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Ein kleiner Held

*

(Aus unbekannten Memoiren)


Ich war damals noch nicht ganz elf Jahre alt. Im Juli wurde ich nach einem in der Nähe von Moskau gelegenen Gute zum Besuche bei einem Verwandten Von mir, Herrn T***w, geschickt, bei dem zu jener Zeit etwa fünfzig Gäste versammelt waren; vielleicht waren es auch noch mehr, ich erinnere mich nicht, gezählt habe ich sie nicht. Es ging lärmend und lustig her. Es machte den Eindruck, als würde ein Fest gefeiert, das dort begonnen hätte, um niemals zu enden. Unser Wirt hatte sich, wie es schien, vorgenommen, sein ganzes riesiges Vermögen so schnell wie möglich alle zu machen, und es ist ihm auch vor kurzem gelungen, diese Vermutung zu bestätigen, das heißt alles, aber auch absolut alles, bis auf die letzte Kopeke durchzubringen. Alle Augenblicke kamen neue Gäste angefahren; Moskau war ja nur einen Katzensprung weit entfernt; so machten denn die Wegfahrenden nur anderen Gästen Platz, und das Fest nahm seinen Fortgang. Eine Belustigung löste die andere ab, und von den Amüsements war kein Ende abzusehen. Bald wurden in ganzen Trupps Spazierritte in der Umgegend unternommen, bald Spaziergänge im Tannenwalde oder Kahnfahrten auf dem Flusse; es wurden Picknicks und Diners auf freiem Felde und Soupers auf der großen Terrasse am Hause veranstaltet. Diese Terrasse war ringsum mit drei Reihen kostbarer Blumen besetzt, die die frische Nachtluft mit ihren Düften erfüllten; dazu kam eine strahlende Beleuchtung, die unsere Damen, welche auch ohnedies fast sämtlich hübsch waren, noch reizender erscheinen ließ mit ihren von den Erlebnissen des Tages freudig erregten Gesichtern, mit ihren blitzenden Augen, mit dem Kreuzfeuer ihrer mutwilligen, von glockenhellem Lachen fortwährend unterbrochenen Reden. Da wurde getanzt, musiziert und gesungen; und wenn der Himmel ein finsteres Gesicht machte, wurden lebende Bilder gestellt und Scharaden und Sprichwörter aufgeführt; auch Theater wurde im Hause gespielt. Es fanden sich geistvolle Köpfe, die hübsche Reden, Erzählungen und Bonmots zum besten gaben.

Einige Personen standen, sich von den andern scharf abhebend, im Vordergrunde. Natürlich war auch üble Nachrede und Klatscherei im Gange, da ohne solche die Welt nun einmal nicht bestehen kann und Millionen von Menschen vor Langerweile wie die Fliegen sterben würden. Aber da ich erst elf Jahre alt war, so bemerkte ich damals, von ganz anderen Dingen in Anspruch genommen, diese Personen gar nicht, und selbst wenn ich etwas bemerkte, so bemerkte ich doch nicht alles. Erst später erinnerte ich mich an einiges. Bei meinem kindlichen Alter konnte mir nur die glänzende Seite des Bildes in die Augen fallen, und dieser allgemeine Rausch, Glanz und Lärm, dieses ganze Treiben, wie ich es bis dahin nie gesehen oder gehört hatte, machte auf mich einen so starken Eindruck, daß ich in den ersten Tagen vollständig die Fassung verlor und mein kleiner Kopf ganz wirblig wurde.

Aber ich rede immer von meinen elf Jahren, und allerdings, ich war noch ein Kind, nicht mehr als ein Kind. Viele dieser schönen Frauen liebkosten mich, ohne sich über mein Lebensalter Gedanken zu machen. Aber seltsam: ein mir selbst unverständliches Gefühl hatte sich meiner bereits bemächtigt, und es regte sich in meinem Herzen schon eine mir bisher unbekannte Empfindung, von der mein Herz manchmal zu brennen und, wie erschrocken, heftig zu schlagen begann und mein Gesicht sich oft mit einer plötzlichen Röte überzog. Mitunter schämte ich mich gewissermaßen und fühlte mich ordentlich gekränkt dadurch, daß man mir als einem Kinde allerlei Privilegien einräumte. Ein andermal ergriff mich eine Art von Staunen, und ich ging irgendwohin, wo mich niemand sehen konnte, gleichsam um Atem zu holen und mich auf etwas zu besinnen, was ich, wie mir schien, bis dahin sehr gut im Gedächtnisse gehabt und jetzt auf einmal vergessen hatte, woran ich mich aber notwendig erinnern mußte, weil ich mich sonst nirgends zeigen und überhaupt nicht existieren konnte.

Und endlich schien es mir auch manchmal, als ob ich etwas vor aller Augen verbärge und um keinen Preis zu jemandem etwas davon sagen würde, weil ich kleiner Knabe mich darüber bis zu Tränen hätte schämen müssen. Bald kam es dahin, daß ich mitten in dem Wirbel, der mich umgab, mich gewissermaßen vereinsamt fühlte. Es waren zwar auch andere Kinder da; aber diese waren sämtlich entweder sehr viel jünger oder sehr viel älter als ich; übrigens fühlte ich mich auch nicht zu ihnen hingezogen. Allerdings hätte sich mit mir auch nichts zugetragen, wenn ich mich nicht in einer isolierten Stellung befunden hätte. In den Augen aller dieser schönen Damen war ich immer noch ein kleines, unentwickeltes Wesen, das zu liebkosen ihnen manchmal Vergnügen machte, und mit dem sie wie mit einer kleinen Puppe spielen konnten. Besonders eine von ihnen, eine entzückende Blondine mit so üppigem, dichtem Haar, wie ich es nachher nie wieder gesehen habe und wahrscheinlich nie wieder zu sehen bekommen werde, hatte sich, wie es schien, vorgenommen, mir keine Ruhe zu gönnen. Das um uns herum erschallende Gelächter, welches sie alle Augenblicke durch die ausgelassenen, mutwilligen Streiche hervorrief, die sie mit mir angab, setzte mich in Verwirrung und erheiterte sie; dieses Treiben bereitete ihr offenbar ein riesiges Vergnügen. In einem Pensionate hätte sie unter ihren Freundinnen gewiß den Beinamen »die Range« bekommen. Sie war wunderbar schön, und es lag in ihrer Schönheit etwas, was einem gleich beim ersten Blick in die Augen sprang. Allerdings hatte sie keine Ähnlichkeit mit jenen kleinen, schüchternen Blondinen, die so weiß sind wie Flaumfedern und so sanft wie weiße Mäuschen oder Pastorentöchter. Sie war von kleiner Statur und ein wenig voll, aber mit zarten, feinen, wundervoll gezeichneten Gesichtszügen. In diesem Gesichte leuchtete es manchmal blitzartig auf, und in ihrem ganzen Wesen hatte sie mit dem Feuer Ähnlichkeit: so lebhaft, schnell und leicht war sie. Aus ihren großen, weit geöffneten Augen schienen Funken zu sprühen; diese Augen blitzten wie Diamanten, und niemals würde ich solche blauen funkensprühenden Augen hingeben, um irgendwelche schwarzen dafür einzutauschen, selbst wenn sie schwärzer wären als die schwärzesten Augen, die man bei den Andalusierinnen findet; ja, meine Blondine gab wahrlich jener berühmten Brünette nichts nach, die ein bekannter, vortrefflicher Dichter besungen hat, der in so herrlichen Versen vor ganz Kastilien geschworen hat, er sei bereit, sich den Hals zu brechen, wenn ihm erlaubt würde, auch nur mit einer Fingerspitze die Mantille seiner Schönen zu berühren. Man nehme noch hinzu, daß meine Schöne die lustigste von allen Schönen der Welt, von einer ausgelassenen Lachlust und mutwillig wie ein Kind war, und das alles, trotzdem sie schon seit fünf Jahren einen Mann hatte. Das Lachen wich nie von ihren Lippen, die frisch waren wie eine Rose am Morgen, welche soeben beim ersten Sonnenstrahle ihren purpurroten, duftenden Kelch erschlossen hat, an dem die kalten, dicken Tautropfen noch nicht weggetrocknet sind.

Ich erinnere mich, daß am Tage nach meiner Ankunft eine Theateraufführung im Hause stattfand. Der Saal war gedrängt voll; kein einziger freier Platz war vorhanden, und da ich mich aus irgendwelchem Grunde verspätet hatte, so sah ich mich genötigt, die Vorstellung stehend zu genießen. Aber das lustige Spiel zog mich immer mehr nach vorn, und ich arbeitete mich unvermerkt zu den vordersten Reihen hindurch, wo ich endlich stehen blieb, mich mit den Armen auf die Lehne eines Sessels stützend, auf dem eine Dame saß. Es war meine Blondine; aber wir kannten uns noch nicht. Und da versenkte ich mich von ungefähr in die Betrachtung ihrer wundervoll gerundeten, verführerischen Schultern, welche voll und weiß wie Milchschaum waren, obgleich es mir im Grunde ganz gleich war, was ich betrachtete: ein Paar wundervolle Frauenschultern oder die mit feuerroten Bändern verzierte Haube, die das graue Haar einer würdigen Matrone in der ersten Reihe bedeckte. Neben der Blondine saß eine alte Jungfer, eine von denen, die, wie ich später Gelegenheit gehabt habe zu beobachten, sich immer gern in möglichster Nähe junger, hübscher Frauen halten, wobei sie sich solche aussuchen, die die junge Männerwelt nicht von sich scheuchen. Indes handelt es sich jetzt nicht darum; aber kaum hatte diese alte Jungfer bemerkt, worauf meine Augen gerichtet waren, als sie sich zu ihrer Nachbarin hinbeugte und ihr kichernd etwas ins Ohr flüsterte. Die Nachbarin wendete sich auf einmal um, und ich erinnere mich noch ganz deutlich: ihre feurigen Augen blitzten mich im Halbdunkel dermaßen an, daß ich, auf diese Begegnung nicht vorbereitet, zusammenfuhr, als ob ich mich verbrannt hätte.

Die schöne Frau lächelte.

»Gefällt Ihnen das Stück, das gespielt wird?« fragte sie, indem sie mir schelmisch und spöttisch in die Augen sah.

»Ja,« antwortete ich und blickte sie dabei immer noch mit einer Bewunderung an, die ihr offenbar gefiel.

»Aber warum stehen Sie denn? Sie werden müde werden; haben Sie denn keinen Sitzplatz?«

»Das ist es ja eben, daß keiner da ist,« erwiderte ich, in diesem Augenblicke mehr mit meiner Sorge als mit den funkensprühenden Blicken der schönen Frau beschäftigt und aufrichtig darüber erfreut, daß ich endlich ein gutes Herz gefunden hatte, dem ich meinen Kummer mitteilen konnte. »Ich habe schon gesucht; aber alle Stühle sind besetzt,« fügte ich hinzu, als wenn ich ihr mein Leid klagen wollte, daß alle Stühle besetzt seien.

»Komm hierher,« sagte sie schnell; denn sie war rasch in der Ausführung jeder tollen Idee, die in ihrem mutwilligen Kopfe aufblitzte. »Komm hierher, zu mir, und setze dich auf meinen Schoß.«

»Auf Ihren Schoß?« erwiderte ich ganz betroffen.

Ich habe schon gesagt, daß ich mich über meine Privilegien ernstlich zu ärgern und zu schämen anfing. Diese Blondine aber trieb es damit zum Spaß und Spott doch gar zu arg. Zudem begann ich, der ich ohnehin schon immer ein schüchterner, verschämter Knabe gewesen war, mich zu jener Zeit ganz besonders vor Frauen zu genieren, und daher wurde ich furchtbar verlegen.

»Nun ja, auf meinen Schoß! Warum willst du nicht auf meinem Schoße sitzen?« antwortete sie, auf ihrer Einladung beharrend, und kicherte immer stärker und stärker, so daß schließlich ein lautes Gelächter daraus wurde; weiß der Himmel, worüber sie eigentlich lachte, vielleicht über ihren eigenen Einfall oder vor Freude darüber, daß ich so verlegen geworden war. Aber eben das hatte sie gewollt.

Ich errötete und sah mich in meiner Verwirrung rings um, wohin ich mich wohl davonmachen könnte; aber sie kam mir zuvor, indem sie flink meine Hand ergriff, eben zu dem Zwecke, damit ich nicht davonginge, sie zu sich hinzog und sie, für mich ganz unerwartet, zu meinem größten Erstaunen schmerzhaft in ihren mutwilligen, heißen Fingerchen drückte; sie quetschte mir die Finger so heftig zusammen, daß ich alle Anstrengungen machen mußte, um nicht aufzuschreien, und dabei die komischsten Grimassen schnitt. Außerdem war ich im höchsten Grade verwundert, erstaunt, ja erschrocken zu sehen, daß es solche komischen, boshaften Damen gibt, die mit Knaben solche Torheiten reden und sie dabei, Gott weiß weshalb, so schmerzhaft kneifen, noch dazu in aller Leute Gegenwart. Wahrscheinlich spiegelte sich auf meinem unglücklichen Gesichte mein ganzes verständnisloses Erstaunen wieder; denn die Schelmin lachte mich unverhohlen an wie eine Verrückte und kniff und quetschte unterdessen meine armen Finger immer stärker und stärker. Sie war außer sich vor Entzücken, daß es ihr gelungen war, einen solchen Streich auszuführen und einen armen Jungen verlegen zu machen und in so arge Not zu bringen. Meine Lage war eine verzweifelte. Erstens brannte ich vor Scham, weil fast alle um uns herum sich zu uns hinwandten, die einen verwundert, die andern, welche sogleich merkten, daß die Schöne irgendwelchen Unfug trieb, lachend. Außerdem hatte ich die größte Lust, aufzuschreien, weil sie meine Finger gerade in der Absicht, mich zum Schreien zu bringen, auf das grausamste mißhandelte; aber ich nahm mir wie ein Spartaner vor, den Schmerz auszuhalten; denn ich fürchtete durch einen Schrei einen Aufruhr hervorzurufen, und was wäre dann aus mir geworden! In einem Anfalle völliger Verzweiflung begann ich endlich einen Kampf und bemühte mich aus aller Kraft, meine Hand an mich zu ziehen; aber meine Tyrannin war weit stärker als ich. Zuletzt konnte ich es nicht mehr ertragen und schrie auf; darauf hatte sie nur gewartet! Augenblicklich ließ sie mich los und wandte sich von mir ab, als ob nichts geschehen wäre, oder als ob nicht sie, sondern irgendein anderer einen tollen Streich begangen hätte, akkurat wie ein Schulknabe, der, sobald der Lehrer sich umgedreht hat, flink einem seiner Nachbarn einen Possen spielt, etwa einen kleinen, schwächlichen Jungen kneift, ihm ein paar Nasenstüber oder Fußtritte versetzt, ihm den Ellbogen auf den Tisch stößt, und sich sofort wieder wegwendet, sich ordentlich hinsetzt, die Nase ins Buch steckt, seine Aufgabe zu lernen anfängt und auf diese Weise den erzürnten Herrn Lehrer, der auf den Lärm hin wie ein Habicht herbeigestürzt kommt, in Ratlosigkeit versetzt, so daß er mit langer Nase wieder abziehen muß.

Aber zu meinem Glücke war die allgemeine Aufmerksamkeit in diesem Augenblicke durch das meisterhafte Spiel unseres Wirtes gefesselt, der in dem ausgeführten Stücke, einem Scribeschen Lustspiel Augustin Eugène Scribe (1791-1861), französischer Schriftsteller. Seine Theaterstücke, meistenteils Vaudevilles, entstanden in einer beinahe fabrikmäßigen Arbeitsteilung. Scribe lieferte die Ideen und verteilte eine strukturierte Inhaltsangabe an seine zahlreichen Mitarbeiter, von denen jeder eine bestimmte Szene zu schreiben hatte, die Dialoge, die Couplets, die Witze usw. Eine Fülle von Libretti für berühmte Komponisten (u.a. Rossini, Donizetti, Meyerbeer,Verdi) stammt aus dieser Werkstatt. – Anm.d.Hrsg., die Hauptrolle übernommen hatte. Alle klatschten Beifall; während des Lärms glitt ich aus den Stuhlreihen hinaus und lief ganz an das Ende des Saales, in die entgegengesetzte Ecke, von wo ich, hinter einer Säule verborgen, angstvoll dahin zurückblickte, wo die hinterlistige Schöne saß. Sie lachte immer noch, indem sie ihre Lippen mit dem Taschentuche bedeckte. Und noch lange drehte sie sich um und suchte in allen Ecken nach mir mit den Augen; wahrscheinlich tat es ihr sehr leid, daß unser unsinniger Kampf so schnell ein Ende gefunden hatte, und sie überlegte nun, wie sie noch etwas Tolles angeben könne.

Damit hatte unsere Bekanntschaft begonnen, und seit diesem Abend wich sie nicht mehr von meiner Seite. Sie verfolgte mich in einer ganz maßlosen, gewissenlosen Weise und wurde mein Plagegeist, meine Tyrannin. Die ganze Komik ihres Verhaltens zu mir bestand darin, daß sie tat, als sei sie bis über die Ohren in mich verliebt, und mich vor allen Leuten blamierte. Natürlich war mir, einem blöden, scheuen Jungen, das alles so peinlich und ärgerlich, daß ich fast weinte; ja, manchmal war meine Lage so ernst und kritisch, daß ich nahe daran war, mich mit meiner heimtückischen Verehrerin zu prügeln. Meine naive Verlegenheit, mein verzweifelter Kummer munterten sie, wie es schien, dazu auf, ihre Verfolgungen immer weiter fortzusetzen. Sie kannte kein Erbarmen, und ich wußte nicht, wo ich vor ihr bleiben sollte. Das um uns herum ertönende Gelächter, welches sie so geschickt hervorzurufen verstand, spornte sie nur noch zu neuen Streichen an. Aber ihre Scherze gingen schließlich denn doch etwas gar zu weit. Wie ich mich jetzt erinnere, erlaubte sie sich mit einem solchen Kinde, wie ich es war, wirklich gar zu viel.

Aber das lag nun einmal in ihrem Charakter; sie war eben ein verwöhntes Wesen, wie es im Buche steht. Ich habe später gehört, daß ihr eigener Mann derjenige war, der sie am meisten verwöhnte, ein sehr dicker Herr von sehr kleiner Statur, mit sehr rotem Gesichte, sehr reich und sehr geschäftstüchtig; wenigstens machte er diesen Eindruck: bei seiner Beweglichkeit und Geschäftigkeit konnte er nicht zwei Stunden lang an einem Orte bleiben. Täglich fuhr er von uns nach Moskau, mitunter zweimal, und immer, wie er selbst versicherte, in geschäftlichen Angelegenheiten. Etwas Lustigeres und Gutmütigeres als diese komische und dabei doch immer wohlanständige Physiognomie wäre schwer zu finden gewesen. Er liebte seine Frau nicht nur dermaßen, daß es schon eine Schwäche zu nennen war, sondern betete sie geradezu wie einen Abgott an.

Er legte ihr in keiner Hinsicht irgendwelche Beschränkungen auf. Sie hatte eine Menge Freunde und Freundinnen. Erstens gab es wenige Leute, die sie nicht liebten, und zweitens war sie bei ihrem Leichtsinn selbst nicht besonders bedenklich in der Auswahl ihrer Freunde, obgleich ihr Charakter im Grunde ein viel ernsterer war, als man es nach dem von mir jetzt Erzählten vielleicht annimmt. Aber von allen ihren Freundinnen war ihr die liebste und werteste eine junge Frau, die mit ihr entfernt verwandt war und jetzt ebenfalls zu unserer Gesellschaft gehörte. Es bestand zwischen ihnen ein zartes, feines Verhältnis, eines jener Verhältnisse, wie sie sich manchmal bei der Begegnung zweier Charaktere herausbilden, die oft einander völlig entgegengesetzt sind, von denen aber der eine ernster, tiefer und reiner ist als der andere, während dieser im Gefühl der ganzen moralischen Überlegenheit des ersteren sich ihm mit größter Demut und edler Selbsterkenntnis willig unterordnet und die Freundschaft mit ihm im Herzen als ein Glück empfindet. Dann aber beginnen jene zarten, edlen, feinen Wechselbeziehungen solcher Charaktere: Liebe und Nachsicht auf der einen Seite, Liebe und Hochschätzung auf der andern, eine Hochschätzung, die bis zu einer Art von Furcht und Angst geht, man könne in den Augen dessen, den man so hoch schätzt, gar zu viel verlieren, und die den eifersüchtigen, heißen Wunsch hervorruft, mit jedem Schritte im Leben dem Herzen des andern immer näher und näher zu kommen. Die beiden Freundinnen standen im gleichen Lebensalter; aber zwischen ihnen bestand ein unermeßlicher Unterschied in allen Dingen, von der Art der Schönheit angefangen. Frau M*** war ebenfalls sehr schön; aber in ihrer Schönheit lag etwas Besonderes, wodurch sie sich scharf aus der Menge von hübschen Frauen abhob; in ihrem Gesichte war etwas, was ihr sogleich alle Herzen gewann, oder, richtiger gesagt, etwas, was bei jedem, der mit ihr zusammenkam, eine schöne, edle Sympathie erweckte. Es gibt solche glücklichen Gesichter. In ihrer Nähe wurde einem jeden wohler, freier, wärmer ums Herz, und doch blickten ihre großen, traurigen Augen, die voll Feuer und Kraft waren, zaghaft und unruhig wie in steter Furcht vor etwas Feindlichem, Drohendem; und diese seltsame Zaghaftigkeit überzog ihre stillen, sanften, an die klaren Gesichter italienischer Madonnen erinnernden Züge manchmal mit solcher Wehmut, daß dem, der sie ansah, bald ebenso trüb zumute wurde wie bei einem eigenen, persönlichen Kummer. Dieses blasse, magere Gesicht, auf welchem durch die tadellose Schönheit der reinen, regelmäßigen Linien und den wehmütigen Ernst des stummen, verborgenen Grames hindurch noch so oft der ursprüngliche kindlich-klare Ausdruck hervorschimmerte, der Abglanz eines noch nicht weit zurückliegenden vertrauensvollen Lebensalters und vielleicht eines naiven Glückes, und dieses stille, schüchterne, unsichere Lächeln: alles dies erweckte eine so innige Teilnahme für diese Frau, daß in dem Herzen eines jeden unwillkürlich ein süßes, heißes Mitgefühl rege wurde, welches schon von ferne laut zu ihren Gunsten sprach und selbst einen Fremden gleichsam zu ihrem Verwandten machte. Aber diese Schöne machte den Eindruck der Schweigsamkeit und Verschlossenheit, obgleich es doch kein sorglicheres, liebevolleres Wesen als sie geben konnte, wenn jemand der Teilnahme bedurfte. Es gibt Frauen, die im Leben gewissermaßen den Beruf barmherziger Schwestern ausüben. Man braucht ihnen nichts zu verbergen, wenigstens nichts, was es in der Seele Krankes und Wundes gibt. Wer da leidet, der möge dreist und hoffnungsvoll zu ihnen gehen, ohne Furcht, ihnen lästig zu fallen; denn nur wenige von uns wissen, wieviel unendlich geduldige Liebe, tiefes Mitleid und alles verzeihende Güte in manchem Frauenherzen wohnt. Ganze Schätze von Mitgefühl, Trost und Hoffnung ruhen in diesen reinen Herzen, die so oft ebenfalls verwundet werden (denn ein Herz, das viel liebt, leidet viel), wo aber die Wunde vor neugierigen Blicken sorgfältig versteckt gehalten wird, da tiefes Leid meist schweigt und sich verbirgt. Diese Frauen schreckt weder die Tiefe einer Wunde zurück, noch ihr garstiger Eiter, noch ihr widriger Geruch: wer sich vertrauensvoll an sie wendet, der ist dadurch schon ihrer würdig; sie aber sind gewissermaßen dazu geboren, große, edle Taten zu verrichten … Frau M*** war von hohem Wuchse, geschmeidig und schlank, aber etwas mager. Alle ihre Bewegungen hatten etwas Ungleichmäßiges: bald waren sie langsam, weich und gewissermaßen würdevoll, bald in kindlicher Art rasch und hastig; zugleich aber sprach aus ihren Gebärden eine Art von schüchterner Demut, eine ängstliche Wehrlosigkeit, die aber von niemandem Schutz erbat und erflehte.

Ich habe bereits gesagt, daß die wenig löblichen Attacken der hinterlistigen Blondine mir peinlich waren, mich verletzten, mich bis aufs Blut kränkten. Aber es steckte noch ein geheimer, sonderbarer, dummer Grund dahinter. Diesen Grund verbarg ich; ich zitterte davor, daß er bekannt werden könnte; ja, bei dem bloßen Gedanken an ihn, wenn ich ganz allein mit niedergebeugtem Kopfe irgendwo in einem versteckten, dunklen Winkel saß, wohin kein forschender, spöttischer Blick einer blauäugigen Schelmin drang, bei dem bloßen Gedanken daran stockte mir fast der Atem vor Verwirrung, Scham und Furcht, – kurz, ich war verliebt; das heißt, ich gebe zu, daß ich da einen Unsinn gesagt habe: das war ja ein Ding der Unmöglichkeit; aber warum fesselte von allen Personen, die mich umgaben, nur diese eine meine Aufmerksamkeit? Warum war sie die einzige, die ich gern mit meinem Blicke verfolgte, obgleich mir damals entschieden nichts daran gelegen war, Damen anzuschauen und mit ihnen bekannt zu werden? Am häufigsten geschah das abends, wenn schlechtes Wetter alle in die Zimmer bannte, und wenn ich, einsam in einem Winkel des Saales versteckt, ziellos um mich sah; denn ich fand absolut keine andere Beschäftigung, da mit Ausnahme meiner Verfolgerinnen selten jemand mit mir sprach; so langweilte ich mich denn an solchen Abenden in einer unerträglichen Weise. Zu solchen Zeiten betrachtete ich die Personen, die mich umgaben, und hörte die von ihnen geführten Gespräche mit an, von denen ich oft kein Wort verstand, und siehe da, da waren es die stillen Blicke, das sanfte Lächeln und das schöne Gesicht der Frau M*** (denn sie war es), die, Gott weiß warum, meine Aufmerksamkeit erregten und mich bezauberten, und dieses mein seltsames, undefinierbares aber unbegreiflich süßes Gefühl haftete dann unauslöschbar in meinem Herzen. Oft konnte ich mich ganze Stunden lang nicht von ihr losreißen; ich studierte jede ihrer Gebärden, jede ihrer Bewegungen, horchte auf jeden Klang ihrer vollen, silberhellen, aber etwas gedämpften Stimme, und seltsam: aus allen meinen Beobachtungen resultierte bei mir neben jener zaghaften, süßen Empfindung eine Art von unbegreiflicher Neugier. Ich befand mich in einer ähnlichen Stimmung, wie wenn ich einem Geheimnisse nachspürte.

Am unangenehmsten waren mir jene Spöttereien, wenn Frau M*** zugegen war. Diese Spöttereien und komischen Angriffe hatten nach meiner Auffassung für mich sogar etwas Entwürdigendes. Und wenn dann manchmal ein allgemeines Gelächter auf meine Kosten erscholl, an welchem sogar Frau M*** sich mitunter unwillkürlich beteiligte, dann riß ich mich ganz verzweifelt und außer mir vor Gram, von meinen Tyranninnen los und lief nach oben auf mein Zimmer, wo ich den übrigen Teil des Tages einsam verbrachte, da ich es nicht wagte, mich nochmals im Saale blicken zu lassen. Übrigens verstand ich den Grund meiner Scham und meiner Aufregung selbst noch nicht; dieser ganze Prozeß vollzog sich in meinem Innern unbewußt. Mit Frau M*** hatte ich bisher kaum ein paar Worte gesprochen und hätte es natürlich meinerseits auch nicht gewagt. Aber eines Abends, nach einem für mich unerträglichen Tage, war ich auf einem Spaziergange hinter den andern zurückgeblieben; ich war furchtbar müde geworden und wanderte langsam durch den Garten nach dem Hause hin. Da erblickte ich in einer einsamen Allee auf einer Bank Frau M***. Sie saß dort ganz allein, wie wenn sie sich diesen einsamen Ort absichtlich ausgesucht hätte, hielt den Kopf auf die Brust herabgeneigt und drehte mechanisch ihr Taschentuch in den Händen hin und her. Sie war so in ihre Gedanken versunken, daß sie mein Herankommen gar nicht hörte.

Als sie mich bemerkte, stand sie schnell von der Bank auf, wandte sich ab, und ich sah, daß sie sich schnell die Augen mit dem Taschentuche trocknete. Sie hatte geweint. Nachdem sie sich die Augen getrocknet hatte, lächelte sie mir zu und schlug mit mir zusammen die Richtung nach dem Hause ein. Ich erinnere mich nicht mehr, worüber wir miteinander sprachen; aber sie schickte mich alle Augenblicke unter verschiedenen Vorwänden von sich weg: bald bat sie mich, ihr eine Blume zu pflücken, bald zuzusehen, wer da in der benachbarten Allee reite. Und wenn ich von ihr fortging, führte sie sofort wieder das Tuch an die Augen und wischte sich die ungehorsamen Tränen weg, die sich gar nicht stillen lassen wollten, sondern immer von neuem aus ihrem Herzen aufstiegen und aus ihren armen Augen flossen. Ich begriff, daß ich ihr offenbar sehr zur Last war, da sie mich so häufig wegschickte; und sie selbst sah bereits, daß ich alles bemerkt hatte, aber sie konnte sich nicht beherrschen, und dadurch wurde mein Mitleid mit ihr noch mehr gesteigert. Ich ärgerte mich in diesem Augenblicke über mich selbst beinahe bis zur Verzweiflung, verfluchte mich wegen meines hölzernen Wesens und meiner geistigen Unbeholfenheit und wußte doch nicht, wie ich sie in geschickter Weise verlassen könnte, ohne zum Ausdruck zu bringen, daß ich ihren Kummer bemerkt hatte; ich ging in traurigem Staunen, ja tief erschrocken neben ihr her; ich war ganz fassungslos und fand schlechterdings auch nicht ein einziges Wort, um unser versiegendes Gespräch im Gang zu halten.

Diese Begegnung hatte auf mich einen so tiefen Eindruck gemacht, daß ich den ganzen Abend über mit gespannter Neugier Frau M*** heimlich beobachtete und kein Auge von ihr verwandte. Aber es traf sich, daß sie mich zweimal unvermutet bei meinen Beobachtungen ertappte; als sie es das zweitemal bemerkte, lächelte sie. Das war ihr einziges Lächeln an dem ganzen Abend. Die Traurigkeit war noch nicht von ihrem Gesichte gewichen, das jetzt sehr blaß aussah. Die ganze Zeit über führte sie ein leises Gespräch mit einer boshaften und zänkischen alten Dame, die niemand wegen ihres Umherspionierens und ihrer Klatschsucht leiden konnte; aber alle hatten vor ihr Furcht und sahen sich deswegen genötigt, sich mit ihr auf guten Fuß zu stellen, mochten sie es nun wollen oder nicht.

Um zehn Uhr traf Frau M***s Mann ein. Bis dahin hatte ich sie sehr aufmerksam beobachtet, ohne die Augen von ihrem traurigen Gesichte wegzuwenden; jetzt aber, bei dem unerwarteten Eintritte ihres Mannes sah ich, wie sie am ganzen Leibe zu zittern anfing und ihr ohnehin schon blasses Gesicht auf einmal weiß wie Leinwand wurde. Das war so auffällig, daß auch andere es bemerkten: ich hörte abseits das Bruchstück eines Gespräches mit an, aus dem ich mit einiger Mühe entnahm, daß die arme Frau M*** es nicht besonders gut habe. Es wurde gesagt, ihr Mann sei eifersüchtig wie ein Mohr, nicht aus Liebe, sondern aus Selbstsucht. Vor allen Dingen war er ein Verehrer westeuropäischen Wesens, ein moderner Mensch, mit einer Musterkarte von neuen Ideen, auf die er sehr eitel war. Was sein Äußeres anlangt, so war er ein schwarzhaariger, hochgewachsener, sehr kräftig gebauter Herr, mit einem Backenbarte nach westeuropäischer Fasson, mit selbstzufriedenem Gesichte, gesundem Teint, zuckerweißen Zähnen und dem tadellosen Benehmen eines Gentleman. Man nannte ihn einen »klugen Kopf«. So nennt man in manchen Kreisen eine besondere Gattung von Menschen, die auf fremde Kosten dick und fett geworden sind, absolut nichts tun, absolut nichts tun wollen, und bei denen infolge der lebenslänglichen Trägheit und Nichtstuerei sich das Herz in ein Stück Fett verwandelt hat. Man kann aus ihrem Munde alle Augenblicke die Bemerkung hören, ihre Untätigkeit sei die Folge irgendwelcher verwickelter feindlicher Umstände, die »ihr Genie lähmten«, und sie böten daher »einen traurigen Anblick«. Das ist nun einmal so eine hochmütige Phrase bei ihnen, ihr mot d'ordre, ihre Parole und Lösung, eine Phrase, mit der diese feisten Dickbäuche überall und fortwährend um sich werfen, und man ist dessen als offenbarer Heuchelei und leeren Geredes längst überdrüssig geworden. Manche dieser komischen Käuze, die gar keine Beschäftigung für sich finden können (übrigens haben sie niemals nach einer solchen gesucht), beabsichtigen geradezu alle zu dem Glauben zu bringen, daß sie statt des Herzens nicht etwa ein Stück Fett, sondern im Gegenteil, allgemein ausgedrückt, etwas »sehr Tiefes« haben, was aber eigentlich, darüber würde sich selbst der allererste Chirurg in Schweigen hüllen, allerdings aus Höflichkeit. Das ganze Streben dieser Herren in der Welt ist darauf gerichtet, alles in grober Weise zu verspotten und kurzsichtig zu verurteilen, und sie bekunden dabei einen maßlosen Hochmut. Da sie nichts weiter zu tun haben als fremde Fehler und Schwächen herauszufinden und laut zu verkünden, und da sie genau soviel Gutherzigkeit besitzen,wie davon der Auster zuteil geworden ist, so wird es ihnen nicht schwer, unter Anwendung der notwendigen Vorsichtsmaßregeln ohne Anstoß in der Welt zu leben. Darauf sind sie außerordentlich stolz. Sie sind zum Beispiel beinahe davon überzeugt, daß nahezu die ganze Welt ihnen abgabenpflichtig ist; daß alle Menschen außer ihnen Dummköpfe sind; daß jeder ihrer Mitmenschen dazu da ist, von ihnen wie eine Zitrone oder wie ein Schwamm nach Bedürfnis ausgepreßt zu werden; daß sie die Herren über alles sind, und daß diese ganze löbliche Ordnung der Dinge nur davon herrührt, daß sie selbst eine solche Klugheit und einen so festen Charakter besitzen. In ihrem maßlosen Stolze räumen sie nicht ein, daß auch sie Mängel hätten. Sie gleichen jener Sorte von Gaunern, den geborenen Tartüffs und Falstaffs, die dermaßen zu Gaunern geworden sind, daß sie schließlich sich selbst die Überzeugung zu eigen gemacht haben, es müsse eben so sein, das heißt, sie müßten leben und Gaunereien ausführen; sie haben allen so oft versichert, sie seien ehrliche Leute, daß sie zuletzt selbst zu dem Glauben gelangt sind, sie seien tatsächlich ehrliche Leute und ihre Gaunerei sei eine ehrliche Handlungsweise. Innerlich über sich selbst Gericht zu halten und eine unbefangene Selbstkritik zu üben, dahin bringen sie es niemals; für manche Dinge sind sie eben gar zu dick und fett. In erster Linie steht bei ihnen immer und in jeder Hinsicht ihre eigene kostbare Persönlichkeit, ihr Moloch und Baal, ihr vortreffliches Ich. Die ganze Natur, die ganze Welt ist für sie nichts anderes als ein einziger prächtiger Spiegel, der dazu geschaffen ist, daß unser Götze sich ununterbrochen in ihm bewundern könne, ohne außer sich sonst jemand oder sonst etwas zu sehen; unter solchen Umständen ist es nicht zu verwundern, daß ihm alles auf der Welt so häßlich vorkommt. Für alles hat er eine Phrase in Bereitschaft und (was bei ihnen der Gipfel der Geschicklichkeit ist) die allermodernste Phrase. Sie befördern sogar selbst diese Mode, indem sie einen Gedanken, von dem sie wittern, daß er Erfolg haben werde, ohne Beweis auf allen Gassen verbreiten. Sie besitzen einen besonderen Instinkt, um eine solche Modephrase aufzuspüren und sie sich früher als andere Leute anzueignen, so daß der Anschein erweckt wird, als stamme sie von ihnen her. Namentlich versorgen sie sich mit einem Vorrat von Phrasen, um ihre tiefste Sympathie mit der Menschheit zum Ausdruck zu bringen, und um klarzumachen, worin die korrekteste von der Vernunft gebilligte Philanthropie bestehe, und endlich, um unaufhörlich auf die Romantik zu schelten, das heißt oft auf alles Schöne und Wahre, wovon jedes Atom wertvoller ist als ihre ganze molluskenartige Sippschaft. Aber mit ihren stumpfen Organen erkennen sie die Wahrheit nicht in einer abweichenden, unfertigen Übergangsform und stoßen alles von sich, was noch nicht ausgereift ist, sich noch nicht geklärt hat und noch gärt. So ein wohlgenährter Mensch hat sein ganzes Leben in Freuden verbracht, alles in Hülle und Fülle gehabt, selbst nichts getan und weiß gar nicht, wie schwer die Verrichtung jeder Arbeit ist; und daher wehe dem, der irgendwie mit rauher Hand seine fetten Gefühle verletzt: das verzeiht er niemals; das trägt er dem Betreffenden immer nach und rächt sich dafür mit Genuß. Um alles zusammenzufassen: ein solcher Held ist nicht mehr und nicht weniger als ein riesiger, zum Platzen aufgeblasener Sack voll Sentenzen, Modephrasen und Schlagwörtern aller Art.

Indessen hatte Herr M*** auch seine Besonderheit und war ein beachtenswerter Mensch: er war witzig, verstand ein Gespräch geschickt zu führen und erzählte interessant, und in den Salons sammelte sich immer um ihn ein Kreis von Zuhörern. An jenem Abend gelang es ihm besonders, Sensation zu erregen. Er beherrschte die Konversation; er war gut disponiert, heiter, über irgend etwas vergnügt und zog die Blicke aller auf sich. Aber Frau M*** war die ganze Zeit über wie eine Kranke; ihr Gesicht war so traurig, daß ich alle Augenblicke glaubte, es würden gleich wieder wie kurz vorher die Tränen an ihren langen Wimpern zittern. Alles dies machte auf mich, wie schon gesagt, einen starken Eindruck und versetzte mich in das größte Erstaunen. Ich ging mit dem Gefühle einer seltsamen Neugier fort und träumte die ganze Nacht von Herrn M***, während ich doch bisher nur jenen häßliche Träume gehabt hatte.

Am andern Tage wurde ich früh morgens zu einer Probe lebender Bilder gerufen, bei denen auch ich eine Rolle hatte. Lebende Bilder, eine Theateraufführung und ein Ball, diese Vergnügungen sollten, alle an einem einzigen Abend, in kurzer Zeit, schon in fünf Tagen, aus Anlaß eines häuslichen Festes stattfinden, nämlich des Geburtstages der jüngsten Tochter unseres Wirtes. Zu diesem beinahe improvisierten Feste waren aus Moskau und den umliegenden Landhäusern noch etwa hundert Gäste eingeladen, so daß es viel Geschäftigkeit, Unruhe und Wirrwarr gab. Die Probe oder, richtiger gesagt, die Besichtigung der Kostüme war auf eine ungewöhnlich frühe Stunde angesetzt, weil unser Regisseur, der namhafte Künstler R***, ein Freund und Gast unseres Wirtes, der sich aus Freundschaft hatte bereit finden lassen, die Komposition und das Stellen der lebenden Bilder und zugleich die Unterweisung der Mitwirkenden zu übernehmen, es jetzt eilig hatte, nach der Stadt zu fahren, um die erforderlichen Requisiten einzukaufen und die definitiven Vorbereitungen zu dem Feste zu treffen, so daß keine Zeit zu verlieren war. Ich war bei einem Bilde mit Frau M*** zusammen beteiligt. Das Bild stellte eine Szene aus dem Leben des Mittelalters vor und hieß: »Die Burgherrin und ihr Page.«

Ich war unsäglich befangen, als ich mit Frau M*** bei der Probe zusammenkam. Es kam mir so vor, als werde sie sofort aus meinen Augen alle die Gedanken, Zweifel und Vermutungen lesen, die sich seit dem vorhergehenden Tage in meinem Kopfe gebildet hatten. Außerdem hatte ich immer die Empfindung, als hätte ich mir ihr gegenüber dadurch etwas zuschulden kommen lassen, daß ich sie tags zuvor in Tränen getroffen und sie in ihrem Kummer gestört hatte; ich meinte, sie müsse mich als einen unerwünschten Zeugen und ungebetenen Mitwisser ihres Geheimnisses unwillkürlich mit feindlichen Blicken betrachten. Aber Gott sei Dank, die Sache ging ohne größere Schwierigkeiten ab; sie beachtete mich einfach gar nicht.

Sie schien überhaupt mit ihren Gedanken weder bei mir noch bei der Probe zu sein: sie war zerstreut, traurig und in ein trübes Nachdenken versunken; es war augenscheinlich, daß eine große Sorge sie quälte. Als ich mit meiner Rolle fertig war, lief ich weg, um mich umzukleiden, und trat zehn Minuten darauf auf die Terrasse hinaus, die nach dem Garten zu lag. Fast gleichzeitig trat aus einer andern Tür auch Frau M*** hinaus, und uns gegenüber erschien gerade ihr selbstgefälliger Gatte, der aus dem Garten zurückkehrte, nachdem er soeben einen ganzen Schwarm von Damen dorthin begleitet und sie dort der Obhut eines gewandten cavalier servant übergeben hatte. Das Zusammentreffen von Mann und Frau war offenbar ein unerwartetes. Frau M*** wurde aus einem mir unbekannten Grunde auf einmal verlegen, und in ihren hastigen Bewegungen kam ein leichter Ärger zum Ausdruck. Der Gatte, der sorglos eine Arie gepfiffen und auf dem ganzen Wege mit tiefsinniger Miene seinem Backenbarte eine schönere Form verliehen hatte, machte jetzt, bei der Begegnung mit seiner Frau, ein finsteres Gesicht und sah sie, wie ich mich jetzt erinnere, mit einem entschieden inquisitorischen Blicke an.

»Sie gehen in den Garten?« fragte er, als er den Sonnenschirm und das Buch m den Händen seiner Frau bemerkte.

»Nein, in das Wäldchen,« antwortete sie und errötete ein wenig.

»Allein?«

»Mit ihm …« erwiderte Frau M*** auf mich zeigend. »Ich pflege morgens allein spazieren zu gehen,« fügte sie mit unsicherer Stimme hinzu, so wie wenn jemand zum erstenmal in seinem Leben lügt.

»Hm … Ich meinerseits habe soeben eine ganze Gesellschaft dorthin begleitet. Es versammeln sich da alle bei der Blumenlaube, um Herrn N***oi das Geleit zu geben. Er reist ab, wie Sie wissen … Es ist dabei ihm ein Malheur passiert, in Odessa … Ihre Kusine« (er sprach von der Blondine) »lacht und weint beinah, alles zugleich; man wird nicht aus ihr klug. Sie hat mir übrigens gesagt, Sie seien aus irgendwelchem Grunde über Herrn N***oi aufgebracht und wollten ihm darum nicht das Geleit geben. Es ist doch gewiß Unsinn?«

»Sie macht sich lustig,« antwortete Frau M*** und stieg die Stufen der Terrasse hinab.

»Also das ist Ihr cavalier servant?« fügte Herr M*** hinzu, indem er den Mund schief zog und seine Lorgnette auf mich richtete.

»Page!« rief ich, ärgerlich über die Lorgnette und den spöttischen Ton, und ihm gerade ins Gesicht lachend, sprang ich mit einem Satze die drei Stufen der Terrasse hinunter.

»Viel Vergnügen!« brummte Herr M*** und ging seines Weges weiter.

Natürlich war ich sofort zu Frau M*** hingetreten, als sie im Gespräch mit ihrem Manne auf mich zeigte, und hatte so getan, als ob sie mich schon eine ganze Stunde vorher aufgefordert hätte, und als ob ich schon einen ganzen Monat lang mit ihr morgens spazieren gegangen wäre. Aber ich konnte gar nicht daraus klug werden: warum war sie in solche Verwirrung geraten, so verlegen geworden, und in welcher Absicht hatte sie sich entschlossen, zu dieser kleinen Lüge zu greifen? Warum hatte sie nicht einfach gesagt, daß sie allein gehe? Jetzt wußte ich nicht, wie ich sie ansehen sollte; aber in meiner Verwunderung fing ich doch allmählich höchst naiv an, ihr ins Gesicht zu sehen; indes bemerkte sie ebenso wie eine Stunde vorher bei der Probe weder meine heimlich forschenden Blicke noch meine stummen Fragen. Auf ihrem Gesichte, in ihrer Erregung, in ihrem Gange prägte sich immer noch ebendieselbe quälende Sorge aus, nur noch deutlicher, noch stärker als damals. Sie hatte es eilig, irgendwohin zu kommen, beschleunigte ihren Schritt immer mehr und blickte, sich am Rande des Gartens haltend, in jede Allee, in jede Schneise des Wäldchens hinein. Auch ich erwartete etwas. Auf einmal erscholl hinter uns Pferdegetrappel. Es war eine ganze Kavalkade von Reitern und Reiterinnen, die jenem Herrn N***oi das Geleite gaben, der unsere Gesellschaft so plötzlich verließ.

Unter den Damen befand sich auch meine Blondine, von der Herr M*** gesprochen hatte, indem er von ihren Tränen erzählte. Aber nach ihrer Gewohnheit lachte sie wie ein Kind und sprengte rasch auf einem schönen Braunen einher. Als sie uns eingeholt hatten, nahm Herr N***oi den Hut ab, hielt aber nicht an und sagte zu Frau M*** kein Wort. Bald war der ganze Schwarm unseren Blicken entschwunden. Ich sah Frau M*** an und hätte beinah laut aufgeschrien vor Erstaunen: sie stand da, blaß wie Leinwand, und große Tränen drangen aus ihren Augen. Zufällig begegneten sich unsere Blicke: Frau M*** errötete plötzlich, wandte sich einen Augenblick ab, und ein deutlicher Ausdruck von Beunruhigung und Verdruß huschte über ihr Gesicht. Ich war hier überflüssig, in noch höherem Grade als tags zuvor; das war sonnenklar, aber wo sollte ich hin?

Auf einmal schlug Frau M*** wie wenn sie meinen Wunsch erraten hätte, das Buch auf, das sie in der Hand trug; und indem sie errötete und sich offenbar Mühe gab, mich nicht anzusehen, sagte sie, wie wenn sie dessen eben erst inne würde:

»Ach! Das ist der zweite Band; ich habe mich vergriffen; bitte, hole mir doch den ersten!«

Wie hätte ich das nicht verstehen sollen! Meine Rolle war zu Ende, und es war nicht möglich, mich auf einfachere Weise fortzujagen.

Ich lief mit ihrem Buche fort und kehrte nicht wieder zurück. Der erste Band blieb an diesem Morgen ruhig auf dem Tische liegen.

Aber ich war ganz verstört; das Herz klopfte mir heftig wie in beständiger Angst. Ich vermied es aus aller Macht, mit Frau M*** irgendwie zusammenzutreffen. Dafür betrachtete ich mit scheuer Neugier die selbstgefällige Person des Herrn M***, als ob an ihm jetzt unbedingt etwas Besonderes zu sehen sein müsse. Ich begreife absolut nicht, welchen Grund diese komische Neugier hatte; ich erinnere mich nur, daß ich in einem sonderbaren Erstaunen über all das befangen war, was ich an diesem Morgen zu sehen bekam. Aber dieser Tag hatte eben erst begonnen und war für mich überreich an Erlebnissen.

Das Mittagessen fand diesmal sehr früh statt. Für den Abend war eine gemeinsame Vergnügungspartie nach einem benachbarten Dorfe geplant, zu einem ländlichen Feste, das dort gerade begangen wurde, und daher mußte nach dem Mittagessen noch Zeit bleiben, um alles dazu vorzubereiten. Ich hatte mir schon seit drei Tagen von dieser Partie etwas vorphantasiert, von der ich mir außerordentlich viel Vergnügen versprach. Zum Kaffeetrinken versammelten sich fast alle auf der Terrasse. Ich schlich vorsichtig hinter den andern her und verbarg mich hinter der dreifachen Reihe von Lehnstühlen. Es zog mich die Neugier hin, und doch wollte ich um keinen Preis Frau M*** unter die Augen kommen. Aber der Zufall wollte, daß ich nicht weit von meiner Verfolgerin, der Blondine, zu sitzen kam. Diesmal war mit ihr ein Wunder geschehen, etwas Unmögliches hatte sich ereignet: sie war noch einmal so schön geworden wie sonst. Ich weiß nicht, wie das geschieht, und woher es kommt; aber mit Frauen begeben sich solche Wunder gar nicht so selten. Es befand sich in jenem Augenblicke ein neuer Gast unter uns, ein hochgewachsener junger Mann mit blassem Gesichte, ein ausgesprochener Verehrer unserer Blondine; er war soeben erst aus Moskau zu uns gekommen, gleichsam expreß um den abreisenden Herrn N***oi zu ersetzen, über den das Gerücht ging, daß er in unsere Schöne sterblich verliebt sei. Was den Ankömmling anlangt, so stand er schon lange mit ihr in denselben Beziehungen wie Benedikt mit Beatrice in Shakespeares »Viel Lärm um nichts«. Kurz, unsere Schöne feierte an diesem Tage einen großartigen Triumph. Ihre Scherze und ihr Geplauder waren so anmutig, von einer solchen zutraulichen Naivität, von einer solchen verzeihlichen Unvorsichtigkeit, und sie war mit einer so anmutigen Zuversicht davon überzeugt, der Gegenstand des allgemeinen Entzückens zu sein, daß ihr tatsächlich die ganze Zeit über eine Art von besonderer Verehrung dargebracht wurde. Um sie herum drängte sich ununterbrochen ein dichter Kreis erstaunter, bewundernder Zuhörer, und noch nie war sie so reizend gewesen. Jedes Wort von ihr war verführerisch und interessant, wurde begierig aufgenommen und in die Runde weitergegeben, und kein einziger ihrer Scherze, keine einzige ihrer mutwilligen Äußerungen fiel ins Wasser. Niemand hatte, wie es schien, von ihr soviel Geschmack, Witz und Geist erwartet. Alle ihre guten Eigenschaften lagen für gewöhnlich in dem ausgelassensten Unsinn, in dem eigensinnigsten Übermute vergraben, der beinah bis zur Possenreißerei ging; selten bemerkte jemand diese guten Eigenschaften, und wenn er sie bemerkte, so glaubte er nicht an sie, so daß jetzt ihr ungewöhnlicher Erfolg mit einem allgemeinen begeisterten Flüstern aufgenommen wurde.

Übrigens wirkte zu diesem Erfolge noch ein Umstand mit, ein ziemlich heikler Umstand, heikel wenigstens im Hinblick auf die Rolle, die dabei Frau M***s Mann spielte. Die schelmische Blondine hatte beschlossen (und ich muß hinzufügen: fast zum allgemeinen Vergnügen, oder wenigstens zum Vergnügen des gesamten jungen Volkes), eine grimmige Attacke auf ihn auszuführen; sie hatte dazu eine ganze Menge Gründe, die in ihren Augen wahrscheinlich sehr gewichtig waren. Sie vollführte gegen ihn ein ordentliches Schnellfeuer von Witzen, Spöttereien und Sarkasmen, und zwar war das Charakteristische dieser Angriffe nicht nur ihre unwiderstehliche Heftigkeit, sondern auch ihre Gewandtheit, Hinterlist und schlangenartige Glätte; sie gehörten eben zur Gattung derjenigen Angriffe, die direkt ihr Ziel treffen, aber von keiner Seite dem Angegriffenen die Möglichkeit bieten, einzuhaken und sich zu verteidigen; das arme Opfer erschöpft nur seine Kräfte in nutzlosen Anstrengungen und wird zur Raserei und zur komischsten Verzweiflung gebracht.

Ich weiß es nicht mit Sicherheit, glaube es aber, daß dieser extravagante Streich vorher überlegt und nicht etwa improvisiert war. Schon beim Mittagessen hatte dieses hartnäckige Duell begonnen. Ich sage »hartnäckig«, weil Herr M*** nicht so bald die Waffen streckte. Er mußte seine ganze Geistesgegenwart, seinen ganzen Witz, seine ganze seltene Schlagfertigkeit zusammennehmen, um nicht völlig aufs Haupt geschlagen zu werden und sich nicht mit Schimpf und Schande zu bedecken. Die Sache ging unter ununterbrochenem, unhemmbarem Gelächter aller Zeugen und Teilnehmer des Kampfes vor sich. Jedenfalls befand sich Herr M*** an diesem Tage in einer ganz anderen Situation als am vorhergehenden. Man konnte merken, daß Frau M*** mehrere Male den Versuch machte, ihre unbesonnene Freundin zurückzuhalten, die ihrerseits dem eifersüchtigen Gatten durchaus eine Schellenkappe aufsetzen, ihn als Blaubart kostümieren wollte. So fasse ich es wenigstens auf nach dem, was mir davon im Gedächtnis geblieben ist, und nach der Rolle, die mir selbst in dieser Affäre zu spielen beschieden war.

Dies geschah plötzlich, auf die lächerlichste Weise und ganz unerwartet; es traf sich gerade, daß ich in diesem Augenblicke frei sichtbar dastand, ohne etwas Schlimmes zu argwöhnen; ich hatte sogar die Vorsichtsmaßregeln von vorhin ganz vergessen. Auf einmal wurde ich ganz in den Vordergrund gerückt durch die Behauptung, ich sei Herrn M***s geschworener Feind und natürlicher Nebenbuhler; ich sei in seine Frau ganz rasend verliebt, bis über die Ohren. Und das versicherte meine Tyrannin mit ihrem Worte und beschwor es und sagte, sie habe dafür Beweise und habe zum Beispiel erst heute im Walde gesehen, daß …

Aber ich ließ sie den Satz nicht zu Ende sprechen, sondern unterbrach sie in diesem für mich so entsetzlichen Augenblicke. Dieser Streich war mit so schändlicher Berechnung ausgesonnen, so verräterisch gerade für das Ende, für einen spaßhaften Abschluß vorbereitet und in einer so humoristischen, komischen Weise ins Werk gesetzt, daß eine ganze Salve allgemeinen, unhemmbaren Gelächters diesen letzten tollen Angriff begrüßte. Und obwohl ich gleich damals ahnte, daß nicht ich derjenige war, dem die ärgerlichste Rolle dabei zugefallen war, so war ich doch dermaßen verwirrt, gereizt und erschrocken, daß ich mit weinenden Augen, voll Schmerz und Verzweiflung und fast erstickend vor Scham durch zwei Reihen von Stühlen hindurchdrang, vortrat und, zu meiner Tyrannin gewendet, mit einer Stimme, die mir vor Tränen und Entrüstung fast versagte, ausrief:

»Schämen Sie sich denn nicht … laut… vor den Ohren aller Damen … eine so häßliche Unwahrheit zu sagen!? … Wie ein kleines Mädchen … vor den Ohren aller Männer … Was werden die davon denken? … Und Sie sind doch schon erwachsen … und verheiratet! …«

Aber ich konnte nicht zu Ende sprechen; denn es erscholl ein betäubendes Beifallklatschen. Mein mutiges Auftreten rief einen wahren Sturm der Begeisterung hervor. Meine naiven Gebärden, meine Tränen und namentlich der Umstand, daß ich gewissermaßen als Herrn M***s Beschützer auftrat, alles dies erzeugte ein so gewaltiges, herzliches Gelächter, daß mir sogar jetzt bei der bloßen Erinnerung furchtbar lächerlich zumute wird. Ich war außer mir, fast von Sinnen vor Erregung; und mit brennendem Kopfe, das Gesicht in den Händen verbergend, stürzte ich hinaus, stieß in der Tür einen hereinkommenden Diener so an, daß er sein Präsentierbrett fallen ließ, und lief nach oben, nach meinem Zimmer. Ich riß den Schlüssel, der von außen in der Tür steckte, heraus und schloß von innen zu. Daran hatte ich recht getan; denn ich wurde verfolgt. Es war noch keine Minute vergangen, als ein ganzer Schwarm unserer hübschesten Damen meine Tür belagerte. Ich hörte ihr helles Lachen, ihr munteres Reden, ihre wohlklingenden Stimmen; sie zwitscherten alle zusammen wie die Schwalben. Allesamt baten sie mich und flehten sie mich an, ich möchte doch wenigstens für eine Minute die Tür aufmachen; sie schwören, es werde mir nicht das geringste Üble widerfahren; sie wollten mich nur totküssen. Aber was konnte es noch Schrecklicheres geben als diese neue Drohung? Ich glühte vor Scham hinter meiner Tür, verbarg das Gesicht im Kopfkissen und schloß nicht auf; ja, ich antwortete nicht einmal. Sie klopften noch lange und baten mich; aber ich war gefühllos und taub, wie es ein Elfjähriger nur sein kann.

Aber was sollte ich jetzt tun? Alles war aufgedeckt, alles enthüllt, mein ganzes Geheimnis, das ich so eifersüchtig gehütet und verborgen hatte! Ich war für mein ganzes Leben mit Schimpf und Schande bedeckt! In Wahrheit war ich selbst nicht imstande, dasjenige zu benennen, worum ich so gebangt hatte und was ich so gern geheim gehalten hätte; aber doch hatte ich um etwas gebangt und vor der Enthüllung dieses »Etwas« wie Espenlaub gezittert. Nur eins hatte ich bis auf diesen Augenblick nicht gewußt: wie beschaffen dieses Etwas sei, ob schicklich oder unschicklich, rühmlich oder schimpflich, löblich oder tadelnswert. Jetzt aber, in meiner Qual und in meinem schrecklichen Leide, erkannte ich, daß es lächerlich und schimpflich war! Instinktiv fühlte ich gleichzeitig, daß dieses Verdikt unrichtig und unmenschlich und roh war; aber ich war zerschlagen und vernichtet; der Denkprozeß war in meinem Innern gewissermaßen in Verwirrung geraten und ins Stocken gekommen; ich war nicht imstande, mich gegen dieses Verdikt aufzulehnen oder auch nur eine ordentliche Kritik an ihm zu üben: mein Geist war wie in einen Nebel gehüllt; ich empfand nur, daß mein Herz in unmenschlicher, schamloser Weise verletzt worden war, und vergoß ohnmächtige Tränen. Ich befand mich in heftiger Erregung; in mir kochten Empörung und ein Haß, wie ich ihn bis dahin niemals gekannt hatte, weil ich jetzt zum erstenmal in meinem Leben ernstes Leid, tiefe Kränkung und Beleidigung erfahren hatte; und alles dies war tatsächlich so, ohne alle Übertreibungen. In mir, dem Kinde, war das erste, noch unerfahrene, erst keimende Gefühl mit rauher Hand berührt, das erste duftige, wirkliche Schamgefühl so früh entblößt und beschimpft und das erste, vielleicht sehr ernste ästhetische Empfinden verlacht worden. Allerdings kannten und ahnten diejenigen, die mich verspottet hatten, vieles von meinen Qualen nicht. Zur Hälfte wirkte dabei auch ein verborgener Umstand mit, den ich bisher noch nicht hatte klarlegen können; ja, ich fürchtete mich gewissermaßen, dies zu tun. In Kummer und Verzweiflung blieb ich auf meinem Bette liegen und verbarg mein Gesicht in den Kissen; Hitze und Frostschauer überliefen mich abwechselnd. Zwei Fragen waren es, die mich quälten: was hatte die nichtswürdige Blondine heute im Wäldchen zwischen mir und Frau M*** vorgehen sehen, und was konnte sie überhaupt gesehen haben? Und dann die zweite Frage: wie und mit welchen Augen und durch welches Mittel konnte ich jetzt Frau M*** ins Gesicht sehen, ohne in demselben Augenblicke auf dem Fleck vor Scham und Verzweiflung zu vergehen?

Ein ungewöhnlicher Lärm auf dem Hofe weckte mich schließlich aus der halben Bewußtlosigkeit, in der ich mich befand. Ich stand auf und trat an das Fenster. Der ganze Hof war gedrängt voll von Equipagen, Reitpferden und geschäftigen Dienern. Es schien, daß alle im Aufbruch begriffen waren; mehrere Reiter saßen schon auf ihren Pferden; andere Gäste nahmen in den Equipagen Platz. Da fiel mir der bevorstehende Ausflug ein, und allmählich füllte sich mein Herz mit einer starken Unruhe; ich hielt auf dem Hofe eifrig Ausschau nach meinem Pferdchen; aber dieses war nicht da; man hatte mich also vergessen. Ich konnte mich nicht länger beherrschen und lief Hals über Kopf nach unten, ohne an die Möglichkeit unangenehmer Begegnungen oder an die mir soeben angetane Schmach zu denken.

Eine schreckliche Kunde erwartete mich. Es war diesmal für mich weder ein Reitpferd noch ein Platz in einem Wagen vorhanden: alles war vergriffen und mit Beschlag belegt, und ich mußte hinter anderen zurückstehen.

Bekümmert über dieses neue Unglück blieb ich auf den Stufen vor der Haustür stehen und blickte traurig auf die lange Reihe von Kutschen, Kabrioletts und Kaleschwagen hin, in denen für mich nicht das kleinste Plätzchen vorhanden war, und auf die geputzten Reiterinnen, unter denen die ungeduldigen Pferde von einem Beine auf das andere traten.

Einer der Reiter verspätete sich aus irgendwelchem Grunde. Man wartete nur auf ihn, um aufzubrechen. An der Auffahrt stand sein Pferd, nagte am Gebiß, zerwühlte mit den Hufen die Erde, zuckte alle Augenblicke schreckhaft zusammen und bäumte sich. Zwei Stallknechte hielten es vorsichtig am Zügel, und alle hielten sich ängstlich in respektvoller Entfernung von ihm.

Es hatte in der Tat ein recht unangenehmer Vorfall stattgefunden, infolgedessen ich an der Partie nicht teilnehmen konnte. Abgesehen davon, daß neue Gäste eingetroffen waren und alle Wagenplätze,und Pferde beschlagnahmt hatten, waren auch noch zwei Reitpferde erkrankt, von denen eines mein Pferdchen war. Aber ich war nicht der einzige, der durch diesen Vorfall zu leiden hatte: es hatte sich herausgestellt, daß für unsern neuen Gast, jenen blassen jungen Mann, von dem ich schon gesprochen habe, ebenfalls kein Reitpferd da war. Um aus der unangenehmen Lage herauszukommen, hatte sich unser Wirt genötigt gesehen, zum letzten Mittel seine Zuflucht zu nehmen, nämlich seinen wilden, nicht zugerittenen Hengst zur Verfügung zu stellen; allerdings hatte er, um sein Gewissen nicht zu beschweren, hinzugefügt, es sei unmöglich, auf dem Tiere zu reiten, und er habe es schon längst wegen seiner Wildheit verkaufen wollen, wenn sich nur ein Käufer dafür gefunden hätte. Aber der Gast hatte dieser Warnung gegenüber erklärt, er sei ein tüchtiger Reiter und jedenfalls bereit, sich auf jedes beliebige Pferd zu setzen, um nur mitzureiten. Der Wirt hatte darauf geschwiegen; jetzt aber kam es mir so vor, als spiele ein zweideutiges, schlaues Lächeln um seine Lippen. In Erwartung des Reiters, der sich seiner Kunst gerühmt hatte, hatte er selbst sein Pferd noch nicht bestiegen, rieb sich ungeduldig die Hände und blickte alle Augenblicke nach der Tür hin. Etwas Ähnliches hatte sich sogar den beiden Stallknechten mitgeteilt, die den Hengst hielten und sich vor Stolz kaum zu lassen wußten, da das ganze Publikum sie bei einem Pferde sah, das jeden Augenblick ohne weiteres einen Menschen zu Tode bringen konnte. Etwas dem schlauen Lächeln ihres Herrn Ähnliches spiegelte sich auch in ihren Augen wider, die sie vor gespannter Erwartung weit aufgerissen hatten und ebenfalls auf die Tür gerichtet hielten, durch die der kühne Gast erscheinen mußte. Ja, auch das Pferd benahm sich so, als hätte es sich gleichfalls mit dem Wirte und den Knechten verabredet: es betrug sich stolz und hochmütig, als fühle es, daß ein paar Dutzend neugieriger Augen es beobachteten, und als brüste es sich vor allen Leuten mit seinem schlechten Rufe, gerade wie mancher unverbesserliche Galgenstrick mit seinen üblen Streichen prahlt. Der Hengst schien den Wagehals herauszufordern, der so dreist wäre, ein Attentat auf seine Freiheit zu unternehmen.

Endlich erschien dieser Wagehals. Sich schämend, daß er auf sich hatte warten lassen, und sich eilig die Handschuhe anziehend, schritt er, ohne nach etwas hinzublicken, vorwärts, stieg die Stufen vor der Haustür hinab und hob die Augen erst dann in die Höhe, als er die Hand ausstrecken wollte, um das ungeduldig wartende Pferd am Rist zu fassen, wurde aber plötzlich durch dessen wütendes Aufbäumen und einen warnenden Zuruf der ganzen erschrockenen Zuschauerschaft in Bestürzung versetzt. Der junge Mann trat zurück und blickte befremdet das wilde Pferd an, das am ganzen Leibe wie Espenlaub zitterte, vor Grimm schnaubte, mit den blutunterlaufenen Augen wild um sich sah und sich alle Augenblicke auf die Hinterbeine stellte und die Vorderbeine in die Höhe hob, wie wenn es sich anschickte, in die Luft hinaufzustürmen und die beiden haltenden Stallknechte mit sich fortzuführen. Eine kleine Weile stand der junge Mann ganz betroffen da; dann errötete er in leiser Verwirrung ein wenig, hob die Augen auf, schaute rings um sich und betrachtete die erschrockenen Damen.

»Ein sehr gutes Pferd!« sagte er, wie wenn er zu sich selbst spräche; »und meiner Ansicht nach muß es sehr angenehm sein, auf ihm zu reiten; aber … aber wissen Sie was? Ich für meine Person werde nicht mitreiten,« schloß er, zu unserm Wirte gewendet, mit seinem breiten, gutmütigen Lächeln, das seinem guten, klugen Gesichte so gut stand.

»Und ich halte Sie dennoch für einen vorzüglichen Reiter; das schwöre ich Ihnen,« antwortete der erfreute Besitzer des unnahbaren Pferdes und drückte seinem Gaste warm und sogar ordentlich dankbar die Hand; »dafür halte ich Sie gerade deswegen, weil Sie gleich von vornherein gemerkt haben, mit was für einer Bestie Sie da zu tun haben,« fügte er mit würdevollem Ernste hinzu. »Werden Sie es mir glauben: ich bin dreiundzwanzig Jahre Husar gewesen und habe schon dreimal durch die Gnade dieses Rackers das Vergnügen gehabt, auf der Erde zu liegen, das heißt, gerade so oft, wie ich ihn bestiegen habe, diesen unnützen Fresser … Tankred, mein Freund, wir taugen hier alle nicht für dich; der Reiter, der dich zu bändigen vermag, ist offenbar noch nicht geboren. Na, dann führt ihn wieder weg! Er hat hier die Menschen genug erschreckt! Es ist zwecklos gewesen, daß ihr ihn hergeführt habt,« schloß er und rieb sich dabei wohlgefällig die Hände.

Ich muß dabei bemerken, daß Tankred ihm nicht den geringsten Nutzen brachte, sondern nur, ohne etwas zu leisten, sein Futter fraß; außerdem hatte der alte Husar durch ihn sein ganzes früheres Renommee als Remonteoffizier eingebüßt, da er einen fabelhaften Preis für einen nutzlosen Fresser bezahlt hatte, der nur durch seine Schönheit imponierte. Aber doch war unser Wirt jetzt darüber entzückt, daß sein Tankred seiner Würde nichts vergeben, sondern wieder einmal einen Reiter abgeschreckt und sich dadurch neue Lorbeeren, wenn auch von sinnloser Art, erworben hatte.

»Wie? Sie reiten nicht mit?« rief die Blondine, die diesmal ihren cavalier servant unbedingt bei sich haben wollte. »Haben Sie wirklich Furcht?«

»Ja, die habe ich wahrhaftig!« antwortete der junge Mann.

Sagen Sie das im Ernst?«

»Hören Sie, wünschen Sie wirklich, daß ich mir den Hals breche?«

»Dann setzen Sie sich schnell auf mein Pferd: seien Sie unbesorgt, es ist sehr fromm. Wir werden keinen Aufenthalt verursachen; die Sättel lassen sich in einem Augenblicke vertauschen! Ich will versuchen, Ihr Pferd zu nehmen; Tankred wird doch gewiß nicht immer so unhöflich sein.«

Gesagt, getan! Der Tollkopf sprang aus dem Sattel und stand bei Beendigung des letzten Satzes schon vor uns.

»Da kennen Sie aber Tankred schlecht, wenn Sie glauben, er werde sich Ihren unbequemen Sattel auflegen lassen! Und ich werde auch nicht dulden, daß Sie sich den Hals brechen; das wäre doch wirklich schade!« sagte unser Wirt, indem er in diesem Augenblicke innerer Befriedigung seiner steten Gewohnheit gemäß die auch ohnedies schon affektierte und gekünstelte Derbheit, ja Grobheit seiner Ausdrucksweise geflissentlich noch mehr steigerte, was ihn seiner Meinung nach als einen guten Kerl und alten Militär erscheinen ließ und namentlich den Damen gefallen mußte. Es war dies eine fixe Idee von ihm, sein uns allen wohlbekanntes Steckenpferd.

»Nun, und du, du weinerliches Jüngelchen, willst du es nicht probieren? Du hattest ja so große Lust mitzureiten,« sagte die mutige Reiterin, als sie mich bemerkte, und deutete spöttisch mit einer Kopfbewegung auf Tankred hin. Sie sagte das eigentlich nur, um nicht ganz unverrichteter Sache fortgehen zu müssen, da sie schon vergeblich vom Pferde gestiegen war, und um mich nicht ohne ein spitzes Wort davonzulassen, da ich selbst die Unachtsamkeit begangen hatte, ihr wieder vor Augen zu kommen.

»Du bist gewiß nicht so einer wie … nun, was bedarf es da noch der Worte, du bist ja als Held bekannt und wirst dich schämen, dich feige zu zeigen, besonders wenn alle nach dir hinsehen, du schöner Page,« fügte sie mit einem schnellen Seitenblick nach Frau M*** hinzu, deren Equipage am nächsten an der Haustür stand.

Haß und Rachsucht hatten mein Herz geschwellt, als die schöne Amazone mit der Absicht, sich auf Tankred zu setzen, zu uns getreten war. Aber ich vermag nicht zu schildern, was ich bei dieser unerwarteten Herausforderung der mutwilligen Dame empfand. Es wurde mir ordentlich dunkel vor den Augen, als ich den Blick auffing, den sie auf Frau M*** richtete. In einem Augenblicke flammte in meinem Kopfe eine Idee auf … ja, es war nur ein Augenblick, noch weniger als ein Augenblick, wie ein Aufblitzen von Schießpulver. Entweder war das Maß übervoll geworden, und ich empörte mich nun plötzlich mit meinem ganzen wiedererwachten Mute, und zwar so, daß ich auf einmal Lust bekam, alle meine Feinde schamrot zu machen und mich an ihnen für alles und vor aller Augen zu rächen, indem ich jetzt zeigte, was ich für ein Mensch sei; oder aber es unterrichtete mich durch eine Art von Wunder jemand in diesem Augenblicke in der Geschichte des Mittelalters, von der ich bis dahin noch keine Ahnung gehabt hatte, und in meinem von Schwindel ergriffenen Kopfe blitzten allerlei romantische Vorstellungen auf: Turniere, Paladine, Helden, schöne Damen, Schwerterklirren, Beifallsrufen und -klatschen der Menge, und zwischen all diesem Lärm ein schüchterner Aufschrei eines angstvollen Herzens, der dem stolzen Geiste süßer und teurer ist als Sieg und Ruhm – ich weiß nicht mehr, ob all dieser Unsinn damals wirklich in meinem Kopfe vorhanden war oder, wohl richtiger, nur eine Ahnung dieses Unsinns, den ich später einmal unvermeidlich kennenlernen mußte: ich war mir nur bewußt, daß meine Stunde geschlagen hatte. Mein Herz hüpfte und zitterte, und ich erinnere mich selbst nicht mehr, wie ich mit einem Satze die Stufen hinabsprang und nun neben Tankred stand.

»Glauben Sie, daß ich mich fürchte?« rief ich dreist und stolz.

Vor fieberhafter Erregung wurde es mir dunkel vor den Augen, der Atem stockte mir, und ich errötete so, daß mir die Tränen auf den Backen brannten. »Da! Sehen Sie her!« Und Tankred am Rist fassend, trat ich mit dem einen Fuße in den Steigbügel, ehe noch jemand die geringste Bewegung machen konnte, um mich zurückzuhalten; aber in diesem Augenblicke richtete sich Tankred auf den Hinterbeinen auf, warf den Kopf in die Höhe, riß sich mit einem mächtigen Sprunge aus den Händen der erstarrt dastehenden Stallknechte los und flog wie ein Wirbelwind davon, gefolgt von einem allgemeinen Aufschrei des Schreckens.

Gott weiß, wie es mir gelang, im vollen Dahinjagen den andern Fuß in den Steigbügel hineinzubringen; auch ist es mir unbegreiflich, wie es zuging, daß ich die Zügel nicht verlor. Tankred sprengte mit mir aus dem Gittertore hinaus, machte dann eine scharfe Wendung nach rechts und preschte am Gitter entlang, aufs Geratewohl, ohne sich um den Weg zu kümmern. Erst in diesem Augenblicke hörte ich hinter mir das Geschrei von fünfzig Stimmen, und dieses Geschrei erweckte in meinem ersterbenden Herzen ein solches Gefühl der Befriedigung und des Stolzes, daß ich diesen tollen Moment meines Kinderlebens nie vergessen werde. Alles Blut strömte mir nach dem Kopfe, betäubte mich und überschwemmte und erstickte meine Furcht. Ich wußte nicht von mir selbst. Tatsächlich war, wie ich mich jetzt erinnere, in alledem gewissermaßen geradezu etwas Ritterhaftes.

Indessen begann und endete mein Rittertum in weniger als einem Augenblicke; sonst wäre es auch dem Ritter übel ergangen. Auch so weiß ich nicht, wie ich gerettet wurde. Zu reiten verstand ich; das hatte ich gelernt. Aber mein Pferdchen hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Schafe als mit einem richtigen Reitpferde. Selbstverständlich wäre ich von Tankred abgeflogen, wenn er nur Zeit gehabt hätte, mich abzuwerfen; aber nachdem er etwa fünfzig Schritte galoppiert war, scheute er plötzlich vor einem großen Steine, der ihm im Wege lag, und stürzte blindlings zurück. Er wendete so kurz auf dem Flecke um, daß es mir noch jetzt ein Rätsel ist, wie es zuging, daß ich nicht wie ein Ball zwölf Schritte weit aus dem Sattel flog und zerschmettert liegen blieb, und daß Tankred sich bei einer so kurzen Schwenkung nicht die Beine verrenkte. Er stürmte zum Tore zurück, indem er zornig mit dem Kopfe herumschlug, von einer Seite zur andern sprang, sinnlos vor Wut die Beine, wie es sich traf, in die Luft schleuderte und bei jedem Sprunge mich von seinem Rücken abzuschütteln versuchte, wie wenn ein Tiger auf ihn hinaufgesprungen wäre und die Zähne und die Krallen in sein Fleisch hineingeschlagen hätte. Noch ein Augenblick, und ich wäre heruntergeflogen; ich war bereits im Fallen begriffen, aber schon kamen einige Reiter zu meiner Rettung herbeigejagt. Zwei von ihnen versperrten dem Hengste den Weg ins freie Feld; zwei andere galoppierten auf beiden Seiten dicht neben ihm her und zwängten ihn mit den Flanken ihrer eigenen Pferde so zusammen, daß sie mir fast die Beine zerquetschten; beide hielten ihn schon an den Zügeln fest. In wenigen Sekunden waren wir wieder an der Haustür.

Bleich und kaum atmend wurde ich vom Pferde gehoben. Ich zitterte am ganzen Leibe wie ein Grashalm im Winde; Tankred stand, sich mit dem ganzen Körper nach hinten stemmend, da, ohne sich zu rühren, als ob er mit den Hufen in der Erde festgewachsen wäre, stieß heftig den glühenden Atem aus den roten, dampfenden Nüstern, zitterte ebenfalls in kleinen Scheuern am ganzen Leibe wie ein Blatt und war gleichsam starr vor Empörung und Wut darüber, daß die Dreistigkeit des Kindes ungestraft geblieben war. Um mich herum erschollen Ausrufe der Bestürzung, des Erstaunens und des Schreckens.

In diesem Augenblicke begegnete mein umherirrender Blick dem Blicke der erregten, ganz blaß gewordenen Frau M***, und ich kann das nie vergessen: plötzlich wurde mein Gesicht von dunkler Röte übergossen und begann wie Feuer zu brennen; ich weiß nicht mehr, was mit mir geschah; aber verwirrt und erschreckt durch mein eigenes Gefühl schlug ich schüchtern die Augen zu Boden. Jedoch mein Blick war bemerkt, abgefaßt, aufgefangen worden. Aller Augen wandten sich zu Frau M*** hin, und überrascht von der allgemeinen Aufmerksamkeit, die sich plötzlich auf sie richtete, errötete sie in einer unwillkürlichen, naiven Empfindung selbst wie ein Kind und bemühte sich mit großer Anstrengung, aber mit sehr geringem Erfolge, ihr Erröten durch Lachen zu verdecken.

Alles dies war natürlich vom Standpunkte eines Unbeteiligten aus sehr lächerlich; aber in diesem Augenblicke rettete mich vor dem allgemeinen Gelächter eine sehr naive, unerwartete Handlung, die dem ganzen Ereignisse ein besonderes Kolorit verlieh. Die Urheberin des ganzen aufregenden Vorfalls, sie, die bisher meine unversöhnliche Feindin gewesen war, meine schöne Tyrannin, stürzte auf einmal auf mich zu, um mich zu umarmen und zu küssen. Sie hatte ihren Augen nicht getraut, als sie sah, daß ich es wagte, ihre Herausforderung anzunehmen und den Handschuh aufzuheben, den sie mir mit einem Seitenblick auf Frau M*** zuwarf. Sie war vor Angst um mich und vor Gewissensbissen beinah gestorben, als ich auf Tankred dahinflog; jetzt aber, wo alles zu Ende war, und besonders wo sie mit den andern zusammen meinen Frau M*** zugeworfenen Blick aufgefangen und meine Verwirrung und mein plötzliches Erröten gesehen hatte, und wo sie es fertig gebracht hatte, meiner Handlungsweise vermöge der romantischen Veranlagung ihres leichtsinnigen Köpfchens eine neue, geheime, unausgesprochene Bedeutung beizulegen, jetzt, nach alledem, geriet sie über meine »Ritterlichkeit« in ein solches Entzücken, daß sie auf mich zu stürzte und voller Rührung, voller Stolz auf mich und voller Freude mich an ihre Brust drückte. Einen Augenblick darauf hob sie ihr Gesichtchen, das einen sehr naiven, sehr ernsten Ausdruck trug, und auf dem zwei kleine, kristallhelle Tränchen zitterten und glänzten, zu allen, die um uns beide herumstanden, in die Höhe und sagte in einem würdig-ernsten Tone, wie man ihn von ihr noch nie gehört hatte, indem sie auf mich zeigte: » Mais c'est très sérieux, messieurs, ne riez pas!« ohne zu bemerken, daß alle wie bezaubert vor ihr standen und sich an dem Anblicke ihres reinen, aufrichtigen Entzückens weideten. Diese ganze unerwartete, schnelle Handlung von ihrer Seite, dieses ernste Gesichtchen, diese gutherzige Naivität, diese ernsthaften Tränen, die man ihr bisher nicht zugetraut hatte, und die jetzt ihre sonst immer lachenden Augen füllten, dies alles war an ihr ein so unerwartetes Wunder, daß alle, die vor ihr standen, von ihrem Blicke und von ihren schnellen, lebhaften Worten und Gebärden wie elektrisiert waren. Es schien, daß niemand die Augen von ihr abwenden mochte, weil er sich den seltenen Anblick der Begeisterung auf ihrem Gesichte nicht entgehen lassen wollte. Selbst unser Wirt wurde rot wie eine Tulpe, und manche versicherten, nachher aus seinem Munde das Geständnis gehört zu haben, er sei »zu seiner Schande« beinah eine ganze Minute lang in seinen schönen Gast verliebt gewesen. Nun, es versteht sich von selbst, daß ich nach allem, was vorgegangen war, als ein Ritter, als ein Held angesehen wurde.

»Delorges, Toggenburger! Delorges ist der Ritter in einer der bekanntesten Balladen Friedrich Schillers, »Der Handschuh« (1797), ebenso »Ritter Toggenburg« aus demselben Jahr. – Anm.d.Hrsg.« wurde ringsumher gerufen.

Es erscholl Händeklatschen.

»Donnerwetter, diese heranwachsende Generation!« fügte unser Wirt hinzu.

»Aber er soll mitkommen, er soll unbedingt mit uns mitkommen!« rief die Schöne. »Wir müssen und werden einen Platz für ihn finden. Er soll neben mir sitzen, auf meinem Schoße … oder nein, nein! Ich habe mich versprochen!« verbesserte sie sich kichernd; sie konnte bei der Erinnerung an unsere erste Bekanntschaft das Lachen nicht unterdrücken. Aber während sie lachte, streichelte sie zärtlich meine Hand und bemühte sich aus allen Kräften, mich zu liebkosen, damit ich mich nicht beleidigt fühlen möchte.

»Unbedingt, unbedingt!« stimmten ihr mehrere bei; »er muß mitkommen; er hat sich einen Platz erobert«

Und die Angelegenheit wurde sofort m Ordnung gebracht.

Eben jene alte Jungfer, die meine Bekanntschaft mit der Blondine herbeigeführt hatte, wurde sofort von allen jungen Leuten mit Bitten überhäuft, sie möchte doch zu Hause bleiben und mir ihren Platz abtreten, und sie sah sich genötigt, einzuwilligen, äußerlich lächelnd, innerlich vor Wut zischend. Ihre Gönnerin, um die sie herum zu sein pflegte, meine frühere Feindin und neue Freundin, rief ihr, während sie schon auf ihrem feurigen Pferde losgaloppierte und wie ein Kind lachte, zu, sie beneide sie und würde selbst gern mit ihr zu Hause bleiben, da es gleich regnen werde und wir alle naß werden würden.

Und den Regen hatte sie richtig prophezeit. Eine Stunde darauf brach ein gehöriger Platzregen los, und unsere Partie wurde gründlich verdorben. Wir mußten mehrere Stunden lang in Bauernhäusern warten und konnten erst nach neun Uhr in der noch vom Regen feuchten Luft die Rückfahrt antreten. Ich hatte ein wenig Fieber bekommen. Gerade in dem Augenblicke, als wir einsteigen und abfahren wollten, trat Frau M*** zu mir und wunderte sich darüber, daß ich nur eine Jacke anhatte und in bloßem Halse war. Ich antwortete, ich hätte keine Zeit gehabt, meinen Mantel mitzunehmen. Sie nahm eine Nadel und steckte mir den Umlegekragen meines Hemdes weiter oben zusammen; dann nahm sie ein rotes Batisttüchlein von ihrem Halse und band es mir um, damit ich mir nicht den Hals erkälten möchte. Hierauf entfernte sie sich so eilig, daß ich nicht einmal Zeit hatte, ihr zu danken.

Als wir aber nach Hause gekommen waren, fand ich sie in dem kleinen Salon mit der Blondine und dem blassen jungen Manne zusammen, der sich an diesem Tage den Ruf eines tüchtigen Reiters dadurch erworben hatte, daß er sich gefürchtet hatte, Tankred zu besteigen. Ich trat zu ihr, um mich zu bedanken und ihr das Tuch zurückzugeben. Aber jetzt, nach all meinen Abenteuern, schämte ich mich gewissermaßen; ich wollte so schnell wie möglich nach oben gehen und dort in Ruhe alles überdenken und mit mir ins klare kommen. Ich war übervoll von Gefühlen. Als ich ihr das Tuch zurückgab, wurde ich wie gewöhnlich rot bis über die Ohren.

»Ich wette darauf, daß er das Tuch gern behalten möchte,« sagte der junge Mann lachend; »man sieht es ihm an den Augen an, daß es ihm schmerzlich ist, sich von Ihrem Tuche zu trennen.«

»Gewiß, gewiß!« fiel die Blondine ein. »Nein, so einer!« sagte sie kopfschüttelnd mit fingiertem Ärger, hielt aber schnell vor einem ernsten Blick der Frau M*** inne, die nicht wünschte, daß der Scherz zu weit getrieben werde.

Ich ging so bald wie möglich weg.

»Na, aber was bist du für ein Mensch!« sagte die Schelmin, die mich im anstoßenden Zimmer einholte und freundschaftlich meine beiden Hände ergriff. »Du hättest das Halstuch doch einfach nicht zurückgeben sollen, wenn dir an seinem Besitze soviel lag. Du konntest ja sagen, du hättest es irgendwo verlegt, und die Sache wäre erledigt gewesen. Was bist du für ein Mensch! Hast so etwas nicht zu machen verstanden! So ein schnurriger Kauz!«Sie gab mir mit dem Finger einen leichten Schlag unter das Kinn und lachte darüber, daß ich rot wie eine Mohnblume wurde.

»Ich bin ja doch jetzt deine Freundin, nicht wahr? Unsere Feindschaft ist zu Ende, ja?«

Ich lachte und drückte ihr schweigend die Hand.

»Na also! … Wovon bist du denn jetzt so blaß und zitterst so? Hast du Fieber?«

»Ja, ich bin nicht wohl.«

»Ach, du Armer! Das kommt von den starken Aufregungen! Weißt du was? Das beste ist, wenn du dich schlafen legst, ohne auf das Abendbrot zu warten. Dann vergeht es über Nacht. Komm!«

Sie führte mich nach oben und schien sich in ihrer Sorge für mich gar nicht genug tun zu können. Sie verließ mich, damit ich mich auskleiden könne, lief nach unten, bestellte Tee für mich und brachte ihn mir selbst, nachdem ich mich schon hingelegt hatte. Sie brachte mir auch eine warme Decke. Ich war ganz überrascht und gerührt, daß sie mich in dieser Weise pflegte und wartete; oder war ich auch schon durch die Ereignisse des ganzen Tages, durch die Ausfahrt und das Fieber in eine solche Stimmung versetzt: genug, als ich ihr Gute Nacht sagte, umarmte ich sie fest und innig wie den besten, nächsten Freund, und alle Empfindungen, die ich an diesem Tage durchgemacht hatte, drangen zugleich auf mein ganz matt gewordenes Herz ein; ich schmiegte mich an ihre Brust und weinte beinahe. Sie bemerkte, meine empfindsame Stimmung, und sie, meine Schelmin, schien selbst ein bißchen gerührt zu sein.

»Du bist ein sehr guter Junge,« flüsterte sie und sah mich mit sanften Augen an. »Bitte, sei mir nicht mehr böse, nein?«

Kurz, wir waren die zärtlichsten, treuesten Freunde geworden.

Es war noch recht früh, als ich erwachte, aber die Sonne durchflutete schon das ganze Zimmer mit hellem Lichte. Ich sprang aus dem Bette und fühlte mich vollständig gesund und frisch, als ob ich tags zuvor gar kein Fieber gehabt hätte; statt seiner empfand ich jetzt eine unaussprechliche Freude. Ich rief mir den vorhergehenden Tag ins Gedächtnis zurück und fühlte, daß ich wer weiß was darum gegeben hätte, wenn ich in diesem Augenblicke meine neue Freundin, die blonde Schöne, wie gestern hätte umarmen können; aber es war noch sehr früh, und alle schliefen. Eilig zog ich mich an und ging hinunter in den Garten und von da in das Wäldchen. Ich durchschritt es bis zu einer Stelle, wo das Grün am dichtesten und der Harzgeruch der Bäume am kräftigsten war, und wohin die Sonnenstrahlen am lustigsten hineinschauten, sich freuend, daß es ihnen hier und da gelang, das neblige Dunkel des Laubwerks zu durchdringen. Es war ein herrlicher Morgen.

Unvermerkt kam ich immer weiter und weiter und gelangte schließlich an das andere Ende des Wäldchens, an die Moskwa. Sie floß ungefähr zweihundert Schritte vor mir, am Fuße des Berges. Am gegenüberliegenden Ufer wurde Gras gemäht. Ich konnte mich gar nicht daran satt sehen, wie ganze Reihen scharfer Sensen bei jedem Ausholen der Schnitter gleichzeitig aufleuchteten und dann plötzlich wieder verschwanden, gleich feurigen Schlänglein, die sich irgendwohin versteckten, und wie das von der Wurzel abgeschnittene Gras in dichten, fetten Häufchen zur Seite flog und sich in langen, geraden Schwaden lagerte. Ich erinnere mich nicht mehr, wieviel Zeit ich mit diesem Zusehen verbracht hatte, als ich plötzlich zur Besinnung kam, da ich in dem Wäldchen, etwa zwanzig Schritte von mir entfernt, in einer Schneise, die sich von der Chaussee nach dem Gutshause hinzog, das Schnauben und ungeduldige Stampfen eines Pferdes hörte, das mit dem Hufe die Erde zerwühlte. Ich weiß nicht, ob ich dieses Pferd jetzt eben erst hörte und der Reiter soeben erst herbeigekommen war und angehalten hatte, oder ob das Geräusch schon lange an mein Ohr gedrungen war, dieses aber nur erfolglos gekitzelt hatte, ohne mich aus meinen Träumereien erwecken zu können. Neugierig trat ich in das Wäldchen zurück und vernahm, nachdem ich ein paar Schritte gegangen war, Stimmen, die schnell, aber leise sprachen. Ich ging noch näher heran, bog behutsam die Zweige der letzten Büsche auseinander, die die Schneise einsäumten, und prallte sogleich erstaunt zurück: vor meinen Augen schimmerte ein wohlbekanntes weißes Kleid, und eine sanfte Frauenstimme widerhallte in meinem Herzen wie Musik. Es war Frau M***. Sie stand neben einem Reiter, der eilig vom Pferde herab zu ihr sprach, und zu meiner Verwunderung erkannte ich in ihm Herrn N***oi, jenen jungen Mann, der schon gestern morgen von uns weggereist war, und mit dem Herrn M***s Gedanken so sehr beschäftigt gewesen waren. Aber damals hatte es geheißen, er reise sehr weit weg, irgendwohin, nach Südrußland, und darum wunderte ich mich sehr, ihn wieder bei uns zu sehen, so früh am Morgen und allein mit Frau M***.

Sie war so lebhaft und erregt, wie ich sie noch nie gesehen hatte, und auf ihren Wangen glitzerten Tränen. Der junge Mann hielt ihre Hand gefaßt und küßte sie, indem er sich vom Sattel hinabbeugte. Ich hatte den Augenblick getroffen, wo sie bereits voneinander Abschied nahmen. Sie schienen große Eile zu haben. Zuletzt zog er einen versiegelten Brief aus der Tasche, reichte ihn ihr hin, umschlang sie mit einem Arme, und zwar wie vorher ohne vom Pferde zu steigen, und küßte sie lange und innig. Einen Augenblick darauf versetzte er seinem Pferde einen Schlag mit der Reitpeitsche und jagte wie ein Pfeil an mir vorüber. Frau M*** folgte ihm einige Sekunden lang mit den Augen und schlug dann nachdenklich und niedergeschlagen den Weg nach dem Hause ein. Aber nachdem sie einige Schritte in der Schneise gemacht hatte, schien sie sich plötzlich eines anderen zu besinnen, zerteilte eilig die Büsche und ging durch das Wäldchen.

Ich folgte ihr, verwirrt und erstaunt über alles, was ich gesehen hatte. Mein Herz schlug heftig wie vor Schreck. Ich war wie erstarrt, wie von einem Nebel umfangen; meine Gedanken waren zerstreut und wie zerschlagen; aber ich erinnere mich, daß mir furchtbar traurig zumute war. Ab und zu schimmerte vor mir ihr weißes Kleid durch die Büsche. Mechanisch folgte ich ihr, ohne sie aus den Augen zu lassen; aber ich zitterte bei dem Gedanken, daß sie mich bemerken könne. Endlich trat sie auf den Steig hinaus, der in den Garten führte. Ich wartete eine halbe Minute und tat dann dasselbe; aber wie groß war mein Erstaunen, als ich plötzlich auf dem roten Sande des Steiges einen versiegelten Brief bemerkte, den ich auf den ersten Blick erkannte: es war jener selbe Brief, den Frau M*** zehn Minuten vorher erhalten hatte.

Ich hob ihn auf: er wies auf allen Seiten weißes Papier ohne Aufschrift; dem Äußern nach war er nicht groß, aber dick und schwer, wie wenn drei oder noch mehr Bogen Briefpapier darin wären.

Was hatte dieser Brief zu bedeuten? Ohne Zweifel enthielt er die Erklärung des ganzen Geheimnisses. Vielleicht war darin das dargelegt, wovon Herr N***oi bei der Kürze des eiligen Rendezvous nicht hatte hoffen können, daß er die Möglichkeit haben werde, es auszusprechen. Er war ja. nicht einmal vom Pferde gestiegen. Hatte er so große Eile gehabt, oder hatte er vielleicht gefürchtet, in der Stunde des Abschieds seinem Vorsatze untreu zu werden – Gott mochte es wissen …

Ich blieb stehen, ohne auf den Weg hinauszutreten, warf den Brief auf ihn an einer recht sichtbaren Stelle hin und wandte die Augen nicht von ihm ab, in der Annahme, Frau M*** werde, sobald sie den Verlust bemerke, umkehren und suchen. Aber nachdem ich ungefähr vier Minuten lang gewartet hatte, hielt ich es nicht mehr aus, hob meinen Fund wieder auf, steckte ihn in die Tasche und machte mich daran, Frau M*** einzuholen. Ich erreichte sie erst im Garten, in der großen Allee; sie ging geradeswegs nach dem Gutshause, mit schnellen, eiligen Schritten, aber nachdenklich und die Augen auf den Boden geheftet. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Sollte ich an sie herantreten und ihr den Brief übergeben? Das hätte soviel geheißen als ihr sagen, daß ich alles wisse, alles gesehen hätte. Ich hätte mich beim ersten Worte verraten. Und mit welchen Augen hätte ich sie ansehen sollen? Mit welchen Augen würde sie mich angesehen haben? Ich erwartete immer noch, daß sie an den Brief denken, nach ihm greifen, den Verlust bemerken und denselben Weg zurückgehen werde. Dann hätte ich unbemerkt den Brief auf den Weg werfen können, und sie hätte ihn gefunden. Aber nein! Wir näherten uns schon dem Hause; man hatte sie schon bemerkt …

Es traf sich, daß an diesem Morgen fast alle sehr früh aufgestanden waren, weil sie schon gestern infolge der verunglückten Partie eine neue in Aussicht genommen hatten, von der ich nichts wußte. Alle machten sich zum Aufbruch fertig und frühstückten auf der Terrasse. Ich wartete ungefähr zehn Minuten, um nicht mit Frau M*** zusammen gesehen zu werden, machte im Garten einen Umweg und kam von einer anderen Seite zum Hause, erheblich später als sie. Sie ging blaß und erregt auf der Terrasse auf und ab; die Arme hielt sie auf der Brust verschränkt, und aus allen Anzeichen war zu ersehen, daß sie sich aus aller Kraft bemühte, den quälenden, verzweifelten Kummer in ihrem Innern zu ersticken, der sich in ihren Augen, in ihrem Gange, in jeder Bewegung deutlich bekundete. Manchmal stieg sie die Stufen hinab und ging einige Schritte zwischen den Blumenbeeten in der Richtung nach dem Garten zu; ihre Augen suchten hastig, unruhig, ja unvorsichtig etwas auf dem Sande der Steige und auf dem Fußboden der Terrasse. Es war kein Zweifel: sie hatte den Verlust wahrgenommen und schien zu glauben, daß sie den Brief irgendwo dort, in der Nähe des Hauses, verloren habe; ja, so war es, sie war davon überzeugt!

Ihr blasses Aussehen und ihre Aufregung fielen jemandem, und dann auch anderen, auf. Sie wurde mit Fragen nach ihrem Befinden, mit lästigen Ausdrücken des Bedauerns überschüttet und mußte scherzen, lachen, sich heiter stellen. Ab und zu warf sie einen Blick nach ihrem Manne hin, der im Gespräche mit zwei Damen am Ende der Terrasse stand, und die arme Frau wurde von demselben Zittern und derselben Verwirrung befallen wie damals, am ersten Abend seiner Ankunft. Ich stand, die Hand in der Tasche haltend und den Brief fest mit ihr umschließend, etwas entfernt von allen da und flehte das Schicksal an, daß Frau M*** mich bemerken möchte. Ich wollte sie gern ermutigen und beruhigen, wenn auch nur durch einen Blick, ihr flüchtig und verstohlen etwas sagen. Aber als sie mich zufällig ansah, fuhr ich zusammen und schlug die Augen nieder.

Ich sah ihre Qual und irrte mich nicht. Ich kenne auch heutigen Tages ihr Geheimnis nicht und weiß nichts als das, was ich selbst gesehen und soeben erzählt habe. Vielleicht war dieses Verhältnis gar nicht von der Art, wie man es auf den ersten Blick vermuten konnte. Vielleicht war dieser Kuß ein Abschiedskuß gewesen; vielleicht war er der letzte schwache Lohn für das Opfer gewesen, das Herr N***oi durch seine Abreise ihrer Ruhe und ihrer Ehre gebracht hatte. Er war abgereist; er hatte sie verlassen, vielleicht für immer. Und was schließlich sogar diesen Brief betraf, den ich in der Hand hielt, wer wußte, was er enthielt? Wie konnte man darüber urteilen, und wer durfte den Stab über sie brechen? Aber doch (daran war kein Zweifel) wäre die plötzliche Enthüllung des Geheimnisses ein Donnerschlag, eine Katastrophe in ihrem Leben gewesen. Ich erinnere mich noch deutlich an ihr Gesicht in jenem Augenblicke: es war kein tieferes Leid denkbar. Zu fühlen, zu wissen, daß das Unglück herannahte, davon überzeugt zu sein, wie auf die eigene Hinrichtung darauf zu warten, daß in einer Viertelstunde, in einer Minute vielleicht alles aufgedeckt werde, indem jemand den Brief finde und aufhebe; er war ohne Aufschrift; man würde ihn öffnen, und dann … was dann? Welche Hinrichtung konnte schrecklicher sein als die, welche ihrer wartete? Sie ging zwischen ihren künftigen Richtern umher. Im nächsten Augenblick würden ihre lächelnden, liebenswürdigen Gesichter sich in finstere, unerbittliche verwandeln. Sie würde Spott, Schadenfreude und eisige Verachtung auf diesen Gesichtern lesen, und dann würde in ihrem Leben eine stete Nacht anbrechen ohne einen nachfolgenden Morgen … Ja, ich begriff damals alles dies nicht so, wie ich jetzt darüber denke. Ich konnte nur vermuten und ahnen und mich im Herzen wegen ihrer Gefahr grämen, die ich nicht einmal ganz zu ermessen vermochte. Aber welches auch der Inhalt ihres Geheimnisses sein mochte, durch die traurigen Minuten, deren Zeuge ich war, und die ich nie vergessen werde, war vieles gesühnt, wenn überhaupt etwas gesühnt zu werden brauchte.

Aber da erscholl der fröhliche Ruf zur Abfahrt; alle gerieten in freudige Bewegung; von allen Seiten erklang munteres Reden und Lachen. Zwei Minuten darauf war die Terrasse leer geworden. Frau M*** hatte auf die Teilnahme an der Partie verzichtet, indem sie endlich eingestand, daß sie nicht wohl sei. Aber zum Glück hatten es alle mit dem Aufbruche sehr eilig und fanden keine Zeit mehr, ihr mit Ausdrücken des Bedauerns, Fragen und Ratschlägen lästig zu fallen. Nur wenige waren zu Hause geblieben. Ihr Mann sagte ein paar Worte zu ihr; sie antwortete, sie werde noch heute wieder gesund werden; er möge sich nicht beunruhigen; sie habe keinen Grund sich hinzulegen, sondern werde in den Garten gehen, allein … mit mir … Hier sah sie mich an. Nichts konnte sich glücklicher fügen! Ich errötete vor Freude. Eine Minute darauf waren wir unterwegs.

Sie ging dieselben Alleen, Steige und Fußpfade, auf denen sie kurz vorher aus dem Wäldchen zurückgekehrt war. Sie erinnerte sich instinktiv ihres früheren Weges, blickte starr vor sich hin, ohne die Augen von der Erde wegzuwenden und suchte etwas auf ihr; sie gab mir keine Antworten und hatte vielleicht überhaupt vergessen, daß ich mit ihr mitging.

Aber als wir beinahe zu der Stelle gelangt waren, wo ich den Brief aufgehoben hatte, und wo der Steig aufhörte, blieb Frau M*** plötzlich stehen und sagte mit schwacher, vor Kummer fast versagender Stimme, es sei ihr schlechter geworden, und sie wolle nach dem Hause zurückkehren. Als sie jedoch bis an das Gartengitter gelangt war, blieb sie wieder stehen und dachte ungefähr eine Minute lang nach; ein Lächeln der Verzweiflung zeigte sich auf ihren Lippen, und ganz entkräftet und zermartert, zu allem entschlossen und sich in alles ergebend, kehrte sie schweigend auf den ersten Weg zurück, wobei sie diesmal sogar vergaß, mir ein Wort darüber zu sagen.

Das Herz wollte mir brechen vor Gram, und ich wußte nicht, was ich tun sollte.

Wir gingen oder, richtiger gesagt, ich führte sie zu jener Stelle, von der aus ich eine Stunde vorher das Stampfen des Pferdes und ihr Gespräch gehört hatte. Hier befand sich bei einer dichtbelaubten Ulme eine aus einem gewaltigen Steinblock gehauene Bank, mit Efeu umsponnen und von wildem Jasmin und Hundsrosen umwachsen. (Dieses ganze Wäldchen war mit Brückchen, Lauben, Grotten und ähnlichen Überraschungen übersät.) Frau M*** setzte sich auf die Bank und blickte gedankenlos auf die wundervolle Landschaft hin, die sich vor uns ausbreitete. Ein Weilchen darauf öffnete sie das Buch und starrte, ohne sich zu rühren und ohne die Blätter umzuschlagen, hinein; sie las nicht und wußte kaum, was sie tat. Es war schon halb zehn. Die Sonne war bereits hoch gestiegen und schwamm glänzend über uns am blauen, tiefen Himmel; es schien, als zerschmölze sie an ihrem eigenen Feuer. Die Mäher waren schon weit entfernt; man konnte sie von unserem Ufer aus kaum mehr sehen. Hinter ihnen zogen sich endlose Schwaden frischgemähten Grases hin, und ab und zu trug ein kaum merklicher Windhauch den aromatischen Duft desselben zu uns herüber. Ringsumher ertönte das unermüdliche Konzert derer, die »nicht säen und nicht ernten«, sondern frei sind wie die Luft, die sie mit ihren munteren Flügeln durchschneiden. Es schien, als ob in diesem Augenblicke jedes Blümchen und das geringste Hälmchen, von Opferduft dampfend, zu seinem Schöpfer sagte: »Vater, ich bin froh und glücklich!«

Ich blickte nach der armen Frau hin, die inmitten all dieses frohen Lebens einer Toten glich: an ihren Wimpern hingen unbeweglich zwei große Tränen, die der bittere Gram aus ihrem Herzen heraufgetrieben hatte. In meiner Macht stand es, dieses arme, fast vergehende Herz wieder zu beleben und glücklich zu machen, und ich wußte nur nicht, wie ich es angreifen, wie ich den ersten Schritt tun sollte. Ich zermarterte mein Gehirn.

Hundertmal war ich nahe daran, zu ihr hinzutreten, und jedesmal fing mir das Gesicht wie Feuer zu brennen an, und ich unterließ es.

Auf einmal erhellte mich ein glücklicher Gedanke. Das Mittel war gefunden; ich fühlte mich wie neugeboren.

»Wenn Sie erlauben, werde ich Ihnen ein Bukett pflücken!« sagte ich in so freudigem Tone, daß Frau M*** plötzlich den Kopf in die Höhe hob und mich aufmerksam ansah,

»Tu das!« sagte sie endlich mit schwacher Stimme und lächelte dabei leise; dann aber versenkte sie die Augen sogleich wieder in ihr Buch.

»Sonst wird auch hier womöglich das Gras abgemäht, und dann ist's mit den Blumen vorbei!« rief ich und machte mich wohlgemut ans Werk.

Bald hatte ich mein Bukett beisammen; es war schlicht und ärmlich, und man hätte sich schämen müssen, es ins Zimmer zu bringen; aber wie fröhlich schlug mir das Herz, während ich es sammelte und band! Hundsrosen und wilden Jasmin pflückte ich gleich an der Stelle, wo wir waren. Ich wußte, daß nicht weit davon ein Feld mit reifem Roggen war. Dorthin lief ich, um Kornblumen zu holen. Ich untermengte sie mit langen Roggenähren, wobei ich die goldigsten und vollsten aussuchte. Ebendort, nicht weit davon, stieß ich auf einen ganzen Fleck voll Vergißmeinnicht, und mein Bukett begann bereits voll zu werden. Weiterhin auf dem Felde fanden sich blaue Glockenblumen und Feldnelken, und um gelbe Wasserlilien zu holen, lief ich an das Ufer des Flusses hinab. Endlich, als ich mich schon auf dem Rückwege nach der Bank befand und auf einen Augenblick in den Hain hineinging, um mir einige hellgrüne, handförmige Ahornblätter zu beschaffen und mit ihnen das Bukett einzufassen, da stieß ich zufällig auf eine ganze Kolonie von Stiefmütterchen, und in ihrer Nähe verriet mir zu meiner Freude der aromatische Duft eine Menge Veilchen, die in dem saftigen, dichten Grase verborgen und noch ganz mit glänzenden Tautropfen bedeckt waren. Das Bukett war fertig. Ich band es mit langen dünnen Grashalmen zusammen, die ich zu einer Art Schnur zusammendrehte, und steckte den Brief behutsam hinein; er war in den Blumen verborgen, aber so, daß man ihn sehr gut bemerken konnte, wenn man meinem Bukette auch nur ein wenig Aufmerksamkeit zuwandte.

Ich trug es zu Frau M*** hin.

Unterwegs schien es mir, daß der Brief gar zu sichtbar sei, und ich verbarg ihn etwas mehr. Als ich noch näher kam, schob ich ihn noch tiefer in die Blumen hinein, und endlich, als ich schon beinahe bis zur Bank hingelangt war, drückte ich ihn auf einmal so tief in das Innere des Buketts hinein, daß nun von außen gar nichts mehr davon zu bemerken war. Die Backen brannten mir wie Feuer. Ich hätte am liebsten das Gesicht mit den Händen bedeckt und wäre auf der Stelle davongelaufen; aber sie sah meine Blumen so an, als ob sie ganz vergessen hätte, daß ich sie ausdrücklich für sie gepflückt hatte. Mechanisch, fast ohne hinzublicken, streckte sie die Hand aus und nahm mein Geschenk entgegen, legte es aber sogleich auf die Bank, als hätte ich es ihr nur zu diesem Zweck übergeben, und versenkte, wie selbstvergessen, die Augen von neuem in ihr Buch. Ich war nahe daran, über das Mißlingen meines Planes in Tränen auszubrechen. »Aber wenn nur mein Bukett in ihrem Besitze bleibt,« dachte ich; »wenn sie es nur nicht vergißt!« Ich legte mich nicht weit davon auf das Gras, schob den rechten Arm unter den Kopf und schloß die Augen, als ob mich der Schlaf überkäme. Aber ich verwandte keinen Blick von ihr und wartete.

So vergingen etwa zehn Minuten; es kam mir so vor, als ob sie immer blasser und blasser würde … Auf einmal kam mir ein gesegneter Zufall zu Hilfe.

Es war dies eine große, goldfarbene Biene, die ein gütiger Windhauch zu meinem Glücke herführte. Sie summte zuerst über meinem Kopfe herum und flog dann zu Frau M*** hin. Diese suchte sie einmal und noch einmal mit der Hand wegzuscheuchen; aber die Biene wurde wie mit Absicht immer zudringlicher. Endlich ergriff Frau M*** mein Bukett und schwenkte es vor ihrem Gesichte hin und her. In diesem Augenblicke flog der Brief aus den Blumen heraus und fiel gerade auf das aufgeschlagene Buch. Ich fuhr zusammen. Eine kleine Weile blickte Frau M***, vor Erstaunen sprachlos, bald nach dem Briefe, bald nach den Blumen hin, die sie in der Hand hielt; sie schien ihren Augen nicht zu trauen. Auf einmal wurde sie dunkelrot und sah nach mir hin. Aber ich hatte ihren Blick rechtzeitig bemerkt, machte die Augen fest zu und stellte mich schlafend; um keinen Preis der Welt hätte ich ihr jetzt gerade ins Gesicht gesehen. Mein Herz wollte vergehen und zuckte wie ein Vögelchen, das einem kraushaarigen Bauernjungen in die derben Hände geraten ist. Ich erinnere mich nicht, wie lange ich so mit geschlossenen Augen dalag: es mochten zwei oder drei Minuten sein. Endlich wagte ich es, sie wieder zu öffnen. Frau M*** las begierig den Brief, und aus ihren brennenden Wangen, aus ihrem glänzenden, tränenfeuchten Blicke, aus ihrem strahlenden Gesichte, in welchem jeder Muskel vor freudiger Rührung bebte, aus alledem konnte ich entnehmen, daß dieser Brief sie glücklich machte und ihr ganzer Gram wie leichter Rauch verflogen war. Ein schmerzlich-wonniges Gefühl erfüllte mein Herz; es wurde mir schwer, meine Verstellung beizubehalten.

Nie werde ich diesen Augenblick vergessen!

Auf einmal ließen sich, noch fern von uns, Stimmen vernehmen:

»Frau M***! Natalie! Natalie!«

Frau M*** antwortete nicht; aber sie erhob sich schnell von der Bank, trat zu mir und beugte sich über mich. Ich fühlte, daß sie mir gerade ins Gesicht blickte. Meine Wimpern zuckten; aber ich beherrschte mich und öffnete die Augen nicht. Ich bemühte mich, möglichst gleichmäßig und ruhig zu atmen; aber das aufgeregte Schlagen meines Herzens erstickte mich fast. Ihr heißer Atem brannte auf meinen Backen; sie bückte sich ganz nahe zu meinem Gesichte herab, als ob sie es prüfend betrachtete. Endlich küßte sie meine Hand, diejenige, die auf meiner Brust lag, und ihre Tränen fielen darauf. Sie küßte sie zweimal.

» Natalie! Natalie! Wo bist du?« wurde von neuem gerufen, und jetzt schon sehr nahe bei uns.

»Ich komme gleich!« sagte Frau M*** mit ihrer silberhellen Stimme, die aber von Tränen gedämpft war und zitterte, und so leise, daß nur ich allein dieses »Ich komme gleich!« hören konnte.

Aber in diesem Augenblicke verriet mich mein Herz endlich doch und trieb mir, wie ich glaube, alles Blut ins Gesicht. In demselben Augenblicke brannte ein schneller, heißer Kuß auf meinen Lippen. Ich schrie leise auf und öffnete die Augen; aber sogleich senkte sich das Batisttüchlein von gestern über sie herab – als ob sie mich damit vor der Sonne schützen wollte. Einen Augenblick darauf war sie schon nicht mehr da. Ich hörte nur das leise Geräusch sich eilig entfernender Schritte. Ich war allein …

Ich riß ihr Tüchlein von meinem Gesichte und küßte es, ganz außer mir vor Entzücken; mehrere Minuten lang war ich wie von Sinnen! Kaum imstande zu atmen, stützte ich mich mit dem Ellbogen auf das Gras und blickte unbewußt und regungslos vor mich hin: auf die umliegenden, von bunten Wiesen und Feldern bedeckten Hügel, auf den Fluß, der sie in Krümmungen umfloß und in der Ferne, soweit das Auge nur reichte, sich zwischen neuen Hügeln und Dörfern dahinschlängelte, die wie Pünktchen in der ganz von Licht übergossenen Ferne schimmerten, auf die blauen, nur schwach sichtbaren Wälder, die am Rande des glühenden Himmels zu dampfen schienen, und ein süßer Friede, den mir die feierliche Stille des Landschaftsbildes gleichsam zuwehte, beruhigte allmählich mein aufgeregtes Herz. Es wurde mir leichter zumute, und ich atmete freier. Aber meine ganze Seele war von einer dumpfen, süßen Pein erfüllt, wie in Voraussicht oder Vorahnung von etwas Künftigem. Mein erschrockenes Herz erriet irgend etwas schüchtern und freudig und zitterte leise vor Erwartung. Und auf einmal erbebte meine Brust wie von einem sie durchdringenden Schmerze, und Tränen, süße Tränen stürzten aus meinen Augen. Ich bedeckte das Gesicht mit den Händen, und am ganzen Leibe zitternd wie ein Grashalm, überließ ich mich widerstandslos dem ersten Bewußtsein und der ersten Offenbarung meines Herzens, der ersten noch unklaren Erkenntnis meiner Natur. Meine erste Kindheit endete mit diesem Augenblicke.

Als ich zwei Stunden darauf nach Hause zurückkehrte, fand ich Frau M*** nicht mehr vor. Sie war aus irgendwelchem plötzlich eingetretenen Anlasse mit ihrem Manne nach Moskau gefahren. Ich bin nie wieder mit ihr zusammengetroffen.


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