchesters habe ertragen müssen, weil er bei seiner völligen Armut nicht die Mittel gehabt habe, diese Stellung zu verlassen. Mit diesen Worten ging er aus dem Saale, geführt von den Leuten, die ihn festgenommen hatten. Man schloß ihn in ein abgelegenes Zimmer des Hauses ein und kündigte ihm an, daß er gleich am nächsten Tage nach der Stadt gebracht werden solle.

Um Mitternacht öffnete sich die Tür zu dem Zimmer des Arrestanten. Der Gutsbesitzer trat ein. Er war in Schlafrock und Pantoffeln und hielt eine brennende Laterne in der Hand. Es schien, daß er nicht hatte schlafen können und eine quälende Sorge ihn veranlaßt hatte, um diese Stunde das Bett zu verlassen. Jesimow schlief nicht und blickte den Eintretenden erstaunt an. Dieser stellte die Laterne hin und setzte sich in der größten Aufregung ihm gegenüber auf einen Stuhl.

»Jegor,« sagte er zu ihm,«warum hast du mich so gekränkt?«

Jesimow antwortete nicht. Der Gutsbesitzer wiederholte seine Frage, und eine tiefe Empfindung, ein seltsamer Kummer waren aus seinen Worten herauszuhören.

»Gott weiß, warum ich Sie so gekränkt habe, gnädiger Herr!« antwortete mein Stiefvater endlich mit einer verzweifelten Handbewegung. »Der Böse selbst muß mich verlockt haben! Ich weiß selbst nicht, wer mich zu all solchen Dingen treibt! Ich konnte nicht mehr bei Ihnen bleiben; es war mir ganz unmöglich … Der Teufel selbst muß mich umstrickt haben!«

»Jegor!« begann der Gutsbesitzer von neuem; »kehre zu mir zurück; ich will alles vergessen, will dir alles verzeihen. Höre: du sollst der oberste meiner Musiker sein, und ich will dir ein weit besseres Gehalt zahlen als den andern …«

»Nein, gnädiger Herr, nein; sagen Sie nichts weiter; ich kann nicht bei Ihnen bleiben! Ich sage Ihnen: der Teufel muß mich umstrickt haben. Ich werde Ihnen das Haus anzünden, wenn ich bei Ihnen bleibe; es überkommt mich manchmal ein solcher Gram, daß ich am liebsten gar nicht geboren sein möchte! Ich kann jetzt nicht für mich selbst einstehen; lassen Sie mich schon gehen, gnädiger Herr! Das ist alles seit der Zeit, wo dieser Teufel mein Freund wurde …«

»Wer?« fragte der Gutsbesitzer.

»Na, der Mensch, der wie ein Hund krepierte, von dem niemand mehr etwas wissen wollte, der Italiener.«

»Er ist es wohl gewesen, Jegor, der dich Geige spielen gelehrt hat?«

»Ja! Er hat mich vieles zu meinem Verderben gelehrt. Es wäre das beste gewesen, wenn ich ihn nie gesehen hätte.«

»Er war wohl selbst ein Meister auf der Geige, lieber Jegor?«

»Nein, er selbst leistete nicht viel; aber er unterrichtete gut. Ich habe mich selbst gebildet; er gab mir nur die Anweisung. Wäre mir doch lieber die Hand verdorrt, als daß ich das gelernt hätte! Ich weiß jetzt selbst nicht, was ich will. Wenn Sie mich fragen, gnädiger Herr: ›Jegor,was willst du? Ich kann dir alles geben,‹ dann kann ich Ihnen, gnädiger Herr, kein Wort darauf antworten, weil ich selbst nicht weiß, was ich will. Nein, ich sage noch einmal: lassen Sie mich lieber von Ihnen weggehen, gnädiger Herr! Ich richte sonst noch so etwas an, wofür man mich irgendwohin weit weg schickt; das wird das Ende vom Liede sein!«

»Jegor!« sagte der Gutsbesitzer, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, »ich lasse dich so nicht weg. Wenn du nicht weiter bei mir angestellt sein willst, so geh; du bist ein freier Mann; ich kann dich nicht halten; aber ich werde jetzt nicht so ohne weiteres von dir gehen. Spiele mir etwas auf deiner Geige vor, Jegor; spiele mir etwas vor! Ich bitte dich inständig: spiele mir etwas vor! Ich befehle es dir nicht, versteh mich recht; ich nötige dich nicht; ich bitte dich mit Tränen: spiele mir das vor, lieber Jegor, was du dem Franzosen vorgespielt hast! Mach meinem Herzen diese Freude! Du bist hartnäckig, und ich bin auch hartnäckig; auch ich habe meinen Eigensinn, lieber Jegor! Ich kann dir nachfühlen; versetze auch du dich in meine Empfindungen! Ich mag nicht am Leben bleiben, wenn du mir nicht aus freiem Willen und gern das vorspielst, was du dem Franzosen vorgespielt hast.«

»Nun, so sei es denn!« erwiderte Jesimow. »Ich habe mir allerdings zugeschworen, gnädiger Herr, nie vor Ihnen zu spielen, gerade vor Ihnen nicht; aber jetzt ist mein Herz umgestimmt. Ich werde es Ihnen vorspielen, aber nur zum ersten- und letztenmal, und weiterhin, gnädiger Herr, werden Sie mich nie und nirgends mehr spielen hören, und wenn Sie mir tausend Rubel böten.«

Dann griff er nach seiner Geige und begann eigene Variationen russischer Volkslieder zu spielen. B*** hat mir gesagt, diese Variationen seien sein erstes und sein bestes Stück auf der Geige gewesen, und er habe nachher nie etwas anderes so gut und mit so tiefer Empfindung gespielt. Der Gutsbesitzer, der ohnehin, wenn er Musik hörte, leicht gerührt wurde, zerfloß in Tränen. Als das Spiel zu Ende war, erhob er sich von seinem Stuhle, zog dreihundert Rubel aus seiner Brieftasche, reichte sie meinem Stiefvater und sagte:

»Jetzt geh weg, Jegor! Ich werde dich hinauslassen und selbst alles mit dem Grafen in Ordnung bringen. Aber höre: sorge dafür, daß du mir nicht wieder begegnest! Die ganze Welt steht dir offen; aber wenn du wieder mit mir zusammentriffst, so wird das sowohl für mich als auch für dich peinlich sein. Nun leb wohl! … Warte noch einen Augenblick; ich will dir noch einen Rat mit auf den Weg geben, nur einen: trinke nicht und bilde dich weiter, bilde dich immer weiter; werde nicht hochmütig! Ich rede zu dir, wie wenn dein leiblicher Vater mit dir spräche. Merk wohl auf, ich wiederhole es noch einmal: bilde dich weiter, und bleib dem Schnapsglase fern; wenn du dich einmal vor Kummer betrinkst (und Kummer wirst du viel haben!), dann ist alles verloren, dann geht alles zum Teufel, und du krepierst vielleicht selbst irgendwo in einem Graben wie dein Italiener. Nun, jetzt lebe wohl! … Halt, küsse mich!«

Sie küßten sich, und darauf ging mein Stiefvater hinaus und war frei.

Kaum befand er sich in Freiheit, als er sogleich damit begann, in der nächsten Kreisstadt seine dreihundert Rubel zu verprassen, indem er gleichzeitig mit einer ganz unwürdigen, unsauberen Gesellschaft von Lotterbuben Freundschaft schloß; die Sache endete damit, daß er in völliger Armut ohne jede Hilfe allein blieb und sich genötigt sah, in das klägliche Orchester eines wandernden Provinzialtheaters als erster und wohl einziger Geiger einzutreten. All das stimmte ganz und gar nicht zu seiner ursprünglichen Absicht, möglichst bald nach Petersburg zu gehen, um dort weiter zu lernen, sich eine gute Stelle zu verschaffen und sich zu einem wirklichen Künstler auszubilden. Aber die Tätigkeit an dem kleinen Orchester konnte ihm nicht zusagen; mein Stiefvater zankte sich bald mit dem Direktor der Wandertruppe und sagte sich von ihm los. Da verlor er vollständig den Mut und entschloß sich sogar zu einem verzweifelten Mittel, das seinen Stolz tief verwundete. Er schrieb einen Brief an den ihm bekannten Gutsbesitzer, stellte ihm seine Lage vor und bat um Geld. Der Brief war in ziemlich selbstbewußtem Tone geschrieben; es erfolgte aber auf ihn keine Antwort. Da schrieb er einen zweiten Brief, in welchem er in den demütigsten Ausdrücken den Gutsbesitzer seinen Wohltäter nannte, ihn als einen wahren Kenner der Kunst bezeichnete und ihn wieder um eine Unterstützung bat. Endlich kam eine Antwort. Der Gutsbesitzer schickte ihm hundert Rubel und einige von der Hand seines Kammerdieners geschriebene Zeilen, in denen er ihn ersuchte, ihn künftig mit allen Bittgesuchen zu verschonen. Als mein Stiefvater dieses Geld erhalten hatte, wollte er sich sogleich nach Petersburg begeben; aber nach Bezahlung seiner Schulden behielt er nur noch so wenig Geld übrig, daß an eine solche Reise gar nicht zu denken war. Er blieb weiter in der Provinz, trat wieder in ein Provinzialorchester ein, konnte sich da wieder nicht einleben, ging auf diese Weise aus einer Stelle in die andere, mit der ihm stets vorschwebenden Idee, auf irgendeine Weise in Bälde nach Petersburg zu kommen, und verlebte so in der Provinz ganze sechs Jahre. Schließlich bekam er es mit der Angst. Zu seiner Verzweiflung bemerkte er, wie sehr sein Talent unter der fortwährenden Einwirkung des unordentlichen, bettelhaften Lebens zurückgegangen war, und eines Morgens ließ er seinen Direktor sitzen, nahm seine Geige und ging, beinahe sich durchbettelnd, nach Petersburg. Er mietete sich irgendwo in einer Dachkammer ein, und hier war es, wo er zum ersten Male mit B*** zusammentraf, der soeben aus Deutschland gekommen war und ebenfalls den Plan hegte, sich eine Laufbahn zu schaffen. Sie wurden bald Freunde, und B*** gedenkt noch jetzt dieser Bekanntschaft mit tiefer Empfindung. Beide waren jung, beide von gleichen Hoffnungen erfüllt, beide strebten nach ein und demselben Ziele. Aber B*** stand noch in der ersten Jugend; er hatte noch wenig Armut und Kummer zu ertragen gehabt; und überdies war er vor allen Dingen ein Deutscher und trachtete nach seinem Ziele hartnäckig, methodisch, im vollständigen Bewußtsein seiner Kräfte; ja, er rechnete beinah im voraus aus, was aus ihm einmal werden würde. Sein Kamerad dagegen war schon dreißig Jahre alt, war müde und matt geworden, hatte alle Geduld verloren und seine erste, gesunde Spannkraft eingebüßt, da er sich genötigt gesehen hatte, sechs Jahre lang um des täglichen Brotes willen ein Wanderleben an Provinzialtheatern und gutsherrlichen Orchestern zu führen. Was ihn aufrecht erhalten hatte, war einzig und allein die stete, unwandelbare Idee gewesen, sich endlich aus dieser unwürdigen Lage herauszuarbeiten, Geld zusammenzusparen und nach Petersburg zu gelangen. Aber diese Idee war unklar und verschwommen gewesen, eine Art von unwiderstehlichem inneren Drange, der schließlich mit den Jahren seine erste Klarheit in Jesimows eigenen Augen verloren hatte; und daß er nun endlich wirklich nach Petersburg gekommen war, war eine beinah unbewußte Handlung gewesen, beruhend auf der steten alten Gewohnheit, diese Reise zu ersehnen und zu überdenken, und er wußte selbst kaum, was er nun eigentlich in der Residenz tun solle. Sein Enthusiasmus hatte etwas Krampfhaftes, Galliges, Stoßweises, als wenn er sich selbst mittels dieses Enthusiasmus täuschen und sich einreden wollte, daß seine erste Kraft, seine erste Glut, seine erste Begeisterung noch nicht erloschen seien. Dieser stete Zustand der Verzückung imponierte dem kühlen, methodischen B*** zunächst; er ließ sich dadurch blenden und sah in meinem Stiefvater ein großes künftiges musikalisches Genie. Anders konnte er sich das künftige Schicksal seines Freundes gar nicht vorstellen. Aber bald gingen ihm die Augen auf, und er erkannte das wahre Wesen des andern. Er sah klar, daß dieser ganze ruckweise Eifer, diese Fieberhitze und Ungeduld nichts anderes waren als unbewußte Verzweiflung bei der Erinnerung an ein zugrunde gegangenes Talent; daß auch dieses Talent selbst vielleicht schon gleich am Anfang überhaupt nicht so groß gewesen war; daß dabei viel Verblendung mit im Spiel war, viel unbegründetes Selbstvertrauen und stetes Phantasieren von der eigenen Genialität. »Aber«, erzählte B***, »ich konnte nicht umhin, die seltsame Natur meines Freundes zu bewundern. Vor meinen Augen vollzog sich offen das verzweifelte, fieberhafte Ringen eines krampfhaft angespannten Willens mit der innerlichen Ohnmacht. Der Unglückliche hatte ganze sechs Jahre lang seine Befriedigung lediglich in Träumereien von seinem künftigen Ruhme gesucht und infolgedessen gar nicht bemerkt, wie ihm die Elemente unserer Kunst abhanden kamen, wie ihm sogar die gewöhnliche technische Gewandtheit verloren ging. Aber dabei schossen in seiner ungeordneten Phantasie fortwährend die grandiosesten Pläne für die Zukunft auf. Nicht genug, daß er ein erstklassiges Genie sein wollte, einer der ersten Geiger der Welt; nicht genug, daß er sich schon für ein solches Genie hielt: er dachte sogar daran, Komponist zu werden, obwohl er vom Kontrapunkt absolut nichts verstand. Aber am meisten versetzte es mich in Erstaunen,« fuhr B*** fort, »daß dieser Mensch trotz seiner vollständigen Kraftlosigkeit, trotz seiner ganz unzulänglichen Kenntnisse der Technik doch ein so tiefes, so klares und man kann sagen so instinktives Verständnis für die Kunst besaß. Er hatte für sie innerlich ein so starkes Gefühl und Verständnis, daß es nicht zu verwundern ist, wenn er sich in der Beurteilung seiner eigenen Person irrte und sich statt für einen Kunstkritiker von tiefem, instinktivem Gefühl vielmehr für einen Priester der Kunst, für ein Genie hielt. Manchmal gelang es ihm, mir in seiner ungebildeten, einfachen, von aller Wissenschaftlichkeit weit entfernten Sprache so tiefe Wahrheiten zu sagen, daß ich ganz starr war und nicht begreifen konnte, auf welche Weise er das alles erraten hatte, obgleich er nie etwas las, nie etwas studierte. Ich verdanke«, fügte B*** hinzu, »ihm und seinen Ratschlägen viel Beihilfe bei meiner eigenen Vervollkommnung. Was mich selbst anlangt,« fuhr B*** fort, »so war ich inbetreff meiner ganz ruhig. Auch ich liebte meine Kunst leidenschaftlich, wiewohl ich gleich beim Anfang meiner Laufbahn wußte, daß aus mir nichts Großes werden würde, daß ich im wahren Sinne des Wortes ein geringer Diener der Kunst sein würde; aber andrerseits bin ich stolz darauf, daß ich das Pfund, das mir die Natur gegeben hat, nicht wie ein fauler Knecht vergraben, sondern hundertfältig vermehrt habe, und wenn man die Sauberkeit meines Spieles lobt und meine sorgsam ausgearbeitete Technik bewundert, so verdanke ich das alles meiner ununterbrochenen, unermüdlichen Arbeit, der klaren Erkenntnis meiner Kräfte, der freiwilligen Selbstbescheidung und dem steten Kampfe mit dem Eigendünkel, der verfrühten Selbstgefälligkeit und der Trägheit, die die natürliche Folge dieser Selbstgefälligkeit ist.«

B*** versuchte nun, seinem Kameraden, dem er sich ganz am Anfange so willig untergeordnet hatte, seinerseits Ratschläge zu geben, brachte ihn aber dadurch nur auf, ohne etwas zu erreichen. Es trat eine Abkühlung ihres gegenseitigen Verhältnisses ein. Bald bemerkte B***, daß sein Kamerad immer häufiger von Apathie, Mißmut und Verdrossenheit befallen wurde, daß die Perioden des Enthusiasmus immer seltener wurden, und daß auf all dies eine finstere, scheue Niedergeschlagenheit folgte. Schließlich begann Jesimow, seine Geige zu vernachlässigen, und rührte sie manchmal wochenlang nicht an. Nun war es bis zum völligen Zusammenbruch nicht mehr weit, und bald versank der Unglückliche in alle möglichen Laster. Wovor ihn der Gutsbesitzer gewarnt hatte, das trat nun doch ein: er ergab sich in maßloser Weise dem Branntwein. B*** sah das mit Schrecken; seine Ratschläge blieben wirkungslos; zudem fürchtete er sich schon, ihm Vorhaltungen zu machen. Allmählich verlor Jesimow alles Anstandsgefühl: er schämte sich nicht, auf B***s Kosten zu leben, und benahm sich sogar so, als ob er darauf ein volles Recht hätte. Inzwischen begannen die Mittel zum Lebensunterhalte zu versiegen; B*** schlug sich nur notdürftig durch, indem er Unterrichtsstunden gab oder für Geld auf Abendgesellschaften bei Kaufleuten, Deutschen und armen Beamten spielte, die dafür allerdings nur wenig, aber doch etwas bezahlten. Jesimow schien die Not seines Kameraden nicht bemerken zu wollen: er verkehrte mit ihm in mürrischer Manier und würdigte ihn ganze Wochen lang keines Wortes. Einmal sagte B*** in mildester Form zu ihm, es würde doch gut sein, wenn er seine Geige nicht allzusehr vernachlässigte, um sein Instrument nicht ganz zu verlernen; da geriet Jesimow in heftigen Zorn und erklärte, nun werde er absichtlich seine Geige gar nicht mehr anrühren; er schien zu denken, es würde ihn jemand fußfällig darum bitten. Ein andermal brauchte B*** für sein Spiel auf einer Abendgesellschaft einen Partner und forderte Jesimow dazu auf. Diese Aufforderung hatte bei Jesimow einen Ausbruch des Jähzorns zur Folge. Er erklärte wütend, er sei kein Straßenmusikant und werde nie so gemein sein wie B*** und die edle Kunst dadurch herabwürdigen, daß er vor gemeinen Handwerkern spiele, die von seinem Spiele und von seinem Talente nichts verständen. B*** entgegnete auf diese Worte nichts; aber als er weggegangen war, um zu spielen, dachte in seiner Abwesenheit Jesimow über die Aufforderung nach und kam zu der Vorstellung, dies sei alles nur eine versteckte Hindeutung darauf, daß er auf B***s Kosten lebe, und sein Kamerad wolle ihm zu verstehen geben, er solle doch ebenfalls versuchen, Geld zu verdienen. Als B*** zurückkehrte, machte ihm Jesimow auf einmal Vorwürfe wegen seines gemeinen Benehmens und erklärte, er werde keinen Augenblick mehr mit ihm zusammen bleiben. Wirklich verschwand er für zwei Tage, ohne daß man gewußt hätte, wo er geblieben war; aber am dritten Tage erschien er wieder, als wenn nichts gewesen wäre, und setzte von neuem sein früheres Leben fort.

Nur die bisherige Gewohnheit und Freundschaft und dazu noch das Mitleid, das B*** mit dem zugrunde gegangenen Menschen empfand, hielten ihn lange davon ab, dieser sinnlosen Lebensweise ein Ende zu machen und sich für immer von seinem Kameraden zu trennen. Endlich aber mußte dies doch geschehen. Dem strebsamen B*** lächelte das Glück: es gelang ihm, sich eine gute Protektion zu erwerben und ein glänzendes Konzert zu geben. Zu dieser Zeit war er bereits ein ausgezeichneter Künstler, und seine schnell wachsende Berühmtheit verschaffte ihm bald eine Stelle im Orchester der Oper, wo er dann in kurzer Zeit zu wohlverdientem Erfolge gelangte. Beim Abschiede gab er seinem bisherigen Kameraden Geld und bat ihn unter Tränen, auf den rechten Weg zurückzukehren. B*** kann auch jetzt an ihn nicht ohne ein Gefühl der Rührung zurückdenken. Die Bekanntschaft mit Jesimow bildete einen der tiefsten Eindrücke aus seiner Jugendzeit. Sie hatten ihre Laufbahn zusammen begonnen, sich mit warmer Empfindung aneinander angeschlossen, und sogar Jesimows sonderbares Wesen und seine groben, schroff hervortretenden Mängel trugen dazu bei, B*** noch fester an ihn zu knüpfen. B*** verstand ihn, durchschaute ihn vollkommen und sah voraus, wie das alles enden werde. Beim Abschiede umarmten sie einander und weinten beide. Unter Tränen und Schluchzen sagte Jesimow, er sei ein verlorener, unglücklicher Mensch; das wisse er schon lange, aber erst jetzt sehe er sein Verderben in voller Klarheit voraus.

»Ich habe kein Talent!« schloß er. Er war totenblaß geworden.

B*** war heftig ergriffen.

»Höre, Jegor Petrowitsch,« sagte er zu ihm, »was redest du da zusammen? Du gehst nur durch deine Verzweiflung zugrunde; du hast keine Ausdauer, keine Mannhaftigkeit. Jetzt sagst du in einem Anfall von Mutlosigkeit, du habest kein Talent. Das ist nicht wahr! Du hast Talent; das versichere ich dir. Du hast welches. Ich sehe das schon allein an dem feinen Gefühl und Verständnis, das du für die Kunst besitzt. Ich will dir das auch aus deinem ganzen Leben beweisen. Du selbst hast mir von deinem früheren Leben erzählt. Auch damals hat dich unbewußt dieselbe Verzweiflung umgarnt. Damals hat dein erster Lehrer, dieser seltsame Mensch, von dem du mir so viel erzählt hast, zuerst die Liebe zur Kunst in dir erweckt und dein Talent erkannt. Du hast das damals ebenso stark und tief empfunden, wie du es jetzt empfindest. Aber du wußtest selbst nicht, was in dir vorging. Das Leben in dem Hause des Gutsbesitzers war dir zuwider; aber du wußtest selbst nicht, was du eigentlich wolltest. Dein Lehrer starb für dich zu früh. Er ließ dich nur mit einem unklaren Streben zurück, und, was die Hauptsache ist, er hatte dir nicht zur Selbsterkenntnis verholfen. Du fühltest, daß du einen anderen, breiteren Weg einschlagen mußtest, daß dir andere Ziele vom Schicksal gesteckt waren; aber du wußtest nicht, wie man das angreifen muß, und in deiner Mißstimmung warfst du einen Haß auf alles, was dich damals umgab. Deine sechs Jahre der Dürftigkeit und Armut sind nicht ohne gute Frucht geblieben: du hast zugelernt, du hast nachgedacht, du hast dich selbst und deine Kraft erkannt, du verstehst jetzt die Kunst und deine eigene Bestimmung. Lieber Freund, Ausdauer und Mannhaftigkeit sind einem jeden vonnöten. Dich erwartet ein beneidenswerteres Los als mich: du bist hundertmal mehr ein Künstler als ich; aber möge dir Gott auch nur den zehnten Teil meiner Ausdauer verleihen! Bilde dich weiter und trinke nicht, wie dir das dein braver Gutsbesitzer gesagt hat, und, was die Hauptsache ist, fange noch einmal ganz von vorn an, vom Abc der Kunst! Was quält dich denn? Dürftigkeit und Armut? Aber Dürftigkeit und Armut bilden den Künstler. Sie sind vom Anfang der Laufbahn unzertrennlich. Bis jetzt sucht dich noch niemand auf; niemand will von dir auch nur etwas wissen; so geht es eben in der Welt zu. Aber warte kurz es wird noch ganz anders kommen, wenn man erkennen wird, was in dir für eine Begabung steckt. Der Neid und die kleinliche Gemeinheit der Rivalen und ganz besonders die Dummheit der großen Menge werden mit schwererem Drucke auf dir lasten als die Armut. Ein Talent bedarf freundlicher Teilnahme; es möchte Verständnis finden; aber du wirst sehen, wes Geistes Kinder die Leute um dich herum sind, wenn du deinem Ziele auch nur ein wenig näher kommst. Was du dir an künstlerischen Leistungen mit schwerer Arbeit, unter Entbehrungen und Hunger, in schlaflosen Nächten erarbeitet hast, das werden sie für nichts ansehen und geringschätzig behandeln. Sie werden dich nicht ermutigen und trösten, deine künftigen Kameraden; sie werden dich nicht auf das hinweisen, was an dir Gutes und Echtes ist, sondern schadenfroh jeden Fehler, den du an dir hast, hervorheben und dich besonders auf das hinweisen, was an dir schlecht ist, auf das, worin du irrst, und werden unter der Maske der Gleichgültigkeit und Geringschätzung über jeden deiner Fehler (und wer ist frei von Fehlern?) frohlocken. Du aber bist hochmütig; du bist oft zur Unzeit stolz; und da kann es leicht kommen, daß du so einen eingebildeten, wertlosen Patron beleidigst, und dann ist das Unglück da. Denn du wirst allein dastehen, während ihrer viele sind; sie werden dich mit ihren Nadelstichen martern. Selbst ich fange schon an, das an mir zu erfahren. Aber fasse jetzt Mut! Du bist noch durchaus nicht arm; du kannst dir deinen Lebensunterhalt erwerben; verachte nur nicht die unfeine Arbeit; hacke Holz, wie ich es in den Abendgesellschaften bei armen Handwerksleuten getan habe! Aber du bist ungeduldig, in geradezu krankhafter Weise; du magst nicht einfach und natürlich verfahren; du klügelst zu viel, überlegst zu viel, gibst deinem Kopfe zu viel Arbeit; du bist dreist mit Worten; aber wenn du den Violinbogen in die Hand nehmen sollst, wirst du feige. Du bist ehrgeizig und besitzt dabei doch wenig Tapferkeit. Sei nur tapfer, warte mit Geduld, lerne weiter, und wenn du deinen Kräften nicht vertrauen willst, so geh auf gut Glück vorwärts: in dir steckt ja Feuer und Gefühl! Vielleicht wirst du zum Ziele gelangen; und wenn dir das nicht gleich gelingt, so versuche es auf dieselbe Weise noch einmal; verlieren kannst du dabei in keinem Falle etwas, der Gewinn aber ist sehr groß. Dieses ›Auf gut Glück‹, Bruder, ist wirklich eine schöne Sache!«

Jesimow hörte mit tiefer Empfindung an, was sein bisheriger Kamerad sagte. Aber je länger dieser redete, um so mehr wich die Blässe von den Wangen des Zuhörers; sie bekamen wieder eine lebendige rote Farbe; seine Augen blitzten kühn und hoffnungsvoll in ungewöhnlichem Feuer. Bald ging diese edle Kühnheit in Selbstbewußtsein über, dann in seine gewöhnliche Dreistigkeit, und schließlich, als B*** mit seiner Ermahnung nahezu am Ende war, hörte Jesimow nur noch zerstreut und ungeduldig zu. Indessen drückte er ihm warm die Hand, dankte ihm, und wie er denn überhaupt oft schnell von tiefster Selbstverachtung und Niedergeschlagenheit zu größter Dünkelhaftigkeit und Dreistigkeit überging, erwiderte er hochmütig, sein Freund möge sich um ihn keine Sorge machen; er wisse schon, wie er sich sein Leben zimmern solle; er hoffe ebenfalls bald eine gute Protektion zu erlangen, ein Konzert zu geben und dann gleichzeitig Ruhm und Geld zu erwerben. B*** zuckte die Achseln, widersprach aber seinem bisherigen Kameraden nicht, und sie trennten sich, wiewohl natürlich nicht auf lange. Jesimow vergeudete das ihm geschenkte Geld baldigst und kam wieder, um sich zum zweitenmal welches geben zu lassen, und dann zum vierten-, zum zehntenmal; endlich verlor B*** die Geduld und ließ sich verleugnen. Von da an verlor er ihn vollständig aus dem Gesichte.

Es waren einige Jahre vergangen. Als B*** einmal von einer Probe nach Hause ging, stieß er in einer Seitenstraße am Eingange einer schmutzigen Kneipe mit einem schlechtgekleideten, betrunkenen Menschen zusammen, der ihn bei seinem Namen rief. Es war Jesimow. Er hatte sich sehr verändert; sein Gesicht sah gelblich und aufgedunsen aus; es war deutlich, daß das liederliche Leben ihm seinen unauslöschbaren Stempel aufgeprägt hatte. B*** freute sich außerordentlich und folgte ihm, ehe sie noch zwei Worte miteinander gesprochen hatten, in das Lokal, wo ihn der andere hineinzog. Dort, in einem kleinen, separaten, verräucherten Zimmer, betrachtete er seinen Kameraden näher. Die Kleider desselben waren fast Lumpen, seine Stiefel zerrissen, das zerknitterte Vorhemd ganz mit Branntwein begossen. Sein Kopfhaar fing schon an zu ergrauen und dünner zu werden.

»Wie geht es dir? Wo wohnst du jetzt?« fragte B***

Jesimow wurde verlegen und benahm sich sogar am Anfang ganz blöde; er gab unzusammenhängende, abgebrochene Antworten, so daß B*** einen Irrsinnigen vor sich zu haben glaubte. Endlich gestand Jesimow, daß er nicht reden könne, wenn er nicht Branntwein zu trinken bekomme, und daß er in diesem Lokal schon lange keinen Kredit mehr habe. Als er das sagte, errötete er, wiewohl er den Versuch machte, sich selbst durch eine forsche Gebärde zu ermutigen; aber dies kam frech, gekünstelt und zudringlich heraus, so daß alles einen sehr kläglichen Eindruck machte und das aufrichtige Mitleid des gutherzigen B*** erweckte, welcher sah, daß seine Befürchtung sich vollständig bewahrheitet hatte. Indes ließ er Branntwein bringen. Jesimows Gesicht strahlte von Dankbarkeit, und er vergaß sich so weit, daß er seinem Wohltäter mit Tränen in den Augen die Hände küssen wollte. Beim Mittagessen erfuhr B*** zu seiner höchsten Verwunderung, daß der Unglückliche verheiratet sei. Aber noch mehr erstaunte er, als er vernahm, daß seine Frau die ganze Ursache seines Unglücks und seines Kummers sei, und daß die Heirat seinem Talente vollends den Garaus gemacht habe.

»Wie ist das zugegangen?« fragte B***

»Schon seit zwei Jahren, lieber Freund, habe ich die Geige nicht in die Hand genommen,« antwortete Jesimow. »Meine Frau ist eine Köchin, ein ungebildetes, grobes Weib. Hol sie dieser und jener! Wir tun weiter nichts als uns herumzanken.«

»Aber warum hast du sie denn dann geheiratet?«

»Ich hatte nichts zu essen. Ich war mit ihr bekannt geworden; sie besaß ungefähr tausend Rubel: da heiratete ich sie aufs Geratewohl. Sie ihrerseits hatte sich in mich verliebt und warf sich mir geradezu an den Hals; der Teufel mag es ihr eingegeben haben! Das Geld ist teils für den Lebensunterhalt draufgegangen, teils vertrunken, lieber Freund; und wo ist nun mein Talent geblieben? Alles ist zugrunde gegangen!«

B*** merkte, daß Jesimow gewissermaßen sich vor ihm zu rechtfertigen suchte.

»Ich habe die ganze Sache aufgegeben, völlig aufgegeben,« fügte er hinzu. Dann setzte er ihm auseinander, er habe es in der letzten Zeit fast zu wirklicher Vollkommenheit auf der Geige gebracht; B*** sei ja zwar einer der ersten Geiger der Hauptstadt, reiche ihm aber nicht das Wasser.

»Woran liegt es denn also?« fragte B*** verwundert. »Du solltest dir eine Stelle suchen.«

»Das ist nicht der Mühe wert!« erwiderte Jesimow mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wer von euch versteht auch nur das Geringste davon? Was versteht ihr? Einen Quark versteht ihr, gar nichts versteht ihr! Eine Tanzmelodie beim Ballett spielen, weiter könnt ihr nichts! Gute Geiger habt ihr nie gesehen und gehört. Wozu soll man sich mit euch abgeben? Bleibt, wie ihr sein wollt!«

Hier machte Jesimow wieder eine geringschätzige Geste und schwankte mit dem Oberkörper auf seinem Stuhle hin und her, da er schon tüchtig betrunken war. Dann lud er B*** ein, mit ihm nach seiner Wohnung zu kommen; aber dieser lehnte es ab, ließ sich seine Adresse geben und versprach, ihn gleich am nächsten Tage zu besuchen. Jesimow, der jetzt gesättigt war, blickte seinen früheren Kameraden spöttisch an und suchte ihn durch allerlei Stichelreden zu ärgern. Als sie weggingen, ergriff er B***s schönen Pelz und hielt ihn ihm hin wie ein Niedrigstehender einem Hochgestellten. Als sie durch das erste Zimmer kamen, blieb er stehen und stellte B*** den Wirtsleuten und dem Publikum als den ersten und einzigen Geiger in der ganzen Residenz vor. Kurz, er benahm sich damals sehr widerwärtig.

B*** indessen suchte ihn am andern Morgen in der Dachstube auf, wo wir alle zu jener Zeit in der äußersten Armut lebten, alle in einem Raume. Ich war damals vier Jahre alt, und es war schon zwei Jahre her, daß meine Mutter Jesimow geheiratet hatte. Sie war eine unglückliche Frau. Früher war sie Gouvernante gewesen; sie besaß eine schöne Bildung und ein hübsches Äußeres und heiratete aus Armut einen bejahrten Beamten, meinen Vater. Sie lebte nur ein Jahr lang mit ihm zusammen. Als mein Vater plötzlich gestorben und die kümmerliche Erbschaft unter seine Erben verteilt worden war, blieb meine Mutter mit mir allein zurück, mit einer unbedeutenden Summe Geldes, die auf ihren Teil gefallen war. Wieder Gouvernante zu werden, jetzt, wo sie ein kleines Kind auf dem Arme hatte, war schwer. In dieser Zeit traf sie zufällig mit Jesimow zusammen und verliebte sich wirklich in ihn. Sie war eine Enthusiastin, eine Schwärmerin; sie sah in Jesimow ein Genie und schenkte seinem hochmütigen Gerede von einer glänzenden Zukunft Glauben; es schmeichelte ihrer Phantasie, sich ihr herrliches Los als Stütze und Gefährtin eines genialen Mannes vorzustellen, und sie heiratete ihn. Gleich im ersten Monat schwanden alle ihre Träumereien und Hoffnungen dahin, und die elende Wirklichkeit lag vor ihren Augen. Jesimow, der meine Mutter vielleicht tatsächlich nur deshalb geheiratet hatte, weil sie etwa tausend Rubel besaß, legte, sobald dieses Geld ausgegeben war, die Hände in den Schoß und setzte, wie wenn er über diesen Vorwand erfreut wäre, sofort all und jedem auseinander, daß die Heirat sein Talent zerstört habe; er könne nicht in einem stickigen Zimmer arbeiten, angesichts der hungernden Familie; das sei nicht der richtige Boden für Musik; offenbar sei ihm ein solches Unglück schon bei seiner Geburt beschieden worden. Er schien dann allmählich selbst zu der Überzeugung zu kommen, daß seine Klagen begründet seien, und sich über die neue Ausrede zu freuen. Dieses unglückliche, zugrunde gegangene Talent suchte anscheinend selbst einen äußeren Grund, auf den es alle Mißerfolge und Nöte zurückführen könne. Aber der Gedanke, daß er schon längst und auf alle Zeit für die Kunst verloren sei, war zu schrecklich, als daß er ihn hätte für wahr halten können. Er rang krampfhaft, wie mit einem peinigenden Alpdrücken, mit dieser furchtbaren Überzeugung, und als ihn endlich die Wirklichkeit überwältigte und ihm zeitweilig die Augen aufgingen, da fühlte er, daß er nahe daran war, vor Schreck den Verstand zu verlieren. Er konnte sich nicht so leicht von einer Vorstellung entwöhnen, die so lange sein ganzes Leben ausgefüllt hatte, und meinte bis zum letzten Augenblicke, der richtige Zeitpunkt sei noch nicht verpaßt. In Stunden des Zweifels ergab er sich dem Trunke, der durch seine widrige Betäubung seinen Kummer verscheuchte. Er wußte vielleicht selbst nicht, wie notwendig ihm seine Frau in dieser Zeit war. Sie war für ihn eine lebendige Ausrede, und tatsächlich hatte mein Stiefvater sich beinahe in die fixe Idee eingelebt, sobald er seine Frau begraben haben werde, die ihn zugrunde gerichtet habe, werde alles wieder in guten Gang kommen. Meine arme Mutter verstand ihn nicht. Als echte Träumerin konnte sie auch den ersten Schritt in die feindliche Wirklichkeit nicht ertragen: sie wurde heftig, verdrossen, zänkisch und stritt sich alle Augenblicke mit ihrem Manne, der eine Art von Vergnügen darin fand, sie zu quälen, und sie unaufhörlich zur Arbeit trieb. Aber die Verblendung, die fixe Idee meines Stiefvaters und seine Narrheit machten ihn beinah unmenschlich und gefühllos. Er lachte nur und schwur, bis zum Tode seiner Frau die Geige nicht wieder in die Hand zu nehmen, was er ihr selbst mit grausamer Offenherzigkeit erklärte. Meine Mutter, die ihn trotz alledem bis zu ihrem Tode leidenschaftlich liebte, konnte ein solches Leben nicht ertragen. Sie wurde dauernd krank, dauernd leidend und lebte in ununterbrochenen Qualen; und bei all diesem Leide lastete noch auf ihr die ganze Sorge für die Ernährung der Familie. Zuerst richtete sie einen Mittagstisch ein, indem sie Speisen für Abholer zubereitete. Aber ihr Mann entwendete ihr heimlich all ihr Geld, und sie mußte oft statt des Essens ihren Kunden das leere Geschirr wieder zurückschicken. Als B*** uns besuchte, beschäftigte sie sich damit, Wäsche zu waschen und alte Kleider aufzufärben. Auf diese Weise fristeten wir kümmerlich in unserer Dachstube unser Leben.

B*** erschrak über unsere entsetzliche Armut. »Hör mal,« sagte er zu meinem Stiefvater, »was du da sagst, ist alles Unsinn; davon, daß sie dein Talent vernichtet hätte, kann ja nicht die Rede sein. Sie ist es, die dich ernährt, und du, was tust du?«

»Ich tue nichts!« antwortete mein Stiefvater.

Aber B*** kannte gar noch nicht einmal alle Nöte meiner Mutter. Ihr Mann brachte häufig eine ganze Bande ausgelassener, streitsüchtiger Kumpane mit sich nach Haus, und dann kam es erst zu schrecklichen Szenen! B*** redete lange auf seinen ehemaligen Kameraden ein; schließlich erklärte er ihm, wenn er sich nicht bessern wolle, so werde er ihm keinerlei Hilfe zukommen lassen; er sagte ihm ohne Umschweife, er werde ihm kein Geld geben, da er es ja doch nur vertrinke, und bat ihn zuletzt, ihm etwas vorzugeigen, damit er sehen könne,was sich für ihn tun ließe. Als mein Stiefvater hinausgegangen war, um die Geige zu holen, wollte B*** meiner Mutter heimlich Geld geben; aber diese nahm es nicht. Es war das erstemal, daß sie eine Gabe annehmen sollte! Da gab B*** das Geld mir, und die arme Frau zerfloß in Tränen. Mein Stiefvater brachte die Geige, verlangte aber zunächst Branntwein, weil er ohne das nicht spielen könne. Es wurde Branntwein geholt. Er trank ihn und fing an im Zimmer auf und ab zu gehen: »Ich will dir etwas von meinen eigenen Sachen vorspielen, aus Freundschaft,« sagte er zu B*** und zog ein dickes, verstaubtes Heft unter der Kommode hervor.

»Das alles habe ich selbst geschrieben,« sagte er, auf das Heft weisend. »Nun, du wirst ja sehen! Das ist etwas anderes, lieber Freund, als eure Ballettmusik!«

B*** überblickte schweigend einige Seiten; dann schlug er ein Notenheft auf, das er bei sich hatte, und bat meinen Stiefvater, seine eigenen Kompositionen beiseite zu lassen und etwas von dem zu spielen, was er selbst mitgebracht hatte.

Mein Stiefvater fühlte sich etwas gekränkt; indessen erfüllte er B***s Verlangen, da er fürchtete, sonst die neue Protektion zu verlieren. B*** erkannte, daß sein früherer Kamerad sich in der Zeit ihrer Trennung wirklich viel geübt und viel zugelernt hatte, obgleich er sich damit rühmte, gleich vom Beginn seiner Ehe an das Instrument nicht mehr in die Hand genommen zu haben. Nun mußte man die Freude meiner armen Mutter sehen! Sie blickte ihren Mann mit leuchtenden Augen an und war wieder stolz auf ihn. Aufrichtig erfreut beschloß der gute B***, meinen Stiefvater unterzubringen. Er besaß schon damals große Verbindungen und machte sich sogleich daran, seinen armen Kameraden zu empfehlen und für ihn zu bitten, nachdem er sich vorher von ihm hatte versprechen lassen, daß er sich gut führen werde. Zunächst kleidete er ihn auf seine Kosten besser ein und führte ihn dann zu einigen angesehenen Persönlichkeiten, von denen die Stelle abhing, die er ihm gern verschaffen wollte. Die Sache war nämlich die, daß Jesimow nur mit Worten geprahlt hatte; in Wirklichkeit aber nahm er, wie es schien, das Anerbieten seines alten Freundes mit der größten Freude an. B*** erzählte später oft, er habe sich geschämt über all die Schmeichelei und demütige Unterwürfigkeit, mit der mein Stiefvater ihn sich geneigt zu erhalten gesucht habe, in der Befürchtung, er könne sonst vielleicht seine Gunst verlieren. Er verstand, daß man ihn wieder auf guten Weg bringen wollte, und hörte sogar auf zu trinken. Endlich fand sich für ihn wirklich eine Stelle im Orchester eines Theaters. Er bestand die Prüfung gut, da er in einem Monat fleißiger Arbeit sich alles wieder zu eigen gemacht hatte, was ihm in anderthalb Jahren des Müßigganges abhanden gekommen war, und versprach, sich auch künftig tüchtig zu üben und in der Erfüllung seiner neuen Pflichten ordentlich und pünktlich zu sein. Aber die Lage unserer Familie besserte sich ganz und gar nicht. Mein Stiefvater gab meiner Mutter auch nicht eine Kopeke von seinem Gehalte; er verbrauchte alles allein für gutes Essen und Trinken mit seinen neuen Freunden zusammen, deren er sogleich einen ganzen Kreis um sich gesammelt hatte. Er verkehrte vorzugsweise mit Angestellten des Theaters, Choristen, Statisten, kurz mit Leuten, unter denen er die erste Rolle spielen konnte, mied aber wirklich talentvolle Menschen. Es gelang ihm, sich bei seinen Freunden in besonderen Respekt zu setzen; er setzte ihnen gleich von vornherein auseinander, daß er ein verkannter Mensch sei, ein bedeutendes Talent, daß ihn seine Frau zugrunde gerichtet habe, und daß ihr Kapellmeister nichts von Musik verstehe. Er machte sich über alle Musiker des Orchesters lustig, über die Auswahl der Stücke, die auf die Bühne gebracht wurden, schließlich selbst über die Komponisten der aufgeführten Opern. Zuletzt entwickelte er sogar eine Art von neuer Theorie der Musik, kurz, er machte sich beim ganzen Orchester unbeliebt, zankte sich mit seinen Kollegen und mit dem Kapellmeister, benahm sich grob gegen die Direktion, erwarb sich den Ruf eines unruhigen, verdrehten und dabei ganz unbedeutenden Menschen und brachte es dahin, daß er allen unerträglich wurde.

Und es war wirklich ein seltsames Schauspiel, daß ein so unbedeutender Mensch, ein so schlechter, unbrauchbarer Angestellter, ein so nachlässiger Musiker gleichzeitig mit so gewaltigen Prätentionen auftrat, in so arger Weise prahlte und sich brüstete und sich eines so dreisten Tones bediente.

Es endete damit, daß mein Stiefvater sich auch mit B*** verzankte, sich eine ganz widerwärtige Klatschgeschichte, eine ganz häßliche Verleumdung aussann und sie in Umlauf brachte, wie wenn es die reine Wahrheit wäre. Nachdem er in dem Orchester ein halbes Jahr lang seinen Dienst in recht unordentlicher Manier versehen hatte, entließ man ihn wegen Nachlässigkeit in Erfüllung seiner Pflichten und wegen Trunksucht. Aber kaum hatte er seine Stelle verloren, als man ihn wieder in seinen früheren Lumpen sah; denn seine ordentlichen Kleider hatte er sofort wieder verkauft oder versetzt. Er besuchte oft seine früheren Kollegen, mochten diese sich darüber freuen oder nicht, trug Klatschgeschichten herum, schwatzte Unsinn, weinte über sein trauriges Schicksal und lud alle zu sich ein, damit sie sich sein böses Weib ansähen. Natürlich fanden sich Zuhörer; es fanden sich auch Leute, denen es Vergnügen machte, den weggejagten Kollegen betrunken zu machen, damit er in diesem Zustande allerlei Zeug zusammenredete. Dabei redete er aber doch immer auch witzig und klug und spickte seine Reden mit giftiger Satire und boshaften Bemerkungen, die einer gewissen Art von Zuhörern gefielen. Sie behandelten ihn wie einen verdrehten Hansnarren und brachten ihn, wenn sie nichts weiter zu tun hatten, manchmal gerne um des Amüsements willen zum Schwatzen. Gern foppten sie ihn auch damit, daß sie in seiner Gegenwart davon sprachen, es sei ein neuer Geiger von auswärts angekommen. Sobald Jesimow das hörte, nahm sein Gesicht einen unruhigen Ausdruck an; er wurde kleinlaut, erkundigte sich, wer eigentlich angekommen sei, und was das für ein neues Talent sei, und wurde sofort auf den Ruhm desselben eifersüchtig. Wie es scheint, begann erst damals seine wirkliche, reguläre Verrücktheit, seine fixe Idee, er sei der erste Geiger, wenigstens in Petersburg, aber das Schicksal verfolge und kränke ihn, und infolge von mancherlei Intrigen sei er unverstanden und unbekannt. Letzteres schmeichelte ihm sogar; denn es gibt Charaktere, die sich gern für gekränkt und verfolgt halten, sich laut darüber beklagen oder sich im stillen damit trösten, daß sie ihre eigene, nicht zur Anerkennung gelangte Größe bewundern. Er kannte alle Petersburger Geiger, und nach seiner Anschauung konnte sich keiner von ihnen mit ihm messen. Kenner und Dilettanten, die den unglücklichen Verrückten kannten, redeten gern in seiner Gegenwart von diesem oder jenem bekannten talentvollen Geiger, um ihn seinerseits zum Reden zu bringen. Ihnen gefiel seine Bosheit, seine giftigen Bemerkungen, die sachkundigen, klugen Urteile, die er abgab, wenn er das Spiel seiner angeblichen Nebenbuhler kritisierte. Oft verstanden sie ihn nicht; aber dafür waren sie überzeugt, daß niemand auf der Welt es verstand, die musikalischen Zelebritäten mit solcher Geschicklichkeit und Kühnheit zu karikieren. Sogar die Künstler selbst, über die er sich in dieser Weise lustig machte, fürchteten ihn ein wenig, weil sie seine giftige Zunge kannten und wußten, daß seine Angriffe auf Sachkunde beruhten und seine Urteile, wo es sich darum handelte zu tadeln, gerecht waren. Sie hatten sich gewissermaßen daran gewöhnt, ihn in den Korridoren des Theaters und hinter den Kulissen zu sehen. Die Angestellten ließen ihn unbehindert durch wie eine unentbehrliche Persönlichkeit, und er wurde auf diese Art ein zum Hause gehöriger Thersites In Homers ›Ilias‹ ein hässlicher, schmähsüchtiger und daher von den Helden verachteter, allgemein verhasster und erfolgloser Demagoge. – Anm.d.Hrsg.. Dieses Leben dauerte zwei oder drei Jahre; aber schließlich wurde er allen auch in dieser letzten Rolle zuwider. Es erfolgte seine formelle Ausweisung, und in den nächsten zwei Jahren seines Lebens war mein Stiefvater völlig von der Bildfläche verschwunden und nirgends mehr zu sehen. B*** begegnete ihm allerdings zweimal: mein Stiefvater befand sich in so kläglichem Zustande, daß bei B*** das Mitleid noch einmal den Sieg über den Widerwillen davontrug. Er rief ihn an; aber mein Stiefvater fühlte sich beleidigt, tat, als ob er nichts gehört hätte, drückte seinen alten, verbeulten Hut in die Augen und ging vorbei. Endlich, an einem hohen Festtage, meldete B***s Diener seinem Herrn am Morgen, sein früherer Kamerad Jesimow sei gekommen, um ihm zum Feste Glück zu wünschen. B*** ging ins Vorzimmer, wo jener wartete. Jesimow war betrunken, begann sich außerordentlich tief, beinah bis zu den Füßen, zu verbeugen, bewegte murmelnd die Lippen und wollte durchaus nicht in die Wohnung hereinkommen. Der Sinn dessen, was er sagte, war ungefähr: »Wir talentlosen Menschen dürfen nicht mit einer solchen Berühmtheit, wie Sie, verkehren; für uns kleine Leute ist der Raum, wo sich die Lakaien aufhalten, gut genug, um unsern Glückwunsch zum Feste darzubringen; wir machen unsere Verbeugung und gehen wieder weg.« Kurz, alles war unwürdig, dumm und ekelhaft. Seitdem bekam B*** ihn sehr lange nicht zu Gesichte, bis zu der Katastrophe, die diesem traurigen, schmerzensreichen, geistig unklaren Leben ein Ende machte. Das vollzog sich in einer schrecklichen Art und Weise. Diese Katastrophe steht in engem Zusammenhange nicht nur mit den ersten Eindrücken meiner Kindheit, sondern auch mit meinem ganzen Leben. Sie begab sich folgendermaßen … Aber vorher muß ich erzählen, von welcher Art meine Kindheit war, und welche Bedeutung dieser Mensch für mich hatte, dessen Wesen auf mich Kleine einen so schrecklichen Eindruck machte, und der den Tod meiner armen Mutter verschuldete.

Zweites Kapitel

Diejenige Zeit meines Lebens, an die ich mich erinnern kann, beginnt erst sehr spät, erst mit meinem neunten Jahre. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß alles, was mir vor diesem Jahre begegnet ist, bei mir keinen klaren Eindruck hinterlassen hat, an den ich mich jetzt erinnern könnte. Aber von der Mitte meines neunten Lebensjahres an erinnere ich mich an alles ganz genau, Tag für Tag, ohne Unterbrechung, wie wenn alles, was seitdem geschehen ist, sich erst gestern zugetragen hätte. Allerdings kann ich wie im Traume mich auch an Dinge aus früherer Zeit erinnern: an das immer brennende Lämpchen vor dem altertümlichen Heiligenbilde in der dunklen Ecke; dann, wie mich einmal ein Pferd auf der Straße umstieß, infolgedessen ich, wie man mir später erzählt hat, drei Monate lang krank lag; ferner, wie ich während dieser Krankheit eines Nachts an der Seite meiner Mutter erwachte, mit der ich zusammen schlief, und wie ich auf einmal über meine krankhaften Träume erschrak und über die nächtliche Stille und über die in einer Ecke nagenden Mäuse und vor Angst die ganze Nacht zitterte und mich unter die Bettdecke verkroch, aber nicht wagte, meine Mutter aufzuwecken, woraus ich schließe, daß ich sie noch mehr fürchtete als alle jene schrecklichen Dinge. Aber von dem Augenblick an, wo ich mir auf einmal meiner selbst bewußt wurde, entwickelte ich mich schnell, in unerwarteter Weise, und viele Ereignisse, die ganz und gar nicht für ein Kindergemüt paßten, wurden mir erschreckend verständlich. Alles hellte sich vor mir auf, alles wurde mir außerordentlich schnell begreiflich. Die Zeit, von der meine klaren Erinnerungen beginnen, hinterließ mir einen starken, trüben Eindruck; dieser Eindruck wiederholte sich dann täglich und steigerte sich mit jedem Tage; er warf einen seltsamen, dunklen Schatten auf die ganze Zeit meines Lebens im Elternhause und damit zugleich auch auf meine ganze Kindheit.

Jetzt scheint es mir, als ob ich damals plötzlich aus einem tiefen Schlafe erwacht wäre (wiewohl dieses Zumbewußtseinkommen damals natürlich für mich nichts Überraschendes hatte). Ich kam zu mir in einem großen, dumpfigen, unsauberen Zimmer mit niedriger Decke; die Wände waren mit einer schmutziggrauen Farbe angestrichen; in einer Ecke stand ein gewaltiger russischer Ofen; die Fenster gingen auf die Straße hinaus oder, richtiger gesagt, auf das Dach des gegenüberstehenden Hauses, und waren niedrig und breit, wie Ritzen. Die Fensterbretter lagen so hoch über dem Fußboden, daß, wie ich mich erinnere, ich einen Stuhl oder ein Bänkchen heranstellen mußte und dann erst mühsam zum Fensterbrette gelangen konnte, auf dem ich gern saß, wenn niemand zu Hause war. Von unserer Wohnung aus konnte man die halbe Stadt sehen; wir wohnten dicht unter dem Dache, in einem sechsstöckigen, riesenhaften Hause. Unser ganzes Mobiliar bestand aus den Überresten eines mit Wachstuch bezogenen Sofas, das arg verstaubt und ganz zerfasert war, aus einem einfachen weißen Tische, zwei Stühlen, dem Bette meiner Mutter, einem Eckschränkchen, einer Kommode, die sich immer zur Seite neigte, und einem zerrissenen papiernen Bettschirm.

Ich erinnere mich, daß es in der Dämmerstunde war; allerlei Dinge waren umhergeworfen und lagen unordentlich auf dem Boden: Bürsten, Lappen, unser hölzernes Geschirr, eine zerbrochene Flasche und ich weiß nicht was sonst noch alles. Ich erinnere mich, daß meine Mutter sehr erregt war und über irgend etwas weinte. Mein Stiefvater saß in einer Ecke, in seinem gewöhnlichen zerrissenen Rocke. Er gab ihr eine spöttische Antwort, durch die sie noch mehr in Zorn geriet, und nun flogen wieder Bürsten und Geschirr auf den Boden. Ich fing an zu weinen und zu schreien und stürzte zu beiden Eltern hin. Ich befand mich in einer schrecklichen Angst und schlang meine Arme fest um meinen Vater, um ihn mit meinem Leibe zu decken. Gott weiß, woher ich die Vorstellung hatte, daß meine Mutter ohne Grund auf ihn zornig sei, daß er keine Schuld habe; ich wollte meine Mutter für ihn um Verzeihung bitten und für ihn jede ihr beliebige Strafe ertragen. Ich fürchtete mich schrecklich vor meiner Mutter und glaubte, daß sich auch alle andern Menschen vor ihr ebenso fürchteten. Meine Mutter war anfangs erstaunt; dann faßte sie mich an der Hand und zog mich hinter den Bettschirm. Ich stieß mir den Arm recht schmerzhaft am Bette; aber die Angst war stärker als der Schmerz, und ich verzog nicht einmal das Gesicht. Ich erinnere mich noch weiter, daß meine Mutter darauf etwas in bitterem, heftigem Tone zu meinem Vater sagte (ich werde ihn künftig in dieser Erzählung meinen Vater nennen, weil ich erst weit später erfuhr, daß er nicht mein leiblicher Vater war). Diese ganze Szene dauerte gegen zwei Stunden, und zitternd vor Erwartung bemühte ich mich aus allen Kräften, zu erraten, wie das alles enden werde. Endlich legte sich der Streit, und meine Mutter ging weg, ich wußte nicht wohin. Da rief mein Vater mich zu sich, küßte mich, strich mir das Haar glatt, setzte mich auf seine Knie, und ich schmiegte mich fest und zärtlich an seine Brust. Dies war vielleicht die erste Liebkosung, die mir von ihm zuteil ward, und vielleicht fing ich infolgedessen an, mich seitdem an alles so genau zu erinnern. Ich merkte auch, daß ich mir diese Freundlichkeit von seiten meines Vaters dadurch verdient hatte, daß ich für ihn eingetreten war, und da blitzte mir wohl zum erstenmal der Gedanke auf, daß er von meiner Mutter viel Leid zu erdulden und zu ertragen habe. Seitdem blieb dieser Gedanke bei mir für immer fest haften und regte mich von Tag zu Tage mehr auf.

Von diesem Augenblicke an begann in mir eine grenzenlose Liebe zu meinem Vater; aber es war eine ganz wunderliche, gar nicht kindliche Liebe. Ich würde sagen, es war eher ein mitleidiges, mütterliches Gefühl, wenn eine solche Bezeichnung für das Gefühl eines Kindes nicht einigermaßen lächerlich wäre. Mein Vater kam mir immer so bedauernswert, so grausam verfolgt, so niedergedrückt, so schwer leidend vor, daß es mir als etwas Furchtbares, Unnatürliches erschienen wäre, wenn ich ihn nicht hätte sinnlos lieben, ihn trösten, ihn liebkosen und alles, was in meinen Kräften lag, für ihn hätte tun wollen. Aber bis auf diesen Tag verstehe ich nicht, wie mir der Gedanke in den Kopf kommen konnte, daß mein Vater ein solcher unglücklicher Mensch, ein solcher Märtyrer sei! Wer hatte diese Vorstellung bei mir erweckt? Wie konnte ich kleines Mädchen überhaupt etwas von seinem persönlichen Mißgeschick verstehen? Und doch verstand ich es, wiewohl ich mir alles in meinem Kopfe umdeutete und umgestaltete; aber bis auf diesen Tag kann ich mir noch nicht vorstellen, auf welche Weise dieser Eindruck bei mir zustande kam. Vielleicht war meine Mutter zu streng gegen mich, und ich schloß mich nun an meinen Vater an als an ein Wesen, das nach meiner Meinung mit mir zusammen litt.

Ich habe schon von meinem ersten Erwachen aus dem Schlafe der Kindheit, von meinem ersten bewußten Handeln im Leben erzählt. Mein Herz war gleich vom ersten Augenblick an verwundet, und nun begann mit unbegreiflicher, maßloser Geschwindigkeit meine Entwicklung. Ich konnte mich nicht mehr mit bloßen äußeren Eindrücken begnügen; ich begann nachzudenken, zu überlegen, zu beobachten; aber diese Beobachtung fing so unnatürlich früh an, daß meine Einbildungskraft alles auf ihre Art umgestalten mußte und ich mich auf einmal gewissermaßen in einer besonderen Welt befand. Alles um mich herum nahm eine Ähnlichkeit mit den Dingen in jenem Zaubermärchen an, das mein Vater mir oft erzählte, und das ich damals nicht umhin konnte für reine Wahrheit zu halten. Es bildeten sich in meinem Kopfe sonderbare Begriffe. Ich wußte recht gut (aber ich weiß nicht, woher ich diese Erkenntnis hatte), daß ich in einer eigentümlichen Familie lebte, und daß meine Eltern keine Ähnlichkeit mit den Leuten hatten, mit denen ich damals gelegentlich in Berührung kam. »Woher kommt es,« dachte ich, »woher kommt es, daß andere Leute, die ich zu sehen bekomme, schon äußerlich meinen Eltern so gar nicht ähnlich sind? Woher kommt es, daß ich auf anderen Gesichtern ein Lachen bemerkt habe und mir gleichzeitig eingefallen ist, daß in unserer Dachstube nie gelacht wird, nie jemand fröhlich ist?« Welche Kraft, welche Ursache trieb mich, ein neunjähriges Kind, dazu an, mir so aufmerksam die Gesichter anzusehen und auf jedes Wort zu horchen, so oft ich zufällig Leute auf unserer Treppe oder auf der Straße traf, wenn ich abends, über meinen Lumpen in eine alte Jacke meiner Mutter gehüllt, mit ein paar Groschen nach einem Laden ging, um Zucker, Tee oder Brot zu kaufen? Ich verstand (und weiß noch nicht woher), daß in unserer Dachstube ein steter, unerträglicher Kummer herrschte. Ich zerbrach mir den Kopf und bemühte mich zu erraten, warum das so sei, und ich weiß nicht, wer mir half, dieses Rätsel auf meine Weise zu lösen; ich gab meiner Mutter die Schuld, hielt sie für die Todfeindin meines Vaters und muß noch einmal wiederholen: ich begreife nicht, wie eine so ungeheuerliche Vorstellung sich in meinem Kopfe hatte bilden können. Und je mehr ich mich an meinen Vater anschloß, um so mehr haßte ich meine arme Mutter. Bis auf den heutigen Tag ist mir die Erinnerung an alles dies ein tiefer, bitterer Schmerz. Aber ich will noch einen zweiten Fall erzählen, der in noch höherem Grade als der erste meine seltsame Zuneigung zu meinem Vater steigerte. Meine Mutter hatte mich einmal zwischen neun und zehn Uhr abends nach einem Laden geschickt, um Hefe zu holen; mein Vater war nicht zu Hause. Auf dem Rückwege fiel ich auf der Straße hin und verschüttete den ganzen Inhalt der Tasse. Mein erster Gedanke war, wie zornig meine Mutter darüber sein werde. Inzwischen fühlte ich einen furchtbaren Schmerz im linken Arm und konnte nicht aufstehen. Einige Passanten blieben um mich herum stehen; eine alte Frau versuchte, mich aufzuheben, und ein vorüberlaufender Junge schlug mich mit einem Schlüssel auf den Kopf. Endlich brachte man mich wieder auf die Beine; ich sammelte die Scherben der zerbrochenen Tasse und ging schwankend weiter; ich konnte kaum die Füße bewegen. Auf einmal erblickte ich meinen Vater. Er stand in einem Menschenschwarm vor einem prächtigen Hause, das dem unsrigen gegenüberlag. Dieses Haus gehörte vornehmen Leuten und war glänzend erleuchtet; vor dem Portal standen eine Menge Equipagen, und Musik drang aus den Fenstern auf die Straße. Ich faßte meinen Vater am Rockflügel, zeigte ihm die zerbrochene Tasse und sagte unter Tränen, ich hätte Angst davor, zur Mutter zu gehen. Eigentümlicherweise war ich überzeugt, daß er sich meiner annehmen werde. Aber woher war ich überzeugt, wer hatte mir das eingeflüstert, wer hatte mich zu dem Glauben gebracht, daß er mich mehr liebe, als es meine Mutter tat? Warum ging ich zu ihm ohne Furcht? Er nahm mich bei der Hand und begann, mich zu trösten; dann sagte er, er wolle mir etwas zeigen, und hob mich auf seinen Armen in die Höhe. Ich konnte nichts sehen, weil er mich an meinen verletzten Arm gefaßt hatte und es mir furchtbar weh tat; aber ich schrie nicht, ich fürchtete, ihn dadurch aufzubringen. Er fragte mich fortwährend, ob ich etwas sähe. Ich bemühte mich aus aller Kraft, so zu antworten, daß er damit zufrieden wäre, und sagte, ich sähe rote Vorhänge. Als er mich aber auf die andere Seite der Straße hinübertragen wollte, näher an das Haus heran, da fing ich, ich weiß nicht warum, auf einmal an zu weinen, umarmte ihn und bat ihn, mich nur recht schnell nach oben zur Mutter zu bringen. Ich erinnere mich, daß mir damals die Liebkosungen des Vaters peinlich waren; ich konnte es nicht ertragen, daß die eine derjenigen beiden Personen, die ich so gern lieben wollte, freundlich und zärtlich zu mir war und ich mich nicht traute zu der andern hinzugehen und mich vor ihr fürchtete. Aber meine Mutter wurde fast gar nicht böse und hieß mich zu Bette gehen. Ich erinnere mich, daß der Schmerz in meinem Arme immer ärger wurde, so daß ich fieberte. Indessen, ich war sehr glücklich darüber, daß alles so gut abgelaufen war, und träumte in dieser ganzen Nacht von dem Nachbarhause mit den roten Vorhängen.

Als ich am andern Tage aufwachte, war mein erster Gedanke und meine erste Sorge das Haus mit den roten Vorhängen. Kaum war meine Mutter ausgegangen, so kletterte ich auf ein Fensterbrett hinauf und begann, das Haus zu betrachten. Schon lange hatte dieses Haus meine kindliche Neugier wachgerufen. Besonders gern betrachtete ich es am Abend, wenn in allen Häusern der Straße Licht angezündet wurde, und wenn dann hinter den großen Scheiben dieses hell erleuchteten Hauses die purpurnen Gardinen mit einem eigentümlichen blutroten Scheine leuchteten. Beim Portal kamen fast immer prächtige Equipagen vorgefahren, mit schönen, stolzen Pferden bespannt, und alles erregte mein lebhaftes Interesse: das Geschrei und hastige Treiben am Eingang und die verschiedenfarbigen Wagenlaternen und die geputzten Damen, die gefahren kamen. All das nahm in meiner kindlichen Phantasie eine königlich prunkvolle, märchenhaft zauberische Gestalt an. Jetzt nun, nach dem Zusammentreffen mit dem Vater bei dem reichen Hause, wurde das Haus für mich doppelt wundervoll und interessant. Jetzt entstanden in meiner aufgeregten Einbildungskraft seltsame Begriffe und Vorstellungen. Und ich wundere mich nicht, daß ich zwischen so sonderbaren Menschen, wie es mein Vater und meine Mutter waren, selbst ein so sonderbares, phantasievolles Kind wurde. Besonders auffällig war mir der Gegensatz ihrer Charaktere. Es fiel mir zum Beispiel auf, daß meine Mutter fortwährend ihre Sorge und Mühe mit unserer ärmlichen Wirtschaft hatte und fortwährend dem Vater Vorwürfe darüber machte, daß sie allein sich für alle abquälen müsse, und ich stellte mir unwillkürlich die Frage: warum hilft ihr denn der Vater gar nicht, warum wohnt er bei uns wie ein Fremder? Einige Worte der Mutter verhalfen mir zu einer Art von Antwort hierauf, und ich erfuhr mit einer gewissen Verwunderung, daß mein Vater ein Künstler sei (dieses Wort prägte sich meinem Gedächtnisse ein), ein talentvoller Mensch; in meiner Phantasie bildete sich sofort die Vorstellung, ein Künstler sei ein ganz besonderer Mensch und anderen Leuten nicht ähnlich. Vielleicht hatte auch das Benehmen meines Vaters mich auf diesen Gedanken geführt; vielleicht hatte ich etwas gehört, was jetzt meinem Gedächtnisse entschwunden ist; aber merkwürdig verständlich war mir der Sinn der Worte meines Vaters, die dieser einmal in meiner Gegenwart mit ganz besonderem Affekte aussprach. Diese Worte läuteten, es werde eine Zeit kommen, wo auch er nicht mehr in Armut leben, sondern selbst ein reicher, vornehmer Herr sein werde; es werde für ihn ein ganz neues Leben beginnen, wenn die Mutter gestorben sein werde. Ich erinnere mich, daß ich über diese Worte zunächst einen furchtbaren Schreck bekam. Ich konnte nicht im Zimmer bleiben, sondern lief auf unsern kalten Flur hinaus, stützte mich dort mit den Ellbogen auf das Fensterbrett, verbarg das Gesicht in den Händen und schluchzte. Aber als ich dann ein Weilchen darüber nachgedacht und mich an diesen entsetzlichen Wunsch meines Vaters gewöhnt hatte, kam mir plötzlich meine Phantasie zu Hilfe. Es lag nicht in meiner Natur, mich lange mit etwas Unbekanntem herumzuquälen; ich mußte unbedingt zu irgendwelcher Vorstellung gelangen. Und siehe da: ich weiß nicht, wie das alles anfing, aber schließlich bildete ich mir die Vorstellung, wenn die Mutter werde gestorben sein, dann werde der Vater diese ärmliche Wohnung verlassen und mit mir zusammen irgendwo anders hinziehen. Aber wohin, davon konnte ich mir bis zuletzt keine klare Vorstellung machen. Ich erinnere mich nur, daß alles, womit ich unsern künftigen Wohnort nur ausschmücken konnte (denn daß wir zusammen wegziehen würden, stand für mich ganz fest), alles, was meine Einbildungskraft Glänzendes, Üppiges und Prächtiges schaffen konnte, daß das alles in diesen Träumereien in Aktion gesetzt wurde. Ich meinte, wir würden sofort reich werden; ich würde dann nicht mehr zum Einholen in den Kramladen gehen, was mir immer sehr unangenehm war, weil jedesmal, wenn ich aus dem Hause trat, die Kinder aus dem Nachbarhause mich neckten und peinigten, und davor fürchtete ich mich schrecklich, namentlich wenn ich Milch oder Öl trug, da ich wußte, daß ich tüchtige Schelte bekam, wenn ich übergoß. Ferner stellte ich mir in meiner Träumerei vor, mein Vater werde sich sogleich gute Kleider machen lassen; wir würden in ein glänzendes Haus ziehen, und nun kamen dieses prachtvolle Haus mit den roten Vorhängen und mein Zusammentreffen mit dem Vater in der Nähe dieses Hauses, wo er mir etwas zeigen wollte, meiner Phantasie zu Hilfe. Und sofort stand es auch in meinen Zukunftsplänen fest, daß wir gerade in dieses Haus ziehen und in ihm wohnen würden und unser ganzes Leben da ein fortwährender Festtag, eine fortwährende Glückseligkeit sein werde. Seitdem blickte ich abends mit gespannter Neugier aus dem Fenster nach diesem für mich so zauberhaften Hause; ich erinnerte mich an die Auffahrt der Equipagen und an die Gäste, die so schön geputzt gewesen waren, wie ich sie vorher noch niemals gesehen gehabt hatte; ich glaubte wieder jene Klänge einer lieblichen Musik zu hören, die damals aus den Fenstern gedrungen waren; ich blickte nach den Schatten der Menschen hin, die hinter den Fenstervorhängen vorbeihuschten, und suchte immer zu erraten, was dort vorging, – und immer schien es mir, daß dort das Paradies und ein ewiger Feiertag sei. Ich warf einen Haß auf unsere ärmliche Wohnung und auf die Lumpen, in denen ich selbst ging, und als meine Mutter mich einmal anrief und mir befahl, vom Fenster wegzugehen, zu dem ich nach meiner Gewohnheit hinaufgestiegen war, da schoß mir sogleich der Gedanke durch den Kopf, sie wolle nicht, daß ich gerade dieses Haus ansähe und an dasselbe dächte; unser Glück sei ihr unangenehm, und sie suche es nach Möglichkeit zu hindern … Den ganzen Abend über betrachtete ich meine Mutter aufmerksam und mißtrauisch.

Wie hatte sich nur in meinem Herzen eine solche Erbitterung gegen ein stets leidendes Wesen herausbilden können, wie es meine Mutter war? Erst jetzt habe ich Verständnis für ihr leidvolles Leben und kann nicht, ohne daß mir das Herz weh tut, an diese Dulderin denken. Selbst damals, in der dunklen Periode meiner wunderlichen Kinderzeit, in der Periode der so unnatürlichen Entwickelung meines ersten Geisteslebens, zog sich mir oft das Herz vor Schmerz und Mitleid krampfhaft zusammen, und Unruhe, Verwirrung-und Zweifel befielen meine Seele. Schon damals regte sich in mir das Gewissen, und oft wurde ich mir mit Qual und Leid meiner Ungerechtigkeit gegen meine Mutter bewußt. Aber wir standen einander fremd gegenüber, und ich erinnere mich nicht, daß ich sie auch nur ein einziges Mal geliebkost hätte. Jetzt begegnet es mir nicht selten, daß ganz unbedeutende Erinnerungen meine Seele verwunden und erschüttern. So erinnere ich mich, daß einmal (was ich jetzt erzählen will, ist ja freilich etwas ganz Unbedeutendes, Nichtiges, Gewöhnliches; aber gerade solche Erinnerungen quälen mich ganz besonders und haben sich am peinvollsten meinem Gedächtnisse eingeprägt), ich erinnere mich, daß eines Abends, als der Vater nicht zu Hause war, meine Mutter mich nach dem Kaufladen schicken wollte, um ihr Tee und Zucker einzuholen. Aber sie überlegte immer noch und konnte immer noch nicht zum Entschluß kommen und zählte laut die Kupfermünzen, die klägliche kleine Summe, über die sie verfügte. Sie rechnete, glaube ich, eine halbe Stunde lang und konnte mit ihrer Berechnung immer noch nicht fertig werden. Zudem versank sie manchmal für einige Minuten, wahrscheinlich infolge ihres Kummers, in eine Art von Gedankenlosigkeit. Ich erinnere mich, wie wenn es heute wäre, daß sie in einem solchen Zustande, der bei ihr nicht selten war, immer etwas vor sich hinsprach, wie wenn sie leise und langsam rechnete und ihr die Worte unabsichtlich aus dem Munde fielen; ihre Lippen und Wangen waren blaß; die Hände zitterten ihr fortwährend, und wenn sie für sich allein etwas überlegte, wiegte sie immer den Kopf hin und her. »Nein, es ist nicht nötig,« sagte sie, mich anblickend. »Ich will mich lieber schlafen legen. Nun? Bist du auch müde, Netotschka?« Ich schwieg; da hob sie mir den Kopf in die Höhe und sah mich so still und freundlich an, und auf ihrem Gesichte leuchtete ein so mütterliches Lächeln auf, daß mir das Herz weh tat und stark zu schlagen begann. Überdies hatte sie mich Netotschka genannt, und das bedeutete, daß sie mich in diesem Augenblicke besonders lieb hatte. Diese Benennung hatte sie selbst erfunden, indem sie meinen Namen Anna liebevoll in die Verkleinerungsform Netotschka verwandelte, und wenn sie mich so nannte, so hatte das den Sinn, daß sie gegen mich zärtlich sein wollte. Ich war gerührt; es verlangte mich, sie zu umarmen, mich an sie zu drücken und mit ihr zusammen zu weinen. Dann streichelte die Arme lange meinen Kopf, vielleicht nur noch mechanisch und ohne daran zu denken, daß sie mich liebkoste, und sagte immer dabei: »Mein Kind, Annette, Netotschka!« Die Tränen stürzten mir aus den Augen; aber ich nahm mich zusammen und beherrschte mich. Ich zeigte einen gewissen Eigensinn darin, ihr gegenüber mein Gefühl nicht zum Ausdruck zu bringen, obgleich ich selbst darunter litt. Ja, das konnte keine natürliche Verbitterung in meinem Herzen sein. Sie konnte mich nicht einzig und allein durch ihre Strenge mir gegenüber dermaßen gegen sich aufgebracht haben. Nein! Was mich verdorben hatte, war die phantastische, ausschließliche Liebe zu meinem Vater. Manchmal wachte ich in der Nacht auf, in meinem Winkel, auf meiner zu kurzen Unterlage, unter meiner dünnen Decke, und dann befiel mich immer eine gewisse Furcht. Im Halbschlummer erinnerte ich mich daran, wie ich noch vor kurzem, als ich noch kleiner war, mit meiner Mutter zusammengeschlafen und mich damals beim Aufwachen in der Nacht weniger gefürchtet hatte; ich brauchte mich dann nur an sie zu schmiegen, die Augen zuzukneifen und sie fest zu umarmen und schlief dann oft sofort wieder ein. Ich fühlte immer noch, daß ich nicht anders konnte als sie im stillen lieben. Ich habe später die Beobachtung gemacht, daß auch viele andere Kinder oft in ungeheuerlicher Weise gefühllos sind und, wenn sie jemanden lieben, ihn ausschließlich lieben. So war es auch bei mir der Fall.

Zuweilen trat in unserer Dachstube für ganze Wochen eine Totenstille ein. Vater und Mutter waren es müde geworden sich zu streiten, und ich lebte zwischen ihnen wie bisher, immer schweigend, immer nachdenkend, mich immer abhärmend und mich immer in meinen Träumereien nach etwas sehnend. Indem ich sie beide aufmerksam beobachtete, begriff ich ihre wechselseitigen Beziehungen vollkommen: ich begriff diese ihre dumpfe, stete Feindschaft, begriff dieses ganze Leid und diese ganze Benommenheit, die durch das unordentliche Leben in unserer Dachstube hervorgerufen war; allerdings begriff ich das alles mit Ausschluß der Ursachen und der Folgen; ich begriff es nur so weit, als ich es eben begreifen konnte. An langen Winterabenden, wenn ich so in einen Winkel gedrückt dasaß, beobachtete ich meine Eltern manchmal ganze Stunden lang mit größter Aufmerksamkeit, sah meinem Vater ins Gesicht und versuchte zu erraten, woran er denke, und was ihn so beschäftige. Dann wieder war ich überrascht und erschrocken beim Anblicke der Mutter. Sie ging immer ohne müde zu werden im Zimmer hin und her, stundenlang, oft sogar in der Nacht, wenn sie an Schlaflosigkeit litt. Sie flüsterte dabei etwas vor sich hin, wie wenn sie allein im Zimmer wäre, breitete bald die Arme auseinander, bald verschränkte sie sie über der Brust, bald rang sie die Hände in schrecklichem, unsäglichem Grame. Manchmal flossen ihr die Tränen über das Gesicht, Tränen, für die sie vielleicht selbst oft keinen Grund wußte, da sie zeitweilig in völlige Selbstvergessenheit verfiel. Sie litt an einer sehr schweren Krankheit, vernachlässigte sie aber vollständig.

Ich erinnere mich, daß mir meine Vereinsamung und mein Stillschweigen, das ich nicht zu brechen wagte, immer drückender wurden. Schon ein ganzes Jahr lang führte ich ein bewußtes Leben, immer nachdenkend, träumend und mich im stillen mit seltsamen, unklaren Hoffnungen und Plänen quälend, die plötzlich in meinem Kopfe aufschossen. Ich wurde so scheu wie ein Tier des Waldes. Endlich bemerkte das zuerst mein Vater, rief mich zu sich und fragte mich, warum ich ihn so unverwandt ansähe. Ich erinnere mich nicht, was ich ihm antwortete; ich weiß nur noch, daß er über irgend etwas nachdachte und schließlich, indem er mich ansah, sagte, er werde gleich morgen eine Fibel mitbringen und anfangen, mich lesen zu lehren. Ich sah dieser Fibel mit Ungeduld entgegen und gab mich die ganze Nacht seltsamen Träumereien darüber hin, da ich nur eine sehr unklare Vorstellung davon hatte, was eine Fibel eigentlich war. Endlich begann am andern Tage der Vater wirklich, mich lesen zu lehren. Ich verstand das, was er von mir forderte, ohne lange Erklärungen und lernte schnell, da ich wußte, daß ich meinem Vater dadurch eine Freude machte. Es war dies die glücklichste Zeit meines damaligen Lebens. Wenn er mich für meine gute Auffassung lobte, mir den Kopf streichelte und mich küßte, dann fing ich sogleich vor Entzücken an zu weinen. Allmählich gewann mich mein Vater lieb: ich wagte es schon, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, und wir redeten oft ganze Stunden lang zusammen, ohne daß ich müde geworden wäre, obgleich ich manchmal kein Wort von dem verstand, was er zu mir sagte. Aber in gewisser Hinsicht fürchtete ich ihn: ich fürchtete, er könnte denken, daß ich mich bei ihm langweilte, und darum bemühte ich mich aus aller Kraft, ihm zu zeigen, daß ich alles verstände. Schließlich wurde es ihm ganz zur Gewohnheit, abends mit mir zusammenzusitzen. Sobald es anfing dunkel zu werden und er nach Hause kam, trat ich sofort mit der Fibel zu ihm heran. Ich mußte mich ihm gegenüber auf ein Bänkchen setzen, und nach dem Unterrichte las er mir aus irgendeinem Buche vor. Ich verstand nichts davon, lachte aber unaufhörlich, weil ich ihm damit ein großes Vergnügen zu machen meinte. In der Tat amüsierte er sich über mich, und es stimmte ihn heiter, mich lachen zu sehen. Zu dieser selben Zeit erzählte er mir einmal nach dem Unterrichte ein Märchen. Es war dies das erste Märchen, das ich zu hören bekam. Ich saß wie verzaubert da, folgte der Erzählung mit fieberhafter Spannung, fühlte mich beim Anhören in ein Paradies versetzt, und als die Erzählung zu Ende war, war ich außer mir vor Entzücken. Nicht daß das Märchen selbst auf mich so stark gewirkt hätte, nein; aber ich nahm alles für Wahrheit, ließ gleichzeitig meiner reichen Phantasie freien Lauf und vermischte sofort Erfindung und Wirklichkeit. Sogleich erschien vor meinem geistigen Auge auch das Haus mit den roten Vorhängen; gleichzeitig erschien (unverständlich wie) als handelnde Person auch mein Vater, der mir dieses Märchen selbst erzählt hatte, und meine Mutter, die uns beide hindern wollte, irgendwohin zu gehen, zuletzt oder, richtiger gesagt, vor allen Dingen auch ich mit meinen wunderlichen Träumereien, mit meinem phantasievollen Kopfe voll seltsamer, unmöglicher Visionen: alles dies vermischte sich in meinem Geiste miteinander derart, daß es bald ein vollständiges Chaos bildete und ich für einige Zeit alle Urteilskraft, alles Gefühl für Wahrheit und Wirklichkeit verlor und sozusagen in einer anderen Welt lebte. In dieser Zeit brannte ich vor Ungeduld, mit meinem Vater über das zu reden, was unser in der Zukunft warte, was er selbst erwarte, und wohin er mich mit sich führen werde, wenn wir endlich unsere Dachstube verlassen würden. Ich war meinerseits überzeugt, daß dies alles sich in naher Zeit vollziehen werde; aber wie und in welcher Form, das wußte ich nicht und quälte mich nur selbst, indem ich mir darüber den Kopf zerbrach. Manchmal (und das begegnete mir namentlich abends) schien es mir, als ob mein Vater mir im nächsten Augenblick heimlich einen Wink mit den Augen geben und mich auf den Flur hinausführen werde; dann wollte ich im Vorbeigehen, ohne daß die Mutter es merkte, meine Fibel mitnehmen und dann noch unser Bild, eine wertlose Lithographie, die seit undenklichen Zeiten uneingerahmt an der Wand hing, und die ich unter allen Umständen mitzunehmen beschlossen hatte, und dann wollten wir heimlich irgendwohin entfliehen, so daß wir nie wieder nach Hause zur Mutter zurückkehren würden. Eines Tages, als die Mutter nicht zu Hause war, paßte ich einen Augenblick ab, wo mein Vater besonders heiter gestimmt war (das war bei ihm der Fall, wenn er soeben Branntwein getrunken hatte), trat zu ihm heran und begann ein Gespräch mit ihm über irgend etwas, in der Absicht, sogleich auf das Thema überzugehen, das mir so sehr am Herzen lag. Endlich brachte ich ihn dahin, daß er lachte, und nun schlang ich meine Arme fest um ihn, und mit zitterndem Herzen und in solcher Angst, als ob ich im Begriff wäre von etwas Geheimnisvollem und Furchtbarem zu reden, begann ich unzusammenhängend und bei jedem Satze mich verwirrend ihn zu befragen: wohin wir gehen würden, und ob bald, und was wir mitnehmen würden, und wie wir leben würden, und endlich, ob wir in das Haus mit den roten Vorhängen gehen würden.

»In das Haus mit den roten Vorhängen? Was soll das heißen? Was schwatzt du für Unsinn, dummes Kind?«

Nun begann ich, in noch größerer Angst als vorher, ihm die Sache zu erklären: wenn die Mutter werde gestorben sein, würden wir beide doch nicht mehr in der Dachstube wohnen bleiben; er werde mich dann irgendwohin führen, und wir würden beide reich und glücklich sein; ich versicherte ihm schließlich, daß er mir das alles selbst versprochen habe. Als ich ihm das versicherte, war ich vollständig davon überzeugt, daß mein Vater wirklich früher mit mir davon gesprochen habe; wenigstens schien es mir so.

»Die Mutter? Gestorben? Wann wird die Mutter sterben?« wiederholte er, indem er mich erstaunt ansah, seine dichten, schon ergrauenden Augenbrauen zusammenzog und ein etwas anderes Gesicht machte als vorher. »Was redest du da, du armes, dummes …«

Und nun begann er, mich auszuschelten, und redete lange zu mir, ich sei ein dummes Kind, ich verstände noch nichts … Ich erinnere mich nicht, was er noch alles sagte; aber er war sehr ärgerlich.

Ich verstand kein Wort von seinen Vorwürfen, verstand nicht, wie er es übelnehmen konnte, daß ich die Worte, die er einmal im Zorn und in tiefem Verdruß zu meiner Mutter gesagt hatte, gehört, sie mir eingeprägt und seitdem viel über sie im stillen nachgedacht hatte. Aber in welchem Zustande er sich auch damals befinden und wie stark auch seine eigene Überspanntheit sein mochte, so war es doch nur natürlich, daß ihn dies alles heftig erschütterte. Ich begriff nun zwar gar nicht, worüber er zornig war; aber es wurde mir doch schrecklich traurig zumut, und ich fing an zu weinen; ich hatte die Vorstellung, alles, was unser warte, sei wohl so bedeutsam, daß ich dummes Kind nicht hätte wagen sollen, daran zu denken und davon zu reden. Außerdem fühlte ich, obgleich ich meinen Vater vom ersten Worte an nicht verstanden hatte, dennoch wenn auch nur dunkel, daß ich meine Mutter beleidigt hatte. Schrecken und Angst befielen mich, und Zweifel schlichen sich in meine Seele. Da begann mein Vater, als er sah, daß ich weinte und mich sehr unglücklich fühlte, mich zu trösten, wischte mir mit dem Rockärmel die Tränen ab und sagte, ich solle nicht mehr weinen. Eine ganze Weile saßen wir beide schweigend da; er machte ein finsteres Gesicht und schien über etwas nachzudenken; dann fing er von neuem an mit mir zu reden; aber wie sehr ich auch meine Aufmerksamkeit anstrengte, alles, was er sagte, blieb mir ganz unklar. Aus einigen Worten dieses Gespräches, die ich bis heute im Gedächtnisse behalten habe, schließe ich, daß er mir auseinandersetzte, was er für ein Mann sei, was für ein großer Künstler, daß ihn niemand verstehe, und daß er ein großes Talent besitze. Ich erinnere mich noch an folgendes: er fragte mich, ob ich ihn verstanden hätte, erhielt natürlich eine bejahende Antwort und legte mir dann die Frage vor, ob er Talent besitze; ich bejahte auch diese Frage, worauf er leise lächelte, weil es ihm vielleicht selbst komisch vorkam, daß er über einen für ihn so bedeutsamen Gegenstand sich mit mir in ein Gespräch eingelassen hatte. Unser Gespräch wurde durch den Eintritt Karl Fjodorowitschs unterbrochen, und ich lachte auf und wurde wieder ganz heiter, als mein Vater, auf ihn zeigend, zu mir sagte:

»Aber dieser Karl Fjodorowitsch hier besitzt nicht für eine Kopeke Talent.«

Dieser Karl Fjodorowitsch war eine sehr merkwürdige Persönlichkeit. Ich bekam in jener Zeit meines Lebens so wenige Menschen zu sehen, daß ich ihn nicht habe vergessen können. Ich sehe ihn vor mir, wie wenn es heute wäre: er war ein Deutscher mit dem Familiennamen Meyer, in Deutschland geboren, und war nach Rußland gekommen mit dem brennenden Wunsche, in das Petersburger corps de ballet einzutreten. Aber er war ein sehr schlechter Tänzer, so daß er nicht einmal als Figurant zu gebrauchen war und im Theater in Statistenrollen verwendet wurde. Er spielte stumme Rollen in dem Gefolge von Fortinbras oder war einer jener veronesischen Ritter, die alle zusammen, zwanzig an der Zahl, ihre Dolche von Pappe in die Höhe heben und rufen: »Wir wollen für den König sterben!« Aber gewiß gab es keinen Schauspieler auf der Welt, der sich mit solcher Leidenschaft seinen Rollen hingegeben hätte wie dieser Karl Fjodorowitsch. Das größte Unglück und Leid seines ganzen Lebens war, daß er nicht zum Ballett gekommen war. Die Tanzkunst stellte er über alle andern Künste, die es in der Welt gibt, und er hing an ihr in seiner Art ebenso wie mein Vater an der Geige. Er war mit meinem Vater bekannt geworden, als sie noch beim Theater angestellt waren, und seitdem verließ der Figurant a. D. ihn nicht mehr. Beide kamen sehr oft miteinander zusammen und weinten dann über ihr unglückliches Schicksal und darüber, daß sie von den Menschen verkannt würden. Der Deutsche war der gefühlvollste, zärtlichste Mensch von der Welt und hegte gegen meinen Vater die wärmsten Gefühle uneigennütziger Freundschaft; aber dieser schien keine besondere Zuneigung zu ihm zu empfinden und duldete ihn als Bekannten nur in Ermangelung anderer. Überdies konnte mein Vater bei seiner Einseitigkeit nie begreifen, daß auch die Tanzkunst eine Kunst sei, und kränkte dadurch den armen Deutschen oft bis zu Tränen. Da er diese seine schwache Seite kannte, berührte er sie immer absichtlich und amüsierte sich über den unglücklichen Karl Fjodorowitsch, wenn dieser ihm das Gegenteil zu beweisen suchte und dabei hitzig wurde und außer sich geriet. Ich habe später viel über diesen Karl Fjodorowitsch von B*** gehört, der ihn ein Nürnberger Hoppsmännchen nannte. B*** erzählte sehr vieles von dessen Freundschaft mit meinem Vater, unter anderem, daß sie oft zusammengekommen seien und, sobald sie etwas hätten getrunken gehabt, über ihr Schicksal geweint hätten und darüber, daß sie verkannt seien. Ich erinnere mich selbst an diese Zusammenkünfte und erinnere mich auch, daß ich, wenn ich die beiden wunderlichen Käuze ansah, ebenfalls manchmal losschluchzte, ohne zu wissen warum. Das geschah immer nur, wenn meine Mutter nicht zu Hause war; denn vor dieser hatte der Deutsche eine furchtbare Angst und stand immer vorher auf dem Flur und wartete, bis jemand herauskam, und wenn er erfuhr, daß meine Mutter zu Hause sei, lief er sofort wieder die Treppe hinunter. Er brachte jedesmal deutsche Gedichte mit, las sie uns beiden mit flammender Begeisterung vor und übersetzte sie dann, um sie uns verständlich zu machen, in ein gebrochenes Russisch. Das erheiterte meinen Vater sehr; ich aber lachte manchmal bis zu Tränen. Aber einmal hatten sie sich beide ein russisches Werk verschafft, von dem sie beide in hohem Grade enthusiasmiert waren, und das sie dann fast immer bei ihren Zusammenkünften lasen. Ich erinnere mich, daß es ein Drama in Versen von irgendeinem bekannten russischen Autor war. Die ersten Zeilen dieses Stückes prägten sich mir so fest ein, daß, als es mir später, nach einigen Jahren, zufällig in die Hände kam, ich es ohne Mühe wiedererkannte. In diesem Drama war viel von dem Unglück eines großen Künstlers die Rede, irgendeines Gennaro oder Giacomo, der auf einer Seite rief: »Ich werde nicht anerkannt!« und auf der andern: »Ich werde anerkannt!« oder: »Ich bin talentlos!« und nachher einige Zeilen weiter: »Ich besitze Talent!« Das Ganze endete sehr weinerlich. Dieses Drama war zwar ein sehr schlechtes Machwerk; aber merkwürdigerweise wirkte es in der naivsten, tragischsten Weise auf die beiden Leser, die in dem Haupthelden eine große Ähnlichkeit mit sich selbst fanden. Ich erinnere mich, daß Karl Fjodorowitsch manchmal in solche Aufregung geriet, daß er vom Stuhle aufsprang, in die gegenüberliegende Ecke des Zimmers lief und meinen Vater und mich, die er »Mademoiselle« nannte, dringend und inständig mit Tränen in den Augen bat, gleich auf der Stelle Schiedsrichter zwischen ihm einerseits und dem Schicksal und dem Publikum andrerseits zu sein. Dann begann er ohne Verzug zu tanzen, und nachdem er einige Pas ausgeführt hatte, rief er uns zu, wir möchten ihm sofort sagen, ob er ein Künstler sei, oder ob man das Gegenteil behaupten könne, nämlich daß er kein Talent besitze. Mein Vater wurde dann sehr vergnügt und blinkte mir heimlich zu, als wolle er mir im voraus ankündigen, daß er sich gleich über den Deutschen königlich lustig machen werde. Mir wurde furchtbar lächerlich zumute; aber mein Vater drohte mir mit dem Finger, und so nahm ich mich denn zusammen, obwohl ich vor Lachen beinah erstickte. Selbst jetzt bei der bloßen Erinnerung muß ich lachen. Als wenn es heute wäre, sehe ich diesen armen Karl Fjodorowitsch vor mir. Er war von sehr kleiner Statur, außerordentlich schmächtig, schon ergraut und hatte eine gebogene, rote Nase, die immer von Tabak befleckt war, und schrecklich krumme Beine; aber trotzdem war er auf ihre Schönheit stolz und trug sehr enge Beinkleider. Wenn er nach dem letzten Sprunge in einer kunstvollen Pose stehenblieb, die Arme zu uns hinstreckte und uns anlächelte, wie auf der Bühne die Tänzer nach Ausführung ihrer Pas zu lächeln pflegen, dann beobachtete mein Vater einige Augenblicke lang Stillschweigen, wie wenn er sich noch nicht entschließen könnte, ein Urteil auszusprechen, und ließ absichtlich den verkannten Tänzer in seiner Pose verharren, so daß er auf einem Bein von einer Seite zur andern schwankte und alle Kraft aufbieten mußte, um das Gleichgewicht zu bewahren. Zuletzt blickte mein Vater mich mit überaus ernster Miene an, wie wenn er mich auffordern wollte, unparteiische Zeugin des Urteils zu sein, und gleichzeitig richteten sich auf mich auch die schüchternen, flehenden Blicke des Tänzers.

»Nein, Karl Fjodorowitsch, es gelingt dir nicht!« sagte mein Vater endlich, indem er sich stellte, als sei es ihm selbst unangenehm, die bittere Wahrheit auszusprechen. Dann entrang sich der Brust Karl Fjodorowitschs ein aufrichtiges Stöhnen; aber im nächsten Augenblick faßte er wieder Mut, bat uns mit eilfertigen Gebärden von neuem um Aufmerksamkeit, versicherte, er habe nur nicht nach der richtigen Methode getanzt, und flehte uns an, noch einmal zu richten. Dann lief er von neuem in eine andere Ecke und sprang manchmal so eifrig, daß er mit dem Kopfe die Decke berührte und sich schmerzhaft stieß; aber er ertrug den Schmerz heroisch wie ein Spartaner, hielt wieder in der Schlußpositur inne, streckte wieder die zitternden Arme nach uns hin und bat wieder um eine Entscheidung seines Schicksals. Aber mein Vater war unerbittlich und antwortete wie vorher mit düsterer Miene:

»Nein, Karl Fjodorowitsch, es ist offenbar dein Schicksal: es gelingt dir nicht!«

Hier konnte ich mich nicht länger halten und brach in ein schallendes Gelächter aus, und nach mir auch mein Vater. Karl Fjodorowitsch, der nun endlich die Neckerei merkte, wurde ganz rot vor Unwillen; mit Tränen in den Augen und mit tiefer, wenn auch sich komisch äußernder Empfindung, die aber nachher bei mir ein reuevolles Mitleid mit dem Unglücklichen erweckte, rief er meinem Vater zu:

»Du bist ein treuloser Freund!«

Dann griff er nach seinem Hute und lief davon, indem er bei allem, was heilig ist, schwur, er werde nie wiederkommen. Aber derartige Streitigkeiten waren nicht von langer Dauer; einige Tage darauf erschien er wieder bei uns; von neuem begann die Lektüre des berühmten Dramas; von neuem wurden Tränen vergossen, und dann bat uns der naive Karl Fjodorowitsch von neuem, seinen Streit mit den Menschen und dem Schicksal zu entscheiden; nur flehte er uns an, diesmal ernsthaft unser Urteil abzugeben, wie es sich für wahre Freunde zieme, und uns nicht über ihn lustig zu machen.

Einstmals hatte mich meine Mutter nach dem Kaufladen geschickt, um etwas einzuholen, und ich hatte beim Rückwege vorsichtig eine kleine Silbermünze, die ich herausbekommen hatte, in der Hand. Als ich die Treppe hinaufstieg, begegnete ich meinem Vater, welcher ausgehen wollte. Ich lachte ihn an, da ich meine Freude, ihn zu sehen, nicht unterdrücken konnte, und als er sich niederbeugte, um mich zu küssen, bemerkte er in meiner Hand die Silbermünze … Ich habe vergessen zu sagen, daß ich mit dem Ausdruck seines Gesichtes so genau Bescheid wußte, daß ich fast immer sofort beim ersten Blick seine Wünsche erriet. Wenn er traurig war, wollte mir das Herz brechen vor Mitleid. Am häufigsten und größten war sein Kummer, wenn er gar kein Geld hatte und daher keinen Tropfen Branntwein trinken konnte; denn das Trinken war ihm schon zur Gewohnheit geworden.

Aber in diesem Augenblicke, wo wir uns auf der Treppe trafen, schien es mir, als ob in ihm etwas Besonderes vorgehe. Seine trüb gewordenen Augen irrten unstet umher, und im ersten Augenblick bemerkte er mich gar nicht; als er aber dann in meiner Hand die glänzende Silbermünze sah, wurde er auf einmal rot und dann wieder blaß; er wollte schon die Hand ausstrecken, um mir das Geldstück abzunehmen, zog sie aber sogleich wieder zurück. Augenscheinlich ging in seinem Innern ein Kampf vor. Schließlich schien er sich überwunden zu haben, hieß mich nach oben gehen und ging einige Stufen hinunter; aber plötzlich blieb er stehen und rief mich eilig zu sich.

Er war sehr verlegen.

»Hör mal, Netotschka,« sagte er, »gib mir das Geld, ich werde es dir nachher wiederbringen. Ja? Du wirst es doch deinem Papa geben? Du bist doch ein gutes Kind, Netotschka?«

Ich hatte das schon geahnt. Aber der Gedanke daran, wie böse die Mutter sein werde, und Furcht vor Strafe und vor allem ein instinktives Gefühl der Scham über meine und meines Vaters Handlungsweise hielten mich im ersten Augenblick davon zurück, ihm das Geld auszuhändigen. Er bemerkte dies sofort und sagte hastig:

»Nun, es ist auch nicht nötig, es ist auch nicht nötig! …«

»Nein, nein, Papa, nimm es! Ich werde sagen, ich hätte es verloren; die Nachbarskinder hätten es mir fortgenommen.«

»Nun gut, gut; ich wußte ja, daß du ein kluges Mädchen bist,« sagte er; er lächelte mit zitternden Lippen und suchte seine Freude, als er das Geldstück in seiner Hand fühlte, nicht mehr zu verbergen. »Du bist ein gutes Mädchen, du bist mein Engelchen! Zeig her, ich will dir dein Händchen küssen!«

Er ergriff meine Hand und wollte sie küssen; aber ich entzog sie ihm schnell. Ein tiefes Mitleid ergriff mich, und das Gefühl der Scham peinigte mich immer stärker. Ich ließ den Vater stehen, ohne von ihm Abschied zu nehmen, und lief voll Angst nach oben. Als ich ins Zimmer trat, brannten mir die Backen, und das Herz schlug mir heftig infolge einer quälenden, mir bis dahin unbekannten Empfindung. Indessen sagte ich dreist zu meiner Mutter, das Geldstück sei mir in den Schnee gefallen, und ich hätte es nicht wiederfinden können. Ich erwartete zum mindesten eine Tracht Schläge; aber es erfolgte nichts derart. Meine Mutter war allerdings anfänglich außer sich vor Ärger, weil wir furchtbar arm waren. Sie schrie mich an, schien sich dann aber sofort eines andern zu besinnen, schalt mich nicht mehr und bemerkte nur, ich sei ein ungeschicktes, nachlässiges Mädchen und hätte sie offenbar nicht sehr lieb, da ich ihr Eigentum so wenig in acht nähme. Diese Bemerkung war mir schmerzlicher, als wenn ich Schläge bekommen hätte. Aber meine Mutter kannte mich schon; sie kannte meine Empfindsamkeit, die oft bis zu krankhafter Reizbarkeit ging, und glaubte mit dem bitteren Vorwurfe der Lieblosigkeit auf mich mehr Eindruck zu machen und mich für die Zukunft zu größerer Vorsicht zu veranlassen.

In der Dämmerstunde, zu der Zeit, wo der Vater zurückkommen mußte, erwartete ich ihn wie gewöhnlich auf dem Flur. Diesmal befand ich mich in starker Verwirrung. Meine Seele war durch Gewissensbisse heftig erregt. Endlich kehrte der Vater zurück, und ich freute mich sehr über sein Kommen, wie wenn ich glaubte, es werde mir davon leichter ums Herz werden. Er hatte sich schon in heitere Laune versetzt; aber als er mich erblickte, nahm er sofort eine geheimnisvolle, verlegene Miene an, führte mich in eine Ecke, zog, ängstlich nach unserer Tür hinblickend, einen Pfefferkuchen, den er gekauft hatte, aus der Tasche und ermahnte mich im Flüstertone, ich sollte mich nie wieder unterstehen, der Mutter heimlich Geld wegzunehmen; das sei eine schlechte, sehr häßliche Handlung, über die man sich schämen müsse; jetzt sei dies ja allerdings deswegen geschehen, weil der Papa dringend Geld nötig gehabt habe; aber er werde es mir wiedergeben, und ich könne ja dann sagen, ich hätte das Geld wiedergefunden; aber der Mama Geld wegzunehmen, das sei eine Schande, und ich solle mir künftig so etwas ja nicht wieder beikommen lassen, und wenn ich das künftig beherzigen wolle, dann werde er mir zur Belohnung noch mehr Pfefferkuchen kaufen; zum Schlusse fügte er sogar hinzu, ich solle mit Mama Mitleid haben; Mama sei so krank und arm und arbeite ganz allein für uns alle. Voller Angst hörte ich zu; ich zitterte am ganzen Leibe, und die Tränen stürzten mir aus den Augen. Ich war so betroffen, daß ich kein Wort herausbringen und mich nicht von der Stelle rühren konnte. Endlich ging er ins Zimmer, nachdem er mir noch gesagt hatte, ich solle nicht weinen und nichts von allem Geschehenen der Mutter erzählen. Ich nahm wahr, daß er auch selbst sehr verlegen war. Den ganzen Abend über war ich in großer Angst und wagte zum erstenmal nicht, ihn anzusehen und mich ihm zu nähern. Augenscheinlich vermied auch er meine Blicke. Meine Mutter ging im Zimmer auf und ab und redete nach ihrer Gewohnheit wie in Selbstvergessenheit etwas vor sich hin. An diesem Tage befand sie sich schlechter und bekam eine Art Anfall. Ich aber begann infolge der seelischen Qual schließlich zu fiebern. Als es Nacht wurde, konnte ich nicht einschlafen. Krankhafte Träume peinigten mich. Endlich vermochte ich es nicht mehr zu ertragen und fing an bitterlich zu weinen. Mein Schluchzen weckte die Mutter auf; sie rief mich an und fragte, was mir fehle. Ich antwortete nicht, sondern weinte noch heftiger. Da zündete sie Licht an, trat zu mir und suchte mich zu beruhigen, in der Meinung, ich hätte mich im Traum vor etwas geängstigt. »Ach, du dummes kleines Mädchen!« sagte sie; »immer noch weinst du, wenn dir etwas träumt! Na, nun hör aber auf!« Dann küßte sie mich und sagte, ich solle zu ihr kommen und bei ihr schlafen. Aber ich wollte nicht; ich wagte nicht, sie zu umarmen und zu ihr zu gehen. Ich litt unsägliche Qualen. Es drängte mich, ihr alles zu erzählen. Ich wollte schon anfangen; aber der Gedanke an den Vater und an sein Verbot hielt mich zurück. »Ach, du arme, kleine Netotschka!« sagte die Mutter, während sie mich wieder ordentlich ins Bett legte und mich mit ihrer alten Pelerine zudeckte, da sie bemerkt hatte, daß ich vor Fieberschauern am ganzen Leibe zitterte; »du wirst gewiß einmal eine ebenso kranke Frau werden wie ich!« Dabei sah sie mich so traurig an, daß ich ihren Blick nicht ertragen konnte, sondern die Augen zudrückte und mich abwandte. Ich erinnere mich nicht, wie ich einschlief; aber noch im Halbschlaf hörte ich lange, wie meine arme Mutter mir beruhigend zuredete. Noch nie hatte ich schlimmere Qualen erduldet. Das Herz krampfte sich mir schmerzhaft zusammen. Am folgenden Morgen war mir leichter zumute. Ich knüpfte mit meinem Vater ein Gespräch an, ohne das gestrige Ereignis zu erwähnen; denn ich hatte im voraus das Gefühl, daß ihm dies sehr angenehm sein werde. Sofort wurde er heiterer; denn auch er hatte immer ein finsteres Gesicht gemacht, wenn er nach mir hinsah. Nun aber, wo er mich vergnügt sah, bemächtigte sich seiner eine lebhafte Fröhlichkeit, eine beinah kindliche Zufriedenheit. Bald darauf ging die Mutter aus, und nun konnte er sich nicht mehr halten. Er begann, mich so zu küssen, daß ich in eine Art von hysterischem Entzücken geriet und gleichzeitig lachte und weinte. Zuletzt sagte er, er wolle mir etwas sehr Schönes zeigen, weil ich ein so kluges, gutes Mädchen sei; es werde mir viel Freude machen, es zu sehen. Damit knöpfte er sich die Weste auf und zog ein Schlüsselchen heraus, das er an einem schwarzen Schnürchen am Halse hängen hatte. Dann sah er mich geheimnisvoll an, als wolle er in meinen Augen das ganze Vergnügen lesen, das ich seiner Meinung nach empfinden mußte, öffnete einen Koffer und nahm aus ihm behutsam einen schwarzen Kasten von eigentümlicher Form heraus, den ich bisher noch nie bei ihm gesehen hatte. Er faßte diesen Kasten mit einer Art von Scheu an und war auf einmal ganz verändert: das Lachen war von seinem Gesichte verschwunden, das plötzlich einen sozusagen feierlichen Ausdruck annahm. Endlich öffnete er den geheimnisvollen Kasten mit dem Schlüsselchen und nahm ein Ding heraus, das ich bisher noch nie gesehen hatte, ein Ding von ganz sonderbarer Gestalt. Vorsichtig und andachtsvoll nahm er es in die Hand und sagte, das sei seine Geige, sein Instrument. Nun begann er, mir vieles mit leiser, feierlicher Stimme zu sagen; aber ich verstand es nicht und behielt nur die mir bereits bekannten Ausdrücke im Gedächtnis: daß er ein Künstler sei, daß er Talent besitze, daß er später einmal auf der Geige spielen werde, und daß wir dann endlich alle reich werden und ein großes Glück erlangen würden. Die Tränen traten ihm in die Augen und liefen ihm über die Backen. Ich war sehr gerührt. Zuletzt küßte er die Geige und gab sie auch mir zum Küssen. Da er sah, daß ich sie gern näher betrachtet hätte, so führte er mich an das Bett meiner Mutter und gab mir die Geige in die Hände; aber ich sah, daß er ordentlich zitterte vor Angst, ich könnte sie irgendwie beschädigen. Ich nahm die Geige in die Hände und berührte die Saiten, die einen schwachen Ton gaben.

»Das ist Musik,« sagte ich, indem ich meinen Vater anblickte.

»Ja, ja, das ist Musik,« wiederholte er, sich fröhlich die Hände reibend; »du bist ein kluges Kind, ein gutes Kind!«

Aber trotz seines Lobes und seines Entzückens sah ich, daß er für seine Geige fürchtete, und bekam es nun ebenfalls mit der Angst; ich gab sie ihm möglichst schnell zurück. Die Geige wurde mit denselben Vorsichtsmaßregeln wieder in den Kasten gelegt, der Kasten zugeschlossen und in den Koffer gestellt; mein Vater streichelte mir nochmals den Kopf und versprach, mir die Geige jedesmal zu zeigen, wenn ich so verständig, gut und gehorsam sein würde wie jetzt. Auf diese Weise hatte die Geige unsern gemeinsamen Kummer verscheucht. Erst am Abend flüsterte mir der Vater beim Weggehen zu, ich solle nicht vergessen, was er mir gestern gesagt habe.

So wuchs ich in unserer Dachstube heran, und meine Liebe – nein, ich will lieber sagen meine Leidenschaft; denn ich finde kein Wort, das stark genug wäre, meine unhemmbar hervorbrechende, für mich selbst qualvolle Empfindung gegen meinen Vater auszudrücken– steigerte sich bis zu einer geradezu krankhaften Reizbarkeit. Ich kannte nur ein Vergnügen: an ihn zu denken und von ihm zu träumen, nur ein Verlangen: alles zu tun, was ihm auch nur im geringsten Freude machen konnte. Wie oft erwartete ich seine Ankunft auf der Treppe, oft zitternd und blau vor Kälte, nur um etwas früher, wenn auch nur einen Augenblick früher, zu wissen, daß er wieder da sei, und ihn sobald wie möglich zu sehen! Ich war wie sinnlos vor Freude, wenn er mir manchmal eine Liebkosung zuteil werden ließ, mochte sie auch noch so gering sein. Dabei aber war mir oft das Bewußtsein schmerzlich und quälend, daß ich gegen meine arme Mutter in so hartnäckiger Weise kalt blieb; es gab Augenblicke, wo mir das Herz brechen wollte vor Kummer und Mitleid, wenn ich sie ansah. Bei der dauernden Feindschaft zwischen meinem Vater und meiner Mutter konnte ich nicht gleichgültig bleiben und mußte zwischen ihnen wählen, mußte die Partei des einen oder des andern ergreifen, und ich ergriff die Partei dieses halb irrsinnigen Menschen wohl einzig und allein deshalb, weil er mir so kläglich und niedergedrückt erschien und gleich von Anfang an einen so unbegreiflichen Eindruck auf meine Phantasie gemacht hatte. Aber wer könnte den wahren Grund mit Sicherheit angeben? Vielleicht fühlte ich mich auch gerade deswegen zu ihm hingezogen, weil er so sonderbar war, selbst in seinem Äußeren, und nicht so ernst und finster wie meine Mutter, und weil er beinah verrückt war, und weil häufig bei ihm etwas Possenhaftes, ein kindliches Wesen zum Vorschein kam, und endlich weil ich vor ihm weniger Furcht und sogar weniger Respekt hatte als vor meiner Mutter. Er stand sozusagen mit mir mehr auf einer Stufe. Allmählich spürte ich, daß ich sogar die Oberhand über ihn gewann, daß ich ihn ein wenig unter meine Botmäßigkeit brachte, daß ich ihm bereits unentbehrlich war. Ich war innerlich darauf stolz, triumphierte innerlich, und da ich mir meiner Unentbehrlichkeit für ihn bewußt war, so neckte ich ihn sogar manchmal. In der Tat, diese meine seltsame Zuneigung hatte etwas Romanhaftes. Aber diesem Romane war keine lange Dauer beschieden: bald verlor ich meinen Vater und meine Mutter. Beider Leben fand sein Ende durch eine schreckliche Katastrophe, die in meinem Gedächtnisse einen tiefschmerzlichen Eindruck hinterlassen hat. Das trug sich folgendermaßen zu.

Drittes Kapitel

Um diese Zeit geriet ganz Petersburg durch eine außerordentliche Neuigkeit in Aufregung. Es verbreitete sich das Gerücht von der Ankunft des berühmten S***z. Alles, was musikalisch war in Petersburg, kam in Bewegung. Sänger, Musiker, Dichter, Musikfreunde und sogar solche Leute, die niemals Musikfreunde gewesen waren und mit stolzer Bescheidenheit versicherten, sie kennten keine einzige Note, alle rissen sich mit begieriger Begeisterung um Billette. Der Saal konnte nicht den zehnten Teil der Enthusiasten fassen, die in der Lage waren, fünfundzwanzig Rubel Eintrittsgeld zu bezahlen; aber S***zs europäischer Ruf, der Lorbeer, der ihm auch in seinem hohen Alter treu geblieben war, die unverwelkliche Frische seines Talentes, das Gerücht, daß er in der letzten Zeit nur selten den Violinbogen für das Publikum in die Hand genommen habe, die Erklärung, dies sei seine letzte Tour durch Europa und er werde dann ganz aufhören zu spielen, dies alles tat seine Wirkung. Mit einem Worte, der Eindruck, den diese Nachricht machte, war ein großer und tiefer.

Ich habe schon gesagt, daß die Ankunft jedes neuen Geigers, jeder auch nur einigermaßen hervorragenden Zelebrität meinen Stiefvater in eine sehr unangenehme Stimmung versetzte. Er suchte dann immer einer der ersten zu sein, die den fremden Künstler hörten, um möglichst bald beurteilen zu können, auf welcher Höhe seine Kunst stehe. Oft wurde er geradezu krank von dem Lobe, das dem Ankömmling ringsum gespendet wurde, und beruhigte sich erst dann, wenn er an dem Spiele des neuen Geigers hatte Mängel entdecken können und nun in scharfen Ausdrücken seine Meinung überall aussprach, wo er dazu die Möglichkeit hatte. Der arme, geistesgestörte Mensch erkannte in der ganzen Welt nur ein Talent, nur einen Künstler an, und dieser Künstler war natürlich er selbst. Aber das Gerücht von der Ankunft S***zs, dieses musikalischen Genies, brachte auf ihn eine erschütternde Wirkung hervor. Es muß bemerkt werden, daß Petersburg in den letzten zehn Jahren keinen talentvollen Musiker zu hören bekommen hatte, der an Ruhm auch nur im entferntesten mit S***z zu vergleichen gewesen wäre; infolgedessen hatte mein Vater gar keine Vorstellung von dem Spiele eines westeuropäischen Künstlers ersten Ranges.

Es ist mir erzählt worden, bei dem ersten Gerüchte von S***zs Ankunft habe man meinen Vater sogleich wieder hinter den Kulissen des Theaters gesehen. Er habe sich sehr aufgeregt gezeigt und sich mit großer Unruhe nach S***z und dem bevorstehenden Konzerte erkundigt. Da man ihn schon seit langer Zeit nicht mehr hinter den Kulissen gesehen gehabt habe, habe sein Erscheinen dort sogar ein gewisses Aufsehen erregt. Jemand habe ihn aufziehen wollen und in herausforderndem Tone zu ihm gesagt: »Jetzt werden Sie keine Ballettmusik zu hören bekommen, mein lieber Jegor Petrowitsch, sondern eine Musik, vor der Sie sich verkriechen müssen!« Er sei beim Anhören dieser Spottrede ganz blaß geworden, habe aber mit gezwungenem Lächeln geantwortet: »Nun, wir werden ja sehen; über alles, was in der Ferne ist, wird viel gelogen; bis jetzt ist ja S***z nur in Paris gewesen; da haben nun die Franzosen ein großes Geschrei von ihm gemacht; aber man kennt ja die Franzosen schon!« usw. Ringsumher sei gelacht worden; der arme Mensch habe sich gekränkt gefühlt, sich aber beherrscht und hinzugefügt, er wolle weiter nichts sagen; man werde ja sehen; bis übermorgen sei nicht mehr lange hin; alle Unklarheiten würden bald aufgehellt werden.

Aus B***s Mitteilung weiß ich folgendes. An diesem selben Abend, kurz vor dem Dunkelwerden, begegnete B*** dem Fürsten Ch***i, einem bekannten Dilettanten, der für die Kunst ein tiefes Verständnis besaß und sie außerordentlich liebte. Sie gingen zusammen und sprachen über den neuangekommenen Künstler, als B*** plötzlich an einer Straßenecke meinen Vater erblickte, der vor einem Schaufenster stand und unverwandt einen dort ausliegenden Zettel ansah, auf dem in großen Buchstaben S***zs Konzert angezeigt war.

»Sehen Sie diesen Menschen?« sagte B***, auf meinen Vater weisend.

»Wer ist es?« fragte der Fürst.

»Sie haben schon von ihm gehört. Es ist eben jener Jesimow, von dem ich Ihnen mehrmals gesprochen habe, und dem Sie sogar einmal Ihre Protektion zuteil werden ließen.«

»Ah, das ist interessant!« erwiderte der Fürst. »Sie haben mir viel von ihm gesagt. Er soll ja ein sehr merkwürdiger Mensch sein. Ich würde ihn gern einmal spielen hören.«

»Es lohnt sich nicht der Mühe,« antwortete B***, »und es hat auch etwas sehr Peinliches. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht; aber mir tut immer das Herz weh, wenn ich mit ihm zu tun habe. Sein Leben ist eine furchtbare, widerwärtige Tragödie. Ich habe tiefes Mitleid mit ihm, und wie verkommen er auch ist, so ist meine Teilnahme für ihn doch noch nicht erloschen. Sie sagen, Fürst, er müsse ein interessanter Mensch sein. Das ist richtig; aber er macht einen gar zu peinlichen Eindruck. Erstens ist er verrückt; und zweitens lasten auf diesem Verrückten drei Verbrechen, da er außer sich noch zwei Wesen zugrunde gerichtet hat: seine Frau und seine Tochter. Ich kenne ihn: er würde auf der Stelle sterben, wenn er sich seiner Verbrechen bewußt würde. Aber das Schreckliche liegt eben darin, daß er sich schon seit acht Jahren ihrer beinah bewußt ist und acht Jahre lang mit seinem Gewissen ringt, um sich ihrer nicht beinah, sondern völlig bewußt zu werden.«

»Sie sagten, er sei arm?« fragte der Fürst.

»Ja; aber die Armut ist jetzt für ihn beinah ein Glück, weil er sie als Ausrede benutzen kann. Er kann jetzt einem jeden gegenüber behaupten, nur die Armut hindere ihn, und wenn er reich wäre, so würde er Zeit haben und keine Sorgen, und dann würde man sofort sehen, was er für ein Künstler sei. Er hat sich in der sonderbaren Hoffnung verheiratet, die tausend Rubel, die seine Frau besaß, würden ihm auf die Beine helfen. Er hat wie ein Phantast gehandelt, wie ein Dichter, und so hat er es in seinem Leben stets gemacht. Wissen Sie, was er diese ganzen acht Jahre lang ununterbrochen behauptet hat? Er behauptet, an seiner Armut sei seine Frau schuld; seine Frau sei es, die ihn hindere. Er hat die Hände in den Schoß gelegt und will nicht arbeiten. Aber nehmen Sie ihm diese Frau, und er wird der unglücklichste Mensch auf der Welt sein. Es ist jetzt schon mehrere Jahre her, daß er die Geige nicht mehr in die Hand genommen hat; wissen Sie, warum? Weil er jedesmal, wenn er den Bogen in die Hand nimmt, sich selbst innerlich eingestehen muß, daß er ein Nichts ist, eine Null, aber kein Künstler. Jetzt aber, wo der Bogen ruhig daliegt, hat er wenigstens eine entfernte Hoffnung, daß das nicht wahr sei. Er ist ein Träumer; er meint, er werde plötzlich durch irgendein Wunder auf einen Schlag der berühmteste Mensch in der Welt werden. Sein Wahlspruch ist: aut caesar aut nihil, als ob man so ohne weiteres, plötzlich, in einem Augenblicke ein Cäsar werden könnte. Er dürstet nach Ruhm. Aber wenn eine Begierde die hauptsächlichste, die einzige Triebfeder des Künstlers wird, dann ist dieser Künstler kein Künstler mehr, weil er bereits den eigentlichen künstlerischen Naturtrieb verloren hat, das heißt die Liebe zur Kunst, einzig und allein weil sie die Kunst ist, und nicht weil sie zu etwas anderem, zum Beispiel zu Ruhm, verhilft. Nehmen Sie dagegen diesen S***z: sobald er den Bogen in die Hand nimmt, existiert für ihn in der Welt nichts als seine Musik. Nach der Musik kommt für ihn das Geld und erst an dritter Stelle, wie es scheint, der Ruhm. Aber um den hat er sich wenig Sorge gemacht … Wissen Sie, was jetzt diesen Unglücklichen beschäftigt?« fügte B***, auf Jesimow weisend, hinzu. »Ihn beschäftigt die dümmste, nichtigste, kläglichste, lächerlichste Sorge von der Welt, nämlich die Frage, ob er über S***z stehe oder S***z über ihm, weiter nichts; denn er ist trotz allem davon überzeugt, daß er der erste Musiker in der ganzen Welt ist. Überzeugen Sie ihn, daß er kein Künstler ist, und ich versichere Sie: er wird auf der Stelle wie vom Blitz getroffen sterben, weil es ihm zu furchtbar sein würde, sich von der fixen Idee zu trennen, der er sein ganzes Leben geopfert hat, und die im Grunde doch auf einem tiefen, ernsten Fundamente ruhte, da er anfänglich wirklich einen echten Beruf zur Kunst hatte.«

»Da kann man gespannt sein, was er anfangen wird, wenn er S***z hört,« bemerkte der Fürst.

»Ja,« versetzte B*** nachdenklich. »Aber nein, er wird sich sofort wieder zurechtfinden; seine Verdrehtheit ist stärker als die wahre Einsicht, und er wird sich sogleich irgendeine Ausrede ersinnen.«

»Meinen Sie?« erwiderte der Fürst.

In diesem Augenblicke waren sie ganz in die Nähe meines Vaters gelangt. Dieser wollte unbemerkt vorübergehen; aber B*** hielt ihn an und begann ein Gespräch mit ihm. Er fragte ihn, ob er das S***zsche Konzert besuchen werde. Mein Vater antwortete in gleichgültigem Tone, er wisse es noch nicht; er habe etwas vor, was ihm wichtiger sei als solche Konzerte und als alle angereisten Virtuosen; indessen wolle er einmal sehen, und wenn er sich ein freies Stündchen abmüßigen könne, warum nicht? Dann werde er mal hingehen. Darauf warf er einen schnellen, unruhigen Blick nach B*** und dem Fürsten hin, lächelte mißtrauisch, griff an den Hut, nickte mit dem Kopfe und ging vorüber, indem er zur Entschuldigung sagte, er habe keine Zeit.

Aber ich wußte schon seit einem Tage von der Sorge des Vaters. Ich wußte nicht, was ihn eigentlich quälte; aber ich sah, daß er sich in einer furchtbaren Unruhe befand; sogar meine Mutter bemerkte dies. Sie war in dieser Zeit sehr krank und konnte kaum die Beine bewegen.

Der Vater kam alle Augenblicke nach Hause und ging wieder fort. Am Vormittag erhielt er Besuch von drei oder vier Leuten, früheren Kollegen von ihm, worüber ich sehr erstaunt war, da außer Karl Fjodorowitsch Fremde fast nie zu uns kamen; denn seit der Vater vom Theater ganz weg war, hatten alle die Bekanntschaft mit uns aufgegeben. Endlich kam auch Karl Fjodorowitsch ganz außer Atem angelaufen und brachte eine Konzertanzeige.

Ich strengte meine Augen und Ohren an, um zu verstehen, was vorging, und alles beunruhigte mich so, als ob ich, allein an der ganzen Aufregung schuld wäre, die ich auf dem Gesichte meines Vaters las. Ich hätte gern verstanden, wovon sie sprachen, und hörte zum erstenmal den Namen S***z. Ferner vernahm ich, daß man mindestens fünfzehn Rubel bezahlen müsse, wenn man diesen S***z hören wolle. Ich erinnere mich auch, daß mein Vater sich nicht beherrschen konnte und mit einer wegwerfenden Handbewegung sagte, er kenne schon diese Meerwunder, diese unerhörten Talente; er kenne auch S***z; das seien alles Juden, die nach russischem Gelde lüstern wären, weil die Russen in ihrer Einfalt allen Unsinn glaubten und ganz besonders das, was die Franzosen in die Welt hinausposaunten. Ich verstand bereits, was der Ausdruck »kein Talent« bedeutete. Die Besucher lachten und gingen bald darauf alle weg; der Vater blieb in sehr übler Laune zurück. Ich verstand, daß er aus irgendwelchem Grunde auf diesen S***z ärgerlich war, und um ihm etwas Liebes zu tun und seinen Kummer zu verscheuchen, trat ich an den Tisch heran, nahm die Konzertanzeige auf, begann sie zu entziffern und las laut den Namen S***z. Dann blickte ich meinen Vater, der in Gedanken versunken auf seinem Stuhle saß, lachend an und sagte: »Das ist gewiß auch so einer wie Karl Fjodorowitsch; dem gelingt gewiß auch nichts.« Der Vater fuhr zusammen, wie wenn er einen Schreck bekommen hätte, riß mir die Konzertanzeige aus den Händen, schrie und stampfte mit den Füßen, ergriff seinen Hut und verließ das Zimmer; aber im nächsten Augenblicke kehrte er wieder zurück, rief mich auf den Flur hinaus, küßte mich und begann mit einer Art von Unruhe und geheimer Angst mir zu sagen, ich sei ein verständiges, gutes Kind; ich werde ihn gewiß nicht erzürnen wollen; er erwarte von mir einen großen Dienst. Aber um was es sich handelte, das sagte er nicht. Dabei war es mir peinlich, ihn reden zu hören; denn ich merkte, daß seine Worte und Liebkosungen nicht aufrichtig waren, und all das ergriff mich heftig. Eine qualvolle Unruhe überkam mich seinetwegen.

Am andern Tage beim Mittagessen (das war schon am Tage vor dem Konzerte) war mein Vater in sehr gedrückter Stimmung. Er sah furchtbar verändert aus und blickte fortwährend nach der Mutter hin. Endlich knüpfte er zu meiner Verwunderung sogar ein Gespräch über irgendeinen Gegenstand mit ihr an; ich sage: zu meiner Verwunderung, denn er redete sonst fast nie mit ihr. Nach Tische benahm er sich gegen mich ganz besonders freundlich; alle Augenblicke rief er mich unter diesem und jenem Vorwande auf den Flur hinaus, blickte um sich, als ob er ertappt zu werden fürchtete, streichelte mir fortwährend den Kopf, küßte mich immerzu und sagte, ich sei ein gutes Kind, ein gehorsames Kind; ich hätte meinen Papa gewiß lieb und würde gewiß tun, um was er mich bäte. All das rief bei mir ein unerträgliches Gefühl der Beklemmung hervor. Endlich, als er mich zum zehntenmal auf die Treppe hinausgerufen hatte, wurde die Sache klar. Mit ängstlicher, gequälter Miene, sich unruhig nach allen Seiten umblickend, fragte er mich, ob ich nicht wüßte, wo die Mutter die fünfundzwanzig Rubel aufbewahre, die sie gestern morgen nach Haus gebracht habe. Ich wurde starr vor Schreck, als ich diese Frage hörte. Aber in diesem Augenblicke wurde ein Geräusch von jemand, der auf der Treppe ging, hörbar; der Vater erschrak, ließ mich stehen und lief aus dem Hause. Er kehrte erst gegen Abend zurück, finster, traurig und sorgenvoll; schweigend setzte er sich auf einen Stuhl und begann dann, mit einer Art von freudiger Hoffnung mich anzusehen. Mich befiel eine große Angst, und ich vermied seine Blicke absichtlich. Endlich rief mich die Mutter, die den ganzen Tag im Bette gelegen hatte, zu sich heran, gab mir etwas Kupfergeld und schickte mich zum Kaufmann, um Tee und Zucker zu holen. Tee wurde bei uns nur sehr selten getrunken; die Mutter erlaubte sich diesen für unsere Mittel luxuriösen Genuß nur, wenn sie sich krank fühlte und fieberte. Ich nahm das Geld, ging auf den Flur und fing sofort an zu laufen, als ob ich fürchtete, daß mich jemand einholen könne. Aber das, was ich geahnt hatte, geschah wirklich: mein Vater holte mich ein, als ich schon auf der Straße war, und hieß mich wieder auf die Treppe zurückkommen.

«Netotschka!« sagte er mit zitternder Stimme. »Mein Täubchen! Höre: gib mir das Geld; ich werde gleich morgen …«

»Papachen, Papachen!« rief ich flehend und warf mich ihm zu Füßen. »Papachen! Das kann ich nicht! Das darf ich nicht! Mama muß Tee trinken … Ich darf es ihr nicht wegnehmen; das darf ich unmöglich! Ich will dir ein andermal …«

»Also du willst nicht? Du willst nicht?« flüsterte er mir wie rasend zu. »Also du willst mich nicht liebhaben? Nun gut! Dann werde ich dich verlassen. Bleib du bei Mama, und ich werde von euch fortgehen und dich nicht mitnehmen. Hörst du wohl, du böses Mädchen? Hörst du wohl?«

»Papachen!« rief ich in höchster Angst. »Nimm das Geld! Da! Was soll ich jetzt machen?« sagte ich, die Hände ringend und ihn am Rockflügel fassend. »Mama wird wieder weinen; Mama wird mich wieder schelten!«

Er schien so viel Widerstand nicht erwartet zu haben; aber er nahm das Geld. Als er schließlich mein Klagen und Schluchzen nicht mehr ertragen konnte, ließ er mich auf der Treppe stehen und lief hinunter. Ich ging nach oben; aber an der Tür unserer Wohnung verließ mich die Kraft; ich wagte nicht hineinzugehen, war nicht imstande hineinzugehen; mein Herz war in seinen Grundtiefen erschüttert und aufgewühlt. Ich verbarg das Gesicht in den Händen und lief zum Fenster wie damals, als ich den Vater zum erstenmal den Wunsch aussprechen hörte, daß die Mutter sterben möchte. Ich befand mich in einer Art von Geistesabwesenheit und Erstarrung und horchte zusammenfahrend nach dem leisesten Geräusche auf der Treppe hin. Endlich hörte ich, daß jemand eilig die Treppe herauskam. Das war er; ich erkannte seinen Schritt.

»Du bist hier?« sagte er flüsternd.

Ich stürzte zu ihm hin.

»Da!« rief er und schob mir das Geld in die Hand.

»Da! Nimm es zurück! Ich bin jetzt nicht mehr dein Vater, hörst du wohl? Ich will jetzt nicht mehr dein Papa sein! Du hast Mama lieber als mich! Geh du also zur Mama! Ich will von dir nichts mehr wissen!« Mit diesen Worten stieß er mich von sich und lief wieder die Treppe hinunter. Weinend stürzte ich hinter ihm her, um ihn einzuholen.

»Papachen! Bestes Papachen! Ich will gehorsam sein!« rief ich. »Ich habe dich lieber als Mama! Nimm das Geld zurück, nimm es zurück!«

Aber er hörte mich nicht mehr; er war verschwunden. Diesen ganzen Abend war ich wie zerschlagen und zitterte in starkem Fieber. Ich erinnere mich, daß meine Mutter etwas zu mir sagte und mich zu sich rief; aber ich war wie besinnungslos: ich sah und hörte nichts. Endlich endigte dieser Zustand in einem heftigen Anfall: ich fing an zu weinen und zu schreien; meine Mutter erschrak und wußte nicht, was sie mit mir machen sollte. Sie nahm mich zu sich ins Bett, und ich schlief ein, ohne mich nachher daran erinnern zu können; den Arm hatte ich um ihren Hals geschlungen, und alle Augenblicke fuhr ich wie im Schreck über irgend etwas zusammen. So verging die ganze Nacht. Am Morgen erwachte ich sehr spät, als meine Mutter schon nicht mehr zu Hause war. Sie ging in jener Zeit sehr viel aus, um ihre Geschäfte zu erledigen. Der Vater hatte Besuch von einem Fremden und sie redeten beide laut über etwas miteinander. Ich konnte kaum den Augenblick erwarten, wo der Besucher fortgegangen sein würde, und als wir allein geblieben waren, stürzte ich zu meinem Vater hin und bat ihn schluchzend, mir mein gestriges Betragen zu verzeihen.

»Wirst du auch künftig wieder ein verständiges Kind sein, wie du es früher warst?« fragte er mich mit finsterer Miene.

»Ja, Papachen, ja!« antwortete ich. »Ich will dir sagen, wo Mama das Geld liegen hat. Es lag gestern noch in diesem Schubfach, in der Kommode.«

»Ja? Wo?!« rief er zusammenfahrend und stand vom Stuhle auf. »Wo hat es gelegen?«

»Es ist eingeschlossen, Papachen!« sagte ich. »Warte: heute abend wird mich Mama zum Geldwechseln wegschicken; denn ich habe gesehen, daß das Kupfergeld alles alle ist.«

»Ich brauche fünfzehn Rubel, Netotschka! Hörst du? Nur fünfzehn Rubel! Verschaffe sie mir heute; ich werde sie dir gleich morgen wiederbringen. Und ich will dir jetzt gleich Zuckerkand kaufen, und Nüsse will ich dir kaufen … eine Puppe will ich dir auch kaufen … und morgen ebenfalls … und alle Tage will ich dir Naschwerk mitbringen, wenn du ein verständiges Mädchen sein wirst!«

»Das ist nicht nötig, Papa; das ist nicht nötig! Ich will kein Naschwerk; ich werde es nicht essen; ich werde es dir zurückgeben!« rief ich, in Tränen ausbrechend, da sich mir das Herz schmerzlich zusammenzog. Ich fühlte in diesem Augenblicke, daß ich ihm nicht leid tat, und daß er mich unmöglich liebte; sah er doch nicht, wie groß meine Liebe zu ihm war, und glaubte, ich sei für Naschwerk bereit, ihm einen Dienst zu leisten. In diesem Augenblicke durchschaute ich, obgleich ich noch ein Kind war, ihn doch vollständig und fühlte bereits, daß ich nun für alle Zeit zu dem schmerzlichen Bewußtsein gelangt war, ihn nicht mehr lieben zu können, und daß ich meinen früheren lieben Papa verloren hatte. Er aber war über meine Versprechungen hoch entzückt; er sah, daß ich mich um seinetwillen zu allem entschließen konnte und alles für ihn tat; und Gott weiß, wieviel dieses »alles« damals für mich bedeutete. Ich begriff, welchen Wert dieses Geld für meine arme Mutter hatte; ich wußte, daß sie vor Erregung über seinen Verlust krank werden konnte, und mein Herz schrie auf in qualvoller Reue. Aber er merkte davon nichts; er hielt mich für ein dreijähriges Kind, während ich doch alles verstand. Sein Entzücken kannte keine Grenzen: er küßte mich, redete mir zu, ich möchte nicht weinen, versprach mir, gleich morgen mit mir irgendwohin wegzugehen, fort von der Mama (wahrscheinlich wollte er damit meinen beliebten phantastischen Träumereien schmeicheln), zog schließlich die Konzertanzeige ans der Tasche und setzte mir auseinander, dieser Mensch, zu dem er heute gehen wolle, sei sein Feind, sein Todfeind; aber er werde sich seinen Feinden nicht ergeben. Er hatte, wie er so mit mir von seinen Feinden sprach, selbst die entschiedenste Ähnlichkeit mit einem Kinde. Da er aber bemerkte, daß ich nicht lächelte wie sonst gewöhnlich, wenn er mit mir sprach, und ihm schweigend zuhörte, so nahm er seinen Hut und verließ das Zimmer, weil er einen eiligen Gang vorhatte; aber beim Weggehen küßte er mich noch einmal und nickte mir lächelnd zu, als traue er mir noch nicht ganz und wolle einer Sinnesänderung bei mir vorbeugen.

Ich habe schon gesagt, daß er wie geistesgestört war; aber das war schon tags zuvor sichtbar gewesen. Das Geld brauchte er, um sich eine Eintrittskarte für das Konzert zu kaufen, welches sein ganzes Schicksal entscheiden sollte. Dies schien er vorherzuahnen; aber er war so konfus geworden, daß er am vorhergehenden Tage mir das Kupfergeld hatte abnehmen wollen, wie wenn er dafür ein Billett erhalten könnte. Beim Mittagessen machte sich sein sonderbares Benehmen noch auffälliger bemerkbar. Er konnte schlechterdings nicht still auf einem Fleck sitzen, rührte keine Speise an, stand alle Augenblicke auf und setzte sich wieder hin, als ob er sich eines andern besonnen hätte. Bald faßte er nach seinem Hute, wie wenn er sich anschickte auszugehen; bald wurde er auf einmal in wunderlicher Manier zerstreut und murmelte fortwährend etwas vor sich hin. Dann plötzlich sah er mich an, blinzelte mir mit den Augen zu und machte mir Zeichen, als ob er ungeduldig darauf warte, das Geld so bald wie möglich zu bekommen, und ärgerlich darüber sei, daß ich es der Mutter noch nicht weggenommen hätte. Sogar die Mutter bemerkte all diese Sonderbarkeiten und blickte ihn erstaunt an. Mir aber war zumute, als sei ich zum Tode verurteilt. Das Mittagessen war zu Ende; ich drückte mich in eine Ecke und zählte, zitternd wie im Fieber, jede Minute bis zu der Zeit, wo die Mutter mich gewöhnlich einkaufen schickte. In meinem ganzen Leben habe ich keine qualvolleren Stunden verbracht; sie werden mir lebenslänglich im Gedächtnis bleiben. Was machte ich da nicht alles für Empfindungen durch! Es gibt Minuten, in denen man innerlich weit mehr durchlebt als sonst in ganzen Jahren. Ich fühlte, daß ich eine schlechte Tat beging; er selbst hatte ja meine guten Instinkte unterstützt, als er mich zum erstenmal kleinmütig zum Bösen verleitet und dann, selbst erschrocken darüber, mir auseinandergesetzt hatte, daß ich sehr schlecht gehandelt hätte. Konnte er denn nicht begreifen, wie schwer es ist, eine Natur zu betrügen, die danach begehrt, sich über ihre Empfindungen klar zu werden, und durch Gefühl und Nachdenken bereits mit Gut und Böse wohl Bescheid weiß? Ich begriff ja, daß es nur die äußerste Not war, die ihn dazu bewog, mich noch einmal zum Bösen zu verleiten, mein widerstandsloses Gewissen wankend zu machen und auf diese Weise meine arme, schutzlose Kindheit zu opfern. Und jetzt dachte ich, in meine Ecke gedrückt, darüber nach: warum hat er mir denn eine Belohnung für etwas versprochen, was ich schon aus eigenem Willen zu tun entschlossen war? Neue Empfindungen, neue mir bisher unbekannte Triebe, neue Fragen erhoben sich scharenweise in meinem Innern, und ich marterte mich ab mit diesen Fragen. Dann dachte ich auf einmal an die Mutter; ich stellte mir ihren Kummer vor beim Verluste ihres letzten Arbeitsverdienstes. Endlich legte die Mutter ihre Arbeit hin, mit der sie sich schon über ihre Kraft abgemüht hatte, und rief mich zu sich. Ich fuhr zitternd zusammen und trat zu ihr. Sie nahm Geld aus der Kommode, gab es mir und sagte: »Geh, Netotschka; aber laß dir um Gottes willen nicht falsch herausgeben wie neulich, und verliere nichts!« Ich richtete einen flehenden Blick auf meinen Vater; aber er nickte mit dem Kopfe, lächelte mir ermutigend zu und rieb sich vor Ungeduld die Hände. Es schlug sechs, und das Konzert war auf sieben Uhr angesetzt. Auch er hatte offenbar in dieser Wartezeit viel durchgemacht.

Ich blieb auf der Treppe stehen und wartete auf ihn. Er war so aufgeregt und ungeduldig, daß er mir ohne alle Vorsicht sogleich nachgelaufen kam. Ich gab ihm das Geld: auf der Treppe war es dunkel, und ich konnte sein Gesicht nicht sehen; aber ich merkte, daß er am ganzen Leibe zitterte, als er es hinnahm. Ich stand wie erstarrt da und konnte mich nicht von der Stelle rühren; endlich kam ich zur Besinnung, als er mich nach oben schickte, um ihm seinen Hut zu holen. Er wollte nicht noch einmal hineingehen.

»Papa! Willst du denn … willst du denn nicht mit mir mitkommen?« fragte ich mit versagender Stimme; ich setzte meine letzte Hoffnung auf seinen Beistand.

»Nein … geh nur allein … ja? Warte, warte!« rief er, da ihm etwas einfiel; »warte, ich will dir gleich Konfekt holen; aber geh nur erst hinauf und bringe mir meinen Hut her!«

Mir war, als ob eine eiskalte Hand mir auf einmal das Herz zusammenpreßte. Ich schrie auf, stieß ihn von mir und stürzte nach oben. Als ich ins Zimmer trat, sah ich ganz entstellt aus, und wenn ich jetzt gesagt hätte, es habe mir jemand das Geld weggenommen, so hätte meine Mutter mir geglaubt. Aber ich konnte in diesem Augenblicke kein Wort herausbringen. In einem Anfall krampfhafter Verzweiflung warf ich mich quer über das Bett der Mutter und bedeckte mir das Gesicht mit den Händen. Einen Augenblick darauf knarrte leise die Tür, und der Vater trat herein. Er kam, um sich seinen Hut zu holen.

»Wo ist das Geld?!« rief plötzlich meine Mutter, die auf einmal erriet, daß etwas Ungewöhnliches vorgegangen war. »Wo ist das Geld? Rede! Rede!« Dabei riß sie mich vom Bette weg und stellte mich mitten ins Zimmer.

Ich schwieg und schlug die Augen zu Boden; ich verstand kaum, was mit mir vorging, und was man mit mir machte.

»Wo ist das Geld?« schrie sie noch einmal, indem sie von mir abließ und sich plötzlich zum Vater wandte, der seinen Hut ergriffen hatte. »Wo ist das Geld?« wiederholte sie. »Ah, sie hat es dir gegeben? Du gottloser Mensch! Mich hast du zugrunde gerichtet und gemordet, und nun richtest du sie auch noch zugrunde! Das Kind, sie, sie! Aber nein, du sollst nicht so davongehen!«

In einer Sekunde stürzte sie nach der Tür, schloß sie von innen zu und steckte den Schlüssel zu sich.

»Sprich! Gestehe!« wandte sie sich wieder an mich mit einer Stimme, die vor Aufregung kaum zu hören war. »Gestehe alles! Rede, rede! Oder … ich weiß nicht, was ich mit dir tue!«

Sie packte meine Arme, als wollte sie sie bei diesem Verhör zerbrechen. Sie war ganz außer sich vor Wut.

In diesem Augenblicke schwur ich mir, zu schweigen und kein Wort von meinem Vater zu sagen; aber ich hob zum letztenmal schüchtern die Augen zu ihm auf … Ein einziger Blick von ihm, ein einziges Wort, irgend etwas von dem, was ich erwartete, und um das ich im stillen betete, – und ich wäre glücklich gewesen trotz aller Qualen, trotz aller Foltern. Aber, o Gott! Mit einer gefühllosen, drohenden Gebärde befahl er mir zu schweigen, als ob ich in diesem Augenblicke irgend jemandes Drohungen hätten fürchten können. Die Kehle war mir wie zugeschnürt; mein Atem stockte; die Beine knickten mir zusammen, und ich fiel besinnungslos auf den Fußboden. Der gestrige Nervenanfall hatte sich wiederholt.

Ich kam wieder zum Bewußtsein, als plötzlich an der Tür unserer Wohnung geklopft wurde. Die Mutter schloß auf und erblickte einen Diener in Livree, der ins Zimmer trat, uns alle erstaunt ansah und nach dem Musiker Jesimow fragte. Mein Stiefvater gab sich als dieser zu erkennen. Da überreichte ihm der Diener ein Briefchen und teilte ihm mit, er sei von Herrn B*** hergeschickt worden, der sich augenblicklich beim Fürsten Ch***i befinde. In dem Kuvert befand sich eine Eintrittskarte zu dem S***zschen Konzerte.

Das Erscheinen dieses Lakaien in reicher Livree und der von ihm erwähnte Name des Fürsten, seines Herrn, der ihn expreß zu dem armen Musiker Jesimow geschickt hatte: alles dies machte sofort einen starken Eindruck auf meine Mutter. Ich habe bereits gleich am Anfang über ihren Charakter gesagt, daß die arme Frau den Vater immer noch liebte. Trotz der ganzen acht Jahre steten Kummers und Leides hatte ihr Herz sich auch jetzt noch nicht geändert: sie konnte ihn immer noch lieben! Gott weiß, vielleicht glaubte sie jetzt auf einmal an eine Veränderung in seinem Schicksal. Auch der bloße Schatten einer Hoffnung übte auf sie schon einen Einfluß aus. Wer kann es wissen: vielleicht hatte sie sich auch von dem unerschütterlichen Selbstvertrauen ihres halb irrsinnigen Mannes bis zu einem gewissen Grade anstecken lassen! Und es konnte ja auch gar nicht anders sein, als daß dieses Selbstvertrauen auf sie, eine schwache Frau, einen wenn auch vielleicht nicht allzu großen Eindruck machte. Auf die freundliche Aufmerksamkeit, die der Fürst ihm erwiesen hatte, baute sie nun sofort tausend Pläne für ihn. Sie war sogleich bereit, gegen ihn wieder freundlich zu sein; sie war imstande, ihm alles zu verzeihen, was er ihr diese ganze Zeit her angetan hatte, selbst sein letztes Verbrechen, die Verleitung ihres einzigen Kindes zur Sünde, und in ihrem lebhaft aufflammenden Enthusiasmus, in ihrer neuen Hoffnungsfreudigkeit dieses Verbrechen nur als einen gewöhnlichen Fehltritt, als einen Ausfluß des Kleinmutes anzusehen, der durch die bittere Armut, das elende Leben und die ganze verzweifelte Lage hervorgerufen sei. Sie war wie berauscht, und in einem Augenblick war bei ihr ein unendliches Mitleid mit ihrem verkommenen Manne erwacht und sie hatte ihm alles verziehen.

Der Vater war in hastige Bewegung geraten; auch ihn hatte die Aufmerksamkeit des Fürsten und B***s überrascht. Er wandte sich an die Mutter, flüsterte ihr etwas zu, und sie verließ das Zimmer. Nach zwei Minuten kehrte sie wieder zurück und brachte das Geld, das sie unterdessen eingewechselt hatte, und der Vater gab dem Boten sogleich einen Rubel; der Mann ging mit einer höflichen Verbeugung fort. Inzwischen war die Mutter einen Augenblick hinausgegangen und brachte nun ein Plätteisen, suchte die beste Chemisette des Vaters heraus und plättete sie. Sie band ihm selbst eine weiße Batistkrawatte um den Hals, die seit undenklichen Zeiten in seiner Garderobe für besondere Fälle aufbewahrt worden war, zusammen mit dem schwarzen, allerdings schon recht abgetragenen Frack, der damals angefertigt worden war, als er seine Stellung beim Theater angetreten hatte. Als der Vater mit seiner Toilette fertig war, nahm er seinen Hut; aber ehe er hinausging, bat er noch um ein Glas Wasser; er war blaß und mußte sich in einer Anwandlung von Schwäche auf einen Stuhl setzen. Das Wasser mußte ich ihm reichen; vielleicht hatte sich doch wieder ein feindseliges Gefühl in das Herz meiner Mutter gestohlen, und die erste warme Aufwallung hatte sich abgekühlt.

Der Vater war hinausgegangen; wir waren allein geblieben. Ich drückte mich in eine Ecke und sah meine Mutter lange schweigend an. Ich hatte sie noch nie in solcher Aufregung gesehen: ihre Lippen zitterten, ihre sonst blassen Wangen brannten, und von Zeit zu Zeit lief ihr ein Zucken durch alle Glieder. Endlich löste sich ihr Leid in Klagen und dumpfes Schluchzen auf.

»Ich, nur ich bin daran schuld, ich Unglückliche!« sagte sie zu sich selbst. »Was wird aus ihr werden? Was wird aus ihr werden, wenn ich sterbe?« fuhr sie fort und blieb, von diesem Gedanken wie vom Blitz getroffen, mitten im Zimmer stehen. »Netotschka! Mein Kind! Du mein armes Kind! Du Unglückliche!« sagte sie, ergriff mich an den Händen und umarmte mich krampfhaft. »Was wird nach meinem Tode aus dir werden, wenn ich nicht einmal bei meinen Lebzeiten imstande bin dich zu erziehen und zu behüten? Ach, du verstehst mich nicht! Oder verstehst du mich? Wirst du an das denken, was ich dir jetzt gesagt habe, Netotschka? Wirst du künftig daran denken?«

»Ja, das werde ich, Mamachen!« sagte ich, die Hände faltend in flehendem Tone.

Sie hielt mich lange fest mit den Armen umschlungen, als wenn sie vor dem Gedanken zitterte, daß sie sich von mir werde trennen müssen. Das Herz wollte mir brechen.

»Mama! Mamachen!« sagte ich weinend, »warum … warum hast du den Papa nicht lieb?« Ich konnte vor Schluchzen nicht weitersprechen.

Ein Stöhnen entrang sich ihrer Brust. Dann begann sie, von einem neuen schrecklichen Grame gequält, im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Mein armes, armes Kind! Und ich habe gar nicht gemerkt, wie sie heranwuchs! Sie weiß, weiß alles! Mein Gott! Was hat sie für Eindrücke empfangen, was für ein Beispiel vor Augen gesehen!« Und wieder rang sie verzweifelt die Hände.

Dann trat sie zu mir und küßte mich in unsinniger Liebe, küßte meine Hände, überströmte sie mit ihren Tränen, flehte mich um Verzeihung an … Ich habe nie in meinem Leben so tiefes Leid gesehen … Zuletzt schien sie von aller Qual ganz matt geworden zu sein und versank in Geistesabwesenheit. So verging eine ganze Stunde. Dann stand sie auf, müde und erschöpft, und sagte mir, ich solle mich schlafen legen. Ich ging in meinen Winkel und wickelte mich in meine Decke ein; aber ich konnte nicht einschlafen. Der Gedanke an sie und an den Vater quälte mich. Ungeduldig wartete ich auf die Rückkehr des letzteren. Eine große Angst befiel mich bei dem Gedanken an ihn. Eine halbe Stunde darauf nahm die Mutter ein Licht und trat zu mir, um zu sehen, ob ich schliefe. Um sie zu beruhigen, machte ich die Augen zu und stellte mich schlafend. Nachdem sie mich betrachtet hatte, ging sie leise zum Schranke, öffnete ihn und goß sich ein Glas Branntwein ein. Sie trank es aus und legte sich schlafen; das brennende Licht ließ sie auf dem Tische stehen und die Tür ließ sie offen, wie das immer geschah, wenn der Vater erst spät nach Hause kam.

Ich lag wie bewußtlos da; aber kein Schlaf schloß mir die Augen. Kaum waren sie mir zugefallen, so wachte ich wieder auf und schrak infolge eines schrecklichen Traumes zusammen. Meine Angst stieg immer höher. Ich wollte schreien; aber der Schrei erstarb in meiner Brust. Endlich (es war schon spät in der Nacht) hörte ich, wie unsere Tür geöffnet wurde. Ich erinnere mich nicht, wieviel Zeit verging; aber als ich auf einmal die Augen ganz öffnete, sah ich den Vater. Er schien mir furchtbar blaß zu sein. Er saß auf einem Stuhle dicht neben der Tür und machte den Eindruck, als ob er über etwas nachdenke. Im Zimmer herrschte Totenstille. Das fließende Talglicht erhellte trübselig unsere Wohnung.

Ich sah meinen Vater lange an; aber er rührte sich immer noch nicht vom Flecke; er saß, ohne sich zu bewegen, in derselben Haltung da: den Kopf auf die Brust gesenkt, die Hände krampfhaft gegen die Knie gestemmt. Ich setzte mehrere Male dazu an, ihn anzurufen; aber ich konnte es nicht. Meine Erstarrung dauerte an. Endlich kam er auf einmal zu sich, richtete den Kopf auf und erhob sich vom Stuhle. Er stand mehrere Minuten lang mitten im Zimmer da, wie wenn er irgendeinen Entschluß fassen wollte; dann trat er plötzlich an das Bett der Mutter heran, horchte, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß sie schlief, ging er zu dem Koffer, in dem seine Geige lag.

Er öffnete den Koffer, nahm das schwarze Futteral heraus und stellte es auf den Tisch; dann blickte er von neuem rings um sich; sein Blick war trüb und unstet, so wie ich ihn noch nie bei ihm bemerkt hatte.

Er hatte schon die Geige ergriffen, legte sie aber sogleich wieder hin, ging zur Tür und schloß sie zu. Als er darauf den offenstehenden Schrank bemerkte, trat er leise zu ihm hin, erblickte das Glas und den Branntwein, goß sich ein und trank. Darauf griff er zum drittenmal nach der Geige, legte sie aber zum drittenmal wieder hin und trat an das Bett der Mutter heran. Von Angst wie gefesselt, wartete ich, was da kommen werde.

Er horchte sehr lange; dann schlug er auf einmal die Bettdecke von ihrem Gesichte zurück und begann, es mit der Hand zu betasten. Ich fuhr zusammen. Er beugte sich noch einmal herunter und legte seinen Kopf fast an ihren Körper; aber als er sich nun zum letztenmal aufrichtete, da schien ein Lächeln über sein schrecklich blaß gewordenes Gesicht hinzuhuschen. Leise und behutsam verhüllte er die Schlafende mit der Decke; er verhüllte auch ihren Kopf und ihre Füße … und ich zitterte in unsäglicher Angst; ich ängstigte mich um die Mutter, ängstigte mich wegen ihres tiefen Schlafes und betrachtete mit starker Unruhe die unbewegliche Linie, welche die Glieder ihres Körpers eckig auf der Decke abzeichnete … Wie ein Blitz zuckte ein furchtbarer Gedanke durch meinen Kopf!

Nachdem er mit allen Vorbereitungen fertig war, ging der Vater von neuem an den Schrank und trank den Rest des Branntweins aus. Er zitterte am ganzen Leibe, als er nun an den Tisch trat. Sein Gesicht war gar nicht wiederzuerkennen, so blaß sah es aus. Nun griff er wieder nach der Geige. Ich hatte diese Geige schon gesehen und wußte, was es für ein Ding war; aber jetzt erwartete ich etwas Schreckliches, Furchtbares, Wunderbares … und zuckte bei ihren ersten Tönen zusammen. Der Vater fing an zu spielen. Aber die Töne kamen abgebrochen heraus; er hielt alle Augenblicke inne, wie wenn er sich auf etwas besinnen wollte; schließlich legte er mit einem Gesichte voll Qual und Pein den Bogen nieder und blickte in eigentümlicher Weise nach dem Bette hin. Es schien ihn dort immer noch etwas zu beunruhigen. Er trat wieder zu dem Bette … Es entging mir keine seiner Bewegungen, und ich verfolgte sie alle, obgleich ich vor Angst halb tot war.

Plötzlich begann er eilig, um sich herum allerlei zu suchen, und wieder durchzuckte mich blitzartig derselbe furchtbare Gedanke. Ich fragte mich unwillkürlich: warum schläft die Mutter so fest? Warum ist sie nicht aufgewacht, als er ihr Gesicht mit der Hand berührte? Endlich sah ich, daß er alles, was er von unsern Kleidern finden konnte, zusammenschleppte: er nahm die Pelerine der Mutter, seinen alten Rock, seinen Schlafrock, sogar mein Kleid, das ich hingeworfen hatte; mit all dem bedeckte er die Mutter vollständig, so daß sie ganz unter dem darübergeworfenen Haufen verborgen war; sie lag völlig regungslos da, ohne ein Glied zu rühren.

Sie schlief einen tiefen Schlaf!

Er schien freier zu atmen, als er mit dieser Arbeit fertig war. Nun war ihm nichts mehr hinderlich; aber immer noch beunruhigte ihn etwas. Er stellte das Licht an einen anderen Platz und stellte sich selbst mit dem Gesichte nach der Tür zu, damit er das Bett gar nicht sehen könne. Endlich ergriff er die Geige und setzte mit einer Miene der Verzweiflung den Bogen an … Die Musik begann.

Aber das war keine Musik … Ich erinnere mich genau an alles bis zum letzten Augenblicke; ich erinnere mich an alles, was damals meine Aufmerksamkeit fesselte.

Nein, das war keine Musik von der Art, wie ich sie später zu hören Gelegenheit gehabt habe! Das waren nicht die Töne einer Geige, sondern es war, als ob eine schreckliche Menschenstimme zum erstenmal in unserer düsteren Behausung ertöne. Oder waren meine Empfindungen falsch und krankhaft oder meine Gefühle durch alles, was ich mit angesehen und mit angehört hatte, erschüttert und auf furchtbare, qualvolle Eindrücke vorbereitet: jedenfalls bin ich fest überzeugt, daß ich Gestöhn, menschliches Schreien und Weinen hörte; tiefste Verzweiflung kam in diesen Tönen zum Ausdruck, und als endlich der furchtbare Schlußakkord erklang, in welchem bittere Tränen, schreckliche Qual und hoffnungsloser Gram sich vereinigten, da konnte ich mich nicht mehr halten, ein Zittern überfiel mich, die Tränen stürzten mir aus den Augen, und mit einem entsetzlichen, verzweifelten Schrei stürzte ich zu meinem Vater hin und umschlang ihn mit meinen Armen. Er schrie auf und ließ die Geige sinken.

Eine Weile stand er wie betäubt da. Endlich begannen seine Augen nach allen Seiten herumzufahren und herumzulaufen; er schien etwas zu suchen; auf einmal nahm er die Geige, holte mit ihr über meinem Kopfe aus … noch ein Augenblick, und er hätte mich vielleicht auf der Stelle erschlagen.

»Papachen!« rief ich ihn an. »Papachen!«

Er zitterte wie Espenlaub, als er meine Stimme hörte, und trat zwei Schritte zurück.

»Ach! Also du bist noch übriggeblieben! Also ist noch nicht alles zu Ende! Also du bist noch bei mir geblieben!« rief er und hob mich an den Schultern in die Luft.

»Papachen!« rief ich von neuem; »um Gottes willen, ängstige mich nicht so! Ich fürchte mich!«

Mein Weinen war ihm überraschend. Er stellte mich sachte wieder auf den Fußboden und sah mich eine Weile schweigend an, wie wenn er mich erkenne und sich an etwas erinnere. Endlich schien es, als gehe eine Umwandlung in ihm vor, als erschrecke ihn ein furchtbarer Gedanke: Tränen stürzten aus seinen trüben Augen; er beugte sich zu mir herab und sah mir starr in das Gesicht.

»Papachen!« sagte ich, ganz fassungslos vor Angst zu ihm; »sieh mich nicht so an, Papachen! Laß uns von hier weggehen! So schnell wie möglich! Wir wollen weggehen, wir wollen fliehen!«

»Ja, wir wollen fliehen, wir wollen fliehen! Es ist Zeit! Komm, Netotschka! Schnell, schnell!« Und er geriet in hastige Bewegung, wie wenn er sich erst jetzt darüber klar geworden wäre, was er zu tun habe. Eilig blickte er rings um sich, und als er auf dem Fußboden ein der Mutter gehöriges Tuch liegen sah, hob er es auf und steckte es in die Tasche; dann sah er eine Haube, hob sie ebenfalls auf und steckte sie zu sich, wie wenn er sich für eine weite Reise versorgte und alles mitnähme, was er brauchte.

Ich zog mich in größter Geschwindigkeit an und suchte gleichfalls eilig alles zusammen, was mir für die Reise notwendig schien.

»Hast du alles? Hast du alles?« fragte der Vater.

»Ist alles bereit? Schnell, schnell!«

Ich band eilig ein Bündel zusammen, warf ein Tuch über den Kopf, und wir wollten schon beide hinausgehen, als mir auf einmal einfiel, wir müßten das Bild mitnehmen, das an der Wand hing. Der Vater war sofort damit einverstanden. Jetzt war er ruhig, sprach flüsternd und trieb mich nur an, schnell zu kommen. Das Bild hing sehr hoch; wir trugen beide einen Stuhl herbei, stellten dann eine Fußbank darauf, kletterten auf diese hinauf und nahmen endlich nach langer Mühe das Bild ab. Nun war alles zu unserer Reise bereit. Er nahm mich bei der Hand, und wir wollten schon gehen, als der Vater mich plötzlich zurückhielt. Er rieb sich lange die Stirn, wie wenn er sich an etwas erinnern wollte, was noch nicht getan sei. Endlich schien ihm eingefallen zu sein, was noch nötig sei; er holte die Schlüssel hervor, die unter dem Kopfkissen der Mutter lagen, und begann eilig, etwas in der Kommode zu suchen. Endlich kehrte er zu mir zurück und brachte etwas Geld, das er in der Schublade gefunden hatte.

»Hier, da, nimm es, hebe es auf!« flüsterte er mir zu. »Verliere es nicht, hörst du, hörst du?«

Er legte mir zuerst das Geld in die Hand; dann nahm er es mir wieder heraus und steckte es mir in den Busen.

Ich erinnere mich, daß ich zusammenfuhr, als dieses Silber meinen Körper berührte; es war mir, als begriffe ich erst in diesem Augenblicke, was Geld eigentlich war. Nun waren wir wieder fertig; aber er hielt mich auf einmal von neuem an.

»Netotschka,« sagte er zu mir, wie wenn er angestrengt nachdächte, »mein liebes Kind, ich habe noch etwas vergessen … Was war es doch nur? … Was mußten wir noch tun? … Ich kann mich nicht besinnen … Ja, ja, ich hab's, es ist mir eingefallen! … Komm her, Netotschka!«

Er führte mich in die Ecke, wo das Heiligenbild hing, und sagte, ich solle niederknien.

»Bete, mein Kind, bete! Es wird dir besser ums Herz werden! … Ja, wirklich, es wird dir besser ums Herz werden,« flüsterte er mir zu, indem er auf das Heiligenbild zeigte und mich seltsam anblickte. »Bete, bete!« sagte er mit bittender, flehender Stimme.

Ich warf mich auf die Knie, faltete die Hände, und voll Angst, voll Verzweiflung, die sich meiner schon ganz bemächtigt hatte, fiel ich vornüber auf den Fußboden und lag mehrere Minuten wie leblos da. Mit Anstrengung suchte ich alle meine Gedanken und Gefühle auf das Gebet zu richten; aber die Angst überwältigte mich. Von Leid gequält erhob ich mich. Ich wollte nicht mehr mit ihm mitgehen; ich fürchtete mich vor ihm; ich wollte dableiben. Endlich brach die Frage, die mich marterte und peinigte, aus meiner Brust hervor.

»Papa,« sagte ich, von Tränen überströmt; »aber Mama? … Was ist mit Mama? Wo bleibt sie? Wo bleibt meine Mama?«

Ich konnte nicht weiterreden und zerfloß in Tränen.

Er blickte mich, ebenfalls weinend, an. Endlich nahm er mich bei der Hand, führte mich zum Bette, warf den daraufliegenden Kleiderhaufen auseinander und schlug die Decke zurück. O Gott! Sie lag tot da und war schon kalt und blau geworden. Ich warf mich wie eine Wahnsinnige auf sie und umschlang ihre Leiche mit den Armen. Mein Vater hieß mich niederknien.

»Verneige dich vor ihr, mein Kindl« sagte er; »nimm von ihr Abschied! …«

Ich verneigte mich, und mein Vater mit mir zugleich … Er war furchtbar blaß; seine Lippen bewegten sich und flüsterten etwas.

»Ich kann nichts dafür, Netotschka, ich kann nichts dafür,« sagte er zu mir, indem er mit zitternder Hand auf die Leiche zeigte. »Hörst du wohl: ich kann nichts dafür; ich bin nicht schuld daran. Vergiß das nicht, Netotschka!«

»Papa, wir wollen gehen,« flüsterte ich ängstlich. »Es ist Zeit!«

»Ja, jetzt ist es Zeit; es ist schon längst Zeit!« sagte er, faßte mich fest bei der Hand, und wir verließen eilends das Zimmer. »Nun, jetzt sind wir auf dem Wege! Gott sei Dank, Gott sei Dank, jetzt ist alles zu Ende!«

Wir stiegen die Treppe hinab; der Hausknecht öffnete uns in halbem Schlafe das Tor, wobei er uns mißtrauisch ansah, und mein Vater lief, wie wenn er fürchtete von ihm gefragt zu werden, zuerst aus dem Tore hinaus, so daß ich ihn kaum einholen konnte. Wir gingen unsere Straße entlang und gelangten auf die Uferstraße am Kanal. In der Nacht war Schnee gefallen, der auf den Pflastersteinen lag, und es schneite auch noch in kleinen Flocken. Es war kalt; mich fror bis auf die Knochen, und ich lief hinter dem Vater her, mich krampfhaft an seinem Frackschoß festhaltend. Die Geige hatte er unter dem Arm; er blieb alle Augenblicke stehen, um das Futteral unter dem Arme festzuschieben.

Wir gingen etwa eine Viertelstunde; endlich bog er vom Trottoir auf einen Steig ab, der zum Kanal selbst hinunterführte, und setzte sich dort auf den letzten Pfosten. Zwei Schritte von uns entfernt war ein Durchlaß. Um uns herum war keine Menschenseele. O Gott! Als wenn es heute wäre, erinnere ich mich an das furchtbare Gefühl, das mich auf einmal ergriff! Endlich war also alles in Erfüllung gegangen, wovon ich schon ein ganzes Jahr lang geträumt hatte. Wir waren aus unserer ärmlichen Behausung weggegangen … Aber war es das, was ich erwartet, wovon ich geträumt, was ich mir in meiner kindlichen Phantasie zurechtgebaut hatte, wenn ich mir das künftige Glück desjenigen ausmalte, den ich in so unkindlicher Weise liebte? Immer mehr quälte mich in diesem Augenblicke der Gedanke an meine Mutter.

»Warum haben wir sie verlassen,« dachte ich, »sie allein gelassen, ihre Leiche da liegen lassen, wie ein wertloses Ding?« Ich erinnere mich, daß mich das am allermeisten aufregte und quälte.

»Papachen,« begann ich, da ich nicht mehr imstande war, meine quälende Sorge zu unterdrücken, »Papachen!«

»Was gibt es?« fragte er finster.

»Warum haben wir die Mutter so dagelassen, Papachen? Warum haben wir uns nicht weiter um sie gekümmert?« fragte ich, in Tränen ausbrechend. »Papachen! Laß uns nach Hause zurückkehren! Wir wollen jemand zu ihr rufen.«

»Ja, ja,« rief er auf einmal, indem er zusammenfuhr und sich von dem Pfosten erhob, wie wenn ihm plötzlich ein neuer Gedanke gekommen wäre, der alle seine Zweifel entschieden hätte. »Ja, Netotschka, so darf es nicht sein; wir müssen zur Mama hingehen; sie friert dort! Geh du zu ihr hin, Netotschka; geh du hin; dort ist es nicht dunkel; es brennt ein Licht; fürchte dich nicht; rufe jemanden zu ihr, und dann komm wieder zu mir her! Geh nur allein hin; ich werde hier auf dich warten … Ich werde nicht fortgehen …«

Ich ging sogleich; aber kaum war ich auf das Trottoir gelangt, als ich auf einmal wie einen Stich im Herzen fühlte. Ich wandte mich um und sah, daß er bereits nach der andern Seite lief, von mir weg, und mich allein ließ, mich in diesem Augenblicke verließ! Ich schrie auf, so laut ich nur konnte, und lief ihm in entsetzlicher Angst nach, um ihn einzuholen. Ich keuchte; er lief immer schneller und schneller … ich verlor ihn schon aus den Augen. Unterwegs fand ich seinen Hut, den er auf der Flucht verloren hatte; ich hob ihn auf und lief wieder weiter. Der Atem ging mir aus, und die Beine knickten unter mir ein. Ich hatte ein Gefühl, wie wenn etwas Schreckliches mit mir vorgehe: es schien mir immer, daß das ein Traum sei, und manchmal bildete sich bei mir dieselbe Empfindung wie im Traum, wenn mir träumte, ich liefe vor jemandem davon, aber die Beine brächen unter mir zusammen, der Verfolger erreiche mich und ich fiele bewußtlos nieder. Ein qualvolles Gefühl ergriff mich: ich bemitleidete ihn, das Herz blutete mir, wenn ich bedachte, wie er da ohne Mantel und ohne Hut von mir, seinem lieben Kinde, weglief … Ich wollte ihn nur einholen, um ihn noch einmal herzlich zu küssen, ihm zu sagen, daß er sich nicht vor mir fürchten solle, ihm zu seiner Beruhigung zu versichern, daß ich ihm nicht mehr nachlaufen wolle, wenn er das nicht möge, sondern daß ich allein zur Mutter zurückkehren würde. Endlich sah ich, daß er in eine Straße einbog. Als ich dorthin gelaufen war und ebenfalls um die Ecke bog, konnte ich seine Gestalt noch weit vor mir unterscheiden; aber nun verließen mich die Kräfte: ich fing an zu weinen und zu schreien. Ich erinnere mich, daß ich im Laufen mit zwei Passanten zusammenstieß, die mitten auf dem Trottoir stehenblieben und uns beide erstaunt betrachteten.

»Papachen! Papachen!« schrie ich zum letzten Male; aber plötzlich glitt ich auf dem Trottoir aus und fiel beim Tore eines Hauses zu Boden. Ich fühlte, wie das Blut mir über das ganze Gesicht floß. Einen Augenblick darauf verlor ich die Besinnung …

Ich erwachte in einem warmen, weichen Bette und erblickte neben mir wohlwollende, freundliche Gesichter, die mein Erwachen freudig begrüßten. Ich unterschied eine alte Frau mit einer Brille, einen hochgewachsenen Herrn, der mich mit tiefem Mitleide ansah, ferner eine schöne jüngere Dame und endlich einen grauhaarigen alten Mann, der meine Hand gefaßt hatte und auf seine Uhr sah. Ich war zu einem neuen Leben erwacht. Einer der beiden Fußgänger, an die ich auf meiner Flucht angerannt war, war Fürst Ch***i gewesen, und ich war am Tore seines Hauses hingefallen. Als man nach langen Nachforschungen in Erfahrung gebracht hatte, wer ich war, war der Fürst, der meinem Vater das Billett zu dem S***zschen Konzerte geschickt hatte, durch das seltsame Zusammentreffen tief ergriffen und beschloß, mich in sein Haus aufzunehmen und mich mit seinen Kindern zusammen zu erziehen. Es wurde auch nachgeforscht, was aus meinem Vater geworden sei, und man erfuhr, daß er von jemand schon außerhalb der Stadt in einem Anfall von Tobsucht festgehalten worden war. Er war dann in ein Krankenhaus gebracht worden, wo er zwei Tage darauf gestorben war.

Er starb, weil ein solcher Tod für ihn eine unvermeidliche Notwendigkeit, die natürliche Folge seines ganzen Lebens war. Er mußte so sterben, nachdem alles, was ihn im Leben aufrechterhalten hatte, mit einem Male zusammengebrochen und wie ein Schattenbild, wie ein körperloses, leeres Phantasiegebilde zerstoben war. Er starb, als seine letzte Hoffnung verschwunden war, als alles, womit er sich selbst getäuscht und worauf er sein ganzes Leben gegründet hatte, plötzlich vor seinem geistigen Blicke in seiner Nichtigkeit deutlich wurde und ihm zum klaren Bewußtsein kam. Die Wahrheit blendete ihn mit ihrem für ihn unerträglichen Glanze, und was Unwahrheit gewesen war, erschien nun auch ihm selbst als solche. In seiner letzten Stunde hatte er das wundervolle Genie gehört, das ihn zur Selbsterkenntnis geführt und ihm für immer das Urteil gesprochen hatte. Mit dem letzten Tone, der den Saiten der Geige des genialen S***z entflog, enthüllte sich ihm das ganze Geheimnis der Kunst, und dieses lebenslänglich junge, mächtige, echte Genie erdrückte ihn durch seine Echtheit. Alles, was nur in geheimnisvollem undeutlichen Qualen ihn sein ganzes Leben lang bedrückt, alles, was ihm bisher nur geträumt und ihn nur in Visionen unklar und ungreifbar gepeinigt, was sich ihm nur zeitweilig kundgegeben hatte, wovor er aber erschrocken zurückgeflohen war, indem er hinter der Unwahrhaftigkeit seines ganzen Lebens Deckung suchte, alles, was er geahnt, aber bisher gefürchtet hatte: das alles strahlte jetzt plötzlich mit einem Schlage vor ihm auf und offenbarte sich seinen Augen, die sich bis dahin eigensinnig geweigert hatten, das Licht als Licht und die Dunkelheit als Dunkelheit anzuerkennen. Aber die Wahrheit war für seine Augen unerträglich, die zum erstenmal all das klar erkannten, was gewesen war, was war, und was seiner wartete; sie blendete seinen Verstand und verbrannte ihn zugleich. Sie traf ihn plötzlich unentrinnbar wie ein Blitz. Es vollzog sich auf einmal das, was er sein ganzes Leben lang mit Angst und Zittern erwartet hatte. Es hatte gleichsam sein ganzes Leben lang ein Beil über seinem Haupte gehangen; sein ganzes Leben lang hatte er in jedem Augenblick mit unaussprechlicher Qual erwartet, daß es auf ihn herunterfallen werde, – und endlich war das Beil heruntergefallen! Der Schlag war tödlich. Er wollte sich dem Gerichte, das über ihn hereinbrach, entziehen; aber er wußte nicht, wohin er sich flüchten sollte; die letzte Hoffnung war verschwunden, die letzte Ausrede weggefallen. Die Frau, deren Leben angeblich so lange auf ihm gelastet hatte, die ihm nach seiner Behauptung das Leben verkümmert hatte, mit deren Tode er, wie er in seiner Verblendung geglaubt hatte, plötzlich mit einem Schlage ein neues Leben beginnen werde: die war gestorben. Endlich war er allein, nichts beengte ihn: er war endlich frei! Zum letztenmal wollte er in krampfhafter Verzweiflung über sich selbst zu Gericht sitzen, als unparteiischer, uneigennütziger Richter einen unerbittlichen, strengen Urteilsspruch über sich fällen; aber sein ermatteter Bogen konnte weiter nichts als schwächlich die letzte musikalische Phrase des Genies wiederholen … In diesem Augenblicke packte der Wahnsinn, der schon zehn Jahre lang auf ihn gelauert hatte, ihn unentrinnbar.

Viertes Kapitel

Ich genas nur langsam, aber auch als ich schon vollständig vom Bette aufstehen konnte, befand sich mein Geist immer noch in einer Art von Betäubung, und ich konnte lange Zeit nicht begreifen, was mit mir vorgegangen war. Es gab Augenblicke, wo es mir schien, daß ich träumte, und ich erinnere mich, daß ich wünschte, alles Geschehene möchte sich geradezu in einen Traum verwandeln! Wenn ich am Abend einschlief, so hoffte ich, ich würde auf irgendeine wundersame Weise wieder in unserer ärmlichen Stube erwachen und den Vater und die Mutter sehen … Aber endlich hellte sich meine Lage vor meinen Blicken auf, und allmählich verstand ich, daß ich ganz allein zurückgeblieben war und bei fremden Leuten lebte. Da empfand ich es zum erstenmal, daß ich eine Waise war.

Anfangs betrachtete ich wißbegierig all das Neue, in das ich so plötzlich hineinversetzt worden war. Zuerst erschien mir alles seltsam und wunderlich; alles setzte mich in Verwirrung: die neuen Gesichter und die neuen Gebräuche und die Zimmer des alten fürstlichen Hauses, als ob es heute wäre, sehe ich sie vor mir: große, hohe, prächtige Zimmer, aber von so ernstem, düsterem Charakter, daß ich, wie ich mich erinnere, wirklich Angst hatte durch einen gewissen langen, langen Saal hindurchzugehen, in dem ich, wie es mir vorkam, ganz verschwand. Meine Krankheit war noch nicht vorübergegangen und meine Stimmung trübe und schwermütig, ganz im Einklang mit dieser feierlich-düsteren Behausung. Außerdem wuchs ein mir selbst noch unklarer Kummer immer entschiedener in meinem kleinen Herzen heran. Voll Erstaunen blieb ich vor irgendeinem Gemälde, einem Spiegel, einem phantastisch gestalteten Kamin oder einer Statue stehen, die sich absichtlich in einer tiefen Nische zu verbergen schien, um mich von dort besser beobachten und gewissermaßen erschrecken zu können; ich blieb stehen und vergaß dann auf einmal, warum ich stehengeblieben war, was ich wollte, woran ich angefangen hatte zu denken; und erst wenn ich dann wieder zur Besinnung kam, überfiel mich manchmal Angst und Beklommenheit, und das Herz schlug mir heftig.

Von denjenigen Menschen, die mich ab und zu besuchten, als ich noch krank lag, fiel mir außer dem alten Arzte am meisten das Gesicht eines schon ziemlich bejahrten, sehr ernsten, aber sehr gutherzigen Mannes auf, der mich mit tiefstem Mitleide anblickte. Ich liebte sein Gesicht mehr als alle andern. Gern hätte ich ein Gespräch mit ihm begonnen, aber ich fürchtete mich; er war, seinem Äußern nach zu urteilen, immer sehr trübe gestimmt, sprach in abgebrochenen Sätzen und nur sehr wenig, und nie zeigte sich auf seinen Lippen ein Lächeln. Dies war Fürst Ch***i selbst, der mich gefunden und in sein Haus aufgenommen hatte. Als ich zu genesen anfing, wurden seine Besuche immer seltener. Endlich, beim letzten Male, brachte er mir Konfekt mit, sowie ein Bilderbuch für Kinder, küßte und bekreuzte mich und bat mich, nun heiterer zu sein. Um mich zu trösten, fügte er hinzu, jetzt würde ich bald eine Freundin haben, ebenso ein Mädchen, wie ich selbst, seine Tochter Katja, die jetzt noch in Moskau sei. Dann sprach er ein paar Worte mit einer ältlichen Französin, der Gouvernante seiner Kinder, und mit dem Mädchen, das für meine Bedürfnisse sorgte, wies dabei auf mich und ging hinaus; und seitdem sah ich ihn volle drei Wochen lang nicht wieder. Der Fürst führte in seinem Hause ein außerordentlich einsames Leben. Die größere Hälfte des Hauses bewohnte die Fürstin; auch sie kam mit dem Fürsten manchmal wochenlang nicht zusammen. In der Folgezeit bemerkte ich, daß alle Hausgenossen sogar nur wenig von ihm sprachen, wie wenn er gar nicht im Hause wäre. Alle respektierten ihn und liebten ihn sogar, betrachteten ihn aber dabei als einen wunderlichen Kauz. Er schien auch selbst die Empfindung zu haben, daß er recht wunderlich und anderen Menschen unähnlich sei, und suchte ihnen daher möglichst selten vor Augen zu kommen … Seiner Zeit werde ich noch sehr viel und sehr eingehend von ihm zu sprechen haben.

Eines Morgens zog man mir reine, feine Wäsche und ein schwarzes Wollenkleid mit weißen Pleureusen an, das ich mit trübem Erstaunen betrachtete; man kämmte mir das Haar, und ich wurde aus den oben gelegenen Zimmern nach unten, in die Gemächer der Fürstin, geführt. Als ich zu ihr gebracht war, blieb ich wie angewurzelt stehen: noch nie hatte ich einen solchen Reichtum und eine solche Pracht um mich gesehen. Aber dieser Eindruck war nur momentan, und ich wurde ganz blaß, als ich die Stimme der Fürstin hörte, welche Befehl gab, mich näher zu ihr zu führen. Schon als man mich ankleidete, hatte ich gedacht, daß man mich für irgend etwas Peinliches zurechtmachte; Gott weiß, woher mir ein solcher Gedanke gekommen war. Überhaupt trat ich in das neue Leben mit einem seltsamen Mißtrauen gegen meine ganze Umgebung ein. Aber die Fürstin zeigte sich gegen mich sehr freundlich und küßte mich. Ich sah sie nun etwas mutiger an. Es war dieselbe schöne Dame, die ich gesehen hatte, als ich nach meiner Bewußtlosigkeit wieder zu mir kam. Aber ich zitterte am ganzen Leibe, als ich ihr die Hand küßte, und konnte nicht so viel Kraft aufbringen, um auf ihre Fragen etwas zu antworten. Ich mußte mich neben sie auf ein niedriges Taburett setzen. Dieser Platz schien schon im voraus für mich in Aussicht genommen zu sein. Offenbar wünschte die Fürstin lebhaft, ein herzliches Verhältnis zwischen uns herzustellen und mir durch ihre Freundlichkeit vollständig die Mutter zu ersetzen. Aber ich hatte kein Verständnis für die Gunst des Zufalls und gewann bei diesem Zusammensein nicht in ihrer Meinung. Sie gab mir ein schönes Bilderbuch und sagte mir, ich möchte es mir besehen. Sie selbst schrieb an jemand einen Brief, legte jedoch ab und zu die Feder hin und redete wieder zu mir; aber ich war verwirrt und verlegen und brachte nichts Gescheites heraus. Kurz, obgleich meine Geschichte eine sehr ungewöhnliche war und in ihr das Schicksal mit seinen mannigfaltigen, geheimnisvollen Führungen eine große Rolle spielte und überhaupt darin viel Interessantes, Unerklärliches, ja Phantastisches vorkam, so erwies doch ich selbst mich, gleichsam diesem ganzen theatralischen Milieu zum Trotz, als ein ganz gewöhnliches, schüchternes, blödes, ja sogar ein bißchen dummes Kind. Besonders das letztere gefiel der Fürstin ganz und gar nicht, und sie schien meiner ziemlich bald überdrüssig zu werden, woran ich die Schuld selbstverständlich mir allein beimesse. Nach zwei Uhr begannen die Visiten, und die Fürstin wurde gegen mich auf einmal wieder aufmerksamer und freundlicher. Auf die Fragen der Besucher nach mir antwortete sie, das sei eine höchst interessante Geschichte, und begann dann, sie auf Französisch zu erzählen. Während sie erzählte, sahen die Herrschaften mich an, wiegten die Köpfe hin und her und ließen Ausrufe der Verwunderung hören. Ein junger Mann richtete seine Lorgnette auf mich; ein parfümierter, grauhaariger alter Herr wollte mich küssen; aber ich wurde blaß und wieder rot, saß mit niedergeschlagenen Augen da, fürchtete mich, ein Glied zu rühren, und zitterte am ganzen Leibe. Das Herz in der Brust tat mir unerträglich weh. Ich versetzte mich in Gedanken in die Vergangenheit, in unsere Dachstube; ich dachte an den Vater, an die langen Abende, wo wir schweigsam beisammen gesessen hatten, an die Mutter, und als ich an die Mutter dachte, da traten mir die Tränen in die Augen, die Kehle war mir wie zugeschnürt, und ich wäre am liebsten weggelaufen, verschwunden, allein gewesen … Nachher, als die Visiten zu Ende waren, wurde das Gesicht der Fürstin merklich mürrischer. Sie sah mich finsterer an, sprach mit mir in kurzen, abgebrochenen Sätzen, und besonders ängstigten mich ihre durchdringenden schwarzen Augen, die sie manchmal eine Viertelstunde lang auf mich gerichtet hielt, und die fest zusammengepreßten schmalen Lippen. Am Abend wurde ich wieder nach oben geführt. Ich schlief fiebernd ein; in der Nacht wachte ich auf, weinte über krankhafte Träume und härmte mich; am Morgen aber begann dieselbe Geschichte, und ich wurde wieder zur Fürstin gebracht. Endlich schien es ihr selbst langweilig zu werden, ihren Besuchern meine Erlebnisse zu erzählen, und auch die Besucher mochten es überdrüssig werden, ihre bedauernde Teilnahme auszusprechen. Zudem war ich ein so gewöhnliches Kind, »so ganz ohne alle Naivität« (ich erinnere mich, daß die Fürstin sich selbst einmal im Gespräche mit einer älteren Dante so ausdrückte, welche gefragt hatte, ob ich ihr nicht langweilig sei), – und siehe da, eines Abends führte man mich ganz weg, um mich nicht wieder hinzubringen. So endete meine Günstlingsstellung; übrigens war es mir erlaubt, überall herumzugehen, wo es mir beliebte. Ich meinerseits war vor tiefem Herzenskummer nicht imstande, auf einem Fleck still zu sitzen, und war immer froh, wenn ich endlich von allen fort nach unten in die großen Zimmer gehen konnte. Ich erinnere mich, daß ich mich gern mit den Hausgenossen unterhalten hätte; aber ich fürchtete so sehr, sie könnten es übel aufnehmen, daß ich es vorzog, allein zu bleiben. Am liebsten brachte ich die Zeit in der Weise hin, daß ich mich in irgendeine Ecke drückte, wo ich möglichst unbemerkt war, oder mich hinter ein Möbelstück stellte; dort versuchte ich dann sogleich, mich an alles das zu erinnern, was mir begegnet war, und darüber nachzudenken. Aber wunderbar: den Schluß dessen, was ich bei den Eltern erlebt hatte, und diese ganze letzte schreckliche Geschichte hatte ich beinahe vergessen. Nur einzelne Bilder und hervortretende Tatsachen schwebten mir undeutlich vor. Erinnern konnte ich mich allerdings an alles: an die Nacht, und an die Geige, und an den Vater; ich erinnerte mich daran, wie ich ihm das Geld gab; aber über alle diese Vorgänge durch Nachdenken ins klare zu kommen, dazu war ich nicht imstande … Es wurde mir nur noch schwerer ums Herz, und wenn ich in meiner Erinnerung bis zu dem Augenblicke gelangte, wo ich neben meiner toten Mutter betete, so lief mir plötzlich eine Kälte durch alle Glieder; ich zitterte, schrie leise auf, und das Atmen wurde mir dann so schwer, die Brust tat mir so weh, das Herz pochte mir so heftig, daß ich voller Angst aus meinem Winkel herauslief. Übrigens habe ich mich nicht richtig ausgedrückt, wenn ich sagte, man habe mich allein gelassen: man sah nach mir mit unermüdlichem Eifer und erfüllte genau den Befehl des Fürsten, welcher angeordnet hatte, man solle mir volle Freiheit lassen und mich in keiner Hinsicht beschränken, aber mich keinen Augenblick aus den Augen verlieren. Ich bemerkte, daß von Zeit zu Zeit jemand von den Hausgenossen oder von der Dienerschaft in das Zimmer, in dem ich mich befand, hereinblickte und wieder wegging, ohne ein Wort zu mir gesagt zu haben. Eine solche auf mich gerichtete Aufmerksamkeit setzte mich in Verwunderung und beunruhigte mich zum Teil. Ich vermochte nicht zu verstehen, warum das geschah. Es schien mir immer, daß man mich für irgendwelchen Zweck aufbewahre und dann mit mir irgend etwas vornehmen wolle. Ich erinnere mich, daß ich meine Streifzüge immer weiter ausdehnte, um im Falle der Not zu wissen, wo ich mich verbergen könnte.

Einmal geriet ich dabei auf die Haupttreppe. Sie war ganz von Marmor, breit, mit Teppichen belegt und mit Blumen und schönen Vasen besetzt. Auf jedem Absatz saßen schweigend zwei hochgewachsene Männer, in sehr bunter Kleidung, mit Handschuhen und sehr weißen Halstüchern. Ich betrachtete sie erstaunt und konnte schlechterdings nicht daraus klug werden, wozu sie da saßen, schwiegen und nur einander ansahen, ohne das geringste zu tun.

Diese einsamen Spaziergänge gefielen mir mehr und mehr. Außerdem aber gab es noch einen anderen Grund, weswegen ich mich von oben wegflüchtete. Oben wohnte eine alte Tante des Fürsten, die fast nie ausging oder ausfuhr. Das Bild dieser alten Dame hat sich meinem Gedächtnisse fest eingeprägt. Sie war beinah die wichtigste Person im Hause. Im Umgange mit ihr beobachteten alle eine Art von feierlicher Etikette, und sogar die Fürstin selbst, die so stolz und gebieterisch aussah, mußte zweimal in der Woche an bestimmten Tagen nach oben gehen und der Tante einen persönlichen Besuch abstatten. Sie ging gewöhnlich am Vormittag hin; es entspann sich ein trockenes Gespräch, oft unterbrochen von einem feierlichen Stillschweigen, während dessen die alte Dame entweder Gebete flüsterte oder den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten ließ. Der Besuch endete nicht eher, bis es nicht die Tante selbst wünschte, die sich dann von ihrem Platze erhob, die Fürstin auf die Lippen küßte und damit das Zeichen gab, daß das Zusammensein beendet war. Ursprünglich hatte die Fürstin ihrer Verwandten täglich einen Besuch machen müssen; aber später war auf Wunsch der alten Dame eine Erleichterung eingetreten, und die Fürstin war nun nur verpflichtet, an den übrigen fünf Tagen der Woche jeden Morgen hinzuschicken und sich nach ihrem Befinden erkundigen zu lassen. Überhaupt führte die hochbetagte Prinzessin ein fast klösterliches Leben. Sie war unverheiratet geblieben und im Alter von fünfunddreißig Jahren in ein Kloster getreten, wo sie siebzehn Jahre lang gelebt hatte, ohne jedoch den Schleier zu nehmen; dann hatte sie das Kloster verlassen und war nach Moskau gezogen, um dort mit ihrer Schwester, der verwitweten Gräfin L***, zusammenzuwohnen, deren Gesundheitszustand sich von Jahr zu Jahr verschlechterte, und um sich mit ihrer zweiten Schwester, ebenfalls einer Prinzessin Ch***aja, zu versöhnen, mit der sie über zwanzig Jahre verfeindet gewesen war. Aber man sagt, die drei alten Damen hätten auch nicht einen Tag einträchtig verbracht; wohl tausendmal hätten sie auseinanderziehen wollen, dies aber doch nicht zur Ausführung bringen können, weil sie schließlich bemerkt hätten, daß jede von ihnen den beiden andern unentbehrlich sei, um die Langeweile fernzuhalten und die Beschwerden des Alters erträglich zu machen. Aber obgleich ihre Lebensweise wenig Anziehendes hatte und in ihrem Moskauer Palais eine feierliche Langeweile herrschte, hielt es doch die ganze Stadt für ihre Pflicht, ihre Besuche bei den drei Einsiedlerinnen nicht abzubrechen. Man betrachtete sie als die Bewahrerinnen aller aristokratischen Sitten und Traditionen, als eine lebendige Chronik des echten Bojarentums; auch war die Gräfin wirklich eine vortreffliche Frau und hinterließ nach ihrem Tode ein sehr gutes Andenken. Jeder, der nach Petersburg kam, machte zuerst den drei Damen seinen Besuch. Wer in ihrem Hause empfangen wurde, wurde überall empfangen. Aber die Gräfin starb, und die beiden überlebenden Schwestern trennten sich: die ältere Prinzessin Ch***aja blieb in Moskau und trat dort die Erbschaft der kinderlos verstorbenen Gräfin an, soweit sie ihr zugefallen war; die jüngere aber, die ehemalige Klosterdame, zog zu ihrem Neffen, dem Fürsten Ch***i, nach Petersburg. Dafür blieben die beiden Kinder des Fürsten, nämlich Prinzessin Katja und Alexander, in Moskau bei der Großtante zu Besuch wohnen, um diese zu zerstreuen und in ihrer Einsamkeit zu trösten. Die Fürstin, die ihre Kinder leidenschaftlich liebte, wagte doch kein Wort dagegen zu sagen und mußte sich von ihnen für die ganze Zeit der festgesetzten Trauer trennen. Ich habe vergessen zu sagen, daß die Trauer in dem ganzen Hause des Fürsten noch fortdauerte, als ich dorthin kam; aber der Endtermin stand nahe bevor.

Die alte Prinzessin trug ganz schwarze Kleidung, und zwar immer ein Kleid aus einfachem Wollenstoff, dazu gestärkte, kleingefältelte, weiße Krägelchen, die ihr das Aussehen einer Hospitalitin gaben. Sie ließ ihren Rosenkranz nie aus der Hand, fuhr feierlich zur Messe, fastete ganze Tage lang, empfing Besuche von allerlei Geistlichen und gesetzten Personen, las fromme Bücher und führte überhaupt ein wahres Nonnenleben. Es herrschte oben eine furchtbare Stille; es konnte keine Tür knarren, ohne daß die Alte, die so sensibel war wie ein fünfzehnjähriges Mädchen, sofort hingeschickt hätte, um nach der Ursache des Geräusches nachforschen zu lassen. Alle sprachen im Flüstertone, alle gingen auf den Zehen, und die arme, ebenfalls schon bejahrte Französin sah sich schließlich genötigt, auf das Schuhzeug, das sie so gern trug, nämlich Schuhe mit Absätzen, zu verzichten. Die Absätze wurden beseitigt. Zwei Wochen nach meinem Erscheinen ließ sich die alte Prinzessin nach mir erkundigen: wer ich sei, was ich hier solle, wie ich ins Haus gekommen sei usw. Es wurde ihr sofort respektvoll Auskunft gegeben. Dann kam ein zweiter Abgesandter von ihr zu der Französin mit der Anfrage, warum die Prinzessin mich noch nicht zu sehen bekommen habe. Sogleich begann ein hastiges Treiben: man kämmte mir das Haar, wusch mir Gesicht und Hände, die ohnedies ganz sauber waren, und unterwies mich, wie ich herantreten, mich verbeugen, ein heiteres, freundliches Gesicht machen und reden solle; kurz, man verängstigte mich ganz. Darauf wurde nunmehr von unserer Seite eine Botin abgeschickt mit der Frage, ob die Prinzessin die Waise jetzt gleich zu sehen wünsche. Es erfolgte eine verneinende Antwort; aber es wurde ein anderer Zeitpunkt dafür bestimmt: am nächsten Tage nach der Messe. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, und man erzählte mir nachher, ich hätte die ganze Nacht phantasiert, als sei ich zu der Prinzessin herangetreten und bäte sie für etwas um Verzeihung. Endlich fand meine Vorstellung statt. Ich erblickte eine kleine, magere alte Frau, die in einem riesigen Lehnstuhl saß. Sie nickte mir zu und setzte sich die Brille auf, um mich besser sehen zu können. Ich erinnere mich, daß ich ihr gar nicht gefiel. Sie merkte, daß ich ganz unzivilisiert war und weder mich hinzusetzen noch die Hand zu küssen verstand. Nun begannen die Fragen, und ich antwortete darauf nur sehr notdürftig; aber als die Rede auf meinen Vater und auf meine Mutter kam, fing ich an zu weinen. Der alten Dame war es sehr unangenehm, daß ich mich so gefühlvoll zeigte; indessen suchte sie mich zu trösten und hieß mich, meine Hoffnung auf Gott setzen; dann fragte sie, wann ich zum letztenmal in der Kirche gewesen sei, und als ich ihre Frage kaum verstand, weil meine religiöse Erziehung sehr vernachlässigt worden war, so geriet die Prinzessin in Entsetzen. Sie ließ die Fürstin zu sich bitten. Es fand eine Beratung statt, und es wurde beschlossen, mich gleich am nächsten Sonntag in die Kirche zu führen. Bis dahin versprach die Prinzessin für mich zu beten; aber sie gab Befehl, mich wegzuführen, da ich, wie sie sich ausdrückte, ihr einen gar zu peinlichen Eindruck mache. Das war nicht wunderbar, sondern mußte vielmehr so sein. Aber es war klar, daß ich ihr gar nicht gefallen hatte; denn noch an demselben Tage ließ sie sagen, ich sei zu wild, man höre mich durch das ganze Haus, während ich doch den ganzen Tag stillgesessen und mich nicht gerührt hatte; offenbar war es bei der alten Dame nur eine Einbildung. Aber auch am nächsten Tage erfolgte eine Bemerkung gleichen Inhalts. Unglücklicherweise fiel mir um diese Zeit eine Tasse hin und zerbrach. Die Französin und alle Dienstmädchen gerieten in Verzweiflung und quartierten mich sofort in das entlegenste Zimmer um, wohin mich alle in größter Angst begleiteten.

Ich weiß nicht mehr, wie diese Sache dann endete. Aber dies war der Grund, weshalb ich so gern nach unten ging und allein in den großen Zimmern umherschweifte, da ich wußte, daß ich dort niemanden störte.

Ich erinnere mich, daß ich einmal unten in einem Saale saß. Ich hatte das Gesicht in den Händen verborgen, hielt den Kopf gesenkt und saß so, ich erinnere mich nicht wie viele Stunden. Ich war ganz in Gedanken versunken; mein noch nicht gereifter Geist vermochte nicht über all mein Weh ins klare zu kommen, und es wurde mir immer beklommener und trübseliger zumute. Plötzlich hörte ich über meinem Kopfe eine leise Stimme:

»Was fehlt dir, mein armes Kind?«

Ich hob den Kopf in die Höhe: es war der Fürst; sein Gesicht drückte tiefe Teilnahme und inniges Mitleid aus; aber ich blickte ihn mit so niedergeschlagener, unglücklicher Miene an, daß ihm die Tränen in die großen, blauen Augen traten.

»Du arme Waise!« sagte er, indem er mir den Kopf streichelte.

«Nein, nein, nicht Waise! Nein!« rief ich; ein Stöhnen entrang sich meiner Brust, und alles in meinem Innern stieg in die Höhe und geriet in Wallung. Ich erhob mich, ergriff seine Hand, küßte sie, benetzte sie mit Tränen und wiederholte in flehendem Tone:

»Nein, nein, nicht Waise! Nein!«

»Mein Kind … was ist dir, meine liebe, arme Netotschka? Was ist dir?«

»Wo ist meine Mama? Wo ist meine Mama?« rief ich, und nicht imstande, meinen Kummer länger zu verbergen, schluchzte ich laut auf und fiel kraftlos vor ihm auf die Knie. »Wo ist meine Mama? Liebster Herr, sagen Sie mir: wo ist meine Mama?«

»Verzeih mir, mein Kind! … Ach, du Arme, ich habe dich wieder daran erinnert … Was habe ich angerichtet! Komm, komm mit, Netotschka, komm mit mir!«

Er ergriff mich bei der Hand und zog mich schnell hinter sich her. Er war in tiefster Seele erschüttert. Endlich gelangten wir in ein Zimmer, das ich noch nie gesehen hatte.

Dies war die Hauskapelle. Hier herrschte Dämmerung. Die Flammen der Lämpchen spiegelten sich hell in den goldenen Verzierungen und kostbaren Edelsteinen der Heiligenbilder. Aus den glänzenden Rahmen schauten die Gestalten der Heiligen düster heraus. Alles war hier so ganz anders als in den übrigen Zimmern, so geheimnisvoll und ernst, daß ich ganz verwirrt wurde und eine Art Angst sich meines Herzens bemächtigte. Zudem war ich schon ohnehin in einem so krankhaften Zustande! Eilig forderte mich der Fürst auf, vor dem Bilde der Mutter Gottes niederzuknien, und trat selbst neben mich …

»Bete, mein Kind, bete; wir wollen beide beten!« sagte er abgebrochen mit leiser Stimme.

Aber ich konnte nicht beten; ich war ganz verwirrt, sogar erschrocken; ich mußte an die Worte meines Vaters in jener letzten Nacht bei der Leiche meiner Mutter denken und bekam einen Nervenanfall. Ich wurde ins Bett gebracht, und in dieser zweiten Periode meiner Krankheit wäre ich beinah gestorben. Der Vorgang war folgender.

Eines Morgens schlug ein bekannter Name an mein Ohr: ich hörte den Namen S***z. Einer von den Hausgenossen sprach ihn an meinem Bette aus. Ich fuhr zusammen; die Erinnerungen stürmten auf mich ein; zurückdenkend und mich qualvollen Träumereien überlassend lag ich, ich weiß nicht wie viele Stunden, in vollständigem Fieber. Als ich erwachte, war es schon sehr spät; um mich herum war es dunkel; die Nachtlampe war ausgegangen und das Mädchen, das sonst in meinem Zimmer saß, nicht anwesend. Auf einmal hörte ich die Töne einer fernen Musik. Bald verstummten sie gänzlich, bald klangen sie lauter und lauter, wie wenn sie näher kämen. Ich erinnere mich nicht, was für ein Gefühl sich meiner bemächtigte, was für eine Absicht sich plötzlich in meinem kranken Kopfe bildete. Ich stand vom Bette auf (ich weiß nicht, wo ich die Kraft dazu hernahm), zog schnell mein Trauerkleid an und verließ tastend das Zimmer. Weder im zweiten noch im dritten Zimmer begegnete ich einer Menschenseele. Endlich gelangte ich auf den Korridor. Die Töne wurden immer deutlicher hörbar. In der Mitte des Korridors befand sich eine Treppe, die nach unten führte; auf diesem Wege ging ich immer in die großen Zimmer hinunter. Die Treppe war hell erleuchtet; unten gingen Menschen; ich verbarg mich in einem Winkel, um nicht gesehen zu werden, und sobald es möglich war, ging ich hinunter nach dem andern Korridor. Die Musik ertönte aus dem anstoßenden Saale; dort war ein Geräusch und ein Stimmengewirr, als ob Tausende von Menschen versammelt wären. Eine der Saaltüren, die direkt aus dem Korridor hineinführte, war mit gewaltigen, doppelten Portieren aus rotem Samt verhängt. Ich hob die erste von ihnen auf und stand zwischen den beiden Vorhängen.

Mein Herz klopfte so stark, daß ich kaum auf den Beinen stehen konnte. Aber nach einigen Minuten gelang es mir, meiner Aufregung Herr zu werden, und ich wagte es endlich, den Rand des zweiten Vorhangs ein wenig zurückzuschlagen … O Gott! Dieser gewaltige, düstere Saal, den zu betreten ich mich immer gefürchtet hatte, strahlte jetzt von tausend Kerzen. Ein Meer von Licht schien auf mich einzustürzen, und meine an die Dunkelheit gewöhnten Augen wurden im ersten Augenblick in schmerzhafter Weise geblendet. Eine wohlriechende Luft schlug mir wie ein heißer Wind ins Gesicht. Eine Unmenge von Menschen gingen auf und ab; alle schienen frohe, heitere Gesichter zu haben. Die Damen hatten prachtvolle, hellfarbige Kleider an; überall begegnete ich Blicken, die vor Vergnügen leuchteten. Ich stand wie verzaubert. Es schien mir, als hätte ich das alles schon einmal gesehen, in irgendeinem Traume … Ich erinnerte mich an die Dämmerstunden, an unsere Dachstube, an das hochgelegene Fenster, an die Straße tief unten mit den leuchtenden Laternen, an die Fenster des gegenüberliegenden Hauses mit den roten Gardinen, an die Equipagen, die sich vor dem Portal drängten, an das Stampfen und Schnauben der stolzen Pferde, an das Geschrei, den Lärm, die Schatten an den Fenstern und an die schwache, ferne Musik … Also hier, hier war dieses Paradies! ging es mir durch den Kopf; hierher hatte ich mit meinem armen Vater gehen wollen … Also war das kein leeres Phantasiegebilde gewesen … Ja, ich hatte das alles schon früher in den Schöpfungen meiner Einbildungskraft und in meinen Träumen gesehen! Meine von der Krankheit entzündete Phantasie lohte in meinem Kopfe hell auf, und Tränen eines unbeschreiblichen Entzückens stürzten mir aus den Augen. Ich suchte mit den Augen meinen Vater: »Er muß hier sein; er ist hier!« dachte ich, und mein Herz schlug erwartungsvoll … der Atem stockte mir … Aber die Musik verstummte; ein Getöse erhob sich, und ein Flüstern ging durch den ganzen Saal. Begierig musterte ich die vor mir vorüberziehenden Gesichter und suchte das eine oder das andere zu erkennen. Auf einmal machte sich eine ungewöhnliche Aufregung im Saale bemerklich. Ich erblickte auf einem Podium einen hochgewachsenen, hageren alten Mann. Sein blasses Gesicht lächelte; er verbeugte sich eckig nach allen Seiten; in der Hand hielt er eine Geige. Tiefes Stillschweigen trat ein, wie wenn alle diese Menschen den Atem anhielten. Alle Gesichter waren nach dem alten Manne hingewandt; alles wartete. Er nahm die Geige und berührte mit dem Bogen die Saiten. Die Musik begann, und ich fühlte, wie mir etwas auf einmal das Herz zusammenpreßte. In unaussprechlichem Grame horchte ich mit angehaltenem Atem auf diese Klänge; etwas Bekanntes ertönte vor meinen Ohren, wie wenn ich es schon irgendwo gehört hätte; es ahnte mir etwas Schreckliches, Furchtbares, das auch für mein Herz die Entscheidung bringen sollte. Endlich klang die Geige stärker; schneller und durchdringender ertönten ihre Klänge. Man konnte glauben, das verzweifelte Wimmern eines Menschen zu hören, klägliches Weinen, wie wenn das Flehen eines Menschen vergebens in dieser ganzen Menge erklänge und matter würde und in Verzweiflung verstummte. Immer bekannter klangen diese Melodien meinem Herzen; aber das Herz wollte nicht daran glauben. Ich preßte die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen; ich klammerte mich an die Vorhänge, um nicht zu fallen … Mitunter schloß ich die Augen und öffnete sie plötzlich wieder in der Erwartung, daß dies ein Traum sei, daß ich in einem schrecklichen, mir nur zu wohl bekannten Augenblick erwachen würde, und ich glaubte in jene letzte Nacht zurückversetzt zu sein und dieselben Töne zu hören. Wenn ich die Augen öffnete, so wollte ich mich von der Wahrheit überzeugen und blickte gespannt nach der Menschenmenge hin, – nein, das waren andere Personen, andere Gesichter … Es schien mir, daß alle, ebenso wie ich, etwas erwarteten, daß alle, ebenso wie ich, von tiefem Kummer gequält würden, daß sie alle diesem schrecklichen Stöhnen und Wehklagen zurufen wollten, es möge doch verstummen und ihnen nicht das Herz zerreißen; aber das Wehklagen und Stöhnen erklang in immer gramvolleren, immer größeres Mitleid erweckenden, immer länger gezogenen Tönen. Auf einmal erscholl ein letzter, furchtbarer, langer Schrei, und alles in mir erzitterte und erbebte … Da war kein Zweifel: das war jener selbe, jener selbe Schrei! Ich erkannte ihn wieder; ich hatte ihn schon einmal gehört; ebenso wie damals, in jener Nacht, durchbohrte er mir jetzt das Herz. »Der Vater! Der Vater!« schoß es mir wie ein Blitz durch den Kopf; »er ist hier; das ist er; er ruft mich; das ist seine Geige!« Eine Art von Stöhnen entrang sich dieser ganzen Menschenmenge, und ein gewaltiges Händeklatschen erschütterte den Saal. Ein verzweifeltes, lautes Weinen drang aus meiner Brust hervor. Ich konnte mich nicht länger halten, schlug den Vorhang zurück und stürzte in den Saal.

»Papa, Papa! Das bist du! Wo bist du?« rief ich, beinah von Sinnen.

Ich weiß nicht, wie ich zu dem hochgewachsenen alten Manne hinlief: die Menge gab mir den Weg frei und trat vor mir auseinander. Ich stürzte mit einem qualvollen Aufschrei zu ihm; ich glaubte, meinen Vater zu umarmen … Auf einmal sah ich, daß lange, knochige Arme mich erfaßten und in die Luft hoben. Ein Paar schwarze Augen waren auf mich gerichtet und schienen mich mit ihrem Feuer verbrennen zu wollen. Ich sah den alten Mann an: »Nein! Das ist nicht mein Vater; das ist sein Mörder!« fuhr es mir durch den Sinn. Eine Art von Raserei überkam mich, und plötzlich schien es mir, daß über meinem Kopfe ein Lachen erscholl und als Widerhall zu diesem Lachen im Saale ein allgemeines Geschrei ertönte. Ich verlor das Bewußtsein.

Fünftes Kapitel

Dies war die zweite und letzte Periode meiner Krankheit.

Als ich wieder die Augen öffnete, erblickte ich über mich gebeugt das Gesicht eines Kindes, eines Mädchens in gleichem Alter mit mir, und meine erste Bewegung war, die Arme nach ihr auszustrecken. Beim ersten Blicke auf sie erfüllte ein Gefühl der Glückseligkeit, eine süße Vorahnung meine ganze Seele. Man stelle sich ein entzückendes Gesichtchen vor, ein Gesichtchen von überraschender, leuchtender, idealer Schönheit, eines von jenen, vor denen man auf einmal, wie von süßer Verwirrung durchdrungen, in einem Wonneschauer stehen bleibt, und dem man dankbar dafür ist, daß es auf der Welt ist, und dafür, daß es einem vor die Augen gekommen ist, und dafür, daß es neben einem hergegangen ist. Dies war die Tochter des Fürsten, Katja, die soeben aus Moskau zurückgekehrt war. Sie lächelte über die Bewegung, die ich machte, und meine schwachen Nerven schmerzten mich leise vor süßem Entzücken.

Die kleine Prinzessin rief ihren Vater, der wenige Schritte davon stand und mit dem Arzte redete.

»Nun, Gott sei Dank! Gott sei Dank!« sagte der Fürst, indem er meine Hand ergriff, und sein Gesicht strahlte in aufrichtiger Freude. »Ich freue mich, ich freue mich, ich freue mich sehr,« fuhr er in seiner gewöhnlichen eiligen Redeweise fort. »Also, Katja, mein liebes Kind, nun macht euch miteinander bekannt! Siehst du, da hast du eine Freundin. Werde nur recht bald gesund, Netotschka! Du böses Kind, was hast du mir für einen Schreck eingejagt!«

Meine Genesung ging sehr schnell vor sich. Nach einigen Tagen konnte ich schon gehen. Jeden Morgen kam Katja an mein Bett, stets mit einem Lächeln und Lachen, das nie von ihren Lippen wich. Auf ihr Erscheinen wartete ich wie auf ein Glück; ich hätte sie so gern geküßt! Aber das ausgelassene Kind kam immer nur auf ein paar Minuten; es konnte nicht stillsitzen.

Beständig in Bewegung zu sein, zu laufen, zu springen, zu lärmen und zu schreien, daß man es durch das ganze Haus hörte, das war für Katja ein unbedingtes Lebensbedürfnis. Und daher erklärte sie selbst mir gleich beim ersten Male, es sei ihr furchtbar langweilig, so neben mir zu sitzen, und darum werde sie nur sehr selten kommen, und auch das nur deswegen, weil ich ihr so leid täte; da sei ja nun nichts zu machen, da müsse sie schon kommen. Aber wenn ich erst würde gesund geworden sein, dann würden wir viel netter miteinander verkehren. Und jeden Morgen war ihr erstes Wort:

»Nun? Bist du gesund geworden?«

Und da ich immer noch recht mager und blaß war und nur ein ängstliches Lächeln auf meinem traurigen Gesichte zum Vorschein kam, so zog die Prinzessin sogleich die Augenbrauen zusammen, schüttelte den Kopf und stampfte ärgerlich mit dem Füßchen.

»Aber ich habe dir doch gestern gesagt, du solltest wohler werden! Wie ist's, du bekommst gewiß nicht ordentlich zu essen?«

»Ich bekomme nur wenig,« antwortete ich schüchtern, weil ich ihr gegenüber gleich ängstlich wurde. Ich wünschte von ganzem Herzen, ihr soviel wie nur möglich zu gefallen, und paßte darum auf jedes meiner Worte, auf jede meiner Bewegungen auf. Ihr Erscheinen versetzte mich in immer größeres Entzücken. Ich verwandte kein Auge von ihr, und wenn sie weggegangen war, blickte ich immer noch wie verzaubert nach der Stelle hin, wo sie gestanden hatte. Ich träumte sogar von ihr. Und im Wachen, wenn sie nicht da war, erfand ich mir lange Gespräche mit ihr, war ihre Freundin, tollte, trieb Mutwillen und weinte mit ihr, wenn wir für etwas gescholten wurden, kurz, ich dachte an sie mit solcher Schwärmerei, wie wenn ich verliebt gewesen wäre. Ich wollte gar zu gern gesund werden und dicke Backen bekommen, wie sie mir geraten hatte.

Wenn Katja morgens zu mir hereingelaufen kam und als erstes Wort mir zurief: »Bist du noch nicht gesund geworden? Du bist ja immer noch so mager!« dann wurde ich so verwirrt, als hätte ich etwas Schlechtes begangen. Aber Katjas Verwunderung darüber, daß ich nicht im Laufe von vierundzwanzig Stunden gesund werden konnte, war durchaus ernst gemeint; ja, sie wurde zuletzt wirklich ärgerlich.

»Na, wenn du willst, werde ich dir heute mal eine Pastete bringen,« sagte sie einmal zu mir. »Iß sie nur; davon wirst du bald dick werden.«

»Nun, dann bringe sie mir!« antwortete ich, entzückt darüber, daß ich sie noch einmal wiedersehen sollte.

Nachdem sie sich nach meiner Gesundheit erkundigt hatte, setzte sich die Prinzessin gewöhnlich mir gegenüber auf einen Stuhl und sah mich mit ihren schwarzen Augen an. Überhaupt pflegte sie mich in der ersten Zeit unserer Bekanntschaft alle Augenblicke so vom Kopf bis zu den Füßen mit der naivsten Verwunderung zu betrachten. Aber unsere Unterhaltung wollte nie so recht in Gang kommen. Katjas Gegenwart und ihr impulsives Wesen machten mich schüchtern, während ich doch so sehnlich mit ihr zu reden wünschte.

»Warum redest du nicht?« begann Katja, nachdem das Stillschweigen eine Weile gedauert hatte.

»Wie geht es deinem Papa?« fragte ich, froh darüber, daß es eine Phrase gab, mit der ich jedesmal das Gespräch beginnen konnte.

»Alles in Ordnung; Papa ist wohl. Ich habe heute zwei Tassen Tee getrunken statt einer. Und wieviel du?«

»Eine.«

Wieder Schweigen.

»Heute wollte mich Falstaff beißen.«

»Ist das ein Hund?«

»Ja gewiß. Hast du ihn denn noch nicht gesehen?«

»Nein, noch nicht.«

Und da ich nicht wußte, was ich weiter sagen sollte, sah mich die Prinzessin wieder erstaunt an.

»Sag mal, freut es dich, wenn ich mit dir rede?«

»Ja, es freut mich sehr; komm nur recht oft zu mir!«

»Das haben mir die andern auch gesagt, du würdest dich freuen, wenn ich zu dir käme, und würdest dann schneller aufstehen können; heute werde ich dir eine Pastete bringen … Aber warum schweigst du denn immer?«

»Ich tue das bloß so, ohne besonderen Grund.«

»Du denkst gewiß viel nach?«

»Ja, ich denke viel.«

»Zu mir sagen sie immer, ich spräche viel und dächte wenig. Ist denn das ein Fehler, wenn man redet?«

»Nein, ich freue mich, wenn du redest.«

»Hm! Ich werde mal Madame Léotard fragen, die weiß alles. Aber worüber denkst du denn nach?«

»Ich denke an dich,« antwortete ich nach kurzem Stillschweigen.

»Macht dir das Vergnügen?«

»Ja.«

»Also hast du mich wohl lieb?«

»Ja.«

»Aber ich habe dich noch nicht lieb. Du bist so mager! Warte, ich werde dir eine Pastete bringen! Nun adieu!«

Die Prinzessin küßte mich eilig und lief aus dem Zimmer.

Nach Tische aber brachte sie mir wirklich die Pastete.

Sie kam wie eine Tolle damit hereingelaufen und lachte vor Freude darüber, daß sie mir ein Gericht gebracht hatte, das mir verboten war.

»Iß noch mehr! Iß ordentlich! Das ist meine Pastete; ich selbst habe keine gegessen. Nun adieu!« Damit war sie verschwunden.

Ein andermal kam sie plötzlich zu mir hereingestürmt, auch wieder zu ungewöhnlicher Zeit, nach Tische; ihre schwarzen Locken waren wie von einem Wirbelwinde zerzaust; ihre Bäckchen brannten wie Feuer; die Augen glänzten ihr; es war ersichtlich, daß sie bereits eine oder zwei Stunden lang herumgelaufen und herumgesprungen war.

»Kannst du Federball spielen?« rief sie außer Atem und hastig, da sie gleich wieder weg wollte.

»Nein,« antwortete ich und bedauerte tief, daß ich nicht Ja sagen konnte.

»Du bist aber auch die Rechte! Na, werde nur erst gesund, dann werde ich es dir beibringen. Ich kam bloß her, um dich zu fragen. Ich spiele jetzt mit Madame Léotard. Adieu! Sie wartet auf mich!«

Endlich konnte ich das Bett ganz verlassen, obgleich ich immer noch sehr schwach und matt war. Mein erster Gedanke war: nun wollte ich mich nie mehr von Katja trennen. Ich fühlte mich unwiderstehlich zu ihr hingezogen. Ich konnte mich an ihr gar nicht satt sehen, und das versetzte Katja in Erstaunen. Meine Zuneigung zu ihr war so stark und ich überließ mich diesem neuen Gefühle mit solcher Inbrunst, daß es ihr nicht entgehen konnte, und anfangs erschien ihr das als eine unerhörte Sonderbarkeit. Ich erinnere mich, daß ich einmal, während wir zusammen spielten, mich nicht mehr beherrschen konnte, ihr um den Hals fiel und anfing, sie zu küssen. Sie befreite sich aus meiner Umarmung, ergriff mich bei den Armen und fragte mich mit zusammengezogenen Augenbrauen, wie wenn ich sie durch irgend etwas gekränkt hätte:

»Was hast du? Warum küßt du mich?«

Ich wurde verwirrt, wie wenn ich mir einer Schuld bewußt gewesen wäre, fuhr bei ihrer schnellen Frage zusammen und vermochte keine Silbe zu antworten; die Prinzessin zuckte zum Zeichen verständnisloser Verwunderung mit den Schultern (eine Geste, die ihr zur Gewohnheit geworden war), preßte mit sehr ernster Miene ihre vollen Lippen zusammen, brach das Spiel ab und setzte sich in eine Sofaecke, von wo aus sie mich sehr lange betrachtete; sie schien über etwas nachzudenken, wie wenn sie über eine neue, plötzlich in ihrem Geiste aufgetauchte Frage ins Klare zu kommen suchte. Auch dies war in allen schwierigen Fällen ihre Gewohnheit. Ich meinerseits konnte mich sehr lange an dieses scharfe, schroffe Benehmen, das in ihrem Charakter lag, nicht gewöhnen.

Anfangs suchte ich die Schuld in mir selbst und dachte, daß ich wirklich viel Sonderbares an mir hätte. Aber obgleich dies richtig war, quälte ich mich doch mit der Rätselfrage, warum es mir nicht gelinge, gleich von vornherein mit Katja Freundschaft zu schließen und mir ihr Wohlwollen ein für allemal zu erwerben. Meine Mißerfolge waren mir kränkend und schmerzlich, und jedes rasche Wort, jeder mißtrauische Blick Katjas brachte mich beinah zum Weinen. Aber mein Kummer wuchs nicht von Tag zu Tag, sondern von Stunde zu Stunde, weil bei Katja alles in sehr schnellem Tempo vor sich ging. Nach einigen Tagen bemerkte ich, daß sie mich ganz und gar nicht liebgewonnen, sondern sogar einen Widerwillen gegen mich zu empfinden angefangen hatte. Dieses kleine Mädchen handelte in allen Dingen rasch und schroff, mancher würde vielleicht sagen derb, wenn nicht in diesen blitzschnellen Äußerungen eines wahrheitsliebenden, naiv-aufrichtigen Charakters eine echte, vornehme Anmut gelegen hätte. Es fing damit an, daß sie an meinem persönlichen Werte zu zweifeln begann; dann verachtete sie mich geradezu, wobei wohl der erste Grund der war, daß ich mich schlechterdings auf kein einziges Spiel verstand. Die Prinzessin liebte es, umherzutollen, zu laufen; sie war kräftig, lebhaft und geschickt; ich war in allen Stücken das Gegenteil. Ich war noch von der Krankheit her schwach, still und schwermütig; das Spielen machte mir keine Freude; kurz, es fehlten mir entschieden alle Fähigkeiten, um Katja zu gefallen. Außerdem konnte ich es nicht ertragen, wenn jemand aus irgendwelchem Grunde mit mir unzufrieden war: dann wurde ich sofort traurig und mutlos, so daß ich nicht mehr die Kraft hatte, meinen Fehler wieder gutzumachen und den von mir gemachten unvorteilhaften Eindruck zu meinen Gunsten zu verändern. Dafür hatte nun Katja absolut kein Verständnis. Anfangs bekam sie sogar über mich einen Schreck und sah mich nach ihrer Gewohnheit erstaunt an, wenn sie sich z. B. eine ganze Stunde lang mit mir abgemüht hatte, um mir zu zeigen, wie man Federball spielt, und dabei nichts hatte erreichen können.

Da ich aber immer sogleich traurig wurde, so daß mir die Tränen aus den Augen stürzen wollten, so wandte sie sich schließlich, nachdem sie ein paarmal über mich erfolglos nachgedacht hatte, ganz von mir ab und spielte für sich allein, ohne mich weiter aufzufordern; ja, sie sprach sogar ganze Tage lang kein Wort mit mir. Ich war darüber sehr bestürzt und konnte eine solche Geringschätzung von ihrer Seite kaum ertragen. Die neue Vereinsamung wurde mir fast noch drückender als die frühere, und ich fing wieder an traurig und schwermütig zu sein, und schwarze Gedanken erfüllten wieder mein Herz.

Madame Léotard, die uns beaufsichtigte, bemerkte endlich die Veränderung, die in unserem Verhältnis zueinander eingetreten war. Und da vor allem ich ihr in die Augen fiel und meine unfreiwillige Vereinsamung sie befremdete, so wandte sie sich geradezu an die Prinzessin und schalt sie, daß sie nicht mit mir umzugehen verstehe. Die Prinzessin zog die Augenbrauen zusammen, zuckte mit den Schultern und erklärte, sie könne mit mir nichts anfangen; ich verstände kein einziges Spiel und dächte immer nur nach; sie wolle lieber auf ihren Bruder Alexander warten (dieser sollte nächstens aus Moskau eintreffen); dann würden sie beide sich viel besser miteinander amüsieren.

Aber Madame Léotard war mit einer solchen Antwort nicht zufrieden und bemerkte ihr, sie lasse mich allein, obwohl ich doch noch krank sei; ich könne nicht so lustig und ausgelassen sein wie Katja, und das sei übrigens auch recht gut; denn Katja sei gar zu wild; sie habe dies und das getan und vorgestern die Balldogge so gereizt, daß diese sie beinah aufgefressen habe; kurz, Madame Léotard schalt sie erbarmungslos aus und schickte sie schließlich zu mir mit dem Befehl, sich sofort mit mir auszusöhnen.

Katja hörte Madame Léotards Scheltrede mit großer Aufmerksamkeit an, als ob sie wirklich darin etwas Neues und Richtiges finde. Sie warf den Reisen, den sie im Saale umhergetrieben hatte, hin, trat auf mich zu, blickte mich ernst an und fragte erstaunt:

»Willst du vielleicht mitspielen?«

»Nein,« antwortete ich; ich war, während Madame Léotard schalt, um meinetwillen und um Katjas willen in Angst gewesen.

»Was willst du denn machen?«

»Ich werde ein Weilchen still sitzen; das Laufen fällt mir schwer; sei mir nur nicht böse, Katja; ich habe dich doch so lieb.«

»Nun, dann werde ich allein spielen,« antwortete Katja leise und stockend; sie schien mit Verwunderung zu bemerken, daß sich diesmal ihre Schuldlosigkeit herausstellte. »Nun, dann adieu; ich bin dir nicht böse.«

»Adieu!« antwortete ich, stand auf lind gab ihr die Hand.

»Vielleicht magst du mich küssen?« fragte sie nach kurzem Nachdenken, wahrscheinlich in Erinnerung an unsere neuliche Szene und in dem Wunsche, mir nach Möglichkeit etwas Angenehmes zu erweisen, um die Sache recht schnell mit mir in Eintracht zu Ende zu bringen.

»Wie du willst,« antwortete ich mit schüchterner Hoffnung.

Sie trat zu mir heran und küßte mich ganz ernsthaft, ohne zu lächeln. Nachdem sie auf diese Weise alles ausgeführt hatte, was von ihr verlangt worden war, ja sogar, um dem armen Mädchen ein Vergnügen zu machen, noch mehr getan hatte, als nötig war, lief sie zufrieden und vergnügt von mir weg, und bald ertönte von neuem in allen Zimmern ihr Lachen und Schreien, bis sie sich ermüdet und beinah atemlos auf das Sofa warf, um sich zu erholen und neue Kräfte zu sammeln. Den ganzen Abend über sah sie mich mißtrauisch an: wahrscheinlich kam ich ihr sehr seltsam und wunderlich vor. Offenbar wollte sie gern mit mir über etwas reden und über einen Zweifel, der ihr in betreff meiner aufgestiegen war, ins Klare kommen, beherrschte sich aber diesmal, ich weiß nicht warum. Katjas Unterricht begann gewöhnlich am Vormittag. Madame Léotard unterrichtete sie im Französischen. Der ganze Unterricht bestand in der Repetition der Grammatik und in der Lektüre Lafontaines. Allzu viel Unterricht erhielt sie nicht, weil man nur mit Mühe ihre Bereitwilligkeitserklärung hatte erlangen können, täglich zwei Stunden lang beim Buche zu sitzen. In diesen Vertrag hatte sie schließlich auf Bitten des Vaters und auf Befehl der Mutter eingewilligt und erfüllte ihn nun sehr gewissenhaft, weil sie selbst ihr Wort gegeben hatte. Sie besaß seltene Fähigkeiten; sie begriff schnell und leicht. Aber auch dabei lagen in ihrem Wesen kleine Sonderbarkeiten: wenn sie etwas nicht verstand, so begann sie sogleich selbst darüber nachzudenken und mochte sich nicht dazu verstehen, um eine Erklärung zu bitten; sie schien sich dessen zu schämen. Sie quälte sich, wie mir erzählt wurde, manchmal ganze Tage lang mit irgendeiner Schwierigkeit herum, die sie nicht lösen konnte, wurde ganz ärgerlich darüber, daß sie sie nicht allein, ohne fremde Hilfe, zu bewältigen vermochte, und wandte sich nur im äußersten Falle, wenn ihre Kräfte schon ganz erschöpft waren, an Madame Léotard mit der Bitte, ihr bei der Aufhellung eines schwierigen Punktes behilflich zu sein, die ihr nicht gelingen wollte. Und so war sie in ihrem ganzen Tun. Sie dachte schon viel nach, obgleich es auf den ersten Blick nicht den Anschein hatte. Aber gleichzeitig war sie naiver, als man nach ihrem Lebensalter hätte erwarten sollen: manchmal begegnete es ihr, daß sie eine völlige Dummheit fragte, und ein andermal wieder trat in ihren Antworten der größte Scharfblick und das feinste Verständnis zutage.

Als ich endlich ebenfalls wieder imstande war geistig zu arbeiten, examinierte mich Madame Léotard über meine Kenntnisse und Fertigkeiten, und da sie fand, daß ich sehr gut las, aber sehr schlecht schrieb, so erklärte sie es für unbedingt notwendig, daß ich sofort mit dem Französischen anfinge.

Ich widerstrebte nicht, und eines Morgens setzte ich mich neben Katja an den Unterrichtstisch. Es traf sich, daß Katja gerade diesmal ungewöhnlich stumpf und äußerst zerstreut war, so daß Madame Léotard sie gar nicht wiedererkannte. Ich dagegen hatte an einem einzigen Vormittag schon fast die ganze französische Fibel bewältigt, da ich lebhaft wünschte, Madame Léotard durch meinen Fleiß zufriedenzustellen. Am Ende der Unterrichtszeit war Madame Léotard auf Katja ganz böse.

»Sehen Sie einmal diese hier an!« sagte sie, auf mich hinweisend. »Das ist ein krankes Kind; sie nimmt zum erstenmal am Unterrichte teil und hat doch zehnmal soviel geleistet wie Sie. Schämen Sie sich denn nicht?«

»Weiß sie denn mehr als ich?« fragte Katja erstaunt. »Sie lernt ja noch die Fibel!«

»Wieviel Zeit haben Sie gebraucht, um die Fibel zu lernen?«

»Drei Lektionen.«

»Und sie nur eine. Also begreift sie dreimal so schnell wie Sie und wird Sie sehr bald überholen. Nicht wahr?«

Katja dachte einen Augenblick nach und wurde auf einmal feuerrot, da sie einsah, daß Madame Léotards Bemerkung richtig war. Vor Scham zu erröten und zu erglühen, das war immer ihr erstes, sei es aus Ärger, wenn ihr etwas nicht gelang, sei es aus Stolz, wenn sie für eine Unart gescholten wurde, kurz, fast in allen solchen Fällen. Diesmal traten ihr beinah die Tränen in die Augen; aber sie schwieg und sah mich nur so an, als ob sie mich mit ihrem Blicke versengen wollte. Ich merkte sofort, wie es stand. Das arme Kind war im höchsten Grade stolz und ehrgeizig. Als wir von Madame Léotard weggingen, wollte ich ein Gespräch anknüpfen, um möglichst schnell ihren Ärger zu verscheuchen und ihr klarzumachen, daß ich an den Bemerkungen der Französin ganz unschuldig sei; aber Katja schwieg, als ob sie gar nicht hörte, was ich sagte.

Eine Stunde darauf kam sie in das Zimmer, wo ich mit einem Buche saß, dabei immer an Katja dachte und bestürzt und erschrocken darüber war, daß sie wieder nicht mit mir reden wollte. Sie blickte mich von der Seite an, setzte sich nach ihrer Gewohnheit auf das Sofa und verwandte eine halbe Stunde lang keinen Blick von mir. Endlich konnte ich das nicht mehr ertragen und sah sie fragend an.

»Kannst du tanzen?« fragte Katja.

»Nein, das kann ich nicht.«

»Aber ich kann es.«

Schweigen.

»Aber spielst du Klavier?«

»Auch das nicht.«

»Aber ich spiele. Das ist sehr schwer zu lernen.«

Ich schwieg.

»Madame Léotard sagt, du wärest klüger als ich.«

»Madame Léotard war böse auf dich,« erwiderte ich.

»Wird Papa vielleicht auch böse sein?«

»Das weiß ich nicht,« antwortete ich.

Wieder Schweigen. Die Prinzessin schlug ungeduldig mit ihrem Füßchen auf den Boden.

»Du wirst dich also wohl über mich lustig machen, weil du besser begreifst als ich?« fragte sie schließlich, da sie ihren Ärger nicht mehr unterdrücken konnte.

»O nein, nein!« rief ich und sprang auf, um zu ihr hinzueilen und sie zu umarmen.

»Schämen Sie sich denn gar nicht,Prinzessin, so etwas zu denken und so etwas zu fragen?« hörten wir auf einmal Madame Léotard sagen, die uns schon seit fünf Minuten beobachtet und unser Gespräch mit angehört hatte. »Schämen Sie sich! Sie beneiden da ein armes Kind und prahlen vor ihm damit, daß Sie tanzen und Klavier spielen können. Das ist nicht hübsch von Ihnen; ich werde alles dem Fürsten erzählen.«

Die Wangen der Prinzessin überzogen sich mit dunkler Glut.

»Das ist eine häßliche Gesinnung. Sie haben sie durch Ihre Fragen gekränkt. Netotschkas Eltern waren arme Leute und konnten ihr keinen Lehrer halten; sie hat aus sich selbst gelernt, weil sie ein gutes, braves Herz hat. Sie sollten sie lieb haben; statt dessen möchten Sie sich mit ihr streiten. Schämen Sie sich, schämen Sie sich! Sie ist ja doch eine Waise. Sie hat niemanden auf der Welt. Es fehlte nur noch, daß Sie sich ihr gegenüber damit rühmten, daß Sie eine Prinzessin sind und sie nicht. Ich werde Sie jetzt allein lassen. Denken Sie über das, was ich Ihnen gesagt habe, nach, und bessern Sie sich!«

Die Prinzessin dachte zwei volle Tage lang nach. Zwei Tage lang hörte man sie nicht mehr lachen und schreien. Wenn ich in der Nacht aufwachte, hörte ich, wie sie sich sogar im Traume mit Madame Léotard herumstritt. Sie wurde in diesen beiden Tagen sogar ein bißchen magerer, und die Röte spielte nicht mehr so lebhaft auf ihrem klaren Gesichtchen. Endlich trafen wir uns beide am dritten Tage unten in den großen Zimmern. Die Prinzessin kam von ihrer Mutter; aber als sie mich erblickte, blieb sie stehen und setzte sich mir gegenüber. Ich wartete voll Angst, was nun kommen werde, und zitterte an allen Gliedern.

»Netotschka, warum bin ich um deinetwillen gescholten worden?« fragte sie endlich.

»Nicht um meinetwillen, liebe Katja,« antwortete ich, indem ich mich eilig zu rechtfertigen suchte.

»Aber Madame Léotard sagt, ich hätte dich gekränkt.«

»Nein, liebe Katja, nein, du hast mich nicht gekränkt.«

Die Prinzessin zuckte die Schultern zum Zeichen, daß sie nicht daraus klug werden könne.

»Warum weinst du denn immer?« fragte sie nach einem kurzen Stillschweigen.

»Ich werde nicht mehr weinen, wenn es dir zuwider ist,« antwortete ich unter Tränen.

Sie zuckte wieder die Achseln.

»Hast du auch früher immer geweint?«

Ich gab keine Antwort.

»Warum wohnst du bei uns?« fragte die Prinzessin plötzlich nach einer nochmaligen kleinen Pause.

Ich sah sie erstaunt an und fühlte eine Art von Stich im Herzen.

»Weil ich eine Waise bin,« erwiderte ich endlich, mich zusammennehmend.

»Hattest du einen Papa und eine Mama?«

»Ja.«

»Nun, und hatten die dich nicht lieb?«

»O ja, sie hatten mich lieb,« antwortete ich mit Anstrengung.

»Waren sie arm?«

»Ja.«

»Sehr arm?«

»Ja.«

»Haben sie dir keinen Unterricht erteilt?«

»Sie haben mich lesen gelehrt.«

»Hattest du Spielzeug?«

»Nein.«

»Gab es bei euch Kuchen?«

»Nein.«

»Wieviele Zimmer waren bei euch?«

»Eins.«

»Ein Zimmer?«

»Ja.«

»Aber es war doch Dienerschaft da?«

»Nein, die war nicht da.«

»Aber wer besorgte denn alles?«

»Ich ging selbst einkaufen.«

Die Fragen der Prinzessin verwundeten mein Herz immer mehr und mehr. All diese Erinnerungen und das Gefühl der Vereinsamung ergriffen mich schmerzlich; das Erstaunen der Prinzessin hatte für mich etwas Verletzendes; das Herz blutete mir. Ich zitterte vor Erregung am ganzen Leibe und erstickte fast vor Tränen.

»Du bist also wohl froh darüber, daß du bei uns wohnst?«

Ich schwieg.

»Hattest du gute Kleider?«

»Nein.«

»Schlechte?«

»Ja.«

»Ich habe deine Kleider gesehen; sie sind mir gezeigt worden.«

»Warum fragst du mich denn dann?« sagte ich; ein neues, mir bisher unbekanntes Gefühl ließ mich erzittern, und ich erhob mich von meinem Platze. »Warum fragst du mich denn dann?« fuhr ich fort, indem ich vor Unwillen errötete. »Warum spottest du über mich?«

Die Prinzessin wurde blutrot und stand gleichfalls auf; aber im nächsten Augenblicke bezwang sie ihre Erregung.

»Nein … ich spotte nicht über dich,« antwortete sie. »Ich wollte nur wissen, ob es wahr ist, daß dein Papa und deine Mama arm waren.«

»Warum fragst du mich nach meinem Papa und nach meiner Mama?« sagte ich und fing in tiefem Seelenschmerz an zu weinen. »Warum fragst du nach ihnen in dieser Weise? Was haben sie dir getan, Katja?«

Katja stand in Verwirrung da und wußte nicht, was sie antworten sollte. In diesem Augenblicke trat der Fürst ein.

»Was ist dir, Netotschka?« fragte er, als er mich angesehen und meine Tränen bemerkt hatte. »Was ist dir?« fragte er mich noch einmal mit einem Blick auf Katja, die feuerrot dastand. »Wovon habt ihr gesprochen? Worüber habt ihr euch gezankt? Netotschka, worüber habt ihr euch gezankt?«

Aber ich konnte nicht antworten. Ich ergriff die Hand des Fürsten und küßte sie unter Tränen.

»Katja, sage die Wahrheit: was hat es hier gegeben?«

Katja verstand nicht zu lügen.

»Ich habe gesagt, daß ich gesehen habe, was sie für schlechte Kleider gehabt hat, als sie noch bei ihrem Papa und bei ihrer Mama wohnte.«

»Wer hat sie dir gezeigt? Wer hat sich unterstanden, sie dir zu zeigen?«

»Ich habe sie mir selbst angesehen,« erwiderte Katja in festem Tone.

»Nun gut! Du sagst nichts gegen andere aus; ich kenne dich. Was weiter?«

»Und da hat sie zu weinen angefangen und gesagt, warum ich über ihren Papa und über ihre Mama spottete.«

»Also du hast über sie gespottet?«

Obgleich Katja nicht geradezu gespottet hatte, so war das doch ihre Absicht gewesen, und ich hatte ihre Worte gleich von vornherein so aufgefaßt. Sie antwortete keine Silbe, gab also ebenfalls ihr Vergehen zu.

»Geh augenblicklich zu ihr hin und bitte sie um Verzeihung!« sagte der Fürst, indem er auf mich zeigte.

Die Prinzessin stand blaß wie Leinwand da und rührte sich nicht vom Flecke.

»Nun?« sagte der Fürst.

»Ich will nicht,« erwiderte Katja endlich halblaut mit sehr entschlossener Miene.

»Katja!«

»Nein, ich will nicht, ich will nicht!« schrie sie plötzlich mit funkelnden Augen und stampfte dabei mit den Füßen. »Ich will nicht um Verzeihung bitten, Papa. Ich kann sie nicht leiden. Ich mag nicht mehr mit ihr zusammen wohnen … Ich kann nichts dafür, daß sie den ganzen Tag weint. Ich will nicht, ich will nicht!«

»Komm mit mir!« sagte der Fürst, ergriff sie bei der Hand und nahm sie mit in sein Arbeitszimmer.

«Netotschka, geh nach oben!«

Ich wollte dem Fürsten nacheilen und für Katja Fürsprache einlegen; aber der Fürst wiederholte seinen Befehl in strengem Tone, und ich ging, ganz kalt vor Schreck, mehr tot als lebendig, nach oben. Als ich in unser Zimmer kam, fiel ich auf das Sofa und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Ich zählte die Minuten und wartete mit Ungeduld auf Katja, der ich mich zu Füßen werfen wollte. Endlich kehrte sie zurück, ging, ohne ein Wort zu mir zu sagen, an mir vorbei und setzte sich in eine Ecke. Ihre Augen waren getötet, die Wangen von Tränen geschwollen. Meine ganze Entschlossenheit schwand dahin. Ich sah sie voller Angst an und konnte mich nicht von der Stelle rühren.

Ich klagte aus aller Kraft mich selbst an und suchte mir zu beweisen, daß ich an allem schuld sei. Tausendmal wollte ich zu Katja hingehen, und tausendmal hielt ich an, da ich nicht wußte, wie sie es aufnehmen werde. So verging ein Tag und ein zweiter Tag. Am Abend des zweiten Tages wurde Katja heiterer und fing an, ihren Reifen durch die Zimmer zu treiben, stellte aber ihr Amüsement bald wieder ein und setzte sich allein in eine Ecke. Vor dem Schlafengehen wendete sie sich plötzlich zu mir und machte sogar zwei Schritte auf mich zu, und ihre Lippen öffneten sich, um etwas zu mir zu sagen; aber sie hielt dann doch inne, drehte sich um und legte sich ins Bett. Nach diesem Tage verging noch ein Tag, und die erstaunte Madame Léotard begann endlich, Katja ins Verhör zu nehmen, was mit ihr geschehen sei; ob sie auch nicht krank sei, da sie plötzlich verstummt wäre. Katja gab irgendeine ausweichende Antwort und griff nach ihrem Federball; aber kaum hatte Madame Léotard sich umgedreht, als sie errötete und zu weinen anfing. Sie lief aus dem Zimmer, damit ich es nicht sehen sollte. Und endlich erfolgte die Krisis: gerade drei Tage nach unserem Streite kam sie plötzlich nach dem Mittagessen auf mein Zimmer und trat schüchtern auf mich zu.

»Papa hat mir befohlen, dich um Verzeihung zu bitten,« sagte sie. »Verzeihst du mir?«

Schnell ergriff ich Katja bei beiden Händen und sagte atemlos vor Erregung:

»Ja, ja!«

»Papa hat mir befohlen, dich zu küssen; willst du mich küssen?«

Zur Antwort fing ich an, ihr die Hände zu küssen, wobei ich sie mit meinen Tränen benetzte. Als ich Katja genauer anblickte, nahm ich an ihr eine ungewöhnliche Erregung wahr. Ihre Lippen bebten leise; das Kinn zuckte; die Augen waren feucht; aber sie bezwang ihre Erregung augenblicklich, und für einen Moment zeigte sich ein Lächeln auf ihren Lippen.

»Ich will hingehen und meinem Papa sagen, daß ich dich geküßt und um Verzeihung gebeten habe,« sagte sie leise, als ob sie für sich eine Überlegung anstellte. »Ich habe ihn schon drei Tage lang nicht gesehen; er hat mir verboten zu ihm zu kommen, ehe ich das nicht getan hätte,« fügte sie nach kurzem Stillschweigen hinzu.

Nach diesen Worten ging sie schüchtern und nachdenklich nach unten, wie wenn sie sich noch nicht sicher wäre, wie der Vater sie empfangen werde.

Aber nach einer Stunde tönte Schreien, Lärm, Lachen und das Gebell Falstaffs nach oben hinauf; es wurde etwas umgestoßen und zerbrach; ein paar Bücher flogen auf den Fußboden; der Reifen klapperte und sprang durch alle Zimmer, – kurz, ich merkte, daß Katja sich mit ihrem Vater ausgesöhnt hatte, und mein Herz erzitterte vor Freude.

Aber zu mir kam sie nicht und wollte Gesprächen mit mir offenbar aus dem Wege gehen. Dafür hatte ich die Ehre, im höchsten Grade ihre Neugier zu erregen. Es kam immer häufiger vor, daß sie sich mir gegenübersetzte, um mich bequemer zu betrachten. Die Art, in der sie mich beobachtete, wurde immer ungenierter; kurz, das verwöhnte, eigenwillige Kind, das alle Leute im Hause verzogen und hätschelten und wie einen Schatz hüteten, konnte nicht begreifen, wie ich schon mehreremal ihre Wege ohne ihre Bewilligung gekreuzt hatte. Aber sie war ein prächtiges, gutes Herzchen, das immer schon durch den bloßen Instinkt den rechten Weg für sich zu finden verstand. Am meisten Einfluß hatte auf sie ihr Vater, den sie vergötterte. Die Mutter hegte für sie eine maßlose Liebe, war aber dabei furchtbar streng gegen sie. Von ihr hatte Katja ihren Eigensinn, ihren Stolz und ihre Charakterfestigkeit angenommen; aber sie mußte an ihrer eigenen Person alle Launen der Mutter ertragen, die sogar bis zur Tyrannei auf geistigem Gebiete gingen. Die Fürstin hatte seltsame Begriffe von Erziehung, und Katjas Erziehung war infolgedessen eine wunderliche Mischung von unverständiger Verwöhnung und unerbittlicher Strenge. Was gestern erlaubt wurde, wurde auf einmal ohne jeden Grund heute verboten, und das Gerechtigkeitsgefühl des Kindes wurde auf das Empfindlichste beleidigt. Aber davon werde ich noch später zu reden haben. Ich bemerke hier nur noch, daß das Kind es bereits verstand, sein Verhältnis gegen die Mutter und gegen den Vater zu regeln. Dem letzteren gegenüber gab sie sich ganz, wie sie war, aufrichtig und offen, ohne alle Heimlichkeit. Im Verkehr mit der Mutter war sie ganz das Gegenteil: verschlossen, mißtrauisch, widerspruchslos gehorsam. Aber ihr Gehorsam ging nicht aus aufrichtiger Überzeugung hervor, sondern beruhte auf der Erkenntnis, daß es unumgänglich notwendig sei, hier zu gehorchen. Ich werde das später noch erklären. Übrigens muß ich zur besonderen Ehre meiner Katja sagen, daß sie denn doch für ihre Mutter Verständnis hatte und, wenn sie sich ihr unterordnete, dies in voller Würdigung der grenzenlosen Liebe derselben tat, die manchmal bis zu krankhafter Überspannung ging. Diesen letzteren Umstand zog die Prinzessin großmütig in Rechnung. Aber dieses in Rechnung Ziehen half später dem heißblütigen Persönchen leider wenig!

Aber was in mir selbst vorging, begriff ich kaum. Mein ganzes Inneres war durch ein neues, unerklärliches Gefühl in Aufregung gekommen, und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß dieses neue Gefühl mich quälte und peinigte. Kurz (man wolle mir diesen Ausdruck verzeihen!), ich war in meine Katja verliebt. Ja, das war Liebe, echte Liebe, eine Liebe mit Tränen und Freuden, eine leidenschaftliche Liebe. Was war es, das mich so zu ihr hinzog? Woher war diese Liebe entstanden? Sie hatte beim ersten Blick auf Katja begonnen, als alle meine Gefühle durch die Erscheinung des engelschönen Kindes in süße Erregung geraten waren. Alles an ihr war schön; kein einziger ihrer Fehler war ihr angeboren; alle waren nur angenommen, und alle befanden sich im Zustande des Ringens. Überall sah man den schönen Grundstoff, der nur zeitweilig eine falsche Form angenommen hatte; aber alles an ihr, nicht zum wenigsten dieses Ringen selbst, erweckte eine erfreuliche Hoffnung und weissagte eine erfreuliche Zukunft. Alle freuten sich über sie, alle liebten sie, nicht ich allein. Wenn wir gewöhnlich um drei Uhr spazieren geführt wurden, blieben alle Passanten, kaum daß sie sie erblickt hatten, überrascht stehen, und nicht selten erscholl ein Ausruf der Bewunderung hinter dem glücklichen Kinde. Sie war dazu geboren, glücklich zu sein; anders konnte es gar nicht sein: das war meine erste Empfindung bei der Begegnung mit ihr. Vielleicht regte sich damals bei mir zum ersten Male das ästhetische Gefühl, das Gefühl für das Schöne, und äußerte sich zum erstenmal, hervorgerufen durch eine solche Schönheit, – und das war vielleicht die ganze Ursache der Entstehung meiner Liebe.

Der Hauptfehler der Prinzessin oder, richtiger gesagt, das Hauptelement ihres Charakters, das unaufhaltsam danach strebte, seine natürliche Form anzunehmen, und sich selbstverständlich in einem irregulären Zustande, im Zustande des Ringens, befand, war der Stolz. Dieser Stolz ging bis zu naiver Kleinlichkeit und führte zur Selbstüberschätzung, dergestalt, daß z. B. Widerspruch, von welcher Art er auch sein mochte, sie nicht kränkte, auch nicht ärgerte, sondern sie nur in Erstaunen versetzte. Sie konnte nicht begreifen, daß irgend etwas anders gehen sollte, als sie wünschte. Aber das Gerechtigkeitsgefühl trug in ihrem Herzen doch immer den Sieg davon. Wenn man sie davon überzeugen konnte, daß sie im Unrecht war, so fügte sie sich dem Verdikt sogleich ohne Murren und ohne Zaudern. Und wenn sie bisher in ihren Beziehungen zu mir sich selbst untreu geworden war, so erkläre ich mir das alles aus einer unüberwindlichen Antipathie gegen mich, durch die eine Zeitlang die Harmonie ihres ganzen Wesens beeinträchtigt wurde; es konnte gar nicht anders sein: sie gab sich zu leidenschaftlich ihren Affekten hin und konnte immer erst durch das Beispiel anderer und durch eigene Erfahrung wieder auf den richtigen Weg geführt werden. Alles, was sie unternahm, hatte einen schönen, wahren Erfolg; aber dieser Erfolg wurde durch ununterbrochene Verfehlungen und Irrungen erkauft.

Katja war es sehr bald satt geworden, mich zu beobachten, und entschied sich endlich dafür, mich in Ruhe zu lassen. Sie tat so, als ob ich überhaupt nicht im Hause wäre, und richtete kein überflüssiges Wort an mich, ja kaum die nötigsten; von ihren Spielen war ich ausgeschlossen, und zwar nicht gewaltsam, sondern in so geschickter Weise, wie wenn ich mich selbst damit einverstanden erklärt hätte. Der Unterricht nahm seinen ordnungsmäßigen Fortgang, und wenn ich ihr als Muster für schnelle Auffassung und ruhiges Wesen hingestellt wurde, so hatte ich jetzt nicht mehr die Ehre, ihren Ehrgeiz zu kränken, der sonst außerordentlich empfindlich war, so daß sogar unsere Bulldogge Sir John Falstaff ihn verletzen konnte. Falstaff war kaltblütig und phlegmatisch, aber böse wie ein Tiger, wenn er gereizt wurde, so böse, daß er dann sogar seinem Herrn den Gehorsam versagte. Noch ein Zug von diesem Hunde: er konnte schlechterdings niemanden leiden; aber sein ärgster natürlicher Feind war unstreitig die alte Prinzessin. Aber davon später. Die ehrgeizige Katja suchte mit allen Mitteln Falstaffs Unliebenswürdigkeit zu besiegen; es war ihr unangenehm, daß es auch nur ein einziges Wesen im Hause gab, das ihre Autorität, ihre Macht nicht anerkannte, sich nicht vor ihr beugte, sie nicht liebte. Und so beschloß denn die Prinzessin, ihrerseits einen Angriff auf Falstaff zu unternehmen. Sie wollte allen befehlen, alle beherrschen; wie durfte da Falstaff sich seinem Schicksal entziehen? Aber die unbeugsame Balldogge wollte sich nicht ergeben.

Eines Tages nach dem Mittagessen, als wir beide unten in dem großen Saale saßen, legte sich der Hund mitten im Zimmer hin und ergab sich träge dem Genusse seiner Siesta. In diesem Augenblick kam der Prinzessin der Einfall, ihn ihrer Oberhoheit zu unterwerfen. Sie brach ihr Spiel ab, und indem sie Falstaff mit den zärtlichsten Schmeichelnamen titulierte und freundlich mit der Hand lockte, näherte sie sich ihm vorsichtig auf den Fußspitzen. Aber Falstaff fletschte schon von weitem sein furchtbares Gebiß; die Prinzessin blieb stehen. Ihre ganze Absicht bestand darin, zu Falstaff heranzugehen, ihn zu streicheln, was er schlechterdings niemandem als der Fürstin erlaubte, deren Liebling er war, und ihn dazu zu veranlassen, daß er ihr folge: eine schwierige Heldentat, die mit ernstlicher Gefahr verknüpft war, da Falstaff sich nicht bedacht haben würde, ihr die Hand abzubeißen oder sie selbst zu zerreißen, wenn er das für nötig finden sollte. Er war stark wie ein Bär, und voll Unruhe und Angst verfolgte ich aus der Entfernung Katjas Vorgehen. Aber es war nicht leicht, sie so ohne weiteres von einem Vorhaben abzubringen, und sogar Falstaffs Zähne, die er in sehr unhöflicher Manier zeigte, waren entschieden nicht imstande, dies zu leisten. Als sie sich zu ihrem Erstaunen davon überzeugt hatte, daß sie nicht direkt auf ihn zugehen könne, begann sie im Kreise um ihren Feind herumzugehen. Falstaff rührte sich nicht vom Fleck. Katja beschrieb einen zweiten Kreis mit erheblich kleinerem Durchmesser, dann einen dritten; aber als sie bis zu einer Stelle kam, die Falstaff als geheiligte Grenze betrachtete, fletschte er von neuem die Zähne. Die Prinzessin stampfte mit dem Füßchen, ging ärgerlich und nachdenklich weg und setzte sich auf das Sofa.

Zehn Minuten darauf hatte sie sich ein neues Lockmittel ersonnen; sie ging sogleich hinaus und kehrte mit einem Vorrat von Kringeln und Kuchen zurück; kurz, sie hatte die Waffen gewechselt. Aber Falstaff zeigte sich gleichgültig dagegen, weil er wahrscheinlich zu satt war. Er blickte nicht einmal nach dem Stück Kringel hin, das sie ihm vorwarf; als aber die Prinzessin von neuem an die geheiligte Grenze herankam, erfolgte Opposition, und zwar jetzt energischer als das erstemal. Falstaff hob den Kopf in die Höhe, fletschte die Zähne, knurrte leise und machte eine kleine Bewegung, als wenn er sich zum Aufstehen anschicken wollte. Die Prinzessin wurde rot vor Zorn, warf den Kuchen hin und setzte sich von neuem auf ihren Platz.

Sie befand sich offenbar in großer Erregung. Ihr Füßchen schlug fortwährend auf den Teppich; ihre Bäckchen waren feuerrot, und Tränen des Ärgers waren ihr in die Augen getreten. Zufällig blickte sie mich an, und alles Blut stieg ihr in den Kopf. Entschlossen sprang sie auf und ging festen Schrittes gerade auf den furchtbaren Hund los.

Vielleicht wirkte in diesem Augenblicke das Erstaunen zu stark auf Falstaff. Er ließ den Feind über die Linie, und erst in einer Entfernung von zwei Schritten warnte er die unbesonnene Katja durch ein sehr unheilverkündendes Knurren. Katja blieb einen Augenblick stehen, aber auch nur einen Augenblick; dann ging sie entschlossen vorwärts. Ich war starr vor Schreck. Die Prinzessin befand sich in einer so gehobenen Stimmung, wie ich sie an ihr noch nie gesehen hatte; ihre Augen blitzten vor Siegesfreude und Triumphgefühl. Sie hätte ein wundervolles Gemälde abgegeben. Kühn hielt sie den drohenden Blick des wütenden Hundes aus und schrak nicht vor seinem furchtbaren Rachen zurück; er richtete sich ein wenig auf. Aus seiner haarigen Brust ertönte ein schreckliches Knurren; noch ein Augenblick, und er schien sie zerreißen zu wollen. Aber die Prinzessin legte stolz ihr Händchen auf ihn und streichelte ihm dreimal triumphierend den Rücken. Eine Sekunde lang war der Hund unentschlossen. Dieser Augenblick war der furchtbarste. Aber auf einmal erhob er sich schwerfällig von seinem Platze, reckte sich und ging, wahrscheinlich in der Erwägung, daß es nicht der Mühe wert sei, sich mit Kindern abzugeben, sehr ruhig aus dem Zimmer. Die Prinzessin stand triumphierend auf dem eroberten Platze und warf mir einen unbeschreiblichen Blick zu, einen vom Siege gesättigten und berauschten Blick. Aber ich war bleich wie Leinwand; sie bemerkte dies und lächelte. Indes überzog auch ihre Wangen jetzt eine Totenblässe. Sie vermochte kaum bis zum Sofa zu gelangen und fiel halb ohnmächtig darauf nieder.

Aber meine leidenschaftliche Zuneigung zu ihr kannte keine Grenzen mehr. Von dem Tage an, wo ich so viel Angst um ihretwillen ausgestanden hatte, konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Ich verging vor Sehnsucht; tausendmal war ich nahe daran, ihr um den Hals zu fallen; aber die Angst schmiedete mich regungslos an meinem Platze fest. Ich erinnere mich, daß ich Katja zu vermeiden suchte, damit sie meine Aufregung nicht gewahr würde; aber wenn sie dann unvermutet in das Zimmer trat, in das ich mich versteckt hatte, fuhr ich zusammen, und das Herz begann mir so stark zu schlagen, daß mir schwindlig wurde. Ich glaube, daß die Mutwillige dies bemerkte und ein paar Tage lang sich selbst in einer gewissen Verlegenheit befand. Aber bald gewöhnte sie sich auch an diese Ordnung der Dinge. So verging ein ganzer Monat, während dessen ich im stillen litt. Meine Gefühle besitzen eine Art von unerklärlicher Dehnbarkeit, wenn man sich so ausdrücken kann; meine Natur ist geduldig bis zum äußersten Grade, so daß ein Ausbruch, ein plötzliches Sichtbarwerden meiner Gefühle erst im alleräußersten Falle eintritt. Man muß wissen, daß ich mit Katja in dieser ganzen Zeit kaum ein paar Worte gewechselt hatte; aber an einigen fast unmerklichen Anzeichen erkannte ich allmählich, daß das bei ihr nicht eine Folge von Achtlosigkeit oder von Gleichgültigkeit gegen mich war, sondern auf absichtlicher Vermeidung beruhte, gerade als wenn sie sich fest vorgenommen hätte, mich in bestimmten Grenzen zu halten. Ich aber konnte nachts nicht mehr schlafen und bei Tage meine Verwirrung nicht einmal mehr vor Madame Léotard verbergen. Meine Liebe zu Katja brachte mich sogar zu manchen Seltsamkeiten. Einmal nahm ich ihr heimlich ein Taschentuch weg, ein andermal ein Band, das sie sich ins Haar zu flechten pflegte; ich küßte diese Gegenstände ganze Nächte lang und benetzte sie mit meinen Tränen. Anfangs war mir Katjas Gleichgültigkeit schmerzlich und kränkend gewesen; aber jetzt war in meinem Innern alles unklar geworden, und ich konnte mir selbst von meinen Gefühlen keine Rechenschaft geben. Auf diese Weise verdrängten neue Empfindungen allmählich die alten, und die Erinnerungen an meine traurige Vergangenheit verloren ihr Schmerzliches und vermischten sich in meiner Seele mit den Eindrücken des neuen Lebens.

Ich erinnere mich, daß ich manchmal in der Nacht aufwachte, vom Bette aufstand und auf den Zehen zu der Prinzessin hinging. Ich betrachtete die schlafende Katja stundenlang bei dem schwachen Lichte unserer Nachtlampe; manchmal setzte ich mich zu ihr auf das Bett und beugte mich über ihr Gesicht, so daß ihr warmer Atem mich anwehte. Ganz sacht, vor Angst zitternd, küßte ich ihre Hände, ihre Schultern, ihre Haare, ein Füßchen, wenn eines unter der Bettdecke hervorsah. Allmählich bemerkte ich (denn ich verwandte ja einen ganzen Monat lang keinen Blick von ihr), daß Katja von Tage zu Tage nachdenklicher wurde; ihr Wesen verlor seine Gleichmäßigkeit: mitunter war den ganzen Tag über von ihr kein Geräusch zu hören; ein andermal machte sie ein solches Getöse, wie es früher noch nie dagewesen war. Sie wurde reizbar, anspruchsvoll, errötete oft, ärgerte sich sehr häufig und verstieg sich mir gegenüber sogar zu kleinen Grausamkeiten: bald wollte sie auf einmal bei Tische nicht neben mir sitzen, wie wenn sie einen Widerwillen gegen mich empfände; bald ging sie zu ihrer Mutter und saß dort ganze Tage lang, obwohl sie vielleicht wußte, daß ich mich in ihrer Abwesenheit vor Sehnsucht verzehrte; bald begann sie plötzlich, mich stundenlang anzusehen, so daß ich nicht wußte, wo ich vor tödlicher Verlegenheit bleiben sollte, und abwechselnd rot und blaß wurde, dabei aber doch nicht wagte, das Zimmer zu verlassen. Schon zweimal hatte Katja über Fieber geklagt, während man sich nicht erinnern konnte, daß sie früher jemals krank gewesen wäre. Schließlich wurde auf einmal eines Morgens eine besondere Einrichtung getroffen: auf den dringenden Wunsch der Prinzessin wurde sie nach unten umquartiert, zu ihrer Mama, die beinah vor Angst starb, als Katja wieder über Fieber klagte. Es muß noch gesagt werden, daß die Fürstin mit mir sehr unzufrieden war und die ganze von ihr wahrgenommene Veränderung in Katjas Wesen mir und der Einwirkung meines düsteren Charakters, wie sie sich ausdrückte, auf den Charakter ihrer Tochter zuschrieb. Sie hätte uns schon längst getrennt, hatte es aber vorläufig aufgeschoben gehabt, da sie wußte, daß sie darüber einen ernsten Streit mit dem Fürsten auszufechten haben würde; denn obwohl der Fürst ihr in allem nachgab, zeigte er sich doch mitunter hartnäckig und fest bis zur Unbeugsamkeit. Und sie kannte den Fürsten ganz genau.

Ich war über den Umzug der Prinzessin sehr bestürzt und verbrachte eine ganze Woche in der qualvollsten Spannung. Ich grämte mich und zerbrach mir den Kopf darüber, warum Katja nur einen solchen Widerwillen gegen mich empfinden möge. Eine tiefe Traurigkeit erfüllte meine Seele, und ein Gefühl der Empörung über das mir angetane Unrecht regte sich in meinem schwer gekränkten Herzen. Ein gewisser Stolz bildete sich auf einmal in mir heraus, und wenn ich mit Katja zu der Stunde zusammentraf, wo wir spazieren geführt wurden, dann blickte ich sie so ernst und selbstbewußt, so ganz anders als früher an, daß dies auch ihr auffiel. Allerdings gingen solche Veränderungen in meinem Innern nur ruck- und stoßweise vor, und dann begann mir das Herz wieder immer mehr und mehr weh zu tun, und ich wurde noch schwachherziger und kleinmütiger als vorher. Endlich, eines Morgens, kehrte zu meiner größten Verwunderung und freudigen Erregung die Prinzessin nach oben zurück. Zunächst fiel sie laut lachend Madame Léotard um den Hals und erklärte, sie wolle wieder zu uns ziehen; dann nickte sie auch mir zu, bat für diesen Morgen um Dispens vom Unterricht und tollte und lief den ganzen Vormittag umher. Ich hatte sie noch nie lebhafter und vergnügter gesehen. Aber gegen Abend wurde sie still und nachdenklich, und eine gewisse Traurigkeit beschattete wieder ihr reizendes Gesichtchen. Als die Fürstin am Abend heraufkam, um nach ihr zu sehen, bemerkte ich, daß Katja unnatürliche Anstrengungen machte, um heiter zu scheinen. Aber sowie die Mutter hinausgegangen war und wir allein geblieben waren, brach sie plötzlich in Tränen aus. Ich war davon überrascht. Die Prinzessin bemerkte, daß ich sie beobachtete, und ging hinaus. Kurz, es bereitete sich in ihr eine unerwartete Krisis vor. Die Fürstin beriet mit den Ärzten und ließ täglich Madame Léotard zu sich rufen, um sie bis auf das Kleinste über Katja auszufragen; sie gab Befehl, Katja auf Schritt und Tritt zu beobachten. Ich war die einzige, die die Wahrheit ahnte, und mein Herz schlug stark vor freudiger Hoffnung.

Kurz, dieser kleine Roman war an die entscheidende Wendung gelangt und näherte sich seinem Ende. Am dritten Tage, nachdem Katja zu uns nach oben zurückgekehrt war, bemerkte ich, daß sie mich den ganzen Vormittag über mit so wunderlichen Blicken lange ansah. Einige Male begegneten sich unsere Blicke, und jedesmal wurden wir beide rot und schlugen die Augen nieder, wie wenn wir uns voreinander schämten. Schließlich begann die Prinzessin zu lachen und ging von mir fort. Es schlug drei, und wir wurden zum Spaziergang angezogen. Auf einmal trat Katja zu mir.

»Dein Schuhband ist aufgegangen,« sagte sie zu mir. »Zeig her, ich werde es dir zubinden!«

Ich wollte mich selbst bücken und war kirschrot geworden vor Freude darüber, daß Katja wieder mit mir sprach.

»Zeig her!« sagte sie ungeduldig und lachte dabei auf.

Dann bückte sie sich, faßte meinen Fuß mit Gewalt, stellte ihn auf ihr Knie und brachte das Schuhband wieder in Ordnung. Mir stockte der Atem; ich wußte nicht, was ich vor süßem Schreck tun sollte. Als sie mit dem Schuhbande fertig war, stand sie auf und musterte mich vom Kopf bis zu den Füßen.

»Hier ist noch der Hals frei,« sagte sie und berührte mit dem Fingerchen einen entblößten Teil meines Halses. »Zeig her; ich werde dir das Tuch selbst umbinden.«

Ich sträubte mich nicht. Sie band mir das Halstuch auf und dann so, wie sie es für gut hielt, wieder zu.

»Sonst kannst du dir einen Husten holen,« sagte sie schlau lächelnd und mich mit ihren schwarzen, feuchtschimmernden Augen anblitzend.

Ich war wie benommen; ich wußte nicht, was mit mir vorging, und was mit Katja vorgegangen war. Aber unser Spaziergang dauerte, Gott sei Dank, nicht lange; sonst hätte ich mich nicht mehr beherrschen können und hätte sie auf der Straße umarmt und geküßt. Als wir die Treppe hinausgingen, gelang es mir jedoch, sie heimlich auf die Schulter zu küssen. Sie bemerkte es, zuckte zusammen, sagte aber kein Wort. Am Abend wurde sie schön gekleidet und nach unten geführt; es war Besuch bei der Fürstin. Aber an diesem Abend entstand im Hause eine schreckliche Aufregung.

Katja bekam einen Nervenanfall. Die Fürstin war außer sich vor Schreck. Der Arzt kam und wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Natürlich schob man alles auf eine sich vorbereitende Kinderkrankheit oder auch auf Katjas Wachstum; aber ich war darüber anderer Ansicht. Am nächsten Morgen erschien Katja bei uns so wie immer: rotbäckig, heiter und vollständig gesund, aber mit solchen Launen und so wunderlichen Einfällen, wie sie bei ihr vorher noch nie vorgekommen waren.

Erstens gehorchte sie den ganzen Vormittag Madame Léotard nicht. Dann bekam sie auf einmal Lust, zu der alten Prinzessin zu gehen. Die alte Dame, die ihrer Großnichte nicht sehr zugetan war, beständig mit ihr auf dem Kriegsfuße lebte und sie sonst nie sehen mochte, entschloß sich diesmal ganz gegen ihre Gewohnheit, sie zu empfangen. Anfangs ging alles gut, und sie verbrachten die erste Stunde in voller Eintracht. Die schelmische Katja hatte den Einfall gehabt, um Verzeihung für alle ihre Missetaten zu bitten, für ihre Wildheiten und für ihr Schreien, wodurch sie so oft die Ruhe der alten Dame gestört hatte. Die alte Prinzessin verzieh ihr feierlich und unter Tränen. Aber das unartige Mädchen beabsichtigte noch weiter zu gehen. Es war ihr in den Sinn gekommen, solche Schelmenstreiche zu erzählen, die sie noch nicht ausgeführt, sondern erst ersonnen und projektiert hatte. Katja spielte die Demütige, Zerknirschte, Reuige; kurz, die alte fromme Dame war entzückt, und es schmeichelte in hohem Grade ihrer Eitelkeit, daß sie so den Sieg über Katja davontragen sollte, über diesen Abgott des ganzen Hauses, über diese Kleine, deren Launen sich sogar die Mutter fügen mußte.

Und da gestand nun die Mutwillige erstens, sie habe beabsichtigt, auf das Kleid der alten Dame eine Visitenkarte zu kleben; ferner, ihr Falstaff unter das Bett zu setzen; dann, ihr die Brille zu zerbrechen, ihr alle ihre frommen Bücher fortzuschleppen und ihr dafür französische Romane von Mama zu bringen; dann, sich Knallerbsen zu beschaffen und sie auf dem Fußboden auszustreuen; dann, ihr ein Spiel Karten in die Tasche zu praktizieren usw. usw. Kurz, eine dieser beabsichtigten Unarten war schlimmer als die andere. Die alte Dame geriet außer sich und wurde bald blaß, bald rot vor Zorn; schließlich konnte Katja sich nicht mehr halten, schlug ein Gelächter auf und lief aus dem Zimmer der Großtante hinaus. Die alte Prinzessin schickte sofort zur Fürstin und ließ diese zu sich bitten. Es kam zu einer großen Szene, und die Fürstin mußte zwei Stunden lang mit Tränen in den Augen ihre Verwandte anflehen, sie möchte doch Katja ihre Unart verzeihen und von dem Verlangen einer Bestrafung mit Rücksicht auf ihre noch nicht behobene Krankheit Abstand nehmen. Die alte Prinzessin wollte zuerst von nichts hören; sie erklärte, gleich am nächsten Tage das Haus verlassen zu wollen, und ließ sich erst dann besänftigen, als die Fürstin ihr das Wort darauf gab, die Bestrafung solle nur bis zur Genesung der Tochter aufgeschoben sein; dann werde dem gerechten Unwillen der alten Prinzessin volle Genugtuung zuteil werden. Indessen erhielt Katja schon jetzt einen strengen Verweis. Sie wurde zur Fürstin nach unten geführt.

Aber nach Tische machte sich der Unart davon. Als ich nach unten gehen wollte, traf ich sie bereits auf der Treppe. Sie öffnete die Tür und rief Falstaff. Ich erriet sofort, daß sie eine furchtbare Rache plante. Die Sache war folgende:

Die alte Prinzessin hatte keinen unversöhnlicheren Feind als Falstaff. Er benahm sich gegen niemand freundlich und liebte niemanden, war aber hochmütig und stolz und besaß ein maßloses Ehrgefühl. Er liebte niemanden, beanspruchte aber offenbar von allen die schuldige Achtung. Diese hegten auch alle gegen ihn, wobei sie der Achtung ein tüchtiges Quantum Furcht beimischten. So war das lange Zeit gewesen; aber mit der Ankunft der alten Prinzessin hatte sich auf einmal alles geändert: Falstaff wurde schnöde gekränkt, nämlich: es wurde ihm formell verboten, nach oben zu gehen.

Anfangs war Falstaff außer sich vor Empörung und kratzte eine ganze Woche lang mit den Pfoten an der Tür, welche die Treppe abschloß, die von oben zu den unteren Zimmern führte; aber bald erriet er die Ursache seiner Aussperrung, und gleich am ersten Sonntage, als die alte Prinzessin das Haus verlassen wollte, um sich zur Kirche zu begeben, stürzte sich Falstaff heulend und bellend auf die Ärmste. Nur mit Mühe rettete man sie vor der grimmigen Rache des beleidigten Hundes; denn allerdings war sie es gewesen, auf deren Befehl er von oben verbannt war, weil sie erklärt hatte, sie könne das Tier nicht sehen. Seitdem war es dem Hunde aufs strengste verboten worden, nach oben zu gehen, und wenn die alte Prinzessin nach unten kam, so wurde er in das entlegenste Zimmer gejagt. Für die Ausführung dieser Anordnungen wurde die Dienerschaft aufs strengste verantwortlich gemacht. Aber das rachsüchtige Tier hatte doch etwa dreimal die Möglichkeit gefunden, nach oben zu gelangen. Kaum war er die Treppe hinaufgestürmt, so lief er auch augenblicklich durch die ganze Zimmerflucht bis zu dem Schlafzimmer der alten Dame. Nichts konnte ihn zurückhalten. Zum Glück war die Tür zu der alten Dame stets verschlossen, und Falstaff mußte sich damit begnügen, vor ihr so lange schrecklich zu heulen, bis Leute herbeiliefen und ihn wieder nach unten jagten. Die alte Prinzessin aber schrie während des ganzen Besuches der grimmigen Bulldogge so, als ob sie schon gefressen würde, und wurde jedesmal vor Angst ernstlich krank. Ein paarmal hatte sie der Fürstin schon ein Ultimatum gestellt und war sogar einmal in der Erregung so weit gegangen, zu sagen, entweder müsse Falstaff das Haus verlassen, oder sie werde es tun; aber die Fürstin hatte sich nicht dazu verstehen können, sich von Falstaff zu trennen.

Die Fürstin liebte nur wenige Menschen; aber nach ihren Kindern liebte sie Falstaff am meisten von der Welt, und zwar aus folgendem Grunde: Der Fürst hatte einmal vor sechs Jahren, als er von einem Spaziergange zurückkam, einen schmutzigen, kranken, höchst jämmerlich aussehenden Hund mitgebracht, der aber eine Bulldogge vom reinsten Blute war. Der Fürst hatte ihn irgendwie vom Tode gerettet. Aber da der neue Hausgenosse sich äußerst unmanierlich und unhöflich benahm, wurde er auf Geheiß der Fürstin auf den hinteren Hof verwiesen und dort an die Kette gelegt. Der Fürst erhob keinen Einspruch dagegen. Zwei Jahre darauf, als die ganze Familie sich in der Sommerfrische befand, fiel der kleine Alexander, Katjas jüngerer Bruder, in die Newa. Die Fürstin schrie auf, und ihre erste Bewegung war, sich ins Wasser zu werfen, um ihren Sohn zu retten. Mit Gewalt hielt man sie vom sicheren Tode zurück. Unterdessen wurde das Kind von der Strömung schnell fortgetragen, und nur seine Kleidung schwamm noch auf der Oberfläche. So schnell wie möglich wurde ein Kahn losgebunden; aber die Rettung des Kindes wäre doch nur durch ein Wunder möglich gewesen. Plötzlich warf sich die riesenhafte Bulldogge ins Wasser, schnitt dem ertrinkenden Knaben den Weg ab, ergriff ihn mit den Zähnen und schwamm triumphierend mit ihm ans Ufer. Die Fürstin stürzte auf den schmutzigen, nassen Hund zu, um ihn zu küssen. Aber Falstaff, der damals noch den prosaischen und höchst plebejischen Namen Frixa trug, mochte sich von niemand Liebkosungen gefallen lassen und erwiderte die Umarmungen und Küsse der Fürstin damit, daß er sie in die Schulter biß, soviel er davon mit den Zähnen fassen konnte. Die Fürstin litt an dieser Wunde ihr ganzes Leben lang; aber dennoch war ihre Dankbarkeit grenzenlos. Falstaff wurde in die inneren Räume hereingenommen, gesäubert und gewaschen und erhielt ein silbernes, schön gearbeitetes Halsband. Er bekam seinen Platz im Wohnzimmer der Fürstin auf einem prächtigen Bärenfell, und bald brachte die Fürstin es dahin, daß sie ihn streicheln durfte, ohne eine sofortige Bestrafung befürchten zu müssen. Als sie erfuhr, daß ihr Liebling Frixa hieß, geriet sie in Entsetzen, und man suchte sofort einen neuen Namen, möglichst einen antiken. Aber die Namen Hektor, Zerberus usw. waren schon zu abgenutzt; es sollte ein Name sein, wie er dem Günstlinge des Hauses anständigerweise zukam. Endlich schlug der Fürst im Hinblick auf Frixas phänomenale Gefräßigkeit vor, die Bulldogge Falstaff zu nennen. Dieser bezeichnende Name wurde mit Begeisterung aufgenommen und verblieb dem Tiere für immer. Falstaff betrug sich gut; als echter Engländer war er schweigsam und mürrisch; er stürzte sich nie als erster auf jemand, forderte aber, daß man um seinen Platz auf dem Bärenfell respektvoll herumging und ihm überhaupt die gebührende Achtung erwies. Manchmal aber wandelte ihn eine Art von krampfhaftem Verlangen an, es überkam ihn eine Art von Spleen, und in solchen Augenblicken erinnerte sich Falstaff voll Kummer daran, daß sein Feind, sein unversöhnlicher Feind, der in seine Rechte eingegriffen hatte, noch nicht bestraft sei. Dann schlich er leise zu der Treppe, die nach oben führte, und wenn er, wie das gewöhnlich der Fall war, die Tür geschlossen fand, so legte er sich irgendwo in der Nähe hin, versteckte sich in einem Winkel und wartete listig, ob jemand so nachlässig sein werde, die Tür nach oben offen zu lassen. Manchmal wartete das rachsüchtige Tier so drei Tage lang. Aber es waren strenge Weisungen ergangen, auf die Tür gut aufzupassen, und so war Falstaff schon seit zwei Monaten nicht oben erschienen.

»Falstaff, Falstaff!« rief Katja; sie hatte die Tür geöffnet und lockte nun Falstaff freundlich zu uns die Treppe hinauf.

In diesem Augenblick hatte Falstaff bereits gewittert, daß die Tür offen stand, und sich schon angeschickt, seinen Rubikon zu überspringen. Aber die Aufforderung seitens der Prinzessin erschien ihm so unmöglich, daß er eine Zeitlang seinen Ohren nicht trauen mochte. Er war schlau wie eine Katze, und um sich den Anschein zu geben, als habe er die Nachlässigkeit mit der geöffneten Tür gar nicht bemerkt, ging er an ein Fenster, legte seine mächtigen Pfoten auf das Fensterbrett und begann, das gegenüberliegende Gebäude zu betrachten; kurz, er benahm sich, als gehe ihn die Sache gar nichts an, als sei er ein Spaziergänger, der einen Augenblick stehen bleibe, um die schöne Architektur des Nachbargebäudes zu betrachten. Unterdessen pochte ihm aber das Herz nur so in froher Erwartung. Wie groß war nun sein Erstaunen, seine Freude, sein Entzücken, als die Tür vor ihm sperrangelweit geöffnet wurde, ja, man ihn sogar rief, einlud, bat, nach oben zu kommen und unverzüglich seinen berechtigten Rachedurst zu stillen! Aufheulend vor Freude, die Zähne fletschend und triumphierend, stürmte das furchtbare Tier pfeilschnell nach oben.

Sein Ansturm war so heftig, daß ein ihm im Wege stehender Stuhl, an den er im Laufe anstieß, mehrere Ellen weit zurückfuhr und sich um sich selbst drehte. Falstaff flog dahin wie eine Kanonenkugel, die aus dem Rohre des Geschützes fährt. Madame Léotard schrie vor Schreck auf. Aber Falstaff war schon zu der geheiligten Tür gelangt, schlug mit beiden Vorderpfoten dagegen, konnte sie jedoch nicht öffnen und heulte nun aus voller Kehle. Als Antwort darauf ertönte von innen das furchtbare Angstgeschrei der alten Jungfer. Aber schon liefen von allen Seiten ganze Legionen von Feinden herbei, das ganze Haus stürzte nach oben; und dem grimmigen Falstaff wurde geschickt ein Maulkorb über den Rachen geworfen; man fesselte ihm alle vier Beine, und so kehrte er, an einem Fangstrick geschleift, ruhmlos vom Schlachtfelde zurück.

Es wurde ein Bote zur Fürstin gesandt.

Diesmal war die Fürstin nicht geneigt, zu verzeihen und Gnade walten zu lassen; aber wer sollte bestraft werden? Sie erriet es sofort, auf den ersten Blick; ihre Augen fielen auf Katja … Es war wirklich so: Katja stand ganz blaß und vor Furcht zitternd da. Erst jetzt kamen der Armen die Folgen ihres Streiches zum Bewußtsein. Der Verdacht konnte ja auf Unschuldige, auf die Dienerschaft fallen, und Katja war schon im Begriff, die ganze Wahrheit zu sagen.

»Bist du daran schuld?« fragte die Fürstin in strengem Tone.

Ich sah Katjas Totenblässe, trat vor und sagte mit fester Stimme:

»Ich habe Falstaff hinaufgelassen … aus Versehen,« fügte ich hinzu, weil meine ganze Kühnheit vor dem drohenden Blicke der Fürstin dahinschwand.

»Madame Léotard, bestrafen Sie sie exemplarisch!« sagte die Fürstin und verließ das Zimmer.

Ich blickte nach Katja hin: sie stand da wie betäubt; die Arme hingen ihr schlaff an den Seiten herab; das blaß gewordene Gesichtchen blickte zu Boden.

Die einzige Strafe, die bei den Kindern des Fürsten zur Anwendung gebracht wurde, bestand in der Einschließung in ein leeres Zimmer. In einem leeren Zimmer ein paar Stunden lang zu sitzen, das ist weiter nicht schlimm. Aber wenn ein Kind zwangsweise, gegen seinen Willen, eingeschlossen und ihm dabei erklärt wird, daß es der Freiheit beraubt sei, dann ist eine solche Strafe recht empfindlich. Gewöhnlich wurden Katja oder ihr Bruder auf zwei Stunden eingeschlossen. Ich wurde auf vier Stunden eingesperrt, in Anbetracht der Ungeheuerlichkeit meines Vergehens. Innerlich jauchzend vor Freude betrat ich mein Gefängnis. Ich dachte an die Prinzessin. Ich wußte, daß ich gesiegt hatte. Aber statt der vier Stunden saß ich dort bis vier Uhr morgens.

Das ging so zu.

Zwei Stunden nach meiner Einschließung erhielt Madame Léotard die Nachricht, daß ihre Tochter aus Moskau angekommen und plötzlich erkrankt sei und sie zu sprechen wünsche. Madame Léotard fuhr weg, ohne an mich zu denken. Das Dienstmädchen, das bei uns die Aufwartung hatte, nahm wahrscheinlich an, daß ich bereits herausgelassen sei. Katja war nach unten gerufen worden und mußte dort bei ihrer Mutter bis elf Uhr abends sitzen. Als sie zurückkehrte, wunderte sie sich sehr darüber, daß ich nicht im Bette lag. Das Mädchen kleidete sie aus und brachte sie zu Bette; aber die Prinzessin hatte ihre Gründe, sich nicht nach mir zu erkundigen. Sie legte sich hin und wartete auf mich, da sie bestimmt wußte, daß ich auf vier Stunden eingeschlossen war, und annahm, daß unsere Wärterin mich herbringen werde. Aber Nastja hatte mich vollständig vergessen, um so mehr, da ich mich immer allein auszog. Auf diese Weise kam ich dazu, in dem Arrestlokale die Nacht zuzubringen.

Um vier Uhr morgens hörte ich, daß heftig an die Tür meines Zimmers geklopft wurde. Ich schlief, auf dem Fußboden liegend, erwachte nun und schrie zunächst vor Angst auf; aber dann erkannte ich sogleich Katjas Stimme, die am lautesten von allen ertönte, dann Madame Léotards Stimme, dann die der erschrockenen Nastja, dann die der Haushälterin. Endlich wurde die Tür aufgeschlossen, und Madame Léotard umarmte mich mit Tränen in den Augen und bat mich um Verzeihung, daß sie mich vergessen habe. Ich warf mich, ganz in Tränen aufgelöst, ihr um den Hals. Ich zitterte vor Kälte, und von dem Liegen auf dem nackten Fußboden taten mir alle Knochen weh. Ich suchte Katja mit den Augen; aber sie war in unser Schlafzimmer gelaufen; dort sprang sie ins Bett, und als ich hinkam, schlief sie schon oder stellte sich schlafend. Sie war, während sie mich am Abend erwartete, unversehens eingeschlafen und erst gegen vier Uhr morgens aufgewacht. Da hatte sie dann einen furchtbaren Alarm geschlagen und die inzwischen zurückgekehrte Madame Léotard, die Wärterin und die sämtlichen Dienstmädchen geweckt und mich befreit.

Am Morgen erfuhren alle im Hause von meiner Einschließung; selbst die Fürstin sagte, es sei mit mir zu streng verfahren worden. Was aber den Fürsten betrifft, so sah ich ihn an diesem Tage zum erstenmal im Leben zornig. Er kam um zehn Uhr morgens in starker Erregung nach oben.

»Aber ich bitte Sie,« sagte er zu Madame Léotard, »was tun Sie? Wie sind Sie mit dem armen Kinde umgegangen? Das ist ja Barbarei, die reine Barbarei! Ein krankes, schwächliches Kind, ein schreckhaftes Mädchen mit lebhaft arbeitender Phantasie, und Sie sperren es eine ganze Nacht in ein dunkles Zimmer ein! Damit richten Sie das Kind ja zugrunde! Kennen Sie denn nicht sein Vorleben? Das ist Barbarei, das ist unmenschlich, sage ich Ihnen, Madame! Wie kann man eine solche Strafe verhängen? Wer hat eine solche Strafe ausgedacht? Wer hat es fertig gebracht, eine solche Strafe auszudenken?«

Die arme Madame Léotard begann mit Tränen in den Augen und in großer Verwirrung, ihm die ganze Sache zu erklären, und sagte ihm, sie habe mich vergessen, weil ihre Tochter angekommen sei; aber die Strafe an und für sich sei gut, wenn sie nicht zu lange ausgedehnt werde, und sogar Jean Jacques Rousseau spreche sich in ähnlichem Sinne aus.

»Jean Jacques Rousseau, Madame! Aber Jean Jacques Rousseau durfte das nicht sagen. Jean Jacques ist keine Autorität. Jean Jacques Rousseau hätte sich nicht erdreisten sollen, über Erziehung zu reden; er hatte kein Recht dazu. Jean Jacques Rousseau hat sich seiner eigenen Kinder entäußert, Madame! Jean Jacques war ein schlechter Mensch, Madame!«

»Jean Jacques Rousseau! Jean Jacques ein schlechter Mensch! Fürst! Fürst! Was sagen Sie da?«

Madame Léotard war Feuer und Flamme.

Madame Léotard war eine prächtige Frau und neigte ganz und gar nicht dazu, etwas übelzunehmen; aber wenn jemand es wagte, einen ihrer Lieblinge anzutasten, den klassischen Schatten eines Corneille, eines Racine zu beunruhigen, Voltaire zu beleidigen, Jean Jacques Rousseau einen schlechten Menschen, einen Barbaren zu nennen, o Gott! so etwas konnte sie nicht ertragen! Die Tränen traten ihr in die Augen; die alte Dame zitterte vor Aufregung.

»Sie vergessen sich, Fürst!« sagte sie endlich ganz außer sich.

Der Fürst wurde sich sofort bewußt, daß er zu weit gegangen war, und bat um Verzeihung; dann trat er zu mir, küßte mich mit tiefem Gefühle, bekreuzte mich und verließ das Zimmer.

» Pauvre prince!« sagte Madame Léotard, die ihn nun ihrerseits bedauerte. Dann setzten wir uns an den Unterrichtstisch.

Aber die Prinzessin zeigte sich während des Unterrichtes sehr zerstreut. Ehe wir zum Mittagessen gingen, trat sie zu mir, mit glühend rotem Gesichte und mit einem Lachen auf den Lippen, blieb mir gegenüber stehen, faßte mich bei den Schultern und sagte eilig, wie wenn sie sich über etwas schämte:

»Du hast also gestern für mich gesessen? Nach Tische wollen wir in den Saal gehen und spielen.«

Es ging jemand an uns vorbei, und die Prinzessin wandte sich sofort von mir ab.

Nach Tische, in der Dämmerstunde, gingen wir beide, uns an den Händen haltend, nach unten in den großen Saal. Die Prinzessin befand sich in großer Aufregung und atmete mühsam. Ich war froh und glücklich wie nie zuvor.

»Wollen wir Ball spielen?« fragte sie mich. »Stell dich hierher!«

Sie stellte mich in eine Ecke des Saales; aber statt selbst zurückzutreten und mir den Ball zuzuwerfen, blieb sie drei Schritte von mir entfernt stehen, sah mich an, wurde rot und warf sich auf das Sofa, das Gesicht in beide Hände verbergend. Ich machte eine Bewegung nach ihr hin; sie glaubte, ich wolle fortgehen.

»Geh nicht fort, Netotschka! Bleib bei mir!« sagte sie. »Das geht gleich vorüber.«

Aber im nächsten Augenblick sprang sie auf und fiel mir, tief errötend und in Tränen ausbrechend, um den Hals. Ihre Wangen waren feucht, ihre Lippen dick wie Kirschen, ihre Locken fielen unordentlich auseinander. Sie küßte mich wie eine Irrsinnige, küßte mir das Gesicht, die Augen, die Lippen, den Hals, die Hände; sie schluchzte krampfhaft; ich drückte sie fest an mich, und wir hielten uns freudig und wonnig umschlungen wie zwei Freunde, wie zwei Verliebte, die einander nach langer Trennung wiedersehen. Katjas Herz pochte so heftig, daß ich jeden Schlag desselben hörte.

Aber im anstoßenden Zimmer ertönte eine Stimme. Katja wurde zur Fürstin gerufen.

»Ach, Netotschka! Nun, also auf Wiedersehen heute abend, zur Nacht! Geh jetzt nach oben und warte auf mich!«

Sie küßte mich zum letzten Male, leise und unhörbar, aber innig, und verließ mich dann, um dem Rufe Nastjas zu folgen. Ich lief, wie von neuem Leben erfüllt, nach oben, warf mich auf das Sofa, verbarg meinen Kopf in den Kissen und schluchzte vor Entzücken. Mein Herz pochte so heftig, als wollte es mir die Brust zersprengen. Ich erinnere mich nicht, wie ich die Zeit bis zur Nacht verbrachte. Endlich schlug es elf, und ich legte mich schlafen. Die Prinzessin kam erst um Mitternacht zurück; sie lächelte mir von weitem zu, sagte aber kein Wort. Nastja begann, sie auszukleiden, wie es der Prinzessin vorkam, mit besonderer Langsamkeit.

»Schneller, schneller, Nastja!« murmelte Katja.

»Was ist Ihnen denn, Prinzessin? Gewiß sind Sie zu schnell die Treppe heraufgelaufen, daß Ihnen das Herz so klopft?« fragte Nastja.

»Ach, mein Gott, Nastja! Wie langweilig du bist! Schneller, schneller!« Die Prinzessin stampfte ärgerlich mit dem Füßchen auf den Boden.

»O, was für ein süßes Kind!« sagte Nastja und küßte den Fuß der Prinzessin, von dem sie den Strumpf abgezogen hatte.

Endlich war alles fertig; die Prinzessin legte sich hin, und Nastja verließ das Zimmer. Im nächsten Augenblicke sprang Katja aus dem Bette und lief zu mir. Ich empfing sie mit einem frohen Aufschrei.

»Komm zu mir, lege dich zu mir!« sagte sie und versuchte, mich aus dem Bette zu heben. Im Nu war ich in ihrem Bette; wir umarmten uns und schmiegten uns innig aneinander. Die Prinzessin küßte mich halb tot.

»Ich weiß ja doch, wie du mich in der Nacht geküßt hast!« sagte sie und wurde dabei rot wie eine Mohnblume.

Ich schluchzte.

«Netotschka!« flüsterte Katja unter Tränen. »Du mein guter Engel, ich liebe dich ja schon so lange, so lange! Weißt du, seit wann?«

»Nun?«

»Seit Papa mir befahl, dich um Verzeihung zu bitten, als du deinen Papa verteidigt hattest, Netotschka … Du meine arme Wai–se!« sagte sie gedehnt und bedeckte mich von neuem mit Küssen. Sie weinte und lachte zu gleicher Zeit.

»Ach, Katja!«

»Nun, was denn, was denn?«

»Warum haben wir so lange … so lange …« Ich brachte den Satz nicht zu Ende. Wir umarmten uns und sprachen etwa drei Minuten lang kein Wort.

»Hör mal, was hast du denn eigentlich von mir gedacht?« fragte die Prinzessin.

»Ach, wieviel habe ich an dich gedacht, Katja! Immer habe ich an dich gedacht, Tag und Nacht.«

»Und in der Nacht hast du von mir gesprochen; ich habe es gehört.«

»Wirklich?«

»Und wie oft hast du geweint!«

»Siehst du wohl! Warum warst du aber auch immer so stolz?«

»Ich war eben dumm, Netotschka. Das überkommt mich manchmal so; das ist nun einmal nicht anders. Und immer war ich auf dich böse.«

»Warum denn?«

»Weil ich selbst schlecht war. Zuerst war ich dir deshalb böse, weil du besser bist als ich; dann deshalb, weil Papa dich mehr liebt! Und Papa ist ein guter Mensch, Netotschka, nicht wahr?«

»Ach ja!« antwortete ich mit Tränen der Rührung bei dem Gedanken an den Fürsten.

»Ein braver Mann,« sagte Katja ernsthaft. »Aber was soll ich mit ihm anfangen? Er ist immer so eigen … Nun, und dann bat ich dich um Verzeihung und fing beinah an zu weinen, und deswegen war ich wieder auf dich böse.«

»Das habe ich gesehen, das habe ich gesehen, daß dir das Weinen nahe war.«

»Na, du sei nur ganz still, du Närrchen; du bist ja selbst so eine Heulliese!« schalt mich Katja und hielt mir mit der Hand den Mund zu. »Hör mal, ich hatte die größte Lust, dich zu lieben; und dann auf einmal wollte ich dich hassen und haßte dich so furchtbar, so furchtbar! …«

»Weswegen denn?«

»Nun, weil ich auf dich ärgerlich war. Ich weiß nicht, weswegen! Aber dann sah ich, daß du ohne mich gar nicht leben konntest, und da dachte ich: ich will das abscheuliche Mädchen noch ein bißchen quälen!«

»Ach, Katja!«

»Du mein Herzchen!« sagte Katja und küßte meine Hand. »Na, und dann wollte ich mit dir nicht reden, absolut nicht. Und weißt du noch, wie ich Falstaff streichelte?«

»Ach, du furchtlose Heldin!«

»Fei–ge, fei–ge war ich,« erwiderte die Prinzessin gedehnt. »Weißt du wohl, weshalb ich zu ihm heranging?«

»Nun, weshalb?«

»Weil du zusahst. Als ich bemerkte, daß du zusahst, da sagte ich mir: Mag's werden, wie's will! und ging hin. Habe ich dir damit einen Schreck eingejagt? Hast du dich um mich geängstigt?«

»Furchtbar.«

»Das habe ich gesehen. Und wie freute ich mich, daß Falstaff wegging! Herr Gott, wie bekam ich es dann nachträglich mit der Angst, als er weggegangen war, dieses Un–ge–heu–er!«

Die Prinzessin brach in ein nervöses Lachen aus; dann hob sie plötzlich ihr heißes Köpfchen in die Höhe und blickte mich unverwandt an. Ein paar Tränchen, wie kleine Perlen, zitterten an ihren langen Wimpern.

»Eigentlich: was ist denn an dir dran, daß ich dich so liebgewonnen habe? Du bist so bläßlich und hast solch mattblondes Haar und solche bläulichen Augen und bist so eine kleine dumme Tränenliese, du meine arme Wai–se!«

Und Katja beugte sich wieder herab und bedeckte mich mit zahllosen Küssen. Mehrere Tränentropfen fielen aus ihren Augen auf meine Backen. Sie war tief gerührt.

»Wie habe ich dich geliebt! Aber ich dachte immer: Nein, nein, ich will es ihr nicht zeigen! Wie eigensinnig ich war! Warum fürchtete und schämte ich mich denn vor dir? Sieh nur, wie wohl wir uns jetzt fühlen!«

»Katja! Es tut mir ordentlich weh!« sagte ich, ganz sinnlos vor Freude. »Das Herz bricht mir!«

»Ja, Netotschka! Nun höre weiter! … Aber hör mal, wer hat dir eigentlich den Namen Netotschka gegeben?«

»Meine Mama!«

»Wirst du mir von deiner Mama erzählen?«

»Alles, alles!« antwortete ich entzückt.

»Aber wo hast du denn meine beiden Taschentücher gelassen, die mit den Spitzen? Und warum hast du mir mein Haarband weggenommen? Du schämst dich wohl gar nicht? Siehst du, ich weiß das alles.«

Ich lachte und errötete so, daß mir die Tränen kamen.

»Nein, dachte ich; ich will sie noch ein bißchen quälen; mag sie noch ein bißchen warten! Und manchmal dachte ich: ich liebe sie ja überhaupt nicht; ich kann sie nicht leiden. Du aber warst immer so sanft, immer so ein gutes Schäfchen! Aber ich fürchtete sehr, daß du von mir denken könntest, ich wäre dumm! Du bist klug, Netotschka; du bist wohl sehr klug, nicht wahr?«

»Aber was redest du da, Katja!« erwiderte ich, beinah beleidigt.

»Nein, du bist klug,« wiederholte Katja in sehr bestimmtem, ernstem Tone. »Das weiß ich. Aber eines Morgens stand ich auf und hatte dich so liebgewonnen, daß es geradezu schrecklich war! Ich hatte die ganze Nacht von dir geträumt. Da dachte ich: ich will Mama bitten und bei ihr wohnen; ich will sie nicht lieben, nein, ich will es nicht! Und in der Nacht nach der, wo du mich zuerst geküßt hattest, da dachte ich vor dem Einschlafen: wenn sie doch käme, wie in der vorigen Nacht! Und da kamst du wirklich! Ach, wie ich mich verstellte, als ob ich schliefe … Ach, wir schämen uns aber auch gar nicht, Netotschka!«

»Aber warum wolltest du mich denn durchaus nicht lieben?«

»Einen eigentlichen Grund hatte ich nicht … Aber was rede ich! Ich habe dich ja immer geliebt! Immer habe ich dich geliebt! Und nachher konnte ich es nicht mehr aushalten, ich dachte: ich will sie einmal ganz zerküssen oder sie totkneifen. Siehst du, so, du kleines dummes Ding!«

Und die Prinzessin kniff mich.

»Denkst du wohl noch daran, wie ich dir das Schuhband zuband?«

»Gewiß.«

»Ich erinnere mich auch daran; hattest du dabei eine angenehme Empfindung? Ich sah dich an und dachte: Allerliebst ist sie; ich werde ihr mal das Schuhband zubinden; was sie dann wohl denken wird! Und mir selbst wurde dabei so wohl! Wirklich, da wollte ich mich mit dir küssen … aber ich tat es nicht. Und dann wurde mir so lächerlich zumute, so lächerlich! Auf dem ganzen Wege, als wir zusammen spazieren gingen, wollte ich immer loslachen. Ich konnte dich gar nicht ansehen, so lächerlich war mir zumute. Und wie freute ich mich, daß du für mich ins Gefängnis gingst.« (Das leere Zimmer wurde »das Gefängnis« genannt.) »Hattest du Angst vor Mama?«

»Ja, furchtbare Angst.«

»Ich freute mich nicht sowohl darüber, daß du die Schuld auf dich genommen hattest, als vielmehr darüber, daß du für mich saßest! Ich dachte: jetzt weint sie gewiß; aber ich, ich liebe sie so sehr! Morgen werde ich sie so küssen, so küssen! Und ich bedauerte dich nicht; wahrhaftig, ich bedauerte dich nicht, wiewohl ich auch ein bißchen weinte.«

»Aber ich, ich habe nicht geweint; ich habe mich absichtlich gefreut!«

»Du hast nicht geweint? Ach, du Böse!« rief die Prinzessin und sog sich an mir mit ihren Lippen fest.

»Katja, Katja! O Gott, wie nett du bist!«

»Nicht wahr? Aber jetzt kannst du auch mit mir machen, was du willst! Tyrannisiere mich, kneife mich! Bitte, kneife mich mal! Mein Täubchen, kneife mich doch mal!«

»Du Strick!«

»Und was noch?«

»Du Närrchen …«

»Was noch?«

»Nun küsse mich nochmal!«

Und wir küßten uns und weinten und lachten; die Lippen waren uns ganz angeschwollen vom Küssen.

»Netotschka! Erstens sollst du künftig immer zu mir kommen und bei mir schlafen. Küßt du gern? Dann wollen wir uns recht viel küssen. Und zweitens will ich nicht, daß du so traurig bist. Warum bist du so traurig? Du wirst es mir erzählen, nicht wahr?«

»Alles werde ich dir erzählen; aber jetzt bin ich nicht traurig, sondern fröhlich!«

»Dann wirst du auch bald so rote Backen bekommen wie ich! Aber wenn doch recht bald morgen wäre! Bist du müde, Netotschka?«

»Nein.«

»Nun, dann wollen wir noch weiter reden.«

Und so plauderten wir noch etwa zwei Stunden. Gott weiß, was wir alles miteinander redeten. Erstens teilte mir die Prinzessin alle ihre Pläne für die Zukunft, sowie auch den jetzigen Stand der Dinge mit. Da erfuhr ich denn, daß sie ihren Papa mehr liebe als sonst jemanden, beinahe noch mehr als mich. Dann einigten wir uns darüber, daß Madame Léotard eine prächtige Frau und keineswegs streng sei. Ferner überlegten wir gleich jetzt, was wir morgen und übermorgen machen wollten, und trafen überhaupt schon auf zwanzig Jahre im voraus die Dispositionen für unser Leben. Katja hatte den Einfall, wir wollten folgendermaßen leben: an dem einen Tage werde sie mir befehlen, und ich müsse alles ausführen; und am andern Tage sollte es umgekehrt sein; da sollte ich befehlen, und sie werde widerspruchslos gehorchen. Und dann wieder sollten wir beide als Gleichberechtigte einander Befehle erteilen, und da sollte dann irgendeiner von uns absichtlich nicht gehorchen, und wir wollten uns zuerst miteinander streiten, aber nur so obenhin, nur so zum Schein, und uns dann schnell wieder miteinander versöhnen. Kurz, ein endloses Glück wartete unser. Endlich wurden wir des Plauderns doch müde, und mir fielen die Augen zu. Katja lachte über mich, daß ich eine solche Schlafratte sei, schlief aber selbst früher ein als ich. Am Morgen wachten wir zugleich auf, küßten uns schnell, weil jeden Augenblick jemand zu uns hereinkommen konnte, und ich lief noch rasch vorher nach meinem Bette.

Den ganzen Tag über wußten wir nicht, was wir miteinander vor Freude anfangen sollten. Wir versteckten uns fortwährend und liefen von den andern weg, da wir fremde Augen über alles fürchteten. Endlich begann ich, meine Geschichte zu erzählen. Katja war über meinen Bericht tief erschüttert.

»Du böses, böses Mädchen! Warum hast du mir das alles nicht früher gesagt? Ich hätte dich so geliebt, so geliebt! Tat es dir denn weh, wenn dich die Jungen auf der Straße schlugen?«

»O ja, es tat weh. Ich hatte große Furcht vor ihnen!«

»O die bösen Buben! Weißt du, Netotschka, ich habe einmal selbst gesehen, wie ein Junge einen andern auf der Straße schlug. Morgen werde ich heimlich Falstaffs Peitsche mitnehmen, und wenn uns dann so einer vorkommt, dann werde ich ihn gehörig hauen, aber ganz gehörig!«

Ihre Augen blitzten nur so vor Empörung.

Wir erschraken, wenn jemand hereinkam. Wir fürchteten, beim Küssen ertappt zu werden; und wir küßten uns an diesem Tage wenigstens hundertmal. So verging dieser Tag und der folgende. Ich fürchtete vor Wonne zu sterben und konnte kaum atmen vor Glückseligkeit. Aber diese unsere Glückseligkeit dauerte nicht lange.

Madame Léotard mußte über alles, was die Prinzessin tat, Meldung machen. Sie beobachtete uns ganze drei Tage lang, und in diesen drei Tagen sammelte sich bei ihr viel Stoff zur Berichterstattung an. Endlich ging sie zur Fürstin und teilte ihr alles mit, was sie bemerkt hatte: daß wir beide uns in einer Art von Verzückung befänden, uns schon seit drei Tagen nicht voneinander getrennt hätten, uns alle Augenblicke küßten, weinten und lachten wie die Unsinnigen, jawohl, wie die Unsinnigen, und ununterbrochen miteinander plauderten, während das früher nicht geschehen sei; sie wisse nicht, worauf sie das alles zurückführen solle; aber es scheine ihr, daß die Prinzessin sich in einer Art von krankhafter Krisis befinde, und nach alledem halte sie es für das beste, wenn wir uns seltener sähen.

»Das habe ich längst gedacht,« antwortete die Fürstin. »Ich habe vorher gewußt, daß uns dieses sonderbare Waisenkind viel Mühe und Sorge machen werde. Was mir von ihr und ihrem früheren Leben erzählt worden ist, das ist entsetzlich, geradezu entsetzlich! Sie übt offenbar einen starken Einfluß auf Katja aus. Sie sagen, Katja habe sie sehr lieb?«

»Jawohl, sinnlos lieb.«

Die Fürstin wurde ganz rot vor Ärger. Sie war nun eifersüchtig auf mich und gönnte mir die Liebe ihrer Tochter nicht.

»Das ist etwas Unnatürliches,« sagte sie. »Früher waren sie einander so fremd, und ich muß gestehen, ich freute mich darüber. So klein dieses Waisenkind noch ist, möchte ich doch für nichts einstehen. Sie verstehen mich? Sie hat schon mit der Muttermilch ihr ganzes Wesen, ihre Gewohnheiten und vielleicht auch ihre Moral eingesogen. Ich begreife nicht, was der Fürst an ihr findet. Ich habe ihm schon tausendmal den Vorschlag gemacht, sie in eine Pension zu geben.«

Madame Léotard machte den Versuch, mich zu verteidigen; aber die Fürstin hatte bereits beschlossen, uns zu trennen. Sie ließ Katja nach unten rufen und kündigte ihr dort an, sie solle mit mir bis zum nächsten Sonntage, d. h. eine ganze Woche lang, nicht zusammenkommen.

Ich erfuhr dies alles erst spät abends und bekam einen furchtbaren Schreck. Ich dachte an Katja und meinte, sie werde unsere Trennung nicht überstehen. Ich war ganz außer mir vor Gram und Kummer und wurde in der Nacht krank; am Morgen kam der Fürst zu mir und flüsterte mir zu, ich solle die Hoffnung nicht aufgeben. Der Fürst machte alle möglichen Anstrengungen; aber es war alles vergebens; die Fürstin änderte ihren Beschluß nicht. Allmählich geriet ich in Verzweiflung und konnte vor Leid kaum atmen.

Am Morgen des dritten Tages brachte mir Nastja ein Briefchen von Katja. Katja schrieb mit Bleistift in schrecklichen Krähenfüßen folgendes:

»Ich liebe Dich sehr. Ich muß immer bei Mama sitzen und denke immer darüber nach, wie ich davonlaufen und zu Dir kommen könnte. Und ich werde auch davonlaufen, das habe ich mir vorgenommen, und darum weine nicht! Schreibe mir, wie Du mich liebst! Ich habe Dich die ganze Nacht im Traum umarmt und furchtbar gelitten, Netotschka. Ich schicke Dir beifolgend etwas Konfekt. Adieu.«

Ich antwortete auf demselben Wege. Den ganzen Tag lang weinte ich über Katjas Brief. Madame Léotard quälte mich mit ihren Liebkosungen. Am Abend erfuhr ich, daß sie zum Fürsten geschickt und ihm hatte sagen lassen, ich würde unfehlbar zum dritten Male krank werden, wenn ich nicht mit Katja zusammenkäme; sie bereue es, der Fürstin von alledem Mitteilung gemacht zu haben. Ich erkundigte mich bei Nastja, wie es Katja ginge. Sie antwortete mir, Katja weine nicht, sei aber furchtbar blaß.

Am andern Morgen flüsterte mir Nastja zu:

»Gehen Sie in das Arbeitszimmer zu Seiner Durchlaucht! Benutzen Sie die Treppe rechts!«

Mein Herz lebte wieder auf in frohem Vorgefühl. Atemlos vor Erwartung lief ich nach unten und öffnete die Tür zum Arbeitszimmer. Katja war nicht da. Auf einmal umschlang sie mich von hinten und küßte mich leidenschaftlich. Lachen, Tränen … Dann riß sich Katja plötzlich aus meinen Armen, kletterte an ihrem Vater in die Höhe, setzte sich ihm auf die Schulter wie ein Eichhörnchen, blieb aber dort nicht, sondern sprang auf das Sofa hinunter. Nach ihr fiel auch der Fürst darauf nieder. Die Prinzessin weinte vor Wonne.

»Papa, was bist du für ein guter Mensch, Papa!«

»Ihr ausgelassenen Kinder, was ist denn mit euch los? Was ist das für eine Freundschaft? Was ist das für eine Liebe?«

»Sei still, Papa; du verstehst von unseren Angelegenheiten nichts.«

Wir fielen einander von neuem in die Arme.

Ich sah nun Katja näher an. Sie war in den drei Tagen bedeutend abgemagert. Die rote Farbe war von ihrem Gesichtchen verschwunden und eine Blässe an deren Stelle getreten. Ich fing vor Betrübnis an zu weinen.

Endlich klopfte Nastja an. Dies war das Zeichen, daß man Katja vermißt und nach ihr gefragt hatte. Katja wurde bleich wie der Tod.

»Nun genug, Kinder! Wir wollen hier alle Tage zusammenkommen. Adieu, Gott segne euch!« sagte der Fürst.

Er war gerührt von unserm Anblick; aber was er für die Zukunft in Aussicht genommen hatte, ging nicht in Erfüllung. Am Abend traf aus Moskau die Nachricht ein, daß der kleine Alexander plötzlich erkrankt sei und in den letzten Zügen liege. Die Fürstin beschloß, gleich am nächsten Tage hinzureisen. Dies alles geschah so schnell, daß ich bis unmittelbar vor dem Abschiede von der Prinzessin nichts davon erfuhr. Daß wir uns vor der Abreise noch einmal sehen sollten, darauf hatte der Fürst selbst bestanden, und die Fürstin hatte widerstrebend eingewilligt. Die Prinzessin war ganz niedergeschmettert. Ich lief, ohne von mir selbst zu wissen, nach unten und fiel ihr um den Hals. Der Reisewagen wartete schon vor der Haustür. Katja schrie auf, als sie mich erblickte, und fiel besinnungslos um. Ich stürzte zu ihr hin, um sie zu küssen. Die Fürstin bemühte sich, sie wieder zum Bewußtsein zu bringen. Endlich kam sie wieder zu sich und umarmte mich.

»Lebe wohl, Netotschka!« sagte sie plötzlich mit einem unerklärlichen Lächeln. »Mach dir um mich keine Sorge; das hat nichts zu sagen; ich bin nicht krank; in einem Monat komme ich wieder. Dann werden wir uns nicht mehr voneinander trennen.«

»Nun genug!« sagte die Fürstin in ruhigem Tone.

»Wir wollen fahren!«

Aber die Prinzessin wandte sich noch einmal um. Sie preßte mich krampfhaft in ihre Arme.

»Du mein Leben!« flüsterte sie noch. »Auf Wiedersehen!«

Wir küßten uns zum letztenmal, und die Prinzessin verschwand … auf lange, sehr lange Zeit. Es vergingen acht Jahre, bis wir uns wiedersahen!

· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

Ich habe diese Periode meiner Kindheit, dieses erste Erscheinen Katjas in meinem Lebensgange, absichtlich so ausführlich erzählt. Aber unsere Lebensgeschichten sind untrennbar miteinander verbunden. Katjas Roman ist mein Roman. Es schien vom Schicksal bestimmt zu sein, daß ich ihr begegnen und daß auch sie mich finden sollte. Und ich habe mir auch das Vergnügen nicht versagen können, mich noch einmal in der Erinnerung in meine Kindheit zurückzuversetzen … Jetzt wird meine Erzählung in schnellerem Tempo fortschreiten. Mein Leben versank sozusagen in einen stillen Schlaf, aus dem ich erst wieder erwachte, als ich bereits sechzehn Jahre alt war.

Aber ich will noch ein paar Worte darüber sagen, wie es mir erging, nachdem die fürstliche Familie nach Moskau abgereist war.

Ich war mit Madame Léotard allein zurückgeblieben.

Nach vierzehn Tagen brachte ein expresser Bote die Mitteilung, die Rückreise nach Petersburg sei auf unbestimmte Zeit verschoben. Da nun Madame Léotard mit Rücksicht auf ihre eigenen Familienangelegenheiten nicht nach Moskau ziehen konnte, so nahm ihr dienstliches Verhältnis im Hause des Fürsten ein Ende; indes blieb sie in derselben Familie, indem sie zu der ältesten Tochter der Fürstin, zu Alexandra Michailowna, übersiedelte.

Ich habe noch nichts von Alexandra Michailowna gesagt, und ich hatte sie auch bis dahin nur ein einziges Mal gesehen. Sie war die Tochter der Fürstin aus erster Ehe. Die Herkunft und Verwandtschaft der Fürstin waren nicht sehr vornehm, und so war denn auch ihr erster Mann ein Branntweinpächter gewesen. Als die Fürstin sich zum zweiten Male verheiratet hatte, wußte sie schlechterdings nicht, was sie mit ihrer ältesten Tochter anfangen sollte. Auf eine glänzende Partie für diese konnte sie nicht hoffen, da dieselbe nur eine mäßige Mitgift erhielt; endlich gelang es nach vier Jahren, sie an einen reichen höheren Beamten zu verheiraten. Alexandra Michailowna trat in einen anderen Gesellschaftskreis ein und sah eine ganz andere Welt um sich. Die Fürstin machte ihr zweimal im Jahre einen Besuch, der Fürst, ihr Stiefvater, dagegen allwöchentlich, und zwar mit Katja zusammen. Aber in der letzten Zeit sah es die Fürstin nicht gern, daß Katja zu ihrer Schwester ging, und so nahm sie denn der Fürst nur heimlich mit. Katja schwärmte für ihre Schwester; aber die beiderseitigen Charaktere bildeten einen starken Gegensatz. Alexandra Michailowna war eine Frau von zweiundzwanzig Jahren, still, zart und liebevoll; aber ein heimlicher Gram, ein verborgener Seelenschmerz schien einen düsteren Schatten über ihre schönen Züge zu verbreiten. Der Ernst und das düstere Wesen paßten eigentlich nicht zu ihrer engelhaften Miene, ebensowenig wie Trauerkleidung einem Kinde steht. Man konnte sie nicht ansehen, ohne für sie die tiefste Sympathie zu empfinden. Sie war blaß, und damals, als ich sie zum erstenmal sah, hieß es, sie habe Anlage zur Schwindsucht. Sie lebte sehr zurückgezogen und liebte es weder Gäste bei sich zu empfangen noch Besuche zu machen, – wie eine Klosterfrau. Ich erinnere mich, daß sie zu Madame Léotard kam, an mich herantrat und mich mit tiefer Empfindung küßte. Ihr Begleiter war ein hagerer, ziemlich bejahrter Herr. Als er mich ansah, traten ihm die Tränen in die Augen. Dies war der Geiger B***. Alexandra Michailowna umarmte mich und fragte mich, ob ich bei ihr wohnen und ihre Tochter sein wolle. Ich blickte ihr ins Gesicht und erkannte sie als die Schwester meiner Katja; ich umarmte sie mit einer dumpfen Schmerzempfindung im Herzen, von der mir die ganze Brust weh tat, gerade wie wenn wieder jemand zu mir gesagt hätte: »Du arme Waise!« Dann zeigte mir Alexandra Michailowna einen Brief vom Fürsten. Darin waren einige Zeilen an mich gerichtet, und ich las sie mit unterdrücktem Schluchzen. Der Fürst segnete mich, wünschte mir ein langes, glückliches Leben und bat mich, seine andere Tochter lieb zu haben. Katja hatte ebenfalls ein paar Zeilen für mich dazugeschrieben. Sie schrieb, sie werde sich jetzt nicht von ihrer Mutter trennen.

Und so trat ich denn am Abend in eine andere Familie ein, in ein anderes Haus, zu neuen Menschen und riß zum zweiten Male mein Herz von allem los, was mir so lieb, ja schon zur Heimat geworden war. Von seelischem Schmerze zerquält und zerrissen kam ich an … Hier beginnt eine neue Geschichte.

Sechstes Kapitel

Mein neues Leben verlief so ruhig und still, wie wenn ich unter Einsiedlern gelebt hätte. Ich verbrachte bei meinen Pflegeeltern mehr als acht Jahre und erinnere mich nicht, daß in dieser ganzen Zeit außer einigen wenigen besonderen Fällen jemals im Hause ein Abendessen oder ein Diner gegeben worden wäre oder Verwandte, Freunde und Bekannte sich in größerer Anzahl zusammengefunden hätten. Es erschien in unserm Hause fast niemand außer zwei oder drei Personen, die mitunter Besuche machten, dem Musiker B***, welcher Hausfreund war, und denjenigen Leuten, die zu Alexandra Michailownas Manne kamen, und zwar fast immer in geschäftlichen Angelegenheiten. Alexandra Michailownas Mann war von seinen Geschäften und von seiner dienstlichen Tätigkeit beständig in Anspruch genommen und konnte sich nur selten ein wenig freie Zeit abmüßigen, die er dann zwischen der Familie und dem gesellschaftlichen Leben gleichmäßig verteilte. Bedeutende Konnexionen, die er nicht vernachlässigen durfte, zwangen ihn, sich ziemlich häufig bei der Gesellschaft in Erinnerung zu bringen. Fast überall war das Gerücht von seinem grenzenlosen Ehrgeiz verbreitet; aber da er sich des Rufes erfreute, ein geschäftstüchtiger, solider Mensch zu sein, ein sehr ansehnliches Amt bekleidete und Glück und Erfolg ihm gleichsam von selbst auf seinen Wegen entgegenkamen, so waren die gesellschaftlichen Kreise weit davon entfernt, ihm ihre Sympathie zu entziehen. Ganz im Gegenteil: für ihn empfanden alle immer ein besonderes freundschaftliches Interesse, das sie dagegen seiner Frau völlig versagten. Alexandra Michailowna lebte in völliger Vereinsamung; aber sie schien sich darüber zu freuen. Ihr stilles Wesen war gewissermaßen für das Einsiedlertum geschaffen.

Sie hing an mir mit ganzer Seele und liebte mich wie ein eigenes Kind, und ich meinerseits erwiderte diese Gefühle; obgleich meine Tränen über die Trennung von Katja noch nicht versiegt waren und mein Herz noch wund war, warf ich mich, nach Liebe dürstend, in die mütterlichen Arme meiner Wohltäterin. Von jener Zeit an hat meine Liebe zu ihr nie eine Unterbrechung erfahren. Sie war mir Mutter, Schwester, Freundin; sie ersetzte mir alles in der Welt und pflegte treu meine Jugend. Dabei bemerkte ich bald durch ein instinktartiges Gefühl, daß ihr Schicksal keineswegs so schön war, wie man es auf den ersten Blick wegen ihres stillen, anscheinend ruhigen Lebens, wegen ihrer scheinbaren Freiheit und wegen des freundlichen, klaren Lächelns meinen konnte, das so oft ihr Gesicht erhellte; und daher offenbarte mir jeder Tag meiner fortschreitenden geistigen Entwickelung etwas Neues in dem Schicksal meiner Wohltäterin, etwas, was mein Herz langsam und mit Schmerz erriet; und mit dieser traurigen Erkenntnis wuchs zugleich meine Anhänglichkeit an sie und wurde immer fester und fester.

Von Charakter war sie schüchtern und schwach. Wenn man die klaren, ruhigen Züge ihres Gesichtes ansah, hätte man auf den ersten Blick nicht glauben können, daß irgendwelche Unruhe ihr reines Herz aufrege. Es war undenkbar, daß sie imstande sei, gegen jemand etwas anderes als Liebe zu empfinden; das Mitleid gewann in ihrem Herzen immer die Oberhand, sogar über den Widerwillen. Dabei aber war sie doch nur einigen wenigen Freunden wirklich zugetan und lebte in völliger Abgeschlossenheit. Sie war von Natur leidenschaftlich und gefühlvoll; gleichzeitig aber fürchtete sie sich gewissermaßen selbst vor ihren eigenen Gefühlen, wie wenn sie jeden Augenblick vor ihrem Herzen auf der Hut wäre und ihm nicht erlaubte, sich zu vergessen, auch nicht in schönen Träumereien. Mitunter bemerkte ich auf einmal mitten in Zeiten frohester Stimmung Tränen in ihren Augen, als ob eine plötzliche bedrückende Erinnerung an etwas, wovon ihr Gewissen qualvoll gepeinigt wurde, in ihrer Seele auftauchte, als ob etwas ihrem Glücke auflauerte und es in feindlicher Absicht störte. Und je glücklicher sie zu sein schien, je ruhiger und heiterer ein Augenblick ihres Lebens anscheinend war, um so näher stand der Gram, mit um so größerer Wahrscheinlichkeit waren plötzlich Tränen und Traurigkeit zu erwarten; es war gerade, als ob sie einen Anfall bekäme. Ich erinnere mich nicht eines einzigen ruhigen Monats im Laufe der ganzen acht Jahre. Ihr Mann liebte sie anscheinend sehr, und sie vergötterte ihn geradezu. Aber man hatte gleich beim ersten Blick den Eindruck, als ob etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen stehe. In dem Schicksale dieser Frau steckte irgendein Geheimnis; wenigstens vermutete ich das vom ersten Augenblicke an.

Alexandra Michailownas Mann machte auf mich von vornherein den Eindruck eines finsteren Menschen. Dieser Eindruck entstand in meiner Kindheit und hat sich nachher nie wieder verwischt. Was sein Äußeres anlangt, so war er ein hochgewachsener, hagerer Mann und schien absichtlich seinen Blick hinter einer großen grünen Brille zu verbergen. Er war nicht mitteilsam, sondern von trockenem Wesen und fand, selbst wenn er mit seiner Frau allein war, anscheinend keinen Stoff zum Gespräche. Der Verkehr mit Menschen war ihm offenbar lästig. Mich beachtete er gar nicht, und wenn wir uns wie gewöhnlich abends zu dreien in Alexandra Michailownas Salon zum Tee zusammenfanden, so fühlte ich meinerseits mich in seiner Gegenwart unbehaglich. Verstohlen beobachtete ich Alexandra Michailowna und nahm zu meinem Bedauern wahr, daß sie jede ihrer Bewegungen vorher zu überlegen schien, daß sie blaß wurde, wenn sie ihren Mann besonders finster und mürrisch werden sah, oder plötzlich über das ganze Gesicht errötete, wenn sie aus irgendeinem Worte ihres Mannes einen versteckten Vorwurf herauszuhören glaubte. Ich hatte die Empfindung, daß sie sich in seiner Gegenwart bedrückt fühlte, und doch konnte sie anscheinend auch nicht eine Minute ohne ihn leben. Mich überraschte die außerordentliche Aufmerksamkeit, die sie ihm erwies, wie sie auf jedes Wort von ihm, auf jede seiner Bewegungen achtete, als ob sie das dringende Verlangen hätte, ihm alles recht zu machen, und doch fühlte, daß ihr das nicht gelang. Sie flehte sozusagen um seinen Beifall: das leiseste Lächeln auf seinem Gesichte, ein halbes freundliches Wort aus seinem Munde – und sie war glücklich, gerade wie wenn dies die ersten Augenblicke einer noch schüchternen, unsicheren Liebe wären. Sie pflegte ihren Mann wie einen Schwerkranken. Er aber betrachtete sie, wie es mir vorkam, immer mit einer Art von Mitleid, das ihr peinlich war, und wenn er ihr nach Tische die Hand gedrückt und sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte, so wurde sie auf einmal eine ganz andere. Ihre Bewegungen, ihre Redeweise wurden sogleich heiterer und freier. Aber eine gewisse Verstörtheit blieb nach jedem Beisammensein mit ihrem Manne noch längere Zeit bei ihr zurück. Sie begann sogleich, sich jedes Wort, das er gesagt hatte, ins Gedächtnis zurückzurufen, wie wenn sie alle seine Worte genau abwägen wollte. Nicht selten wandte sie sich an mich mit der Frage, ob sie auch richtig gehört und ob Peter Alexandrowitsch sich wirklich so ausgedrückt habe; es klang, als ob sie in seinen Worten einen anderen Sinn suche. Und erst nach etwa einer Stunde war sie wieder völlig guten Mutes, als hätte sie sich nun überzeugt, daß er mit ihr ganz zufrieden sei und sie sich unnötig geängstigt habe. Dann wurde sie auf einmal freundlich, heiter und vergnügt, küßte mich, lachte mit mir oder ging ans Klavier und phantasierte auf ihm ein paar Stunden lang. Aber nicht selten erfuhr ihre frohe Stimmung eine plötzliche Unterbrechung: sie fing an zu weinen, und wenn ich sie beunruhigt, erschrocken und ängstlich ansah, so versicherte sie mir sogleich flüsternd, als fürchtete sie, es könnte uns jemand hören, daß ihre Tränen ohne Ursache seien und nichts zu bedeuten hätten; sie sei ganz vergnügt, und ich solle mir um sie keine Sorge machen. Es kam manchmal vor, daß sie, wenn ihr Mann nicht im Zimmer war, auf einmal in Erregung geriet, sich nach ihm erkundigte, unruhig wurde, zu ihm schickte und fragen ließ, was er mache, ihr Mädchen ausfragte, warum er habe anspannen lassen, und wohin er fahren wolle, ob er auch nicht krank und ob er heiter oder finster sei, was er gesagt habe usw. Ein Gespräch über seine dienstliche Tätigkeit und seine sonstigen Geschäfte mit ihm anzufangen, das wagte sie nicht. Wenn er ihr einen Rat gab oder sie um etwas ersuchte, so hörte sie ihn mit so gehorsamer, ängstlicher Miene an, wie wenn sie seine Sklavin wäre. Sehr gern hatte sie es, wenn er irgend etwas an ihr lobte, irgendeinen Besitzgegenstand, ein Buch, ihre Handarbeit. Darauf war sie dann ordentlich stolz und wurde sogleich ganz glücklich. Aber ihre Freude kannte keine Grenzen, wenn er gelegentlich (das kam allerdings nur sehr selten vor) den Einfall hatte, die beiden kleinen Kinder zu liebkosen. Ihr Gesicht verklärte sich dann und strahlte vor Glück, und es begegnete ihr in solchen Augenblicken sogar, daß sie sich ihrem Manne gegenüber von ihrer Freude allzusehr (!) fortreißen ließ und z. B. in ihrer Kühnheit so weit ging, ihn aus sich selbst, ohne Aufforderung seinerseits, natürlich schüchtern und mit bebender Stimme, zu bitten, er möchte doch ein neues Musikstück anhören, das sie bekommen hatte, oder ihr seine Meinung über ein Buch sagen, oder gar, er möchte ihr erlauben, ihm ein paar Seiten von einem Verfasser vorzulesen, der an diesem Tage auf sie besonderen Eindruck gemacht hatte. Manchmal erfüllte der Mann gnädig alle ihre Wünsche und lächelte ihr sogar herablassend zu, wie man einem verwöhnten Kinde zulächelt, dem man einen sonderbaren, launischen Wunsch nicht abschlagen will, um nicht vorzeitig mit rauher Hand seine Naivität zu zerstören. Aber ich weiß nicht, warum: dieses Lächeln, diese hochmütige Herablassung, diese Ungleichheit in dem gegenseitigen Verhältnis der Gatten, das alles empörte mich in tiefster Seele; aber ich schwieg, beherrschte mich und begnügte mich damit, die beiden aufmerksam mit kindlicher Neugier, aber mit vorzeitig verdüsterter Sinnesart zu beobachten. Ein andermal bemerkte ich, daß er auf einmal unwillkürlich zusammenfuhr, wie wenn ihm etwas einfiele, wie wenn ihm plötzlich ganz gegen seinen Willen die Erinnerung an etwas Peinliches, Schreckliches, Unabänderliches käme; das herablassende Lächeln verschwand dann augenblicklich von seinem Gesichte, und seine Augen richteten sich plötzlich auf die erschrockene Frau mit einem solchen Ausdruck von Mitleid, daß ich zusammenzuckte, und ich sage mir jetzt, hätte dieses Mitleid mir gegolten, so hätte ich es als eine Folter empfunden. In demselben Augenblicke war die Freude von Alexandra Michailownas Gesichte verschwunden. Musik oder Lektüre hörten auf. Sie wurde blaß, nahm sich aber zusammen und schwieg. Nun folgte ein unangenehmer, peinlicher Zeitraum, der mitunter lange dauerte. Endlich machte der Mann diesem Zustande ein Ende. Er stand auf, wie wenn er seinen Ärger und seine Erregung mit größter Anstrengung unterdrückte, ging in grimmigem Schweigen ein paarmal im Zimmer auf und ab, drückte seiner Frau die Hand, seufzte tief, sagte in sichtlicher Verwirrung einige abgerissene Worte, aus denen man seinen Wunsch, seine Frau zu trösten, heraushören konnte, und verließ das Zimmer; Alexandra Michailowna aber brach in Tränen aus oder versank in eine entsetzliche, langdauernde Traurigkeit. Oft segnete und bekreuzte er sie, wenn er ihr Gute Nacht sagte, wie ein Kind, und sie empfing seinen Segen mit Tränen der Dankbarkeit und in unterwürfiger Verehrung. Aber ich kann einige Abende in unserm Hause nicht vergessen (es waren ihrer in den ganzen acht Jahren nur zwei oder drei, nicht mehr), an denen Alexandra Michailowna sich auf einmal vollständig veränderte. Zorn und Entrüstung malten sich auf ihrem sonst gewöhnlich so stillen Gesichte an Stelle der steten Demut und Unterwürfigkeit unter den Willen ihres Mannes. Mitunter bereitete sich das Gewitter eine ganze Stunde lang vor; der Mann wurde noch schweigsamer, finsterer und grimmiger als gewöhnlich. Endlich schien das kranke Herz der armen Frau es nicht länger ertragen zu können. Sie begann mit einer vor Erregung mitunter versagenden Stimme ein Gespräch, das anfangs aus abgebrochenen, unzusammenhängenden Sätzen bestand und voll war von versteckten Hindeutungen und bitterer Unterdrückung stärkerer Wendungen; darauf war es plötzlich, als könne sie ihren Kummer nicht mehr ertragen: sie zerfloß in Tränen und schluchzte, und dann folgte eine Flut von empörten Vorwürfen, Klagen, Ausdrücken der Verzweiflung; die Krisis der Krankheit war eingetreten. Und nun mußte man sehen, mit welcher Geduld der Mann dies alles ertrug, mit welchem Mitgefühl er sie bat, sich zu beruhigen, ihr die Hände küßte und sogar schließlich anfing mit ihr zusammen zu weinen; dann kam sie auf einmal gleichsam zur Besinnung, als ob ihr Gewissen ihr etwas zuriefe und sie eines Verbrechens anklagte. Die Tränen ihres Mannes erschütterten sie, und nun warf sie sich händeringend, in heller Verzweiflung, krampfhaft schluchzend ihm zu Füßen und flehte ihn um Verzeihung an, die ihr dann auch sofort gewährt wurde. Aber die Qualen ihres Gewissens und die Tränen und die Bitten um Verzeihung dauerten noch lange fort, und für ganze Monate wurde sie ihrem Manne gegenüber noch schüchterner und furchtsamer als zuvor. Ich konnte von diesen Vorwürfen und Klagen nichts verstehen; auch wurde ich zu solchen Zeiten immer unter recht ungeschickten Vorwänden aus dem Zimmer geschickt. Aber ganz verbergen konnten sie mir dies alles doch nicht. Ich beobachtete, machte Wahrnehmungen, kombinierte, und gleich von vornherein setzte sich bei mir ein dunkler Verdacht fest, daß hinter alledem ein Geheimnis stecke, daß diese plötzlichen Ausbrüche eines tief verwundeten Herzens nicht eine einfache Nervenkrankheit seien, daß der Mann nicht ohne Grund immer so finster sei, daß er der armen, kranken Frau nicht ohne Grund dieses zweideutige Mitleid bezeige, daß sie nicht ohne Grund ihm gegenüber stets so schüchtern und ängstlich sei und diese demütige, seltsame Liebe zu ihm hege, die sie ihm nicht einmal zu zeigen wage, daß sie nicht ohne Grund dieses einsame, klösterliche Leben führe und in Gegenwart ihres Mannes plötzlich bald dunkelrot, bald totenblaß werde.

Aber da derartige Szenen mit dem Manne nur sehr selten vorkamen, und da unser Leben ein sehr einförmiges war und ich es bereits hinreichend genau kennengelernt hatte, und da ich mich schließlich sehr schnell entwickelte und heranwuchs und bereits viele neue, wenn auch noch unbewußte Gefühle in mir erwachten, die mich von meinen Beobachtungen ablenkten, so gewöhnte ich mich endlich an dieses Leben, an diese Vorgänge und Charaktere, die mich umgaben. Ich konnte natürlich nicht umhin, mir bisweilen bei Alexandra Michailownas Anblick meine Gedanken zu machen; aber diese meine Gedanken führten vorläufig noch zu keiner Klarheit. Ich liebte sie herzlich, achtete ihren Kummer und scheute mich deshalb, ihrem empfindlichen Herzen durch meine Neugier lästig zu werden. Sie verstand mich und setzte unzählige Male dazu an, mir für meine Anhänglichkeit an sie zu danken. Oft, wenn sie bemerkte, was ich mir um sie für Sorge machte, lächelte sie unter Tränen und scherzte selbst über ihr vieles Weinen; dann wieder fing sie auf einmal an, mir zu erzählen, sie sei sehr zufrieden, sehr glücklich; alle seien so gut zu ihr, alle, die sie bisher kennengelernt habe, hätten sie so lieb; es sei ihr ein großer Schmerz, daß Peter Alexandrowitsch über sie und ihre Seelenruhe so bekümmert sei; während sie sich doch ganz im Gegenteil so glücklich fühle, so glücklich! Und dann umarmte sie mich mit so tiefem Gefühle und aus ihrem Gesichte strahlte mir eine solche Liebe entgegen, daß mir das Herz, wenn man sich so ausdrücken kann, vor Sympathie für sie weh tat.

Ihre Gesichtszüge werden mir nie aus dem Gedächtnisse entschwinden. Sie waren regelmäßig, und die Magerkeit und Blässe schien den ernsten Reiz ihrer Schönheit noch zu erhöhen. Das dichte, schwarze, glatt heruntergekämmte Haar warf einen düsteren, scharfen Schatten auf den Rand der Wangen; aber um so lieblicher überraschte den Beschauer der damit kontrastierende sanfte Blick ihrer großen, kindlich klaren, blauen Augen; in diesem Blicke kam bisweilen eine solche Naivität zum Ausdruck und eine solche Zaghaftigkeit und ein solches Gefühl der Schutzlosigkeit und eine solche Furcht vor jedem starken Affekte, mochte es nun momentane Freude oder oftmaliger stiller Kummer sein! Aber zu manchen glücklichen, ruhigen Zeiten lag in diesem zum Herzen gehenden Blicke eine solche Helligkeit und Klarheit, eine solche Rechtschaffenheit und Ruhe, diese Augen, blau wie der Himmel, strahlten eine solche Liebe aus, blickten so zärtlich, und es spiegelte sich in ihnen ein so tiefes Gefühl der Sympathie für alles, was gut und edel war, für alles, was Liebe heischte und um Mitleid bat, daß eines jeden Seele sich von ihr angezogen fühlte, sich ihr unterwarf und, wie es schien, selbst von ihr diese Klarheit und Ruhe und Friedlichkeit und Liebe herübernahm. So blickt man manchmal zum blauen Himmel empor und hat das Gefühl, daß man ganze Stunden in dieser wonnigen Beschauung zubringen möchte, und daß die Seele in diesen Augenblicken freier und ruhiger werde, als ob sich in ihr der gewaltige Himmelsdom wie in einer stillen Wasserfläche spiegele. Wenn aber (und das geschah so oft!) die Begeisterung ihr die Röte ins Gesicht trieb und ihre Brust sich vor Erregung hob, dann leuchteten ihre Augen wie Blitze, es schien, als ob sie Funken sprühten, und als ob ihre ganze Seele, die keusch die reine Flamme des sie jetzt begeisternden Schönen hütete, in diese Augen übergesiedelt sei. In diesen Augenblicken war sie wie von göttlichem Hauche erfüllt. Und in solchen plötzlichen Ausbrüchen des Gefühls, in solchen Übergängen von stiller, schüchterner Stimmung zu heller, hoher Begeisterung, zu reinem, ernstem Enthusiasmus lag gleichzeitig ein so naiver, kindlich rascher Glaube, daß ein Künstler wohl sein halbes Leben dafür hingegeben hätte, wenn er einen solchen Augenblick hellen Entzückens hätte abpassen und dieses begeisterte Gesicht auf die Leinwand hätte übertragen können.

Gleich in den ersten Tagen meines Aufenthaltes in diesem Hause erkannte ich, daß sie sich in ihrer Einsamkeit über meine Anwesenheit freute. Damals hatte sie erst ein einziges Kind, und es war erst ein Jahr her, daß sie Mutter geworden war. Aber ich war im vollen Sinne des Wortes ihre Tochter, und sie machte keinen Unterschied zwischen mir und ihren eigenen Kindern. Mit welchem Eifer machte sie sich an meine Bildung! Sie übertrieb die Sache anfangs derart, daß Madame Léotard unwillkürlich lächeln mußte, wenn sie sie ansah. Und in der Tat nahmen wir alles auf einmal in Angriff, so daß kein ordentliches Verständnis dabei herauskam. Sie unternahm es, mich selbst zu unterrichten, und zwar gleich in vielen Gegenständen, so daß ich trotz ihres glühenden Eifers und ihrer liebevollen Ungeduld wenig wahren Nutzen davon hatte. Anfangs war sie ärgerlich über ihre pädagogische Ungeschicklichkeit; aber dann fingen wir an zu lachen und begannen von neuem, wiewohl Alexandra Michailowna trotz des ersten Mißerfolges sich kühn gegen Madame Léotards Methode aussprach. Sie stritten lachend miteinander; aber meine neue Lehrerin erklärte sich als entschiedene Gegnerin jeder Methode und behauptete, wir beide, ich und sie, würden schon tastend den richtigen Weg finden; es habe keinen Zweck, mir den Kopf mit trockenem Wissen vollzustopfen; der ganze Erfolg hänge davon ab, daß man meine natürliche Begabung erkenne und es verstehe, bei mir guten Willen zu erwecken. Und sie hatte recht; denn sie trug mit ihrer Art zu unterrichten einen vollen Sieg davon. Erstens kamen gleich von Anfang an die Rollen der Lehrerin und der Schülerin vollständig in Wegfall. Wir lernten wie zwei Freundinnen, und manchmal kam es so heraus, daß ich, ohne Alexandra Michailownas List zu bemerken, sie meinerseits zu unterrichten glaubte. So entstand zwischen uns häufig Streit, und ich ereiferte mich gewaltig, um die Sache so, wie ich sie auffaßte, auseinanderzusetzen; unmerklich aber führte mich Alexandra Michailowna auf den richtigen Weg. Aber es endete jedesmal damit, daß, wenn wir zur Wahrheit gelangt waren, ich sogleich Alexandra Michailownas schlauen Kunstgriff durchschaute, mir sagte, was für gewaltige Mühe sie sich mit mir gegeben und wie sie nicht selten ganze Stunden auf diese Weise zu meinem Nutzen geopfert habe, ihr nach jeder Lektion um den Hals fiel und sie herzlich umarmte. Meine tiefe Empfindung rührte sie und versetzte sie sogar in das größte Erstaunen. Voll Teilnahme begann sie, mich über meine Vergangenheit zu befragen, und jedesmal wurde sie nach meinen Erzählungen gegen mich zärtlicher und ernster, ernster deswegen, weil ich mit meiner unglücklichen Kindheit ihr nicht nur Mitleid, sondern auch eine gewisse Achtung einflößte. Nach meinen Geständnissen führten wir gewöhnlich lange Gespräche, in denen sie mir meine eigene Vergangenheit erklärte, so daß ich sie tatsächlich gleichsam von neuem durchlebte und vieles neu lernte. Madame Léotard fand diese Gespräche oft zu ernst und meinte, wenn sie mich unwillkürlich weinen sah, sie seien überhaupt nicht angebracht. Ich meinerseits dachte darüber ganz anders, weil mir nach diesem »Unterricht« immer so wohl und leicht ums Herz wurde, als ob in meinem Lebensschicksal gar nichts Trauriges vorgekommen wäre. Überdies war ich Alexandra Michailowna sehr dankbar dafür, daß sie mir mit jedem Tage mehr Grund gab, sie zu lieben. Der braven Madame Léotard war es nicht in den Sinn gekommen, daß auf diese Weise all die unordentlichen, stürmischen Gedanken, die früher vorzeitig in meiner Seele rege geworden waren, allmählich in Ordnung kommen und sich zu schöner Harmonie zusammenfügen würden, Gedanken, zu denen mein beständig verwundetes Kinderherz in qualvollem Schmerz hatte gelangen müssen, und die zur Folge hatten, daß es in ungerechter Verbitterung über diesen Schmerz weinte, da es nicht begriff, woher die Schläge kamen.

Der Tag begann damit, daß wir beide uns im Kinderzimmer bei ihrem Kinde zusammenfanden, es weckten, zurechtmachten, ankleideten, fütterten, mit ihm spielten und es reden lehrten. Dann verließen wir das Kind und setzten uns an die Arbeit. Wir trieben vielerlei; aber Gott weiß, was das für eine Wissenschaft war. Es war alles zusammen und dabei doch nichts Bestimmtes. Wir lasen, teilten einander unsere Eindrücke mit, warfen das Buch hin und musizierten statt dessen, und so flogen ganze Stunden unvermerkt dahin. Abends kam häufig B***, der mit Alexandra Michailowna befreundet war; auch Madame Léotard kam; nicht selten entspann sich dann ein sehr eifriges, hitziges Gespräch über Kunst, über das Leben (das wir in unserem Kreise nur vom Hörensagen kannten), über Wirklichkeit und Ideale, über Vergangenheit und Zukunft, und wir saßen oft bis Mitternacht auf. Ich hörte mit größter Aufmerksamkeit zu, geriet mit den andern in Feuer, lachte oder war gerührt, und hier erfuhr ich auch unzählige Einzelheiten über meinen Vater und meine erste Kindheit. Unterdessen wuchs ich heran; es wurden Lehrer für mich angenommen, von denen ich aber ohne Alexandra Michailownas Hilfe nichts gelernt hätte. Bei dem Geographielehrer hätte ich nur blind werden können über dem Aufsuchen der Städte und Flüsse auf der Karte. Mit Alexandra Michailowna dagegen machte ich so weite Reisen, trieb mich in so vielen Ländern umher, sah so viele Wilde, verlebte so viele phantasievolle Stunden, und zwar unter so starkem beiderseitigen Eifer, daß die Bücher, die sie bereits gelesen hatte, entschieden nicht mehr ausreichten und wir uns genötigt sahen, neue zu beschaffen. Bald war ich selbst imstande, meinen Geographielehrer zu belehren, wiewohl ich ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen muß, anzuerkennen, daß er mir bis zu Ende in der genauen Kenntnis der Grade, unter denen ein Städtchen lag, und seiner Einwohnerzahl nach Tausenden, Hunderten und Zehnern überlegen war. Dem Geschichtslehrer wurde sein Honorar ebenfalls sehr pünktlich bezahlt; aber wenn er weggegangen war, lernten Alexandra Michailowna und ich Geschichte auf unsere Weise: wir griffen nach den Büchern und lasen manchmal bis tief in die Nacht hinein, oder, richtiger gesagt, Alexandra Michailowna las vor, weil sie dabei eine Zensur ausübte. Nie habe ich ein größeres Entzücken empfunden als bei dieser Lektüre. Wir gerieten beide in eine solche Begeisterung, als ob wir selbst die Helden wären. Allerdings lasen wir mehr zwischen den Zeilen als in den Zeilen; dazu kam, daß Alexandra Michailowna vortrefflich zu erzählen verstand, so daß es schien, als ob alles, wovon sie las, sich in ihrem Beisein zugetragen hätte. Mag es meinetwegen lächerlich erscheinen, daß wir so Feuer und Flamme wurden und bis Mitternacht aufsaßen, ich ein Kind und sie ein wundes Herz, das am Leben so schwer zu tragen hatte! Ich wußte, daß sie sich im Zusammensein mit mir gewissermaßen erholte. Ich erinnere mich, daß, wenn ich sie so ansah, ich mir manchmal seltsame Gedanken machte; ich legte mich aufs Raten und hatte, bevor ich noch anfing zu leben, schon viel von den Dingen des Lebens erraten.

Endlich wurde ich dreizehn Jahre alt. Inzwischen hatte sich Alexandra Michailownas Gesundheitszustand immer mehr verschlechtert. Sie wurde reizbarer, die Anfälle verzweifelter Traurigkeit heftiger. Die Besuche ihres Mannes begannen häufiger zu werden, und er saß immer länger bei ihr, natürlich wie früher schweigsam, düster und mürrisch. Ihr Schicksal fing an, mich stärker zu interessieren. Ich entwuchs dem Kindesalter; neue Gefühle, Beobachtungen, Neigungen, Vermutungen waren bei mir in der Bildung begriffen; es war erklärlich, daß das Rätsel, das in dieser Familie vorlag, mich immer mehr zu peinigen begann. Zu anderer Zeit wieder verfiel ich in Gleichgültigkeit, in Teilnahmlosigkeit, ja sogar in eine ärgerliche Stimmung und vergaß meine Neugier, da ich auf keine meiner Fragen eine Antwort fand. Zeitweilig (und dies kam jetzt immer häufiger vor) empfand ich ein seltsames Bedürfnis, allein zu sein und nachzudenken, immer nur nachzudenken; mein gegenwärtiger Zustand hatte Ähnlichkeit mit jener Zeit, als ich noch bei meinen Eltern lebte, und als ich am Anfang, ehe ich noch meinem Vater nähertrat, ein ganzes Jahr lang nachdachte, meine Phantasie arbeiten ließ und aus meinem Winkel heraus nach der Welt hinblickte, so daß ich schließlich inmitten der Gebilde, die meine Einbildungskraft geschaffen hatte, ganz menschenscheu wurde. Der Unterschied war nur der, daß ich jetzt mehr Ungeduld, mehr Unruhe, mehr neue unbewußte Triebe, mehr Verlangen nach Bewegung empfand, so daß ich nicht mehr wie früher imstande war, meine Aufmerksamkeit auf einen Punkt zu konzentrieren. Ihrerseits schien Alexandra Michailowna sich jetzt selbst von mir weiter zu entfernen. In diesem Lebensalter konnte ich ihr kaum mehr eine Freundin sein. Ich war kein Kind mehr; ich fragte zu sehr nach vielen Dingen und blickte sie mitunter so an, daß sie die Augen vor mir niederschlagen mußte. Es kamen seltsame Augenblicke vor. Ich konnte es nicht ertragen, sie weinen zu sehen, und oft traten mir bei ihrem Anblick selbst die Tränen in die Augen. Ich fiel ihr um den Hals und umarmte sie innig. Was konnte sie mir antworten? Ich fühlte, daß ich ihr peinliche Empfindungen erregte. Aber zu anderer Zeit (auch das war eine peinliche, traurige Zeit) umarmte sie mich selbst krampfhaft wie eine Verzweifelte, als ob sie mich um Teilnahme bäte, als ob sie ihre Vereinsamung nicht ertragen könne, als ob ich sie schon verstände,als ob ich mit ihr zusammen litte. Aber es blieb doch ein Geheimnis zwischen uns, das war klar, und ich begann mich nun selbst von ihr in solchen Augenblicken zu entfernen. Es war mir peinlich, mit ihr zusammen zu sein. Überdies gab es nur wenige Dinge, die uns hätten zusammenhalten können, eigentlich nur die Musik. Aber die Musik hatten ihr die Ärzte jetzt verboten. Bücher? Aber hier lag die Sache noch schwieriger. Sie wußte schlechterdings nicht, wie sie mit mir zusammen lesen sollte. Wir wären gewiß auf der ersten Seite steckengeblieben: jedes Wort konnte eine Anspielung sein, jeder harmlose Satz ein Rätsel. Einem warmen, herzlichen Zwiegespräche gingen wir beide aus dem Wege.

Aber gerade in dieser Zeit gab das Schicksal plötzlich und unerwartet meinem Leben eine sehr seltsame Wendung. Meine Aufmerksamkeit, meine Gefühle, mein Herz und mein Kopf, alles wandte sich auf einmal mit einer Anspannung des Geistes, die bis zum Enthusiasmus ging, einer andern mir bisher fremden Tätigkeit zu, und ich selbst ging, ohne es zu bemerken, völlig in eine neue Welt über. Ich hatte keine Zeit, mich umzuwenden, um mich zu blicken, nachzudenken; ich konnte zugrunde gehen, das fühlte ich sogar; aber die Verlockung war stärker als die Furcht, und ich ging aufs Geratewohl mit geschlossenen Augen weiter. So wurde ich auf lange Zeit von jener Daseinsform abgezogen, die mir bereits so peinlich zu sein angefangen hatte, und aus der ich so begierig und vergeblich einen Ausgang gesucht hatte. Es handelte sich um folgendes, und der Hergang war dieser.

Das Eßzimmer hatte drei Ausgänge; einen in die großen Zimmer, einen andern in mein Zimmer und die Kinderstuben, und ein dritter führte in die Bibliothek. Die Bibliothek hatte noch einen andern Eingang, der von meinem Zimmer nur durch ein Arbeitszimmer getrennt war, in welchem gewöhnlich Peter Alexandrowitschs Gehilfe saß, der gleichzeitig sein Kopist, sein Sekretär und sein Faktotum war. Der Schlüssel zur Bibliothek und zu den Bücherschränken befand sich in seiner Verwahrung. Eines Tages nach dem Mittagessen, als der Sekretär nicht zu Hause war, fand ich diesen Schlüssel auf dem Fußboden. Mich packte die Neugier, und mit meinem Funde ausgerüstet betrat ich die Bibliothek. Dies war ein ziemlich großes, sehr helles Zimmer, an dessen Wänden ringsumher acht große, mit Büchern angefüllte Schränke standen. Es waren sehr viele Bücher da; ein großer Teil derselben war Peter Alexandrowitsch durch Erbschaft zugefallen; einen andern Teil hatte Alexandra Michailowna zusammengebracht, die fortwährend Bücher kaufte. Bisher hatte man mir Bücher nur mit großer Vorsicht zu lesen gegeben, so daß ich ohne Mühe merkte, daß mir vieles vorenthalten wurde und für mich ein Geheimnis blieb. So schloß ich denn in unbezwinglicher Neugier, von Angst und Freude und einem besonderen unklaren Gefühle erfüllt, den ersten Schrank auf und nahm das erste Buch heraus. In diesem Schranke standen Romane. Ich nahm einen von ihnen heraus, schloß den Schrank wieder zu und nahm das Buch mit, wobei ich eine sehr sonderbare Empfindung und ein so starkes, beklemmendes Herzklopfen hatte, als ob ich ahnte, daß sich ein großer Umschwung in meinem Leben vollziehe. Als ich in mein Zimmer kam, schloß ich mich ein und schlug den Roman auf. Aber ich war nicht imstande, ihn zu lesen; ich hatte eine andere Sorge: ich mußte mir zunächst die Herrschaft über die Bibliothek dauernd und endgültig so sichern, daß niemand etwas davon wußte, und mir die Möglichkeit schaffen, jedes Buch zu jeder Zeit in die Hände zu bekommen. Darum verschob ich meinen Genuß auf einen günstigeren Zeitpunkt, trug das Buch zurück und behielt heimlich den Schlüssel. Ich behielt ihn heimlich – und dies war die erste schlechte Tat in meinem Leben. Ich wartete, was nun folgen werde; es gestaltete sich alles außerordentlich günstig: der Sekretär suchte nach dem Schlüssel den ganzen Abend und während eines Teiles der Nacht mit einem Lichte auf dem Fußboden und entschloß sich am nächsten Morgen dazu, einen Schlosser zu rufen, der aus einem mitgebrachten Schlüsselbunde einen neuen Schlüssel aussuchte. Damit war die Sache zu Ende, und von dem Verlorengehen des Schlüssels bekam niemand etwas zu hören; ich aber verfuhr so vorsichtig und schlau, daß ich erst nach Ablauf einer Woche in die Bibliothek ging, als ich die völlige Überzeugung erlangt hatte, daß ich vor jedem Verdachte sicher war. Anfangs wählte ich mir immer eine Zeit aus, wo der Sekretär nicht zu Hause war; dann aber fing ich an, vom Eßzimmer aus hineinzugehen, weil der Sekretär zwar den Schlüssel in der Tasche hatte, sich aber weiter nicht um die Bücher bekümmerte und daher auch das Zimmer nicht betrat, in dem sie aufbewahrt wurden.

Ich begann mit einer wahren Gier zu lesen, und die Lektüre fesselte mich bald vollständig. Alle meine neuen Bedürfnisse, alle unlängst bei mir hervorgetretenen Bestrebungen, alle noch unklaren Triebe meines Übergangsalters, die, durch meine allzufrühe Entwickelung vorzeitig hervorgerufen, in meiner Seele sich so unruhig und aufrührerisch geregt hatten, all dies wandte sich plötzlich für lange Zeit einem andern, unerwartet sich darbietenden Ausgange zu, als ob es nun den rechten Weg für sich gefunden hätte und sich durch die neue Nahrung völlig befriedigt fühlte. Bald waren mein Herz und mein Kopf dermaßen bezaubert, bald hatte meine Phantasie sich so üppig entwickelt, daß ich gleichsam die ganze Welt, die mich bisher umgeben hatte, vergaß. Es schien, als hielte mich das Schicksal selbst an der Schwelle des neuen Lebens an, nach dem es mich so verlangte, und mit dessen Rätseln ich mich Tag und Nacht beschäftigte, und als stelle es, bevor es mich den unbekannten Weg betreten ließe, mich auf eine Höhe und zeige mir von dort die Zukunft in einem zauberhaften Panorama, in einer lockenden, glänzenden Perspektive. Es war mir beschieden, diese ganze Zukunft in der Weise zu durchleben, daß ich sie zuerst aus Büchern kennenlernte, sie zu durchleben in träumerischen Gedanken, in süßen Hoffnungen, in leidenschaftlichen Ausbrüchen, in der wonnigen Aufregung der jungen Seele. Ich begann meine Lektüre wahllos mit dem ersten Buche, das mir in die Hände fiel; aber das Schicksal behütete mich: das, was ich bisher erfahren und durchlebt hatte, war alles so rein und ernst gewesen, daß jetzt auch eine heimtückische, unsaubere Stelle eines Buches mich nicht verführen konnte. Es bewahrten mich mein kindlicher Instinkt, mein jugendliches Alter und meine ganze Vergangenheit. Jetzt aber erhellte mir die neue Erkenntnis gleichsam auf einmal mein ganzes früheres Leben. In der Tat, fast jede Seite, die ich las, kam mir schon gewissermaßen bekannt vor, wie wenn ich ihren Inhalt schon längst erlebt hätte, wie wenn alle diese Leidenschaften und dieses ganze Leben, das in so unerwarteten Formen und in so zauberhaften Bildern vor mich hintrat, mir schon längst durch die Erfahrung bekannt wären. Und wie hätte ich mich nicht bis zur Selbstvergessenheit, ja beinah bis zur Entfremdung von der Wirklichkeit hinreißen lassen sollen, wenn sich vor meinem Auge in jedem Buche, das ich las, derselbe Geist der Geschehnisse und dieselben Gesetze des Schicksals verkörperten, die über dem Leben der Menschen walteten, aber aus einem obersten Gesetze des menschlichen Lebens flossen, welches die Bedingung der Errettung, der Erhaltung und des Glückes war? Dieses Gesetz, das ich ahnte, suchte ich mit aller Kraft zu erkennen, mit allen Fähigkeiten, die in mir sozusagen durch den Selbsterhaltungstrieb erweckt worden waren. Es war, als hätte mich jemand schon im voraus darauf hingewiesen, schon im voraus meine Aufmerksamkeit darauf hingelenkt. Meine Seele gewann gleichsam eine Art von Sehergabe, und mit jedem Tage wurde in meiner Seele die Hoffnung kräftiger, wiewohl es mich gleichzeitig immer heftiger nach jener Zukunft und nach jenem Leben verlangte, das täglich in dem, was ich las, mit aller Kraft, die der Kunst eigen ist, und mit allem Reize, über den die Poesie verfügt, auf mich einwirkte. Aber wie ich schon gesagt habe, meine Phantasie übte doch die Herrschaft über meine Ungeduld aus, und ich war, um die Wahrheit zu sagen, kühn nur in meinen Träumereien, während mir in der Wirklichkeit vor der Zukunft instinktmäßig bange war. Und daher hatte ich, wie auf Grund eines vorläufigen Vertrages mit mir selbst, mir unbewußt vorgenommen, mich einstweilen mit der Welt der Phantasie und der Träumereien zu begnügen, in der ich die einzige Herrscherin war, und in der es nur Wonnen und Freuden gab, und in der selbst das Unglück, wenn ihm überhaupt der Zutritt gestattet wurde, nur eine passive Rolle spielte, eine vorübergehende Rolle, eine Rolle, die für die wonnevollen Kontraste und für die plötzliche Wendung des Schicksals zum glücklichen Ende in meinen erdichteten, entzückenden Romanen erforderlich war. So verstehe ich jetzt meine damalige Stimmung.

Um dieses Leben, ein Leben in der Phantasie, ein Leben der Entfremdung von allem, was mich umgab, konnte ganze drei Jahre dauern!

Dieses Leben war mein Geheimnis, und nach ganzen drei Jahren wußte ich noch nicht, ob ich mich vor seiner plötzlichen Aufdeckung fürchten sollte oder nicht. Das, was ich in diesen drei Jahren geistig durchlebt hatte, war gar zu eng mit mir verwandt und stand mir gar zu nah. In allen diesen Träumereien spiegelte ich mich selbst gar zu deutlich wider, dergestalt, daß ich in Verlegenheit und Schrecken geraten wäre, wenn ein Fremder, mochte es sein, wer es wolle, unversehens einen Blick in meine Seele geworfen hätte. Zudem führten wir alle, unser ganzes Haus, ein so einsames Leben, so fern von der Gesellschaft, in so klösterlicher Stille, daß sich unwillkürlich bei einem jeden von uns eine Konzentration auf die eigene Person, das Bedürfnis sich abzuschließen herausbilden mußte. Dies war auch bei mir der Fall. In diesen drei Jahren hatte sich um mich herum nichts verändert; alles war wie früher geblieben. Wie früher herrschte bei uns eine traurige Eintönigkeit, die (so urteile ich jetzt darüber), wenn mich nicht meine geheime, verborgene Tätigkeit so lebhaft interessiert hätte, meine Seele gemartert und mich dazu getrieben haben würde, einen unbekannten, revolutionären Ausgang aus dieser matten, langweiligen Umgebung zu suchen, vielleicht zu meinem Verderben. Madame Léotard war schon recht alt geworden und blieb fast immer auf ihrem Zimmer; die Kinder waren noch zu klein; B*** war zu einseitig und Alexandra Michailownas Mann immer noch ebenso düster und unzugänglich und abgeschlossen wie früher. Zwischen ihm und seiner Frau bestanden dieselben geheimnisvollen Beziehungen wie ehemals, die mir immer drohender und düstrer erschienen und mich immer mehr um Alexandra Michailowna besorgt machten. Ihr freudloses, farbloses Leben schwand sichtlich vor meinen Augen dahin. Ihr Gesundheitszustand verschlimmerte sich fast von einem Tage zum andern. Eine Art von Verzweiflung ergriff sie schließlich; sie stand offenbar unter dem Drucke einer unbekannten, undefinierbaren Last, über die sie sich selbst nicht klar werden konnte, einer entsetzlichen und zugleich ihr selbst unbegreiflichen Last, die sie aber als ein unvermeidliches Kreuz ihres unglücklichen Lebens auffaßte. Ihr Herz verhärtete sich schließlich in dieser dumpfen Qual; sogar ihr Geist nahm eine andere, trübe, traurige Richtung an. Besonders überraschte mich eine Beobachtung: es schien mir, daß sie, je älter ich wurde, sich um so mehr von mir zurückzog, so daß ihre Verschlossenheit mir gegenüber sogar in eine Art von ungeduldigem Ärger überging. In manchen Augenblicken schien sie mich überhaupt nicht mehr gern zu haben; es machte den Eindruck, als fühle sie sich durch mich belästigt. Ich habe gesagt, daß ich anfing, mich absichtlich von ihr zurückzuziehen, und nachdem ich mich einmal von ihr zurückgezogen hatte, wurde ich sozusagen von der Verschlossenheit ihres Charakters angesteckt. Dies war der Grund, weshalb ich alles, was ich in diesen drei Jahren geistig erlebte, alles, was in meinem Herzen an Träumereien, an Erwerb von Kenntnissen, an Hoffnungen und leidenschaftlichen Entzückungen vorging, weshalb ich alles dies hartnäckig in mich verschloß. Und nachdem wir einmal unsere Herzen gegeneinander verschlossen hatten, konnten wir das frühere aufrichtige Verhältnis nie wiedergewinnen, obgleich ich, wie es mir scheint, sie mit jedem Tage noch mehr als früher liebte. Ich kann jetzt nicht ohne Tränen daran zurückdenken, welche innige Zuneigung sie mir erwies, wie sie sich in ihrem Herzen für verpflichtet hielt, den ganzen darin enthaltenen Schatz von Liebe über mich auszuschütten und ihr Gelöbnis voll und ganz zu erfüllen: mir eine Mutter zu sein. Allerdings zog ihr eigener Kummer sie manchmal auf lange Zeit von mir ab; sie schien mich dann zu vergessen, um so mehr, da auch ich mir Mühe gab, sie nicht an mich zu erinnern, so daß ich sechzehn Jahre alt wurde, ohne daß es jemand gewahr geworden zu sein schien. Aber zu Zeiten, wo ihr Bewußtsein klarer war und sie einen helleren Blick für ihre Umgebung hatte, begann Alexandra Michailowna sich auf einmal um mich zu beunruhigen; ungeduldig ließ sie mich aus meinem Zimmer von meinen Unterrichtsstunden und meiner Lerntätigkeit weg zu sich rufen und überschüttete mich mit Fragen, als ob sie sich wieder gründlich über mich orientieren wolle; sie trennte sich dann ganze Tage lang nicht von mir, suchte alle meine Empfindungen und Wünsche zu erraten, machte sich offenbar Sorge um mein Heranwachsen, um meinen derzeitigen Zustand und um meine Zukunft und bemühte sich mit unerschöpflicher Liebe, ja mit einer Art von Ehrfurcht, mir behilflich zu sein. Aber sie hatte sich meiner schon sehr entwöhnt, und daher verfuhr sie manchmal sehr naiv, so daß ich alles mit Leichtigkeit merkte und durchschaute. So z. B. (und zwar begab sich das, als ich bereits sechzehn Jahre alt war) kramte sie einmal unter meinen Büchern, um festzustellen, was ich läse, und da sie fand, daß ich noch nicht über Kinderschriften für das Alter von zwölf Jahren hinausgekommen war, so bekam sie, wie es schien, einen Schreck. Ich merkte, was in ihr vorging, und beobachtete sie aufmerksam. Volle zwei Wochen lang bereitete sie mich gewissermaßen vor, prüfte mich und suchte sich über den Grad meiner Entwickelung und den Stand meiner Bedürfnisse zu vergewissern. Endlich entschloß sie sich, einen Anfang zu machen, und auf unserm Tische erschien Ivanhoe von Walter Scott, ein Roman, den ich schon längst gelesen hatte, und zwar mindestens dreimal. Anfangs beobachtete sie in ängstlicher Erwartung den Eindruck, den die Lektüre auf mich machte, als wolle sie ihn genau feststellen und sei seinetwegen in Sorge; schließlich aber verschwand aus unserem wechselseitigen Verhältnis dieses gespannte Belauern, das mir sehr merkwürdig vorkam; wir gerieten beide in flammende Begeisterung, und ich wurde so froh, so froh, daß ich mich nicht mehr vor ihr verstellen konnte! Als wir mit dem Roman zu Ende waren, war sie von mir entzückt. Jede Bemerkung, die ich während unserer Lektüre gemacht hatte, war treffend gewesen, jede Empfindung, die ich geäußert hatte, richtig. In ihren Augen hatte ich mich schon sehr weit entwickelt. Überrascht darüber und entzückt von mir, wollte sie es voll Freude wieder übernehmen, meine weitere Ausbildung zu leiten; sie beabsichtigte, sich nun nicht mehr von mir zu trennen; aber das hing nicht von ihrem Willen ab. Das Schicksal trennte uns bald wieder und verhinderte eine Wiederannäherung. Dazu genügte ein erster Anfall ihrer Krankheit, sowie ein Anfall ihres steten Kummers, und dann folgten wieder Entfremdung, Verschlossenheit, Mißtrauen und vielleicht sogar Ingrimm.

Aber auch in solchen Zeiten der Freundlichkeit hatten wir uns nicht dauernd in der Gewalt. Die Lektüre, ein paar freundliche Worte, die wir miteinander wechselten, die Musik, das alles hatte die Wirkung, daß wir uns vergaßen, uns frei aussprachen, manchmal sogar übermäßig frei; aber nachher hatten wir ein peinliches Gefühl einander gegenüber. Zur Besinnung kommend sahen wir einander wie erschrocken an, voll argwöhnischer Neugier und voll Mißtrauen. Jeder von uns hatte seine Grenze, bis zu der unsere Annäherung gehen konnte; diese wagten wir nicht zu überschreiten, auch wenn wir es gewollt hätten.

Eines Abends vor dem Dunkelwerden las ich zerstreut ein Buch in Alexandra Michailownas Zimmer. Sie saß am Klavier und phantasierte über eine ihrer Lieblingsmelodien aus der italienischen Musik. Als sie endlich zu der reinen Melodie des Liedes überging, begann ich, hingerissen durch die Musik, die mir ins Herz drang, schüchtern die Melodie halblaut vor mich hin zu singen. Bald geriet ich ganz in den Bann der Musik, stand auf und trat zum Klavier; Alexandra Michailowna, die meinen Wunsch zu erraten schien, ging zur Begleitung über und verfolgte liebevoll jeden Ton meiner Stimme. Sie schien von dem Reichtum derselben überrascht zu sein. Ich hatte bisher nie in ihrer Gegenwart gesungen und wußte selbst nicht, ob ich über besondere Stimmmittel verfügte. Jetzt gerieten wir plötzlich beide in lebhafte Erregung. Ich ließ meine Stimme immer stärker anschwellen; in mir flammten Energie und Leidenschaft auf und wurden noch mehr angefacht durch Alexandra Michailownas freudiges Staunen, das ich aus jedem Takte ihrer Begleitung heraushörte. Endlich schloß der Gesang in so wohlgelungener Weise, mit solcher Verve und Kraft, daß sie entzückt meine Hände ergriff und mich freudig anblickte.

»Anneta, du hast ja eine wundervolle Stimme!« sagte sie. »O Gott! Wie ist es nur möglich, daß ich das bisher noch nicht bemerkt hatte!«

»Ich habe es selbst eben erst bemerkt,« antwortete ich, außer mir vor Freude.

»Gott segne dich, mein liebes, unschätzbares Kind! Danke ihm für seine Gabe! Wer weiß … Ach, mein Gott, mein Gott!«

Sie war durch die unerwartete Entdeckung so gerührt und befand sich in einem solchen Freudenrausche, daß sie nicht wußte, was sie mir sagen und wie sie mich liebkosen sollte. Es war einer jener Augenblicke der Aufrichtigkeit, der gegenseitigen Sympathie und Annäherung, wie sie bei uns schon lange nicht mehr vorgekommen waren. Eine Stunde darauf herrschte schon im ganzen Hause eine festtägliche Stimmung. Es wurde sofort zu B*** geschickt. Während wir auf ihn warteten, schlugen wir aufs Geratewohl ein anderes Notenheft auf, in dem mir die Melodien bekannter waren, und fingen ein neues Lied an. Diesmal zitterte ich vor Bangigkeit. Ich wollte nicht durch einen Mißerfolg den ersten Eindruck zerstören. Aber bald machte mich meine eigene Stimme wieder mutig und gab mir Sicherheit. Ich erstaunte selbst immer mehr über ihre Stärke, und bei diesem zweiten Versuche schwand jeder Zweifel. Im Überschwang ihrer ungeduldigen Freude ließ Alexandra Michailowna ihre Kinder und sogar deren Wärterin herbeirufen und ging schließlich, ganz enthusiasmiert, zu ihrem Manne und rief ihn aus seinem Arbeitszimmer heraus, woran sie zu anderer Zeit kaum zu denken gewagt hätte. Peter Alexandrowitsch hörte die Neuigkeit wohlwollend an, beglückwünschte mich und war selbst der erste, der erklärte, ich müsse ausgebildet werden. Alexandra Michailowna war ganz glücklich vor Dankbarkeit, als ob er ihr Gott weiß was für eine Güte erwiesen hätte, stürzte zu ihm hin und küßte ihm die Hände. Endlich erschien B***. Auch dieser freute sich sehr. Er hatte mich sehr gern, gedachte nicht selten meines Vaters und der vergangenen Zeiten, und als ich ihm nun jetzt zwei oder drei Stücke vorgesungen hatte, sprach er sich mit einer Miene ernster Überlegung, ja sogar mit einer Art von geheimnisvoller Wichtigkeit dahin aus, es seien unzweifelhaft bedeutende Stimmittel vorhanden, vielleicht sogar Talent, und ich müsse unbedingt ausgebildet werden. Unmittelbar darauf aber schien er sich eines andern zu besinnen und verständigte sich mit Alexandra Michailowna darüber, daß es gefährlich sei, mich gleich am Anfang zu sehr zu loben, und ich bemerkte, wie sie einander zuwinkten und sich heimlich verabredeten, so daß ihr ganzes Komplott gegen mich recht naiv und ungeschickt herauskam. Ich lachte im stillen den ganzen Abend, wenn ich sah, wie sie jedesmal nach einem neuen Liede bemüht waren sich zurückzuhalten und sogar absichtlich laut meine Mängel hervorhoben. Aber sie konnten sich nicht lange beherrschen, und der erste, der sich verriet, war B***, der vor Freude seinen Gefühlen von neuem freien Lauf ließ. Ich hätte nie geglaubt, daß er mich so gern hatte. Den ganzen Abend über führten wir die freundschaftlichsten, herzlichsten Gespräche. B*** erzählte die Lebensgeschichte mehrerer bekannter Sänger und Musiker und sprach von diesen Männern mit dem Entzücken des Künstlers, ja mit Ehrfurcht; er war ganz gerührt. Darauf berührte das Gespräch meinen Vater und ging dann auf mich über, auf meine Kindheit, auf den Fürsten, auf die ganze Familie des Fürsten, von der ich seit der Trennung so wenig gehört hatte. Aber auch Alexandra Michailowna wußte nicht viel von ihr. Am meisten wußte B***, weil er mehrmals in Moskau gewesen war. Aber hier nahm das Gespräch einen geheimnisvollen, mir rätselhaften Charakter an, und zwei oder drei Bemerkungen, die speziell den Fürsten betrafen, waren mir unverständlich. Alexandra Michailowna begann von Katja zu sprechen; aber B*** wußte von ihr nichts Besonderes zu sagen; auch schien es, als wolle er absichtlich über sie schweigen. Das war mir überraschend. Ich meinerseits hatte Katja nicht vergessen, und meine frühere Liebe zu ihr hatte sich nicht vermindert; daß aber mit Katja eine Veränderung vorgegangen sein könnte, dieser Gedanke war mir nie in den Sinn gekommen. Aber freilich hatte ich dabei vieles bisher nicht in Betracht gezogen: die Trennung und diese langen Jahre, die wir in verschiedener Weise verlebt und in denen wir einander keine Nachricht hatten zugehen lassen, und die Verschiedenheit der Erziehung und die Verschiedenheit unserer Charaktere. In meiner Gedankenwelt war Katja nie von mir getrennt gewesen: sie hatte in gewissem Sinne immer mit mir zusammen gelebt; besonders in allen meinen Träumereien, d. h. in meinen Romanen und selbstersonnenen Abenteuern, gingen wir immer Hand in Hand. Indem ich mir selbst immer in jedem Romane, den ich las, die Rolle der Heldin zuteilte, stellte ich stets sofort meine Freundin, die Prinzessin, neben mich und machte aus einem Roman zwei, von denen ich den einen allerdings selbst verfaßte, obgleich ich dabei die von mir so geliebten Autoren erbarmungslos bestahl. Schließlich wurde in unserm Familienrate der Beschluß gefaßt, einen Gesanglehrer zu mir zu bitten. B*** empfahl den berühmtesten und besten. Gleich am nächsten Tage kam der Italiener D*** zu uns, hörte mich singen, bestätigte das Urteil seines Freundes B***, erklärte aber sofort, es werde für mich weit nützlicher sein, wenn ich mit seinen anderen Schülerinnen zusammen zum Unterrichte zu ihm käme; dort werde die Ausbildung meiner Stimme durch den Wetteifer und durch das reichliche Vorhandensein von Unterrichtsmitteln gefördert werden. Alexandra Michailowna war damit einverstanden, und seitdem ging ich regelmäßig dreimal in der Woche morgens um acht Uhr, von einer Dienerin begleitet, nach dem Konservatorium.

Jetzt muß ich ein seltsames Erlebnis erzählen, das auf mich einen sehr starken Eindruck machte und für mich in scharfem Einschnitt den Beginn eines neuen Lebensalters bildete. Ich war damals sechzehn Jahre alt; da wurde mein Geist plötzlich von einer unbegreiflichen Apathie befallen; eine unerträgliche, verdrossene Müdigkeit, die mir selbst unverständlich war, hatte sich meiner bemächtigt. Alle meine Zukunftshoffnungen, alle meine Bestrebungen versanken auf einmal in Mattigkeit; sogar meine Neigung zu phantastischer Träumerei verschwand infolge meiner geistigen Kraftlosigkeit. Eine alte Gleichgültigkeit war an die Stelle des früheren unerfahrenen Eifers getreten. Sogar meine Begabung, die bei allen, welche mir lieb und wert waren, ein solches Entzücken erregte, machte mir jetzt keine Freude mehr, und ich vernachlässigte sie mitleidslos. Für nichts interessierte ich mich, und dies ging so weit, daß ich sogar Alexandra Michailowna gegenüber eine kalte Gleichgültigkeit empfand, wegen deren ich mir selbst Vorwürfe machte, da ich nicht umhin konnte, mir ihrer bewußt zu werden. Meine Apathie wurde von einer grundlosen Traurigkeit und plötzlichem Weinen unterbrochen. Ich suchte die Einsamkeit. In diesem eigentümlichen Zustande befand ich mich, als ein seltsames Ereignis meine Seele bis in ihren tiefsten Grund erschütterte und diese Windstille in einen wahren Sturm verwandelte. Mein Herz empfing eine schwere Wunde. Das trug sich folgendermaßen zu.

Siebentes Kapitel

Ich trat in die Bibliothek (dieser Augenblick wird mir lebenslänglich unvergeßlich sein) und ergriff den Walter Scottschen Roman »St. Ronans Brunnen«, den einzigen, den ich noch nicht gelesen hatte. Ich erinnere mich, daß ich ohne greifbaren Grund ein peinigendes Angstgefühl hatte, gewissermaßen die Vorahnung eines Unglücks. Das Weinen war mir nahe. Das Zimmer war hell erleuchtet durch die letzten schrägen Strahlen der untergehenden Sonne, die in Fülle durch die hohen Fenster hereinströmten und sich auf das glänzende Parkett des Fußbodens ergossen; es war still; ringsumher in den anstoßenden Zimmern war keine Menschenseele. Peter Alexandrowitsch war nicht zu Hause; Alexandra Michailowna war krank und lag im Bett. Ich fing wirklich an zu weinen, schlug den zweiten Teil des Romans auf und blätterte zwecklos darin umher, indem ich versuchte, in den abgerissenen Sätzen, die mir flüchtig vor Augen kamen, irgendwelchen Sinn zu finden. Ich befragte gewissermaßen das Orakel, wie das manche Leute dadurch zu tun pflegen, daß sie ein Buch aufs Geratewohl aufschlagen. Es gibt Augenblicke, wo alle geistigen und seelischen Kräfte krankhaft angespannt sind und plötzlich in hellem Bewußtsein aufflammen, und wo dann die erschütterte Seele von einem prophetischen Traumgebilde, von einer Ahnung der Zukunft, ja von einem Vorgeschmack derselben gequält wird. Das ganze Ich möchte so gern leben, begehrt so sehr zu leben, und von heißer, blinder Hoffnung erfüllt, fordert das Herz gleichsam die Zukunft heraus; es möchte einen Blick in die geheimnisvolle, unbekannte Zukunft tun, mag diese auch Stürme und Ungewitter mit sich bringen, wenn sie nur Leben einschließt, wahres Leben. Ich durchlebte damals einen solchen Augenblick.

Ich erinnere mich, daß ich gerade das Buch zugemacht hatte, um es dann aufs Geratewohl zu öffnen und die Seite, die ich dann treffen würde, als Zukunftsorakel zu lesen. Aber als ich es wieder aufschlug, erblickte ich ein beschriebenes Blatt Briefpapier, das vierfach zusammengefaltet und an den Kniffstellen so flach gedrückt war, als sei es schon vor mehreren Jahren da in das Buch gelegt und dann darin vergessen worden. Ich betrachtete meinen Fund mit der größten Neugier. Es war ein Brief ohne Adresse, unterzeichnet mit den beiden Anfangsbuchstaben S. O. Mein Interesse verdoppelte sich; ich schlug das beinah zusammenklebende Papier auseinander, das infolge des langen Liegens zwischen den Blättern des Buches auf diesen in seiner ganzen Ausdehnung eine helle Stelle zurückgelassen hatte. Die Falten des Briefes waren zerscheuert und abgenutzt: es war ersichtlich, daß er früher oft gelesen und wie ein kostbarer Schatz gehütet worden war. Die Tinte war bläulich geworden und verblaßt; der Brief mußte vor sehr, sehr langer Zeit geschrieben sein! Einige Worte fielen mir zufällig in die Augen,und mein Herz begann vor Spannung heftig zu klopfen. Aufgeregt drehte ich den Brief in den Händen hin und her, wie wenn ich den Augenblick des Durchlesens absichtlich hinausschöbe. Zufällig brachte ich ihn näher ans Licht: ja! Tränentropfen waren auf diesen Zeilen getrocknet; Flecke davon waren auf dem Papier zurückgeblieben; hier und da waren ganze Buchstaben von den Tränen verwischt. Wer hatte diese Tränen vergossen? Endlich las ich, halbtot vor Spannung, die Hälfte der ersten Seite, und ein Schrei des Erstaunens entrang sich meiner Brust. Ich stellte das Buch wieder an seinen Platz, schloß den Schrank zu, verbarg den Brief unter meinem Halstuche, lief auf mein Zimmer, schloß mich ein und begann, den Brief nochmals von Anfang an durchzulesen. Aber mein Herz hämmerte so, daß die Worte und Buchstaben vor meinen Augen umherliefen und umhersprangen. Lange Zeit konnte ich nichts verstehen. Der Brief gab die Enthüllung eines Geheimnisses; er wirkte auf mich wie ein Blitz, weil ich erkannte, an wen er gerichtet war. Ich wußte, daß ich beinah ein Verbrechen beging, wenn ich diesen Brief las; aber die momentane Versuchung war stärker als ich! Der Brief war an Alexandra Michailowna gerichtet.

Hier ist dieser Brief; ich setze ihn hierher. Nur undeutlich verstand ich seinen Inhalt und konnte dann lange Zeit nicht von den bedrückenden Gedanken loskommen, die sich an diese Lösung des Rätsels knüpften. Von diesem Augenblicke an war mein Leben sozusagen in Stücke zerbrochen. Mein Herz war für lange Zeit tief erschüttert und aufgeregt, ja fast für immer; denn dieser Brief hatte gar zu viele ernste Folgen. Meine Orakelbefragung erwies sich als zuverlässig.

Dieser Brief war ein letzter, schrecklicher Abschied; als ich ihn durchlas, krampfte sich mir das Herz so schmerzhaft zusammen, als hätte ich selbst alles verloren, als wäre mir alles für immer genommen, sogar meine Träumereien und Hoffnungen, als sei mir nichts weiter geblieben als ein wertloses Leben. Wer war derjenige, der diesen Brief geschrieben hatte? Wie hatte sich sein Leben nachher gestaltet? Der Brief enthielt so viele Andeutungen, so viele tatsächliche Angaben, daß über sie ein Irrtum unmöglich war, zugleich aber auch viele Rätsel, über die man sich in Vermutungen verlieren mußte. Aber ich geriet dabei kaum auf Irrwege; übrigens ließ schon der Stil des Briefes, der auch sonst gar vieles verriet, den ganzen Charakter dieses Verhältnisses erkennen, welches zur Folge gehabt hatte, daß zwei Menschen das Herz gebrochen war. Die Gedanken und Gefühle des Briefschreibers lagen offen zutage. Sie waren sehr eigenartig, und es war, wie ich schon gesagt habe, aus ihnen viel zu entnehmen. Aber hier ist der Brief; ich will ihn Wort für Wort abschreiben:

 

»Du wirst mich nicht vergessen, hast Du gesagt; ich glaube Dir, und von nun an beruht mein ganzes Leben auf diesen Deinen Worten. Wir müssen uns trennen; unsere Stunde hat geschlagen! Ich habe das längst gewußt, Du stille, traurige, schöne Frau; aber erst jetzt habe ich es völlig begriffen. Während der ganzen Zeit, die uns gehörte, während der ganzen Zeit, wo Du mich liebtest, war mein Herz immer voll schmerzlicher Bangigkeit um unsere Liebe, und (wirst Du es glauben?) jetzt fühle ich mich erleichtert! Ich habe es längst gewußt, daß dies das Ende sein werde, und daß es uns so vom Schicksal vorherbeschieden war! Das ist nun einmal unser Schicksal! Glaube mir, Alexandra: ich war Dir nicht ebenbürtig; das habe ich immer, immer gefühlt! Ich war Deiner unwürdig, und ich, nur ich, müßte die Strafe für das Glück tragen, das ich erleben durfte! Sage, was war ich im Vergleich mit Dir? Was war ich, ehe Du mich kennenlerntest? O Gott, schon sind zwei Jahre vergangen, und ich bin noch immer wie von Sinnen; ich kann noch immer nicht begreifen, wie Du mich hast liebgewinnen können! Ich begreift nicht, wie es mit uns dahin gekommen ist, und womit es angefangen hat. Erinnerst Du Dich wohl noch, was ich im Vergleich mit Dir war? War ich Deiner würdig? Was war an mir Gutes? Wodurch zeichnete ich mich aus? Vor der Bekanntschaft mit Dir war ich ein plumper, einfältiger Mensch, auch mein Äußeres trübselig und finster. Ich wünschte mir kein anderes Leben, trachtete nach einem solchen nicht, rief es nicht herbei und wollte es nicht herbeirufen. Meine ganze Seele war dem Ersticken nahe, und ich kannte nichts Wichtigeres auf der Welt als meine tägliche Lohnarbeit. Ich hatte nur eine Sorge, die Sorge um den kommenden Tag; und auch gegen diese Sorge verhielt ich mich gleichgültig. Früher einmal (aber das ist schon lange her), da hatte ich wohl von einem Glücke geträumt und wie ein Narr meinen Phantasien nachgehangen. Aber seitdem war schon viel, viel Zeit vergangen, und ich hatte angefangen, ein einsames, düsteres, stilles Leben zu führen, und fühlte nicht einmal die eisige Kälte, die mein Herz erstarren machte. Und so versank mein Herz in Schlaf. Ich wußte ja und war mir klar darüber, daß für mich nie eine andere Sonne aufgehen werde, und glaubte das und murrte nicht dagegen, weil ich wußte, daß es so sein mußte. Als Du an mir vorübergingst, da begriff ich nicht, daß ich es jemals wagen könnte, meine Augen zu Dir zu erheben. Ich war Dir gegenüber nur ein Sklave. Mein Herz erbebte nicht neben Dir, es fühlte keinen bangen Schmerz, es redete nicht von Dir; es war ruhig. Meine Seele vermochte die Deinige nicht zu erkennen, obgleich sie sich wohl fühlte neben ihrer schönen Schwester. Ich weiß, daß ich das undeutlich fühlte. Und ich konnte das fühlen, weil auch auf den geringsten Halm sich das Licht der göttlichen Morgensonne ergießt und ihn wärmt und liebkost, ebenso wie die prächtige Blume, neben der er demütig aufsprießt. Als ich aber alles erfahren hatte (erinnerst Du Dich?) nach jenem Abend, nach jenen Worten, die meine Seele im Tiefsten erschüttert hatten, da war ich wie geblendet, ich war völlig überrascht, mein ganzes Inneres war in Verwirrung, und (weißt Du wohl?) ich war so betroffen, daß ich meinen Sinnen nicht traute und Dich gar nicht verstand! Davon habe ich noch nie zu Dir gesprochen. Du hast davon nichts gewußt; ich war früher nicht der, als den Du mich dann kennengelernt hast. Wenn ich imstande gewesen wäre davon zu reden, wenn ich davon zu reden gewagt hätte, so hätte ich Dir schon längst alles bekannt. Aber ich habe geschwiegen; jetzt jedoch will ich alles sagen, damit Du wissen mögest, wen Du jetzt verläßt, und von was für einem Menschen Du Dich trennst! Weißt Du auch, wie ich Dich zuerst verstand? Die Leidenschaft ergriff mich wie eine Feuersbrunst und ergoß sich wie Gift durch mein Blut; sie trübte alle meine Gedanken und Gefühle; ich war wie berauscht, wie betäubt und erwiderte Deine reine, mitleidige Liebe nicht wie ein Dir Ebenbürtiger, nicht wie einer, der Deiner reinen Liebe wert war; sondern ich benahm mich wie ein Mensch ohne Verstand und ohne Herz. Ich hatte Dich noch nicht erkannt. Ich meinte (das ging aus meiner Antwort hervor), Du vergäßest Dich so weit, daß Du zu mir hinabstiegst, und konnte nicht glauben, daß Du mich zu Dir emporheben wolltest. Weißt Du, in welchem Verdacht ich Dich hatte, und was das bedeutet: sich so weit vergessen, daß man hinabsteigt? Aber nein, ich will Dich nicht durch mein Geständnis kränken; nur das eine will ich Dir sagen: Du hast Dich bitter in mir getäuscht! Niemals, niemals konnte ich mich zu Dir erheben. Ich konnte Dich in meiner grenzenlosen Liebe nur wie ein unerreichbares Ideal anschauen. Die Leidenschaft, die Du in mir hervorgerufen hattest, war nicht Liebe; vor der Liebe fürchtete ich mich; ich wagte nicht, Dich zu lieben; in der Liebe herrscht Gegenseitigkeit und Gleichstellung, und deren war ich nicht wert … Ich weiß auch nicht, wie mir geschah! Oh, wie soll ich Dir das erzählen, wie soll ich mich verständlich machen … Ich konnte es anfangs gar nicht glauben … Oh, erinnerst Du Dich wohl, als meine erste Aufregung sich gelegt hatte, als mein Blick klar geworden war, als nur das reinste, fleckenloseste Gefühl übriggeblieben war, da war meine erste Regung Erstaunen, Verwirrung, Furcht, und erinnerst Du Dich wohl noch, wie ich mich auf einmal schluchzend Dir zu Füßen warf? Erinnerst Du Dich, wie Du, verwirrt und erschrocken, mit Tränen in den Augen mich fragtest, was mir sei? Ich schwieg; ich konnte Dir nicht antworten; aber meine Seele war in Stücke zerrissen; mein Glück erdrückte mich wie eine unerträgliche Last, und mein Schluchzen sprach in meinem Innern: ›Wofür wird mir das zuteil? Womit habe ich das verdient? Womit habe ich diese Seligkeit verdient? Meine Schwester, meine Schwester!‹ Oh, wie oft (Du hast das nicht gewußt), wie oft habe ich heimlich Dein Kleid geküßt, heimlich, weil ich wußte, daß ich Deiner unwert war, und ich konnte kaum atmen, und mein Herz schlug langsam und stark, als wollte es stehenbleiben und erstarren für immer. Wenn ich Deine Hand anfaßte, wurde ich ganz blaß und fing an zu zittern; Du setztest mich in Verwirrung durch die Reinheit Deiner Seele. Oh, ich verstehe es nicht, Dir all das auszusprechen, wovon meine Seele übervoll ist, und was so gern zum Ausdruck kommen möchte! Weißt Du wohl, daß mir Deine stete mitleidige Zärtlichkeit gegen mich drückend und peinlich war? Als Du mich küßtest (es ist nur einmal geschehen, und ich werde es nie vergessen), da überzog ein Nebel meine Augen, und mein Geist erlosch für einen Augenblick. Warum bin ich nicht in diesem Augenblicke zu Deinen Füßen gestorben? Du siehst, ich schreibe an Dich zum ersten Male mit ›Du‹, obgleich Du mir diese Anrede schon lange befohlen hast. Wirst Du auch verstehen, was ich Dir jetzt sagen will? Ich will Dir alles sagen und sage Dir dies: ja; Du liebst mich sehr; Du hast mich geliebt, wie eine Schwester ihren Bruder liebt; Du hast mich geliebt als Dein eigenes Geschöpf, weil Du mein Herz vom Tode auferweckt, meinen Geist von seiner Betäubung befreit und mir eine süße Hoffnung in die Brust gesenkt hattest. Ich aber durfte Dich nicht meine Schwester nennen, wagte es nicht und habe es nie bisher getan, weil ich nicht Dein Bruder sein konnte, und weil wir ungleich waren, und weil Du Dich in mir getäuscht hattest!

Aber Du siehst, ich schreibe nur von mir; selbst jetzt in diesem Augenblicke des schrecklichsten Elends denke ich nur an mich, obgleich ich weiß, daß Du Dich um meinetwillen quälst. Oh, quäle Dich nicht um meinetwillen, meine liebe Freundin! Wenn Du wüßtest, wie niedrig ich mir jetzt selbst vorkomme! Alles ist nun an den Tag gekommen, und wieviel Lärm ist darum entstanden! Um meinetwillen tun Dich die Menschen in den Bann; um meinetwillen verachten und verspotten sie Dich, weil ich in ihren Augen so niedrig stehe! Oh, wie schuldig fühle ich mich, daß ich Deiner nicht wert war! Besäße ich einen hohen Rang, hätte ich in ihren Augen einen persönlichen Wert, flößte ich ihnen mehr Achtung ein, dann würden sie Dir verzeihen! Aber ich bin ein niedriger Mensch, ein Nichts; ich bin lächerlich, und etwas Niedrigeres als das Lächerliche kann es nicht geben. Wer sind denn die Leute, die ein solches Geschrei erheben? Eben deswegen, weil diese Leute schon zu schreien anfingen, habe ich ja den Mut verloren; ich bin immer ein Schwächling gewesen. Weißt Du, in welcher Lage ich mich jetzt befinde? Ich mache mich über mich selbst lustig, und wie mir scheint, haben die Leute recht, da ich tatsächlich mir selbst lächerlich und hassenswert vorkomme. Ich fühle das; ich hasse sogar mein Gesicht, meine Gestalt, alle meine Gewohnheiten, alle meine unvornehmen Manieren; ich habe sie immer gehaßt! Oh, verzeih mir meine plumpe Verzweiflung! Du selbst hast mich gelehrt, Dir alles zu sagen. Ich habe Dich zugrunde gerichtet und Dir das boshafte Gerede und den Spott der Leute zugezogen, weil ich Deiner nicht wert war.

Gerade dieser Gedanke ist es, der mich quält; er pocht unaufhörlich in meinem Kopfe herum und zerreißt und vergiftet mir das Herz. Und immer scheint es mir, daß Du eigentlich nicht mich liebtest, sondern den, welchen Du in mir zu finden glaubtest, und daß Du Dich in mir getäuscht hast. Das ist es, was mich schmerzt; das ist es, was mich jetzt quält und zu Tode quälen wird, wenn ich nicht den Verstand verliere!

So lebe denn wohl, lebe wohl! Jetzt, wo alles an den Tag gekommen ist, wo die Menschen ein Geschrei erheben und skandalieren (ich habe es selbst gehört!), wo ich mir selbst so klein und niedrig vorkomme und mich über mich schäme, mich auch für Dich schäme, weil Du eine solche Wahl getroffen hast, wo ich mich selbst verflucht habe: jetzt muß ich um Deiner Ruhe willen fliehen und verschwinden. Das verlangt die Welt, und Du wirst mich niemals, niemals wiedersehen! Es ist notwendig, es ist vom Schicksal so bestimmt! Es ist mir zu viel zuteil geworden; das Schicksal hat sich geirrt; nun korrigiert es seinen Irrtum und entzieht mir alles wieder. Wir sind einander begegnet, haben uns kennengelernt, und nun trennen wir uns bis zu einem andern Wiedersehen! Wo wird das stattfinden und wann? Oh, sage mir, meine Teure, wo werden wir wieder zusammentreffen? Wo werde ich Dich wiederfinden? Wie soll ich Dich wiedererkennen? Wirst Du mich dann erkennen? Meine ganze Seele ist voll von dem Gedanken an Dich! Oh, wofür widerfährt uns das, wofür? Warum müssen wir uns trennen? Lehre es mich; denn ich verstehe es nicht, verstehe es schlechterdings nicht; lehre mich, wie man sein Leben in zwei Teile zerreißen, sich das Herz aus der Brust reißen und ohne dasselbe weiterleben kann! Oh, wie soll ich es fassen, daß ich Dich nie mehr sehen werde, niemals, niemals! …

O Gott, was haben die Leute für ein Geschrei erhoben! Wie bange ist mir jetzt um Dich! Ich bin soeben Deinem Manne begegnet: wir sind beide seiner nicht würdig, obgleich wir beide schuldlos vor ihm dastehen. Er ist von allem unterrichtet; er kennt uns genau; er hat Verständnis für alles, und alles ist ihm schon früher sonnenklar gewesen. Er ist heldenmütig für Dich eingetreten; er sucht Dich zu retten; er verteidigt Dich gegen dieses Geschrei und diese Verdammungsurteile; er liebt und schätzt Dich grenzenlos; er wird Dein Retter sein, während ich fliehe! … Ich stürzte zu ihm hin; ich wollte ihm die Hand küssen! … Er sagte mir, ich solle sofort abreisen. Es ist entschieden! Man sagt, er habe sich um Deinetwillen mit ihnen allen überworfen; es sind dort alle gegen Dich! Sie machen ihm den Vorwurf, er sei zu nachsichtig und zu schwach gewesen. Mein Gott! Was reden sie dort noch alles über Dich! Sie wissen nichts; sie können es nicht verstehen, sie sind dazu nicht imstande! Verzeih ihnen, verzeih ihnen, Du Ärmste, so wie ich ihnen verzeihe; und sie haben mir mehr genommen als Dir!

Ich bin wie von Sinnen und weiß nicht, was ich Dir schreibe. Wovon habe ich doch gestern beim Abschiede mit Dir gesprochen? Ich habe es alles vergessen. Ich war fassungslos, Du weintest … Verzeih mir diese Tränen! Ich bin so schwach, so kleinmütig!

Ich wollte Dir doch noch etwas sagen … Oh, könnte ich nur noch einmal Deine Hände mit Tränen benetzen, wie ich jetzt meine Tränen auf meinen Brief fallen lasse! Könnte ich nur noch einmal zu Deinen Füßen liegen! Wenn sie nur wüßten, wie edel Dein Gefühl war! Aber sie sind blind; ihre Herzen sind stolz und hochmütig; sie sehen das nicht und werden es in Ewigkeit nicht sehen. Sie haben keine Augen zum Sehen! Sie werden nicht glauben, daß Du, sogar vor ihrem Gerichte, unschuldig bist, und wenn die ganze Welt es ihnen beschwören wollte. Sie sollten das begreifen können? Wie wagen nur diese Menschen, einen Stein gegen Dich zu erheben? Wessen Hand wird ihn zuerst erheben? Oh, sie werden sich nicht bedenken; sie werden Tausende von Steinen erheben! Sie werden es wagen, Steine zu erheben, weil sie sich darauf verstehen, das zu tun. Alle zusammen werden sie ihre Steine erheben und werden sagen, sie selbst seien sündlos; so werden sie eine Sünde auf sich laden! Oh, wenn sie wüßten, was sie tun! Wenn man ihnen nur alles rückhaltlos erzählen könnte, damit sie sähen, hörten, verständen und glaubten! Aber nein, sie sind nicht so boshaft … Ich bin jetzt in Verzweiflung; ich verleumde sie vielleicht! Ich erschrecke Dich vielleicht durch meine Angst! Fürchte Dich nicht vor ihnen, fürchte Dich nicht vor ihnen, meine Teure! Sie werden Dich verstehen; wenigstens hat einer Dich schon verstanden, also hoffe! Das ist Dein Mann!

Lebe wohl, lebe wohl! Ich danke Dir nicht! Lebe wohl für immer!

S. O.«

 

Meine Aufregung war so groß, daß ich lange Zeit nicht begreifen konnte, was mit mir vorging. Ich war erschüttert und erschrocken. Die Wirklichkeit hatte mich unerwartet überrascht mitten in den phantastischen Träumereien, mit denen ich schon drei Jahre meines Lebens verbracht hatte. Mit Schrecken fühlte ich, daß ich da ein großes Geheimnis in meinen Händen hielt, und daß dieses Geheimnis sich bereits mit meinem ganzen Dasein zu verknüpfen anfing. In welcher Weise das geschehen werde, das wußte ich selbst noch nicht. Ich fühlte nur, daß in diesem Augenblicke für mich eine neue Zukunft begann. Jetzt war ich unfreiwillig eine sehr nahe Teilnehmerin an dem Leben und an den wechselseitigen Beziehungen derjenigen Menschen geworden, die bisher die ganze Welt gebildet hatten, die mich umgab, und das versetzte mich in Furcht für mich selbst. Als was, fragte ich mich, als was werde ich in ihr Leben eintreten, ich, die niemand dazu aufgefordert hat, ich, die ich ihnen fremd bin? Was werde ich ihnen bringen? Wie können diese Fesseln gelöst werden, die mich so plötzlich an ein fremdes Geheimnis angeschmiedet haben? Wer kann es wissen: vielleicht wird meine neue Rolle sowohl für mich als auch für sie qualvoll sein. Jedenfalls konnte ich nicht schweigen, konnte diese Rolle nicht ablehnen, konnte das, was ich erfahren hatte, nicht in meinem Herzen verschließen. Aber wie würde sich mein weiteres Leben gestalten? Was sollte ich tun? Und was bedeutete eigentlich das, was ich da erfahren hatte? Tausend noch verworrene, unklare Fragen erhoben sich vor mir und beengten mir bereits das Herz in unerträglicher Weise. Ich war völlig fassungslos.

Ich erinnere mich, daß dann andere Augenblicke mit neuen, seltsamen, mir bis dahin unbekannten Empfindungen kamen. Ich hatte eine Empfindung, als hätte sich etwas in meiner Brust gelöst, als sei der frühere Kummer auf einmal von meinem Herzen heruntergefallen, und als begänne dieses von etwas Neuem erfüllt zu werden, bei dem ich noch nicht wußte, ob ich mich darüber grämen oder freuen sollte. Meine derzeitige Stimmung hatte Ähnlichkeit mit der Stimmung eines Menschen, der sein Haus und sein bisheriges ruhiges, sorgloses Leben für immer verläßt, um in eine unbekannte Ferne zu ziehen, nun zum letzten Male um sich schaut, in Gedanken von seiner Vergangenheit Abschied nimmt und sein Herz beklemmt fühlt von der trüben Vorahnung all des Unbekannten, vielleicht Traurigen, Feindseligen, das ihn auf seinem neuen Wege erwartet. Endlich brach ein krampfhaftes Schluchzen aus meiner Brust hervor und brachte in einem krankhaften Anfalle meinem Herzen eine gewisse Erleichterung. Ich mußte jemand sehen, jemand hören, meine Arme fest um jemand schlingen. Ich konnte, ich wollte jetzt nicht mehr allein bleiben; ich lief zu Alexandra Michailowna und brachte bei ihr den ganzen Abend zu. Wir waren allein. Ich bat sie, nicht zu spielen, und lehnte es ab, zu singen, obwohl sie mich herzlich darum bat. Jede Beschäftigung wurde mir auf einmal lästig, und ich konnte es bei keiner aushalten. Ich glaube, wir weinten alle beide. Ich erinnere mich aber nur, daß sie über mich sehr erschrocken war. Sie redete mir zu, ich möchte mich beruhigen und mich nicht so aufregen. Sie beobachtete mich voll Angst und versicherte mir, ich sei krank und nähme mich nicht ordentlich in acht. Endlich verließ ich sie; ich war ganz zerquält und zermartert, redete fast irre und legte mich fiebernd ins Bett.

Es vergingen mehrere Tage, bis ich wieder zu mir kommen und meine Lage klarer überdenken konnte. Zu dieser Zeit lebten wir beide, ich und Alexandra Michailowna, in vollständiger Vereinsamung. Peter Alexandrowitsch war nicht in Petersburg. Er war in Geschäften nach Moskau gereist und hielt sich dort drei Wochen lang auf. Trotz der kurzen Dauer der Trennung wurde Alexandra Michailowna von schrecklicher Sehnsucht befallen. Manchmal wurde sie ruhiger; aber sie schloß sich ein, da auch ich ihr offenbar zur Last war. Überdies suchte ich auch selbst die Einsamkeit. Mein Kopf arbeitete mit krankhafter Anstrengung; ich war wie betäubt. Mitunter kamen bei mir Stunden vor, wo peinliche Gedanken mich lange in aufdringlicher Weise beschäftigten; es kam mir dann vor, als ob jemand im stillen über mich lachte, als ob sich in mir etwas festgesetzt habe, was jeden meiner Gedanken verwirre und vergifte. Ich konnte nicht von den quälenden Bildern loskommen, die fortwährend vor meinem geistigen Auge erschienen und mir keine Ruhe ließen. Ich erblickte da ein langes Leid, von dem es keine Rettung gab, ein Martyrium, ein Opfer, das gehorsam und ohne Murren, aber vergeblich dargebracht wurde. Es schien mir, daß derjenige, dem dieses Opfer gebracht wurde, es verachtete und darüber lachte. Ich meinte, einen Verbrecher zu sehen, der einem Gerechten die Sünden vergab, und das Herz wollte mir brechen! Gleichzeitig wollte ich mich aus aller Kraft von meinem Verdachte losmachen; ich verfluchte ihn und haßte mich selbst dafür, daß alle meine Überzeugungen keine Überzeugungen waren, sondern nur Ahnungen, und dafür, daß ich meine Empfindungen nicht vor mir selbst rechtfertigen konnte.

Dann musterte ich mit dem Verstande die einzelnen Redewendungen des Briefes, diesen letzten Aufschrei bei einem furchtbaren Abschiednehmen. Ich stellte mir diesen Menschen vor, den »nicht Ebenbürtigen«; ich bemühte mich, den ganzen qualvollen Sinn dieses Wortes »nicht ebenbürtig« zu erfassen. In tiefster Seele erschütterte mich der verzweifelte Ausdruck des Scheidenden: »Ich bin lächerlich und schäme mich für Dich, weil Du eine solche Wahl getroffen hast.« Was hieß das? Was waren das für Menschen? Worüber grämten sie sich, womit quälten sie sich, was hatten sie verloren? Mit Selbstüberwindung las ich noch einmal aufmerksam diesen Brief durch, in dem so viel herzzerreißende Verzweiflung lag, dessen Sinn aber so seltsam und für mich unverständlich war. Aber der Brief entfiel meiner Hand, und eine aufregende Unruhe bemächtigte sich immer mehr meines Gemütes. Endlich mußte dies alles denn doch einmal irgendwie seine Lösung finden; aber ich sah noch keinen Ausgang oder fürchtete mich vor ihm!

Ich war fast ganz krank, als eines Tages der Reisewagen Peter Alexandrowitschs, der aus Moskau zurückgekehrt war, auf unsern Hof fuhr. Alexandra Michailowna lief ihrem Manne mit einem freudigen Aufschrei entgegen; aber ich blieb wie angeschmiedet auf meinem Platze. Ich erinnere mich, daß ich selbst über meine plötzliche Aufregung überrascht, ja erschrocken war. Ich konnte mich nicht beherrschen und lief auf mein Zimmer. Ich begriff nicht, warum ich auf einmal einen solchen Schreck bekommen hatte; aber dieses Erschrecken selbst machte mich ängstlich. Nach einer Viertelstunde wurde ich gerufen, und es wurde mir ein Brief des Fürsten eingehändigt. Im Salon traf ich einen mir unbekannten Herrn, der mit Peter Alexandrowitsch aus Moskau gekommen war, und aus einigen Worten, die ich auffing, erfuhr ich, daß er längere Zeit bei uns wohnen werde. Er war ein Bevollmächtigter des Fürsten und nach Petersburg gekommen, um gewisse wichtige Angelegenheiten der fürstlichen Familie zu betreiben, die sich bereits lange in Peter Alexandrowitschs Händen befanden. Er überreichte mir den Brief des Fürsten und fügte hinzu, die Prinzessin habe ebenfalls an mich schreiben wollen; sie habe bis zum letzten Augenblicke versichert, der Brief werde ganz bestimmt fertig werden, habe ihn aber doch mit leeren Händen gehen lassen und ihn gebeten, mir zu bestellen, es sei ihr absolut unmöglich an mich zu schreiben; sie habe nichts mitzuteilen, was sich in einem Briefe schreiben ließe, und habe ganze fünf Briefbogen verdorben und dann in Stücke gerissen; wir müßten erst wieder von neuem Freundschaft schließen, um aneinander schreiben zu können. Dann habe sie ihm noch aufgetragen, mir zu sagen, daß wir uns bald wiedersehen würden. Auf meine ungeduldige Frage antwortete der unbekannte Herr, die Mitteilung über ein baldiges Wiedersehen sei in der Tat richtig; die ganze Familie treffe Anstalten, sehr bald wieder nach Petersburg zu kommen. Bei dieser Nachricht wußte ich nicht, wo ich mich vor Freude lassen sollte; ich ging so bald wie möglich auf mein Zimmer, schloß mich ein und öffnete mit strömenden Tränen den Brief des Fürsten. Der Fürst stellte mir ein baldiges Wiedersehen mit ihm und Katja in Aussicht, beglückwünschte mich mit tiefer Empfindung zu meinem Talente, sprach mir seine Segenswünsche für meine Zukunft aus und verhieß, für mich zu sorgen. Ich weinte, als ich den Brief las. Aber zu meinen Freudentränen gesellte sich ein so unerträglicher Gram, daß ich, wie ich mich erinnere, über mich selbst erschrak; ich wußte selbst nicht, was mit mir vorging.

Es vergingen einige Tage. In dem Zimmer neben dem meinigen, wo früher Peter Alexandrowitschs Sekretär seinen Platz gehabt hatte, arbeitete jetzt jeden Vormittag und häufig auch abends bis Mitternacht der neue Ankömmling. Oft schlossen sie sich in Peter Alexandrowitschs Arbeitszimmer ein und arbeiteten zusammen. Eines Tages nach dem Mittagessen ersuchte mich Alexandra Michailowna, in das Arbeitszimmer ihres Mannes zu gehen und ihn zu fragen, ob er den Tee mit uns zusammen trinken werde. Da ich niemand im Arbeitszimmer fand und annahm, daß Peter Alexandrowitsch bald zurückkehren werde, so blieb ich da, um ihn zu erwarten. An der Wand hing sein Porträt. Ich erinnere mich, daß ich beim Anblicke desselben plötzlich zusammenfuhr und in einer mir selbst unverständlichen Aufregung es aufmerksam zu betrachten begann. Es hing ziemlich hoch; zudem war es dort ziemlich dunkel; so rückte ich denn, um es bequemer beschauen zu können, einen Stuhl heran und stieg hinauf. Ich wollte etwas erforschen, wie wenn ich dort die Lösung meiner Zweifel zu finden hoffte, und ich erinnere mich, daß mir vor allem die Augen des Porträts auffielen. Es fiel mir auch auf, daß ich fast nie die Augen dieses Mannes gesehen hatte; er verbarg sie immer hinter seiner Brille.

Schon als ich noch ein Kind war, hatte ich seinen Blick infolge einer seltsamen, unverständlichen vorgefaßten Meinung nicht leiden mögen; aber diese vorgefaßte Meinung schien jetzt ihre Bestätigung zu finden. Meine Einbildungskraft war angeregt. Es kam mir plötzlich so vor, als ob die Augen des Porträts sich in Verwirrung von meinem forschenden, prüfenden Blicke abwandten und ihn zu vermeiden suchten, und als ob Lug und Trug in diesen Augen lägen; es kam mir so vor, als ob ich etwas erraten hätte, und ich begreife nicht recht, wie diese meine Entdeckung in meinem Herzen eine geheime Freude hervorrufen konnte. Ein leichter Aufschrei entfloh meiner Brust. In diesem Augenblicke hörte ich hinter mir ein Geräusch. Ich blickte mich um: Peter Alexandrowitsch stand vor mir und sah mich aufmerksam an. Es schien mir, als sei er auf einmal rot geworden. Ich selbst errötete tief und sprang vom Stuhle herunter.

»Was machen Sie hier?« fragte er in strengem Tone. »Warum sind Sie hier?«

Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Ich entschuldigte mich einigermaßen und richtete ihm dann mit Not und Mühe Alexandra Michailownas Einladung aus. Ich erinnere mich nicht mehr, was er mir antwortete; ich erinnere mich nicht, wie ich ans dem Arbeitszimmer herausgelangte; aber als ich zu Alexandra Michailowna hinkam, hatte ich die Antwort, auf die sie wartete, vollständig vergessen und sagte aufs Geratewohl, er werde kommen.

»Aber was ist mit dir, Netotschka?« fragte sie. »Du bist ja ganz rot geworden; sieh dich nur einmal an! Was hast du denn?«

»Ich weiß nicht … ich bin schnell gegangen …« antwortete ich.

»Hat Peter Alexandrowitsch etwas zu dir gesagt?« unterbrach sie mich in sichtlicher Verwirrung.

Ich antwortete nicht. In diesem Augenblicke wurden Peter Alexandrowitschs Schritte hörbar, und ich verließ sogleich das Zimmer. Ich wartete zwei ganze Stunden in großer Aufregung. Endlich wurde ich zu Alexandra Michailowna gerufen. Diese war schweigsam und nachdenklich. Als ich eintrat, sah sie mich schnell und forschend an, wandte dann aber sogleich die Augen von mir ab. Es schien mir, daß eine gewisse Verlegenheit sich auf ihrem Gesichte ausprägte. Bald bemerkte ich, daß sie sich in übler Stimmung befand, wenig sprach, mich überhaupt nicht anblickte und auf B***s besorgte Fragen über Kopfschmerzen klagte. Peter Alexandrowitsch war gesprächiger als sonst je, redete aber nur mit B***.

Alexandra Michailowna trat zerstreut zum Klavier.

»Singen Sie uns etwas!« sagte B***, sich zu mir wendend.

»Ja, Anneta, singe uns deine neue Arie!« fiel Alexandra Michailowna ein, wie wenn sie über ein Auskunftsmittel erfreut wäre.

Ich sah sie an; sie blickte mit dem Ausdruck unruhiger Erwartung zu mir hin.

Aber ich konnte mich nicht überwinden. Statt an das Klavier zu treten und wenigstens eine Kleinigkeit zu singen, wurde ich verlegen und verwirrt und fand keine Ausrede; schließlich ärgerte ich mich über mich selbst und schlug die Bitte in schroffer Form ab.

»Aber warum willst du denn nicht singen?« fragte Alexandra Michailowna, indem sie mich bedeutsam ansah und zugleich ihren Mann mit einem Blicke streifte.

Diese beiden Blicke brachten mich völlig aus der Fassung. Ich stand in äußerster Verwirrung vom Tische auf, suchte aber meinen Zustand nicht mehr zu verbergen, und zitternd vor Ungeduld und Ärger wiederholte ich heftig, ich wolle nicht, ich könne nicht, ich sei nicht wohl. Während ich das sagte, sah ich allen in die Augen; aber Gott weiß, wie sehnlich ich in diesem Augenblick wünschte, in meinem Zimmer zu sein und von keinem Menschen gesehen zu werden.

B*** war erstaunt; Alexandra Michailowna hatte offenbar Kummer, sagte aber kein Wort. Peter Alexandrowitsch aber stand plötzlich auf, erklärte, er habe etwas vergessen, und verließ, anscheinend verdrießlich über sein Versäumnis, eilig das Zimmer; er bemerkte zwar, er werde vielleicht später noch einmal wiederkommen, gab aber für jeden Fall B*** die Hand zum Abschied.

»Was haben Sie denn eigentlich?« fragte B***. »Ihrem Aussehen nach zu urteilen sind Sie wirklich krank.«

»Ja, ich bin nicht wohl, ich bin sehr unwohl,« antwortete ich unwirsch.

»Du siehst wirklich blaß aus, und vorhin warst du doch noch so rot,« bemerkte Alexandra Michailowna und hielt plötzlich inne.

»Nun genug davon!« sagte ich, ging gerade auf sie zu und blickte ihr unverwandt in die Augen. Die Ärmste hielt meinen Blick nicht aus, schlug wie schuldbewußt die Augen nieder, und eine leichte Röte überzog ihre blassen Wangen. Ich ergriff ihre Hand und küßte sie. Alexandra Michailowna sah mich mit erkünstelter naiver Freude an. »Verzeihen Sie mir, daß ich heute ein so böses, unartiges Kind gewesen bin,« sagte ich zu ihr mit aufrichtiger Empfindung; »aber ich bin wirklich krank. Seien Sie mir nicht böse, und gestatten Sie mir, jetzt fortzugehen …«

»Wir sind sämtlich Kinder,« sagte sie mit einem schüchternen Lächeln. »Auch ich bin ein Kind und bin schlechter als du, viel schlechter,« fügte sie, mir ins Ohr flüsternd, hinzu. »Gute Nacht und gute Besserung! Ich bitte dich nur: sei mir nicht böse!«

»Böse? Weswegen denn?« fragte ich; so überraschte mich das darin liegende naive Geständnis.

»Weswegen?« wiederholte sie in schrecklicher Verlegenheit; ja, sie schien sogar einen Schreck über sich bekommen zu haben. »Weswegen? Nun, da siehst du, wie ich bin, Netotschka. Was habe ich dir gesagt? Gute Nacht! Du bist klüger als ich … Und ich bin schlimmer als ein Kind.«

»Nun, lassen wir es genug sein!« antwortete ich ganz gerührt; ich wußte nicht, was ich ihr weiter sagen sollte. Ich küßte sie noch einmal und verließ eilig das Zimmer.

Ich war recht ärgerlich und traurig. Außerdem war ich auch mit mir selbst sehr unzufrieden, da ich fühlte, daß ich unvorsichtig war und mich nicht zu benehmen verstand. Ich schämte mich so, daß mir die Tränen kamen, und schlief in großer Bekümmernis ein. Als ich am Morgen erwachte, war mein erster Gedanke, der ganze gestrige Abend sei ein bloßer Spuk, eine Phantasmagorie gewesen; wir hätten einander mystifiziert, uns gegenseitig konfus gemacht und Kleinigkeiten zu bedeutsamen Ereignissen aufgebauscht; alles sei nur von unserer Unerfahrenheit hergekommen und davon, daß wir nicht gewohnt seien, äußere Eindrücke aufzunehmen. Ich fühlte, daß an allem dieser Brief schuld war, daß er mich zu sehr beunruhigte, daß meine Einbildungskraft aus Rand und Band gekommen war, und sagte mir, es würde das beste sein, künftig gar nicht mehr an ihn zu denken. Nachdem ich so mit außerordentlicher Leichtigkeit meinen ganzen Kummer wegdekretiert hatte, wurde ich, in der festen Überzeugung, daß mir die Ausführung meines Beschlusses ebenso leicht werden würde, allmählich ruhiger und begab mich, schon wieder ganz heiter geworden, zur Gesangstunde. Die Morgenluft machte mir den Kopf vollends frisch. Ich liebte meine morgendlichen Wege zu meinem Lehrer sehr. Es war so vergnüglich, durch die Stadt zu wandern, die zwischen acht und neun Uhr schon ganz munter geworden war und eifrig an ihr Tagewerk ging. Wir gingen gewöhnlich durch die lebhaftesten, geschäftigsten Straßen, und ich hatte mein großes Gefallen an diesem täglichen Vorspiel meiner künstlerischen Tätigkeit, an dem Kontraste zwischen diesem unbedeutenden Alltagstreiben, der kleinlichen, aber eifrigen Sorge um Erwerb einerseits und der Kunst andrerseits, die mich, nur zwei Schritte von diesem geschäftigen Leben entfernt, im dritten Stockwerk eines gewaltigen Hauses erwartete, das von unten bis oben mit Mietern vollgestopft war, die meines Erachtens mit keiner Kunst etwas zu schaffen hatten. Ich mit meinem Notenhefte unter dem Arme zwischen diesen geschäftig hastenden Passanten, ferner die alte Natalja, die mich begleitete und mir jedesmal, ohne es selbst zu ahnen, das Rätsel aufgab, woran sie wohl am meisten denken möge, endlich mein Lehrer, halb Italiener, halb Franzose, ein wunderlicher Kauz, zuzeiten ein Enthusiast, weit häufiger aber ein Pedant und vor allem ein Geizhals: dies alles interessierte mich und brachte mich zum Lachen oder zum Nachdenken. Überdies liebte ich, wenn auch nur schüchtern, aber doch mit leidenschaftlicher Hoffnung meine Kunst, baute Luftschlösser, malte mir die wundervollste Zukunft aus und war, wenn ich nach Hause kam, nicht selten noch ganz erhitzt von meinen Phantasien. Kurz, ich war in diesen Stunden fast glücklich.

Eine solche Stunde war mir auch diesmal beschieden, als ich um zehn Uhr von der Unterrichtsstunde nach Hause zurückkehrte. Ich hatte die ganze Wirklichkeit vergessen und überließ mich, wie ich mich erinnere, frohen Zukunftsträumereien. Aber als ich die Treppe hinaufstieg, zuckte ich auf einmal zusammen, wie wenn ich mich verbrannt hätte. Ich hörte über mir die Stimme Peter Alexandrowitschs, der gerade die Treppe herunterkam. Das unangenehme Gefühl, das sich meiner bemächtigte, war so stark und die Erinnerung an den gestrigen Abend erfüllte mich mit einer so feindseligen Gesinnung, daß ich meinen Widerwillen nicht verbergen konnte. Ich machte ihm eine leichte Verbeugung; aber wahrscheinlich prägte sich auf meinem Gesichte in diesem Augenblicke das, was ich dachte, so deutlich aus, daß er erstaunt vor mir stehenblieb. Als ich dieses sein Verhalten bemerkte, wurde ich rot und lief schnell nach oben. Er murmelte etwas hinter mir her und setzte dann seinen Weg fort.

Ich war nahe daran, vor Ärger zu weinen, und konnte nicht begreifen, was ich da wieder gemacht hatte. Den ganzen Vormittag über war ich mißgestimmt und wußte nicht, wozu ich mich entschließen sollte, um dieser ganzen Pein möglichst bald ein Ende zu machen und sie loszuwerden. Tausendmal nahm ich mir vor, künftig vernünftiger zu sein, und tausendmal überkam mich doch wieder die Angst, daß ich dazu nicht imstande sein würde. Ich fühlte, daß ich Alexandra Michailownas Mann haßte, und war gleichzeitig in Verzweiflung über mich selbst. Diesmal wurde ich infolge der steten Aufregung wirklich krank und vermochte nicht mehr, mich zu zwingen. Ich ärgerte mich über alle und jeden; ich verbrachte den ganzen Vormittag auf meinem Zimmer und ging nicht einmal zu Alexandra Michailowna. Sie kam selbst zu mir. Als sie mich erblickte, schrie sie beinah auf. Ich war so blaß, daß ich, als ich in den Spiegel sah, selbst vor mir einen Schreck bekam. Alexandra Michailowna saß eine ganze Stunde bei mir und pflegte mich wie ein kleines Kind.

Aber ihre freundliche Aufmerksamkeit machte mich so traurig, ihre Liebkosungen waren mir so peinlich, und es war mir eine solche Qual, sie anzusehen, daß ich sie schließlich bat, mich allein zu lassen. Sie ging in großer Unruhe um mich fort. Endlich löste sich mein Kummer in einen Weinkrampf auf. Gegen Abend wurde mir besser zumute …

Es wurde mir besser zumute, weil ich den Entschluß gefaßt hatte, zu ihr zu gehen. Ich hatte den Entschluß gefaßt, mich vor ihr auf die Knie zu werfen, ihr den Brief zu geben, den sie verloren hatte, und ihr alles zu gestehen: ihr alle Qualen, die ich ausgehalten hatte, und alle meine Zweifel zu bekennen, sie mit der ganzen grenzenlosen Liebe, die in meinem Herzen für sie, für meine arme Dulderin, glühte, zu umarmen, ihr zu sagen, daß ich ihr Kind, ihre Freundin sei, daß mein Herz vor ihr offen daliege, damit sie hineinschaue und sehe, wieviel heiße, unerschütterliche Zuneigung zu ihr darin wohne. O Gott! Ich wußte, ich fühlte, daß ich die letzte war, der sie ihr Herz aufschließen konnte; aber um so sicherer war dann meiner Meinung nach die Rettung, um so machtvoller würde mein Wort wirken … Ich verstand ihren Kummer, wenn auch nur in undeutlicher, unklarer Weise, und mein Herz wallte auf vor Entrüstung bei dem Gedanken, sie könne vor mir, vor meinem Richterspruch erröten … »Du Arme, du Arme, bist du denn etwa eine solche Sünderin?« so wollte ich, ihr zu Füßen fallend, unter Tränen zu ihr sagen. Mein Gerechtigkeitsgefühl empörte sich; ich war ganz außer mir. Ich weiß nicht, was ich getan hätte; aber ich kam erst später zur Besinnung, nachdem ein unerwarteter Zufall mich und sie vom Verderben errettet hatte, indem er mich gleich beim ersten Schritt anhielt. Da bekam ich nachträglich einen großen Schreck. Wie hätte denn ihr zermartertes Herz zu neuer Hoffnung wieder auferstehen können? Ich hätte sie durch meine Enthüllung mit einem Schlage getötet!

Es ereignete sich nämlich folgendes. Ich war schon nur noch zwei Zimmer von dem ihrigen entfernt, als aus einer Seitentür Peter Alexandrowitsch hereintrat und, ohne mich zu bemerken, vor mir herging. Ich blieb wie angewurzelt stehen; er war der letzte Mensch, dem ich in diesem Augenblicke begegnen durfte. Ich wollte schon weggehen; aber die Neugier hielt mich plötzlich an meinem Platze fest.

Er blieb ein Weilchen vor dem Spiegel stehen, strich sich das Haar zurecht, und zu meinem größten Erstaunen hörte ich auf einmal, daß er ein Liedchen sang. In demselben Augenblicke tauchte eine dunkle, ferne Erinnerung aus meiner Kindheit in meinem Gedächtnisse auf. Damit man das seltsame Gefühl verstehen kann, das ich in diesem Augenblicke empfand, will ich diese Erinnerung erzählen. Schon im ersten Jahre meines Aufenthaltes in diesem Hause setzte mich ein Erlebnis in die größte Verwunderung, das mir erst jetzt zu klarem Verständnis kam, weil ich erst jetzt, erst in diesem Augenblicke, den Anfang meiner unerklärlichen Antipathie gegen diesen Menschen erkannte! Ich habe schon erwähnt, daß ich mich bereits zu jener Zeit in seiner Gegenwart immer unbehaglich fühlte. Ich habe schon gesagt, welchen peinlichen Eindruck seine düstere, kummervolle Miene, sein nicht selten trauriger, niedergeschlagener Gesichtsausdruck auf mich machten, wie schwer es mir jedesmal nach den Stunden ums Herz war, die wir zusammen an Alexandra Michailownas Teetisch verbrachten, und endlich was für ein qualvoller Schmerz mir das Herz zerriß, als ich zwei- oder dreimal Zeugin jener schrecklichen, düsteren Szenen war, deren ich schon am Anfang Erwähnung getan habe. Es begab sich, daß ich damals mit ihm ebenso zusammentraf wie jetzt, in demselben Zimmer und zu derselben Stunde, als er ebenso wie ich zu Alexandra Michailowna ging. Ich empfand eine rein kindliche Schüchternheit, als ich ihm allein begegnete, und versteckte mich daher wie schuldbewußt in einem Winkel, indem ich das Schicksal darum bat, daß er mich nicht bemerken möchte. Genau ebenso wie jetzt blieb er vor dem Spiegel stehen, und ich schrak infolge eines unklaren, nicht kindlichen Gefühles zusammen. Es schien mir, daß er sein Gesicht sozusagen umgestaltete. Wenigstens hatte ich, ehe er zum Spiegel trat, deutlich ein Lächeln auf seinem Gesicht gesehen; ich hatte ein Lachen gesehen, das ich früher an ihm niemals wahrgenommen hatte, weil er (ich erinnere mich, daß mir das besonders auffiel) in Alexandra Michailownas Gegenwart niemals lachte. Plötzlich, kaum daß er in den Spiegel gesehen hatte, änderte sein Gesicht sich vollständig. Das Lächeln verschwand, und an seiner Stelle zog ein bitteres Gefühl seine Lippen schief, ein Gefühl, von dem es schien, daß es unwillkürlich gewaltsam aus dem Herzen hervordringe, und daß seine Verbergung trotz aller großmütigen Anstrengungen nicht menschenmöglich sei; ein krampfhafter Schmerz zwang seine Stirn sich zu runzeln und seine Augenbrauen sich zusammenzuziehen. Der Blick versteckte sich finster hinter der Brille; kurz, in einem Augenblicke wurde er wie auf Kommando ein ganz anderer Mensch. Ich erinnere mich, daß ich, damals noch ein Kind, es mit der Angst bekam und mich davor fürchtete, das zu begreifen, was ich da vor mir sah, und daß seitdem eine peinliche, unangenehme Empfindung untilgbar in meinem Herzen haftete. Nachdem er ein Weilchen in den Spiegel geblickt hatte, ließ er den Kopf sinken, krümmte den Rücken zusammen, so wie er gewöhnlich bei Alexandra Michailowna erschien, und ging auf den Fußspitzen in ihr Zimmer. Die Erinnerung an dieses Erlebnis war es, die mir jetzt auf einmal durch den Kopf ging.

Wie damals so glaubte er auch jetzt allein zu sein und blieb vor diesem selben Spiegel stehen. Wie damals erweckte das Zusammensein mit ihm bei mir eine feindselige, unangenehme Empfindung Aber als ich dieses Liedchen hörte (ein Liedchen von ihm, von dem so etwas absolut nicht zu erwarten war), das mich so überraschte, daß ich wie angenagelt auf meinem Platze stehenblieb, und als mir in demselben Augenblicke die Ähnlichkeit mit jenem selben Vorgange aus meiner Kindheit einfiel: da kann ich gar nicht sagen, was für ein Widerwille mir auf einmal wie ein Stich durchs Herz fuhr. Alle meine Nerven zitterten, und als Antwort auf dieses unglückliche Liedchen brach ich in ein solches Gelächter aus, daß der arme Sänger aufschrie, zwei Schritte vom Spiegel zurücksprang und totenblaß wie ein schmählich auf frischer Tat ertappter Verbrecher außer sich vor Schreck, vor Erstaunen und Wut mich ansah. Sein Blick übte einen krankhaften Reiz auf mich aus, und ich beantwortete ihn mit einem nervösen, krampfartigen Lachen, ihm gerade ins Gesicht; dann ging ich lachend an ihm vorbei und trat, immer noch weiterlachend, in Alexandra Michailownas Zimmer. Ich wußte, daß er hinter den Portieren stand und vielleicht schwankte, ob er hereinkommen sollte oder nicht, daß Wut und Feigheit ihn an seinen Platz anschmiedeten, und ich wartete mit gereizter, herausfordernder Ungeduld darauf, wozu er sich wohl entschließen werde; ich hätte darauf wetten mögen, daß er nicht hereinkommen werde, und hätte die Wette gewonnen. Erst nach einer halben Stunde trat er ein. Alexandra Michailowna blickte mich lange höchst erstaunt an. Aber vergebens fragte sie mich, was mir wäre. Ich konnte nicht antworten; ich hatte keine Luft. Endlich begriff sie, daß ich einen Nervenanfall bekommen hatte, und sah mich besorgt an. Als ich mich wieder erholt hatte, ergriff ich ihre Hände und bedeckte sie mit Küssen. Erst jetzt kam ich zur rechten Überlegung, und erst jetzt wurde ich mir bewußt, daß ich sie getötet hätte, wenn nicht die Begegnung mit ihrem Manne erfolgt wäre. Ich sah sie an wie eine vom Tode Errettete.

Peter Alexandrowitsch trat ein.

Ich streifte ihn mit einem flüchtigen Blicke; er sah so aus, als hätte zwischen uns beiden nichts stattgefunden, d. h. er war finster und mürrisch wie immer. Aber an seinem blassen Gesichte und an seinen leise zuckenden Mundwinkeln merkte ich, daß er seine Aufregung kaum verbergen konnte. Er begrüßte Alexandra Michailowna kühl und setzte sich schweigend auf seinen Platz. Seine Hand zitterte, als er die Teetasse in Empfang nahm. Ich erwartete einen heftigen Ausbruch, und eine namenlose Angst befiel mich. Ich wollte schon weggehen, konnte mich aber nicht dazu entschließen, Alexandra Michailowna zu verlassen, deren Gesichtsausdruck sich beim Anblicke ihres Mannes verändert hatte. Auch sie ahnte Übles. Endlich trat das ein, worauf ich mit solcher Bangigkeit wartete.

Inmitten des tiefen Stillschweigens hob ich die Augen auf, und mein Blick begegnete den Brillengläsern Peter Alexandrowitschs, die gerade auf mich gerichtet waren. Dies war so unerwartet, daß ich zusammenfuhr, beinah aufschrie und die Augen niederschlug. Alexandra Michailowna bemerkte meine Aufregung.

»Was ist Ihnen? Warum werden Sie so rot?« fragte Peter Alexandrowitsch in scharfem, unhöflichem Tone.

Ich schwieg; mein Herz pochte so heftig, daß ich kein Wort herausbringen konnte.

»Warum ist sie so rot geworden? Warum wird sie immer rot?« fragte er, sich an Alexandra Michailowna wendend, indem er in ungezogener Manier auf mich hinwies.

Die Empörung benahm mir den Atem. Ich warf Alexandra Michailowna einen flehenden Blick zu. Sie verstand mich. Ihre blassen Wangen überzogen sich mit dunkler Glut.

»Anneta,« sagte sie zu mir in so festem Tone, wie ich es gar nicht von ihr erwartet hätte; »geh auf dein Zimmer; ich werde gleich zu dir kommen; wir wollen den Abend über zusammenbleiben …«

»Ich habe Sie etwas gefragt; haben Sie es gehört oder nicht?« unterbrach Peter Alexandrowitsch seine Frau, indem er seine Stimme noch mehr erhob und tat, als hätte er gar nicht gehört, was sie gesagt hatte. »Warum erröten Sie, wenn Sie mit mir zusammenkommen? Antworten Sie!«

»Weil Sie sie zum Erröten bringen, und mich ebenfalls,« antwortete Alexandra Michailowna; die Stimme versagte ihr fast vor Aufregung.

Ich blickte Alexandra Michailowna erstaunt an. Daß sie ihrem Manne ohne weiteres so scharf antwortete, war mir unbegreiflich.

»Ich bringe Sie zum Erröten, ich?« versetzte Peter Alexandrowitsch, der gleichfalls vor Verwunderung außer sich zu sein schien, und legte dabei einen starken Nachdruck auf das Wort »ich«. »Habe ich Ihnen etwa durch mein Verhalten Anlaß gegeben, schamrot zu werden? Ihnen kommt es zu, schamrot zu werden, nicht mir; meinen Sie nicht?«

Diese Worte waren für mich so verständlich und wurden mit so grausamem, giftigem Hohne gesprochen, daß ich vor Schreck aufschrie und zu Alexandra Michailowna hinstürzte. Erstaunen, Schmerz, Vorwurf und Angst malten sich auf ihrem leichenblaß gewordenen Gesichte. Ich blickte nach Peter Alexandrowitsch hin und faltete mit flehender Miene die Hände. Er schien selbst zur Besinnung zu kommen; aber die Wut, die ihm diese Worte ausgepreßt hatte, war noch nicht vorüber. Als er jedoch meine stumme Bitte bemerkte, wurde er verlegen. Meine Gebärde besagte deutlich, daß ich vieles von dem wußte, was zwischen ihnen bisher Geheimnis gewesen war, und daß ich seine Worte sehr gut verstanden hatte.

»Anneta, geh auf dein Zimmer!« wiederholte Alexandra Michailowna mit schwacher, aber fester Stimme und stand vom Stuhle auf. »Ich muß notwendig mit Peter Alexandrowitsch reden …«

Sie war anscheinend ruhig; aber diese Ruhe ängstigte mich mehr als jede Aufregung. Ich blieb wie angewurzelt auf meinem Platze, als hätte ich ihre Worte nicht gehört. Mit Aufbietung aller Kraft bemühte ich mich, auf ihrem Gesichte zu lesen, was in diesem Augenblicke in ihrer Seele vorging. Es schien mir, daß sie weder meinen Aufschrei noch meine Gebärde richtig verstanden hatte.

»Sehen Sie! Das haben Sie angerichtet, mein Fräulein!« sagte Peter Alexandrowitsch, indem er mich am Arm ergriff und auf seine Frau wies.

O Gott! Ich hatte niemals eine solche Verzweiflung gesehen, wie ich sie jetzt auf diesem tiefunglücklichen, leichenblassen Gesichte sah. Er faßte mich an der Hand und führte mich ans dem Zimmer. Ich warf noch einen letzten Blick nach ihr zurück. Alexandra Michailowna stand, mit dem Ellbogen auf den Kamin gestützt, da und preßte sich den Kopf mit beiden Händen zusammen. Die gesamte Haltung ihres Körpers bekundete unerträgliche Qual. Ich ergriff Peter Alexandrowitschs Hand und drückte sie mit heißer Bitte.

»Um Gottes willen! Um Gottes willen!« sagte ich mit stockender Stimme. »Schonen Sie sie!«

»Seien Sie unbesorgt, seien Sie unbesorgt!« erwiderte er, mich mit einem seltsamen Blicke ansehend. »Es hat nichts zu bedeuten; es ist nur ein Anfall. Gehen Sie nur, gehen Sie nur!«

Als ich in mein Zimmer kam, warf ich mich auf das Sofa und verbarg das Gesicht in den Händen. Volle drei Stunden verbrachte ich in dieser Haltung und machte in dieser Zeit Höllenqualen durch. Schließlich konnte ich es nicht mehr ertragen und ließ anfragen, ob ich zu Alexandra Michailowna kommen könne. Madame Léotard brachte mir die Antwort. Peter Alexandrowitsch ließ mir sagen, der Anfall sei vorüber, und es bestehe keine Gefahr; aber Alexandra Michailowna bedürfe der Ruhe. Ich legte mich erst um drei Uhr morgens schlafen; bis dahin ging ich immer, mit meinen Gedanken beschäftigt, im Zimmer auf und ab. Meine Lage war rätselhafter als jemals; aber ich fühlte mich ruhiger, vielleicht weil ich mich von allen am schuldlosesten fühlte. Ungeduldig dem nächsten Morgen entgegensehend, legte ich mich schlafen.

Aber am andern Tage bemerkte ich zu meiner schmerzlichen Verwunderung eine unerklärliche Kälte in Alexandra Michailownas Benehmen. Anfangs meinte ich, es sei diesem reinen, edlen Herzen peinlich, mit mir zusammen zu sein, nachdem ich gestern eine unfreiwillige Zeugin der Szene mit ihrem Manne gewesen war. Ich wußte, daß sie mit ihrem Kindergemüt imstande war, vor mir zu erröten und mich um Verzeihung dafür zu bitten, daß die unglückliche Szene gestern vielleicht meine Gefühle verletzt habe. Aber bald bemerkte ich, daß ihre Sorge und ihr Verdruß einen andern Ursprung hatten und sich in recht ungeschickter Weise äußerten: bald gab sie mir trockene, kühle Antworten; bald war aus ihren Worten ein besonderer Sinn herauszuhören; bald endlich wurde sie auf einmal gegen mich sehr zärtlich, wie wenn sie dieses mürrische Wesen bereute, das ihr ja nicht von Herzen kommen konnte, und ihre freundlichen, sanften Worte klangen wie ein leiser Vorwurf. Zuletzt fragte ich sie geradezu, was sie denn eigentlich habe, und ob sie mir etwas mitteilen wolle. Bei meiner schnellen Frage wurde sie ein wenig verlegen; aber sofort schlug sie auch ihre großen, stillen Augen zu mir auf, sah mich mit einem zärtlichen Lächeln an und sagte:

»Ich habe nichts, Netotschka; nur, weißt du, als du mich so plötzlich fragtest, wurde ich ein wenig verlegen. Das kam daher, daß du mich so auf einmal fragtest; ich versichere dich. Aber höre du einmal und antworte mir die Wahrheit, mein Kind: hast du irgend etwas auf dem Herzen, was dich ebenso verlegen machen könnte, wenn du danach ebenso plötzlich und unerwartet gefragt würdest?«

»Nein,« antwortete ich und blickte sie mit klaren Augen an.

»Nun, das ist gut! Wenn du wüßtest, liebes Kind, wie dankbar ich dir für diese schöne Antwort bin! Nicht, daß ich dir irgend etwas Schlechtes zugetraut hätte; das werde ich niemals tun! Ich würde mir nicht einmal einen solchen Gedanken verzeihen. Aber höre: ich habe dich zu mir genommen, als du noch ein Kind warst, und jetzt bist du siebzehn Jahre alt. Du hast es selbst gesehen: ich bin krank; ich bin selbst wie ein kleines Kind; ich bedarf noch der Pflege. Ich habe dir eine leibliche Mutter nicht völlig ersetzen können, obwohl ich eine große, große Liebe für dich im Herzen hege. Wenn mich jetzt die Sorge um dich quält, so ist das selbstverständlich nicht deine Schuld, sondern die meinige. Verzeih mir die Frage von vorhin, und verzeih mir auch, daß ich vielleicht wider meinen Willen nicht alle die Versprechungen erfüllt habe, die ich dir und meinem Vater, dem Fürsten, gab, als ich dich aus seinem Hause nahm. Das beunruhigt mich sehr und hat mich oft beunruhigt, liebes Kind.«

Ich umarmte sie und fing an zu weinen.

»Oh, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen für alles!« rief ich, indem ich ihre Hände mit Tränen benetzte. »Reden Sie nicht so zu mir, zerreißen Sie mir nicht das Herz! Sie sind mir mehr als eine Mutter gewesen; Gott segne Sie beide, Sie und den Fürsten, für alles, was Sie an mir Armen, Verlassenen getan haben! Sie Arme, Sie Liebe!«

»Hör auf, Netotschka, hör auf! Umarme mich lieber; so, fester, fester! Weißt du was? Ich habe, Gott weiß woher, das Gefühl, daß du mich zum letztenmal umarmst.«

»Nein, nein!« versetzte ich, schluchzend wie ein Kind. »Nein, das kann nicht sein! Sie werden glücklich sein! Sie haben noch viele Lebenstage vor sich. Glauben Sie nur, wir werden glücklich sein.«

»Ich danke dir, ich danke dir dafür, daß du mich so liebst. Jetzt habe ich nur wenige Menschen um mich; alle haben sie mich verlassen!«

»Wer hat Sie denn verlassen? Wen meinen Sie?«

»Früher hatte ich viele Freunde; du weißt das nicht, Netotschka. Sie haben mich alle verlassen; alle sind sie verschwunden wie Gespenster. Und ich habe so darauf gewartet, daß sie wiederkommen sollten; mein ganzes Leben lang habe ich darauf gewartet; Gott verzeihe es ihnen! Siehst du, Netotschka, wir haben jetzt schon Spätherbst; bald wird Schnee fallen; mit dem ersten Schnee werde ich sterben, ja; aber ich bin nicht traurig darüber. Lebt alle wohl!«

Ihr Gesicht war blaß und mager; auf jeder Backe glühte ein unheilverkündender, blutroter Fleck; ihre Lippen zitterten und waren von der innerlichen Hitze ausgetrocknet.

Sie trat an das Klavier und griff einige Akkorde; in diesem Augenblicke sprang eine Saite mit einem Klirren, an das sich ein langer, kläglicher Ton anschloß …

»Hörst du wohl, Netotschka, hörst du wohl?« sagte sie wie infolge einer Eingebung und zeigte auf das Klavier. »Diese Saite war zu stark gespannt: sie hat es nicht ausgehalten und ist gestorben. Hörst du wohl, wie kläglich der Ton erstirbt?«

Sie sprach nur mit Anstrengung. Ein dumpfer Seelenschmerz prägte sich auf ihrem Gesichte aus; ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Nun genug davon, Netotschka, liebes Kind; genug! Bring mir die Kinder her!«

Ich holte sie. Bei ihrem Anblick schien sie sich zu erholen; nach einer Stunde schickte sie sie wieder weg.

»Wenn ich sterbe, wirst du sie nicht verlassen, nicht wahr, Anneta? Ja?« sagte sie flüsternd zu mir, wie wenn sie fürchtete, es könnte uns jemand hören.

»Hören Sie auf! Sie töten mich!« konnte ich nur als Antwort herausbringen.

»Ich habe ja nur gescherzt,« sagte sie nach kurzem Stillschweigen lächelnd. »Hast du wirklich geglaubt, ich spräche im Ernst? Ich rede ja manchmal Gott weiß was zusammen. Ich bin jetzt wie ein Kind; man muß mir vieles verzeihen.«

Hier sah sie mich schüchtern an, als fürchte sie sich, etwas auszusprechen, was sie doch glaubte sagen zu müssen. Ich wartete.

»Erschrecke ihn nicht, hörst du wohl?« sagte sie endlich; sie hielt die Augen niedergeschlagen; eine leichte Röte überzog ihr Gesicht; sie sprach so leise, daß ich es kaum vernehmen konnte.

»Wen?« fragte ich erstaunt.

»Meinen Mann. Du willst ihm am Ende alles heimlich wiedererzählen.«

»Warum? Wie sollte ich dazu kommen?« fragte ich in immer größerem Erstaunen.

»Nun, vielleicht willst du es auch nicht tun; wer kann's wissen?« antwortete sie und versuchte, mich dabei so listig, wie es ihr möglich war, anzusehen, wiewohl noch dasselbe gutmütige Lächeln um ihre Lippen spielte und ihr die Röte immer mehr ins Gesicht stieg. »Genug davon! Es war ja alles nur Scherz!«

Mein Herz krampfte sich immer schmerzhafter zusammen.

»Aber hörst du wohl, du wirst sie liebhaben, wenn ich tot bin; ja?« fügte sie ernsthaft und wieder mit gewissermaßen geheimnisvoller Miene hinzu; »so, wie du deine eigenen Kinder liebhaben würdest, ja? Vergiß es nicht: ich habe dich immer wie mein eigenes Kind gehalten und dich nicht anders behandelt wie die meinigen.«

»Ja, ja,« antwortete ich, ohne zu wissen, was ich redete; ich konnte vor Tränen und Aufregung kaum sprechen.

Ein heißer Kuß brannte auf meiner Hand, ehe ich sie wegziehen konnte. Das Erstaunen lähmte mir die Zunge.

»Was ist nur mit ihr?« ging es mir durch den Kopf. »Was haben die beiden gestern nur miteinander gehabt?«

Gleich darauf begann sie über Müdigkeit zu klagen.

»Ich bin schon lange krank; ich wollte euch beide nur nicht erschrecken,« sagte sie. »Ihr habt mich ja beide lieb, nicht wahr? … Auf Wiedersehen, Netotschka! Verlaß mich jetzt; aber komm am Abend bestimmt wieder her; ja?«

Ich versprach es ihr; aber ich war froh, wegzukommen. Ich konnte dieses Gespräch nicht mehr ertragen.

»Du Arme, du Arme!« rief ich schluchzend. »Welch ein unwürdiger Verdacht begleitet dich bis ins Grab? Und was für ein neuer Kummer, von dem du kaum ein Wort zu sagen wagst, zerreißt dir das Herz? O Gott, dieses lange Märtyrertum, das ich nun schon ganz genau kenne, dieses freudlose Leben, diese schüchterne Liebe, die nichts für sich fordert! Und selbst jetzt, wo sie fast schon auf dem Totenbette liegt und ihr das Herz vor Leid bricht, scheut sie sich auch nur leise zu murren und zu klagen, als ob sie eine Verbrecherin wäre. Und nun hat sie sich ein neues Leid ausgesonnen und eingebildet, und auch dem hat sie sich bereits gefügt, auch in das hat sie sich gefunden! …«

Am Abend in der Dämmerstunde benutzte ich die Abwesenheit Owrows, der nach Moskau gefahren war, und ging in die Bibliothek, schloß einen Schrank auf und begann unter den Büchern zu suchen, um eines auszuwählen, das ich Alexandra Michailowna vorlesen könnte. Ich wollte sie von ihren finsteren Gedanken ablenken und ihr daher etwas Leichtes, Heiteres wählen … Ich war sehr zerstreut und suchte lange. Die Dunkelheit nahm zu, und mit ihr wuchs auch mein Verdruß. Ich bekam wieder jenes verhängnisvolle Buch in die Hände, und es schlug auf derselben Seite auf; auch jetzt sah ich auf ihr die Spuren des Briefes, der seitdem nicht von meiner Brust gekommen war. Mit der Entdeckung dieses Geheimnisses hatte ein Abschnitt meines Lebens jäh sein Ende erreicht und ein neuer hatte begonnen; mir war, als ob etwas Kaltes, Unbekanntes, Geheimnisvolles, Unerfreuliches mich anwehte und mich schon jetzt aus der Ferne finster bedrohte … »Was wird aus mir werden?« dachte ich. »Der Winkel, in dem mir so warm und behaglich war, wird öde. Das reine, edle Wesen, das meine Jugend behütet hat, verläßt mich. Was wird mir die Zukunft bringen?« Ich stand ganz versunken da: ich dachte an meine Vergangenheit, die jetzt meinem Herzen so teuer war, und suchte mit meinem Blicke die unbekannte, mich bedrohende Zukunft zu durchdringen … Ich erinnere mich an diesen Augenblick, wie wenn ich ihn jetzt von neuem durchlebte: so stark hat er sich meinem Gedächtnisse eingeprägt.

Ich hielt den Brief und das aufgeschlagene Buch in der Hand; mein Gesicht war feucht von Tränen. Auf einmal fuhr ich erschrocken zusammen; neben mir hörte ich eine mir bekannte Stimme. Gleichzeitig fühlte ich, daß mir der Brief aus der Hand gerissen wurde. Ich schrie auf und blickte mich um: vor mir stand Peter Alexandrowitsch. Er ergriff mich am Arme und hielt mich gewaltsam an meinem Platze fest; mit der rechten Hand hielt er den Brief nach dem Lichte hin und bemühte sich, die ersten Zeilen zu entziffern … Ich schrie auf; ich wollte lieber sterben, als diesen Brief in seinen Händen lassen. An seinem triumphierenden Lächeln sah ich, daß es ihm gelungen war, die ersten Zeilen zu lesen. Mir schwindelte der Kopf …

Einen Augenblick darauf stürzte ich wie von Sinnen zu ihm hin und riß ihm den Brief aus der Hand. Alles dies begab sich so schnell, daß ich selbst noch nicht begriff, wie der Brief wieder in meinen Besitz gekommen war. Aber als ich bemerkte, daß er ihn mir von neuem ans den Händen reißen wollte, verbarg ich ihn eilig an meiner Brust und trat drei Schritte zurück.

Etwa eine halbe Minute lang blickten wir einander schweigend an. Ich zitterte noch vor Schreck; er war blaß, und seine vor Zorn bläulich gewordenen Lippen bebten. Er war der erste, der das Schweigen brach.

»Machen wir ein Ende!« sagte er mit einer Stimme, die vor Erregung matt klang. »Sie werden gewiß selbst nicht wollen, daß ich Gewalt anwende; geben Sie den Brief freiwillig her!«

Erst jetzt kam ich recht zur Besinnung, und das Gefühl der Kränkung, der Scham und der Empörung über eine so rohe Gewalttat benahm mir den Atem. Heiße Tränen liefen über meine glühenden Wangen. Ich zitterte am ganzen Leibe vor Aufregung und war eine Zeitlang nicht imstande, ein Wort herauszubringen.

»Haben Sie gehört?« sagte er, indem er zwei Schritte näher an mich herantrat.

»Lassen Sie mich, lassen Sie mich!« rief ich und wich von ihm zurück. »Sie haben gemein und unwürdig gehandelt. Sie haben sich vergessen! … Lassen Sie mich vorbei! …«

»Wie? Was soll das vorstellen? Sie wagen noch, einen solchen Ton anzunehmen … nachdem Sie … Geben Sie her, sage ich Ihnen!«

Er trat noch einmal auf mich zu; aber als er mich ansah, erblickte er in meinen Augen eine solche Entschlossenheit, daß er innehielt, wie um zu überlegen.

»Gut!« sagte er schließlich in trockenem Tone, als ob er zu einem Entschlusse gelangt wäre; aber er hatte immer noch Mühe, seine Erregung niederzuhalten. »Das soll später an die Reihe kommen; aber zuerst …«

Hier blickte er um sich.

»Wie kommen Sie … wer hat Sie in die Bibliothek gelassen? Warum steht dieser Schrank offen? Wo haben Sie den Schlüssel her?«

»Ich werde Ihnen darauf keine Antwort geben,« erwiderte ich. »Ich kann nicht mit Ihnen reden. Lassen Sie mich hinaus, lassen Sie mich hinaus!«

Ich ging auf die Tür zu.

»Erlauben Sie!« sagte er, indem er mich am Arme festhielt. »Sie kommen so nicht davon!«

Schweigend riß ich meinen Arm aus seinem Griffe los und machte von neuem eine Bewegung nach der Tür zu.

»Nun gut! Aber ich kann Ihnen wirklich nicht erlauben, in meinem Hause Briefe von Ihren Liebhabern zu erhalten …«

Ich schrie vor Schreck auf und blickte ihn fassungslos an.

»Und darum …«

»Halten Sie ein!« rief ich. »Wie können Sie es wagen? Wie können Sie es wagen, mir das zu sagen? … O Gott! O Gott! …«

»Was? Was? Sie wollen mir noch drohen?«

Aber blaß und von Verzweiflung niedergeschmettert blickte ich ihn an. Der Kampf zwischen uns war, ohne daß ich begriffen hätte, warum, zum höchsten Grade der Erbitterung gelangt. Ich flehte ihn mit meinem Blicke an, nicht so weiterzugehen. Ich war bereit, ihm die Beleidigung zu vergeben, wenn er jetzt innehalten wollte. Er sah mich unverwandt an und wurde augenscheinlich schwankend.

»Bringen Sie mich nicht zum Äußersten!« flüsterte ich ängstlich.

»Nein, damit muß ein Ende gemacht werden!« sagte er endlich nach einigem Überlegen. »Ich muß gestehen,« fügte er mit einem seltsamen Lächeln hinzu, »dieser Blick hatte mich schon beinahe schwankend gemacht; aber leider spricht die Sache selbst für sich. Ich habe den Anfang des Briefes noch lesen können. Es ist ein Liebesbrief! Das können Sie mir nicht ausreden. Nein, das schlagen Sie sich aus dem Sinn! Und wenn ich einen Augenblick zweifelhaft wurde, so beweist das nur, daß ich zu all ihren sonstigen schönen Eigenschaften erst noch die Fähigkeit, vorzüglich zu lügen, hinzunehmen mußte; und darum wiederhole ich Ihnen …«

Je länger er sprach, um so mehr wurde sein Gesicht von Bosheit entstellt. Er war blaß geworden; seine Lippen hatten sich schiefgezogen und zitterten, so daß er schließlich die letzten Worte nur mit Mühe herausbrachte. Es war dunkel geworden. Ich stand schutzlos da, allein, einem Menschen gegenüber, der imstande war eine Frau zu beleidigen. Schließlich war der äußere Schein durchaus gegen mich; ich verging vor Scham und war ganz fassungslos; ich konnte die zornige Erregung dieses Menschen nicht begreifen. Ohne ihm zu antworten, außer mir vor Angst, stürzte ich aus dem Zimmer und kam erst zur Besinnung, als ich am Eingang zu Alexandra Michailownas Zimmer stand. In diesem Augenblicke hörte ich seine Schritte; ich wollte schon ins Zimmer hineingehen, als ich plötzlich wie vom Donner gerührt stehenblieb.

»Was wird aus ihr werden?« schoß es mir durch den Kopf. »Dieser Brief! … Nein, lieber will ich alles mögliche erdulden, als ihr diesen tödlichen Stich ins Herz versetzen!« und ich stürzte zurück. Aber es war schon zu spät: er stand neben mir.

»Kommen Sie, wohin Sie wollen; nur nicht hier, nicht hier!« flüsterte ich, indem ich seine Hand ergriff. »Schonen Sie sie! Ich werde wieder in die Bibliothek kommen, oder … wohin Sie sonst wollen! Sie werden sie töten!«

»Vielmehr: Sie werden sie töten!« antwortete er und zog mich mit sich.

Alle meine Hoffnungen schwanden dahin. Ich merkte, daß er beabsichtigte, Alexandra Michailowna von dem ganzen Vorfall in Kenntnis zu setzen.

»Um Gottes willen!« sagte ich und suchte ihn mit aller Kraft zurückzuhalten. Aber in diesem Augenblicke wurde die Portiere aufgehoben, und Alexandra Michailowna stand vor uns. Sie sah uns erstaunt an. Ihr Gesicht war noch blasser als sonst. Sie hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen, und es war augenscheinlich, daß es ihr die größte Anstrengung gekostet hatte, zu uns zu gelangen, nachdem sie unsere Stimmen gehört hatte.

»Wer ist da? Wovon habt ihr hier gesprochen?« fragte sie, uns mit dem äußersten Erstaunen ansehend.

Einige Augenblicke lang herrschte Stillschweigen, und sie wurde bleich wie Leinwand. Ich stürzte zu ihr hin, umschlang sie fest mit meinen Armen und führte sie in ihr Zimmer zurück. Peter Alexandrowitsch trat hinter mir herein. Ich verbarg mein Gesicht an ihrer Brust und umarmte sie immer fester, halbtot vor ängstlicher Erwartung.

»Was ist mit dir, was ist mit euch?« fragte Alexandra Michailowna noch einmal.

»Fragen Sie sie! Sie haben sie noch gestern so warm verteidigt,« sagte Peter Alexandrowitsch, indem er sich schwer in einen Lehnstuhl sinken ließ.

Ich drückte sie immer fester und fester in meinen Armen an mich.

»Aber mein Gott, was gibt es denn eigentlich?« sagte Alexandra Michailowna in schrecklicher Angst. »Ihr seid beide so aufgeregt, und sie ist ganz erschrocken und weint. Anneta, sage mir alles, was zwischen euch vorgefallen ist!«

»Nein, erlauben Sie mir zuerst zu reden!« sagte Peter Alexandrowitsch, indem er zu uns trat, mich an der Hand ergriff und mich von Alexandra Michailowna wegzog. »Stellen Sie sich dahin!« fuhr er, zu mir gewendet, fort, indem er auf die Mitte des Zimmers wies. »Ich werde über Sie Gericht halten in Gegenwart derjenigen, die an Ihnen Mutterstelle vertreten hat. Sie aber bitte ich sich zu beruhigen und sich hinzusetzen,« fügte er hinzu, indem er Alexandra Michailowna veranlaßte, auf einem Lehnstuhl Platz zu nehmen. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen diese unangenehme Enthüllung nicht ersparen kann; aber sie ist unumgänglich notwendig.«

»Mein Gott! Was wird das nur sein?« rief Alexandra Michailowna und ließ in peinlicher Aufregung ihren Blick zwischen mir und ihrem Manne hin und her wandern. Ich rang die Hände, da ich fühlte, daß der verhängnisvolle Augenblick heranrückte. Von Peter Alexandrowitsch erwartete ich keine Schonung mehr.

»Kurz gesagt,« fuhr Peter Alexandrowitsch fort, »ich wollte, daß Sie mit mir zusammen zu Gericht säßen. Sie haben immer (ich begreife nicht, warum; es ist das eben eine Ihrer Phantasien), Sie haben immer … zum Beispiel noch gestern, gemeint und gesagt … aber ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll; ich erröte bei dem Gedanken an Ihre Vermutungen … Kurz gesagt, Sie haben sie in Schutz genommen, Sie haben mich angegriffen, mich einer unangebrachten Strenge beschuldigt; Sie haben noch auf ein anderes Gefühl angespielt, das mich zu dieser unangebrachten Strenge veranlasse; Sie … aber ich sehe nicht ein: warum soll ich nicht meine Verlegenheit und mein Erröten über Ihre Vermutungen unterdrücken und laut und offen in Gegenwart dieses Mädchens von ihnen reden? … Kurz gesagt, Sie …«

»Oh, tun Sie das nicht! Nein, sagen Sie das nicht!« rief Alexandra Michailowna in höchster Aufregung und vor Scham glühend. »Nein, schonen Sie sie! Das waren alles nur Einbildungen von mir! Ich hege jetzt keinerlei Verdacht. Verzeihen Sie mir meine Vermutungen, verzeihen Sie sie mir! Ich bin krank; man muß Nachsicht mit mir haben; aber sagen Sie nur nichts zu ihr, nein … Anneta,« sagte sie, zu mir herantretend, »Anneta, geh weg von hier, schnell, schnell! Er hat nur gescherzt; ich bin an allem schuld; es war ein unangebrachter Scherz …«

»Kurz gesagt, Sie waren eifersüchtig auf sie,« sagte Peter Alexandrowitsch; das war die Antwort, die er der ängstlich Wartenden ins Gesicht schleuderte.

Sie schrie auf, wurde blaß und mußte sich auf den Lehnstuhl stützen, da die Beine sie kaum trugen.

»Gott möge es Ihnen vergeben!« sagte sie endlich mit schwacher Stimme. »Verzeihe du auch mir, Netotschka, was er da gesagt hat; ich bin an allem schuld. Ich war krank, ich …«

»Aber das ist Tyrannei, das ist eine Schamlosigkeit, eine Gemeinheit!« rief ich ganz außer mir, da ich endlich alles begriff und durchschaute, warum er in Gegenwart seiner Frau über mich Gericht halten wollte. »Das ist ein verächtliches Benehmen; Sie …«

»Anneta!« schrie Alexandra Michailowna und ergriff mich erschrocken beim Arme.

»Komödie, Komödie, nichts weiter!« sagte Peter Alexandrowitsch und trat in unbeschreiblicher Aufregung auf uns zu. »Komödie, sage ich Ihnen,« fuhr er fort, indem er seine Frau unverwandt mit einem boshaften Lächeln anblickte, »und die Betrogene in dieser ganzen Komödie sind nur Sie. Aber Sie können überzeugt sein, daß die hier«, sagte er fast erstickend und wies dabei auf mich, »solche Erörterungen nicht scheut; Sie können überzeugt sein, daß die hier nicht mehr so keusch ist, um sich beleidigt zu fühlen, zu erröten und sich die Ohren zuzustopfen, wenn man zu ihr von solchen Dingen redet. Entschuldigen Sie, ich drücke mich einfach, geradezu und vielleicht derb aus; aber das ist unumgänglich notwendig. Glauben Sie an die ordentliche Aufführung dieser … Person?«

»O Gott! Was reden Sie? Sie vergessen sich!« rief Alexandra Michailowna, vor Schreck starr und halbtot.

»Bitte, ohne hochtönende Worte!« unterbrach Peter Alexandrowitsch sie geringschätzig. »Ich liebe das nicht. Was hier vorliegt, ist eine einfache, klare Gemeinheit, eine Gemeinheit schlimmster Art. Ich frage Sie nach der Aufführung dieses Mädchens: wissen Sie …«

Aber ich ließ ihn nicht zu Ende sprechen, sondern faßte ihn am Arm und zog ihn gewaltsam beiseite. Noch ein Augenblick, und alles wäre verloren gewesen.

»Sagen Sie nichts von dem Briefe!« flüsterte ich ihm schnell zu. »Sie würden sie damit auf der Stelle töten. Ein Vorwurf für mich würde gleichzeitig ein Vorwurf für sie sein. Sie kann nicht Richterin über mich sein, weil ich alles weiß … Verstehen Sie wohl: ich weiß alles

Er blickte mich mit scheuer Neugier starr an und wurde verlegen; das Blut stieg ihm ins Gesicht.

»Ich weiß alles, alles!« wiederholte ich.

Er schwankte noch. Eine Frage schwebte ihm auf den Lippen. Ich kam ihm zuvor:

»Was sich begeben hat, ist dies,« sagte ich laut und eilig, indem ich mich an Alexandra Michailowna wandte, die uns mit schüchterner, gramvoller Verwunderung betrachtete. »Ich bin an allem schuld. Schon seit vier Jahren habe ich Sie hintergangen. Ich habe mir den Schlüssel zur Bibliothek angeeignet und lese schon seit vier Jahren heimlich Bücher aus ihr. Peter Alexandrowitsch hat mich mit einem solchen Buche ertappt, das … das nicht hätte in meinen Händen sein sollen. Im Schreck über meine Handlungsweise und aus Besorgnis für mich hat er Ihnen gegenüber die Gefahr übertrieben! … Aber ich will mich nicht zu rechtfertigen suchen,« fügte ich schnell hinzu, da ich ein spöttisches Lächeln auf seinen Lippen bemerkte; »ich bin in jeder Hinsicht schuldig. Die Verlockung war stärker als ich, und nachdem ich mich einmal vergangen hatte, schämte ich mich, meine Verfehlung einzugestehen … Das ist alles, fast alles, was zwischen uns vorgefallen ist.«

»Oh, oh, wie geschickt!« flüsterte Peter Alexandrowitsch neben mir.

Alexandra Michailowna hatte mir mit größter Aufmerksamkeit zugehört; aber auf ihrem Gesichte malte sich deutlich ihr Unglaube. Sie blickte abwechselnd mich und ihren Mann an. Es trat ein Stillschweigen ein. Ich konnte kaum atmen. Sie ließ den Kopf auf die Brust heruntersinken und bedeckte die Augen mit der Hand; offenbar überlegte sie etwas und erwog jedes Wort, das ich gesagt hatte. Endlich hob sie den Kopf in die Höhe und blickte mich prüfend an.

»Netotschka, mein Kind, ich weiß, du verstehst nicht zu lügen,« sagte sie. »Ist das alles, was vorgefallen ist, wirklich alles?«

»Ja, alles,« antwortete ich.

»Ist es alles?« fragte sie, sich zu ihrem Manne wendend.

»Ja, alles,« antwortete er mit Anstrengung. »Alles!«

Ich atmete auf.

»Gibst du mir dein Wort darauf, Netotschka?«

»Ja,« antwortete ich, ohne zu zaudern.

Aber ich konnte mich nicht bezwingen und blickte nach Peter Alexandrowitsch hin. Er lachte, als er hörte, wie ich mein Wort gab. Ich wurde dunkelrot, und meine Verwirrung entging der armen Alexandra Michailowna nicht. Ein niederdrückender, qualvoller Kummer malte sich auf ihrem Gesichte.

»Genug davon!« sagte sie traurig. »Ich glaube euch. Ich kann nicht anders als euch glauben.«

»Ich meine, dieses Bekenntnis genügt,« sagte Peter Alexandrowitsch »Sie haben es ja nun gehört. Wie sollen wir nun darüber urteilen?«

Alexandra Michailowna antwortete nicht. Die Szene wurde immer peinlicher.

»Ich will gleich morgen alle Bücher revidieren,« fuhr Peter Alexandrowitsch fort. »Ich weiß nicht, was sie da sonst noch getrieben hat; aber …«

»Was war es denn für ein Buch, das sie las?« fragte Alexandra Michailowna.

»Was es für ein Buch war? Antworten Sie!« sagte er, zu mir gewendet. »Sie verstehen es besser als ich, die Sache klarzulegen,« fügte er mit verhülltem Spott hinzu.

Ich wurde verlegen und konnte kein Wort herausbringen. Alexandra Michailowna errötete und schlug die Augen nieder. Es trat ein langes Stillschweigen ein. Peter Alexandrowitsch ging ärgerlich im Zimmer auf und ab.

»Ich weiß nicht, was zwischen euch vorgegangen ist,« begann Alexandra Michailowna endlich schüchtern und stockend; »aber wenn es nur das gewesen ist,« fuhr sie fort (sie bemühte sich, in ihre Worte einen besonderen Sinn zu legen, geriet aber unter dem starr auf sie gerichteten Blicke ihres Mannes bereits in Verwirrung, obgleich sie es zu vermeiden suchte, ihn anzusehen), »wenn es nur das gewesen ist, so weiß ich nicht, warum wir alle uns so darüber grämen und aufregen. Die Hauptschuld trage ich, ich allein, und das ist mir ein großer Schmerz. Ich habe ihre Erziehung vernachlässigt und trage für alle Folgen die Verantwortung. Das muß sie mir verzeihen, und ich kann und darf nicht den Stab über sie brechen. Aber noch einmal: warum regen wir uns denn so auf? Die Gefahr ist ja doch vorübergegangen. Sehen Sie sie an,« sagte sie, immer lebhafter werdend und einen forschenden Blick auf ihren Mann richtend, »sehen Sie sie an: hat etwa ihr unbesonnener Schritt irgendwelche üblen Folgen hinterlassen? Ich kenne sie ja doch, mein Kind, meine liebe Tochter; ich kenne sie ja doch und weiß, daß ihr Herz rein und edel ist, und daß in diesem hübschen Köpfchen«, fuhr sie fort, indem sie mich liebkosend an sich zog, »ein heller, klarer Verstand wohnt, und daß ihr Gewissen den Betrug scheut … Hören wir auf damit, meine Lieben! Lassen wir es gut sein! Gewiß hat unser Kummer einen andern verborgenen Grund gehabt; vielleicht hat sich nur ein vorüberfliegender häßlicher Schatten über uns gebreitet. Aber wir wollen ihn verscheuchen durch unsere Liebe und durch unsere Eintracht und wollen das entstandene Mißverständnis zerstreuen. Vielleicht ist manches zwischen uns unausgesprochen geblieben, und ich klage in erster Linie mich selbst an. Ich bin als die erste gegen euch nicht offen gewesen und habe bei mir Gott weiß was für einen Verdacht aufkommen lassen; daran ist mein kranker Kopf schuld … Aber … aber, wenn wir uns nun wenigstens zum Teil ausgesprochen haben, so müßt ihr mir beide verzeihen, weil … weil schließlich das, was ich vermutete, keine so große Sünde ist …«

Nach diesen Worten blickte sie schüchtern und errötend ihren Mann an und wartete bekümmert auf eine Antwort von seiner Seite. Je länger er ihr zuhörte, um so spöttischer wurde das Lächeln auf seinen Lippen. Er hörte auf, hin und her zu gehen und blieb, mit den Händen auf dem Rücken, gerade vor ihr stehen. Er schien ihre Verwirrung zu beobachten und sich daran zu weiden; denn da sie seinen starren Blick auf sich gerichtet fühlte, wurde sie verlegen. Er schwieg noch einen Augenblick, als ob er abwarten wollte, was etwa noch weiter käme. Ihre Verwirrung stieg. Endlich machte er dieser peinlichen Szene durch ein leises, langes, boshaftes Lachen ein Ende:

»Sie tun mir leid, Sie Arme,« sagte er endlich, nachdem er aufgehört hatte zu lachen, in bitterem, ernstem Tone. »Sie haben da eine Rolle übernommen, die Ihre Kräfte übersteigt. Was beabsichtigten Sie? Beabsichtigten Sie, mich zu einer Antwort zu veranlassen, mich durch neue Verdächtigungen oder, richtiger gesagt, durch die alte Verdächtigung, die Sie nur mangelhaft in Ihren Worten verbargen, aufzustacheln? Der Sinn Ihrer Worte war, man brauche diesem Mädchen nicht böse zu sein; sie sei brav und gut auch nach der Lektüre unsittlicher Bücher, deren Moral übrigens (das spreche ich als meine Ansicht aus) schon eine gewisse Wirkung auf sie ausgeübt hat; Sie selbst seien schließlich für sie verantwortlich, nicht wahr? Nun, und nachdem Sie dies erklärt hatten, deuteten Sie noch auf etwas anderes hin; Sie sind der Meinung, mein argwöhnisches, feindseliges Benehmen gegen dieses Mädchen entspringe aus einem anderen Gefühle. Sie haben mir sogar gestern angedeutet (bitte, unterbrechen Sie mich nicht; ich rede gern frei und offen), Sie haben mir sogar gestern angedeutet, daß bei manchen Leuten (ich erinnere mich, daß nach Ihrer Bemerkung dies am häufigsten bei gesetzten, düsteren, offenherzigen, verständigen, energischen Leuten der Fall ist, und Gott weiß, was Sie ihnen in einer Anwandlung von Großmut noch alles für schöne Attribute gaben!), ich wiederhole, daß bei manchen Leuten die Liebe (Gott weiß, wie Sie auf diese Idee gekommen sind!) sich nicht anders als düster, heftig, schroff und oft mit Argwohn und Feindseligkeit verbunden dokumentieren könne. Ich erinnere mich nicht mehr recht, ob Sie sich gestern genau so ausgedrückt haben … Bitte, unterbrechen Sie mich nicht; ich kenne Ihre Pflegetochter recht gut; sie kann alles anhören, alles, wiederhole ich Ihnen zum hundertsten Male, alles. Sie haben sich hinters Licht führen lassen. Aber ich weiß nicht, warum es Ihnen beliebt, mit solcher Hartnäckigkeit zu behaupten, daß gerade ich ein solcher Mensch sei! Gott weiß, warum es Ihnen Vergnügen macht, mich mit dieser Narrenjacke zu kostümieren! Liebe zu diesem Mädchen würde nicht zu meinen Jahren stimmen; und dann, bitte, glauben Sie mir: ich kenne meine Pflichten, und wie großmütig Sie mich auch entschuldigen mögen, so verbleibe ich doch bei meiner früheren Anschauung, daß ein Verbrechen immer ein Verbrechen bleibt und die Sünde immer schändliche, garstige, gemeine Sünde, mögen Sie das lasterhafte Gefühl auch auf ein noch so hohes Piedestal stellen! Aber genug, genug! Ich will von diesen abscheulichen Dingen nie mehr etwas hören!«

Alexandra Michailowna weinte.

»Sei es; soweit es mich betrifft, will ich es ertragen!« sagte sie endlich, indem sie mich schluchzend umarmte. »Mag mein Verdacht schändlich gewesen sein; mögen Sie über ihn mit bitteren Worten spotten! Aber du, mein armes Kind, warum bist du dazu verurteilt, solche Kränkungen anzuhören? Und ich kann dich nicht beschützen! Ich muß stumm sein! O Gott! Aber ich kann nicht schweigen, Peter Alexandrowitsch! Ich kann das nicht ertragen … Ihr Benehmen gegen sie ist sinnlos! …«

»Hören Sie auf, hören Sie auf!« flüsterte ich und gab mir Mühe, ihre Aufregung zu beschwichtigen, in der Befürchtung, er könnte bei ihren heftigen Vorwürfen die Geduld verlieren. Ich zitterte immer noch aus Furcht um sie.

»Aber Sie blindes Weib!« rief er. »Sie wissen nicht, Sie sehen nicht …«

Er hielt einen Augenblick inne.

»Fort von ihr!« sagte er, zu mir gewendet, und riß meine Hand aus Alexandra Michailownas Händen. »Ich gestatte Ihnen nicht, meine Frau zu berühren; Sie beflecken sie; Sie beleidigen sie durch Ihre Gegenwart! Aber … aber was zwingt mich denn zu schweigen, wenn es nötig, unumgänglich nötig ist, daß ich rede?« rief er, mit dem Fuße stampfend. »Und ich will reden, will alles sagen. Ich weiß nicht, was Sie da ›wissen‹, mein Fräulein, und womit Sie mir drohen wollten, und ich will es auch gar nicht wissen. So hören Sie denn,« fuhr er zu Alexandra Michailowna gewendet, fort, »so hören Sie denn …«

»Schweigen Sie!« rief ich, auf ihn zustürzend. »Schweigen Sie! Kein Wort weiter!«

»So hören Sie denn …«

»Schweigen Sie im Namen …«

»In wessen Namen, mein Fräulein?« unterbrach er mich, indem er mir mit einem schnellen, durchdringenden Blicke in die Augen sah. »In wessen Namen? So wissen Sie denn: ich habe ihr einen Brief von einem Liebhaber aus der Hand gerissen! So etwas begibt sich in unserm Hause! So etwas begibt sich in Ihrer nächsten Nähe! Und davon haben Sie nichts gesehen und nichts bemerkt!«

Ich wäre beinahe umgesunken. Alexandra Michailowna wurde blaß wie der Tod.

»Das ist nicht möglich!« flüsterte sie mit kaum vernehmbarer Stimme.

»Ich habe diesen Brief gesehen; ich habe ihn in der Hand gehalten und die ersten Zeilen gelesen; ich habe mich nicht geirrt: der Brief war von einem Liebhaber. Sie riß ihn mir aus der Hand. Sie hat ihn jetzt bei sich; es ist alles klar; es verhält sich so; es kann daran kein Zweifel sein; und wenn Sie wirklich noch zweifeln, so sehen Sie sie an; dann werden Sie von allen Zweifeln kuriert sein!«

»Netotschka!« rief Alexandra Michailowna, indem sie auf mich zustürzte. »Aber nein, rede nicht, rede nicht! Ich weiß ja nicht, was es gewesen ist, wie es zusammenhängt … O mein Gott, o mein Gott!«

Sie schluchzte auf und verbarg das Gesicht in den Händen.

»Aber nein, es ist nicht möglich!« rief sie wieder. »Sie haben sich geirrt. Ich … ich weiß, was das bedeutet!« sagte sie, ihren Mann unverwandt anblickend. »Ich kann es nicht glauben; du betrügst mich nicht; du kannst mich nicht betrügen! Erzähle mir alles, alles ohne Umschweife; er hat sich geirrt; nicht wahr, er hat sich geirrt? Er hat einen andern Brief gesehen, er ist verblendet gewesen? Nicht wahr? Nicht wahr? Höre doch: warum willst du mir denn nicht alles sagen, Anneta, mein Kind, mein liebes Kind?«

»Antworten Sie, antworten Sie schnell!« hörte ich Peter Alexandrowitsch neben mir sagen. »Antworten Sie: habe ich einen Brief in Ihren Händen gesehen, ja oder nein?«

»Ja,« antwortete ich atemlos vor Erregung.

»War das ein Brief von Ihrem Liebhaber?«

»Ja,« antwortete ich.

»Stehen Sie mit ihm auch jetzt noch in Beziehung?«

»Ja, ja, ja!« sagte ich; ich wußte von mir selbst nicht und antwortete auf alle Fragen bejahend, nur um unserer Qual ein Ende zu machen.

»Nun haben Sie es von ihr selbst gehört. Was sagen Sie jetzt? Glauben Sie mir, Sie gutes, allzu vertrauensseliges Herz,« fügte er hinzu, indem er die Hand seiner Frau ergriff, »glauben Sie mir, und geben Sie allen Ausgeburten Ihrer kranken Phantasie den Laufpaß! Sie sehen jetzt, von welchem Schlage dieses Mädchen ist. Ich wollte Ihnen nur Ihren Verdacht als unmöglich erweisen. Ich habe das alles schon längst bemerkt und freue mich, daß ich sie endlich vor Ihren Augen habe entlarven können. Es war mir peinlich, sie an Ihrer Seite, in Ihren Armen, an einem Tische mit uns und in meinem Hause zu sehen. Ich war empört über Ihre Verblendung. Das ist der Grund, nur das ist der Grund, weshalb ich ihr meine Aufmerksamkeit zuwandte und ihr nachspürte; diese Aufmerksamkeit fiel Ihnen auf, und indem Sie Gott weiß was für einen Verdacht zum Ausgangspunkt nahmen, knüpften Sie daran Gott weiß was für weitere Vermutungen. Aber jetzt hat sich die Situation geklärt, jeder Zweifel ist erledigt, und gleich morgen, mein Fräulein, werden Sie mein Haus verlassen!« schloß er, sich zu mir wendend.

»Halten Sie ein!« sagte Alexandra Michailowna und erhob sich von ihrem Stuhle. »Ich glaube diese ganze Geschichte nicht. Werfen Sie mir nicht so furchtbare Blicke zu, und lachen Sie nicht über mich! Ich rufe Sie selbst zum Richter über meine Meinung auf. Anneta, mein Kind, komm zu mir; gib mir deine Hand; so! Wir sind allesamt Sünder!« sagte sie mit zitternder, von Tränen erstickter Stimme und blickte ihren Mann demütig an. »Und wer von uns darf die Hand eines andern von sich stoßen? Gib mir deine Hand, Anneta, mein liebes Kind; ich bin nicht würdiger, nicht besser als du; du kannst mich nicht durch deine Gegenwart beleidigen; denn ich bin ebenfalls, ebenfalls eine Sünderin

»Beherrschen Sie sich!« rief Peter Alexandrowitsch bestürzt. »Vergessen Sie sich nicht!«

»Ich vergesse mich nicht. Unterbrechen Sie mich nicht, und lassen Sie mich zu Ende sprechen! Sie haben in ihren Händen einen Brief gesehen und ihn sogar gelesen; Sie sagen, und sie … sie hat eingestanden, daß es ein Brief von jemand ist, den sie liebt. Aber beweist denn dies, daß sie etwas Schlimmes getan hat? Berechtigt Sie das, so mit ihr umzugehen, sie so vor den Augen Ihrer Frau zu beleidigen? Jawohl, vor den Augen Ihrer Frau! Haben Sie denn die Sache geprüft? Wissen Sie denn, wie alles zusammenhängt?«

»Da bleibt mir ja wohl nichts weiter übrig, als sie schleunigst um Verzeihung zu bitten! Haben Sie darauf hinausgewollt?« rief Peter Alexandrowitsch »Wenn ich Sie so reden höre, reißt mir die Geduld! Bedenken Sie, wovon Sie reden! Wissen Sie auch, wovon Sie reden? Wissen Sie, was und wen Sie verteidigen? Ich wenigstens durchschaue die Sache vollständig …«

»Und gerade die Hauptsache sehen Sie nicht, weil Zorn und Stolz Sie am Sehen hindern. Sie sehen nicht, was ich verteidige, und wovon ich reden will. Ich verteidige nicht das Laster. Aber haben Sie denn geprüft (und wenn Sie die Sache wirklich prüfen, so werden Sie darin klar sehen), haben Sie denn geprüft, ob sie nicht vielleicht unschuldig wie ein Kind ist? Ja, ich verteidige das Laster nicht! Ich beeile mich, einen bestimmten Fall auszunehmen, wenn Ihnen das erwünscht ist: ja, wenn sie eine Gattin, eine Mutter wäre und ihre Pflichten vergessen hätte, o, dann würde ich mit Ihnen der gleichen Ansicht sein. Sehen Sie, diesen Fall nehme ich aus. Merken Sie das wohl, und machen Sie mir keine Vorwürfe! Aber wenn sie diesen Brief empfangen hat, ohne sich etwas Böses dabei zu denken? Wenn sie sich in ihrer Unerfahrenheit durch ihr Gefühl hat hinreißen lassen und niemand da war, der sie zurückhielt? Wenn ich die Hauptschuld trage, weil ich ihr Herz nicht behütet habe? Wenn dieser Brief der erste war? Wenn Sie durch Ihre groben Verdächtigungen ihr mädchenhaftes Zartgefühl verletzt, durch Ihre zynische Ausdeutung dieses Briefes ihr Gemüt besudelt haben? Wenn Sie diese keusche, mädchenhafte Scham, die unschuldsrein auf ihrem Gesichte glänzt, nicht gesehen haben, diese Scham, die ich jetzt sehe und auch vorhin sah, als sie fassungslos und gepeinigt nicht wußte, was sie redete, und vor Leid vergehend auf alle Ihre unmenschlichen Fragen mit einem Eingeständnis antwortete? Ja, ja! Das war unmenschlich, das war grausam; ich erkenne Sie gar nicht wieder; ich werde Ihnen das niemals verzeihen, niemals!«

»Ja, erbarmen Sie sich meiner, erbarmen Sie sich meiner!« rief ich und umschlang sie mit meinen Armen. »Erbarmen Sie sich meiner; glauben Sie mir; stoßen Sie mich nicht von sich! …«

Ich fiel vor ihr auf die Knie.

»Wenn Sie sie endlich«, fuhr sie mit fast versagender Stimme fort, »ohne meinen Beistand mit Ihren Worten eingeschüchtert hätten und die Arme sich nun selbst für schuldig hielte, wenn Sie ihr Gewissen in Verwirrung gebracht und die Ruhe ihres Herzens zerstört hätten … O Gott, o Gott! Sie wollten sie aus dem Hause jagen! Aber wissen Sie auch wohl, wem Sie das tun würden? So hören Sie denn: wenn Sie sie wegjagen, so jagen Sie uns beide weg, uns beide, sie und mich. Haben Sie gehört?«

Ihre Augen blitzten; ihre Brust hob sich heftig; die krankhafte Anspannung ihres ganzen Organismus hatte den höchsten möglichen Grad erreicht.

»Nun habe ich genug gehört!« rief endlich Peter Alexandrowitsch. »Genug davon! Ich weiß, daß es platonische Leidenschaften gibt, und ich weiß das zu meinem eigenen Unglücke, hören Sie wohl? Zu meinem eigenen Unglücke. Aber mit dem vergoldeten Laster kann ich nicht zusammenleben! Für dieses habe ich kein Verständnis. Hinaus mit einem solchen Püppchen! Und wenn Sie sich schuldig fühlen, wenn Sie sich eines Vergehens bewußt sind (es ist nicht meine Sache, Sie daran zu erinnern), wenn Sie ferner für gut finden, mein Haus zu verlassen, so bleibt mir nichts weiter übrig als Ihnen zu sagen und Sie daran zu erinnern, daß Sie unrecht daran getan haben, Ihre Absicht nicht zur rechten Zeit, d. h. vor soundso vielen Jahren, zur Ausführung zu bringen. Wenn Sie vergessen haben, wann es war, so will ich Ihrem Gedächtnisse zu Hilfe kommen …«

Ich blickte Alexandra Michailowna an. Sie stützte sich krampfhaft auf mich, ganz kraftlos vor seelischer Qual, mit halbgeschlossenen Augen, in unsäglicher Pein. Noch ein Augenblick, und sie drohte umzusinken.

»Um Gottes willen, schonen Sie sie wenigstens diesmal! Sprechen Sie nicht das letzte Wort aus!« rief ich, indem ich mich vor Peter Alexandrowitsch auf die Knie warf und vergaß, daß ich mich verriet; aber es war zu spät. Ein schwacher Schrei tönte als Antwort auf meine Worte, und die Arme fiel besinnungslos zu Boden.

»Es ist zu Ende! Sie haben sie getötet!« sagte ich.

»Rufen Sie Leute; retten Sie sie! Ich werde Sie in Ihrem Arbeitszimmer erwarten. Ich muß mit Ihnen reden: ich will Ihnen alles erklären …«

»Was denn? Was?«

»Nachher!«

Die Ohnmacht und die Anfälle dauerten zwei Stunden. Das ganze Haus war in Angst. Der Arzt schüttelte bedenklich den Kopf. Nach zwei Stunden ging ich in Peter Alexandrowitschs Arbeitszimmer. Er war soeben von seiner Frau zurückgekehrt und ging im Zimmer auf und ab; er sah bleich und verstört aus und biß sich die Nägel blutig. Ich hatte ihn noch nie in solchem Zustande gesehen.

»Was wünschten Sie mir zu sagen?« fragte er in mürrischem, grobem Tone. »Sie wollten mir etwas sagen?«

»Da ist der Brief, den Sie mir wegnahmen. Erkennen Sie ihn wieder?«

»Ja.«

»Nehmen Sie ihn!«

Er nahm den Brief und ging damit ans Licht. Ich beobachtete ihn aufmerksam. Nach ein paar Augenblicken drehte er ihn schnell herum und las die Unterschrift auf der vierten Seite. Ich sah, wie ihm das Blut in den Kopf stieg.

»Was ist das?« fragte er mich, starr vor Staunen.

»Vor drei Jahren fand ich diesen Brief in einem Buche. Ich erriet, daß er vergessen war, las ihn durch und verstand nun alles. Seitdem habe ich ihn behalten, weil ich nicht wußte, wem ich ihn geben sollte. Ihr konnte ich ihn nicht geben. Und Ihnen? Aber Sie mußten ja den Inhalt dieses Briefes, d. h. diese ganze traurige Episode, ohnehin kennen … Was Ihre Verstellung für einen Zweck hatte, das weiß ich nicht. Das ist mir vorläufig unverständlich. Ich habe noch keinen klaren Einblick in Ihre dunkle Seele. Sie wollten über sie die Oberhand erhalten, und das ist Ihnen ja auch gelungen. Aber zu welchem Zweck? Um über ein Schattenbild zu triumphieren, über den zerrütteten Geist einer Kranken, um ihr zu beweisen, daß sie sich vergangen habe, und daß Sie sündloser seien als sie? Und Sie haben Ihren Zweck erreicht, denn dieser auf ihr ruhende Verdacht wurde zur fixen Idee des erlöschenden Geistes und veranlaßte dieses gebrochene Herz zu seiner vielleicht letzten Klage, der Klage über den ungerechten Urteilsspruch der Menschen, in den Sie eingestimmt haben. Sie meinte, was wäre es denn für ein Unglück, wenn Sie sich in mich verliebt hätten; das war es, was sie sagte, was sie Ihnen zeigen wollte. Aber Ihre Eitelkeit und Ihr eifersüchtiger Egoismus kannten kein Erbarmen. Leben Sie wohl! Weitere Erörterungen sind nicht nötig! Aber wohlgemerkt: ich kenne Sie vollständig, ich durchschaue Sie durch und durch; vergessen Sie das nicht!«

Ich ging in mein Zimmer, fast ohne zu wissen, was mit mir vorging. An der Tür hielt mich Owrow, Peter Alexandrowitschs Gehilfe, an.

»Ich möchte gern ein paar Worte mit Ihnen reden,« sagte er mit einer höflichen Verbeugung.

Ich sah ihn an, verstand aber kaum, was er zu mir sagte.

»Ein andermal! Entschuldigen Sie mich; ich bin nicht wohl,« antwortete ich endlich und ging an ihm vorbei.

»Also dann morgen,« sagte er und empfahl sich mit einer Verbeugung, wobei er in einer doppelsinnigen Weise lächelte.

Aber vielleicht kam mir das auch nur so vor. Alles das huschte nur undeutlich vor meinen Augen vorüber.

 

Ende.


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