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Wenn man nicht rechnen kann!


Die Herren im Kasino und die Grundbesitzer der Umgegend zuckten mit mitleidigem Lächeln die Achseln und sprachen: »Fahrbach ist ein charmanter, seelensguter Mann, liebenswürdig, amüsant und kameradschaftlich wie kein Zweiter, – aber rechnen – nein! rechnen kann er nicht! – Noch ein paar Jahre,! dann sitzt er auf dem Trockenen!« – Und die Damen der Gesellschaft, die Kaufleute und Dienstboten auf Schloß Fahren schüttelten ebenso die Köpfe und raunten einander zu: »Die gnädige Frau ist eine liebe, prächtige, herzensgute Dame, aber sie kann nicht rechnen! ebensowenig wie ihr Mann! Das Geld rollt ihr durch die Finger, ehe sie zwei und zwei zusammenzählen kann; ihr Wirtschaftsbuch liegt öd und leer, denn Frau von Fahrbach haßt es, Zahlen hinein zu schreiben, welche sie ja doch niemals überrechnet und zusammenzieht! Schade darum – eine Frau, die nicht rechnen kann, wirtschaftet ihren Besitz zugrunde.« – Und wenn droben im sonnengolddurchstrahlten Turmstübchen die drei Töchter des Hauses am Tische saßen, mit ihren treuherzig blauen Augen die Gouvernante hilfeflehend ansahen und einen Federhalter um den anderen zerknabberten, um dennoch nicht die kinderleichten Exempel herauszubringen, dann sprang das Fräulein wohl ungeduldig auf, nahm selber die Hefte zur Hand und rief: »Das weiß der große Gott, was ihr für Mädels seid! – Brav und gut, freundlich und herzig, daß euch kein Mensch böse sein kann, – aber rechnen?! – Herrgott des Himmels, ihr werdet noch einmal übel durch die Welt stolpern, wenn ihr nicht rechnen könnt.« – Das liebliche Kleeblatt neigte tiefbeschämt die blondumlockten Köpfchen, – und Fräulein löste derweil die Exempel, damit der Herr Kantor die armen Dinger nicht schelte, wenn er am Mittwoch und Sonnabend vom Dorfe heraufkam, die Töchter des Gutsherrn zu unterrichten.

Frau Fama hatte den Ruin des Hauses Fahrbach prophezeit und schier unheimlich präzise trat derselbe auch ein, die ahnungslos heiteren Häupter der Familie treffend wie ein Blitz, der aus blauem Himmel herniederzischt.

Man hatte sorglos in den Tag hinein gelebt und es nicht für möglich gehalten, daß auch das größte Vermögen einmal aufgebraucht werden kann. Herr von Fahrbach hatte so menschenfreundlich und gern den armen Leuten seine Kartoffel- und Roggenernte um den halben Preis verkauft, als die Unwetter des Sommers die Felder verwüstet und eine Teuerung heraufbeschworen hatten. Die Gutsnachbarn schlugen die Hände über dem Kopfe zusammen.

Fahren hatte die verhältnismäßig beste Ernte zu verzeichnen. War sein Besitzer ein praktischer Mann, so schlug er Kapital aus Roggen und Kartoffeln, ebenso wie all die anderen Glückbegünstigten mit diesem Artikel wucherten – und kolossale Preise erzielten. – Fahrbach aber wischte sich weichherzig ein paar Thränen aus den Augen, als seine hungernden und frierenden Dörfler um Brot jammerten und seine Frau und Töchter als Fürbitterinnen ihn bestürmten, den Armen zu helfen; da gab er den Ueberschuß umsonst und die Vorräte zu halbem Preise.

Der Inspektor schüttelte brummend den grauen Kopf, aber der Pfarrer stand neben ihm und sprach: »Laßt ihn gewähren, Alter! Den fröhlichen Geber hat Gott lieb, und wenn der Roggen unserem braven Herrn auch hier auf Erden keine Zinsen trägt, so werden ihm dieselben doch droben desto sicherer und höher angeschrieben!«

»Ach, Herr Pfarr'! so spricht hei wuhl! awerst rechnen möt een Landwirt hüt tau Tage, suß fährt hei seine Karre in' Dreck!« –

»Ein braver Mann denkt an sich selbst zuletzt, und der liebe Herrgott hat noch keinen Barmherzigen zugrunde gehen lassen!« –

»Snaken, Herr Pfarr'! He werd' sehn, wat derbi herut kümmt! Mit dem Mul, dar makt mer hol' Redensarten, äwerst de Tüfften und die Tholer, die kann keen Mens nich perschwadieren, wenn der Düwel se holt hät!«

Die gnädige Frau und die Töchterlein thaten auch das ihre, der Not ringsum zu steuern, und da man im Hause Fahrbach niemals rechnen konnte, so rechnete man auch diesmal nicht.

Der Tropfen aber höhlt den Stein, und als der Frühlingswind um die Türme von Fahren sauste, da mußte der Gutsherr drinnen im Schloß den Kaufkontrakt unterzeichnen, welcher ihm das Erbe der Väter für ewige Zeit entriß. »Gott sei Dank, er hat wenigstens noch zur rechten Zeit verkauft!« sagten die Leute, »er hat so viel gerettet, daß die Familie vor der äußersten Not geschützt ist! O, wie entsetzlich für die armen Damen! Der Wechsel wird ihnen wohl sehr sauer ankommen!« –

Merkwürdigerweise ertrug man den schweren Schicksalsschlag gefaßter, als die Menschen erwarteten. Mit ihrem freundlich milden Lächeln nahm die Gutsfrau Abschied von Haus und Hof und der schwerste Seufzer, welcher vom Herrn von Fahrbach laut wurde. klagte um seine armen Leute, welche künftighin einem sehr genauen und strengen Herrn dienen müßten, und um seine Rehböcke, welche nun wohl nicht mehr gehegt und geschont sein würden, wie bei ihm!

Vor dem Schloß standen die Möbelwagen und der Wind sauste durch die offenen, leeren Fenster wie ein leises Klagelied, welches Wald und Feld zu ihrem geliebten Herrn herüber schickten. Heut' war's der letzte Tag. –

Im Park, dicht an der Chaussee, steht eine kleine Steinbank im Gebüsch. Flieder und Jasmin flechten ein düfteschweres Dach darüber hin, der Goldregen streut gelbe Flocken auf den Weg und die Nachtigallen haben ihr Nest in die Zweige gebaut, wo wilde Rosen im Lufthauch nicken, wie Grüße der Liebe.

Ein Roß schnauft ungeduldig an der kleinen Lattenthür; das Geflüster und Gekose hinter dem Zaune währt ihm zu lang. – Es kennt seinen Herrn kaum wieder, seinen stillen, ernsten Herrn, der wohl niemals die Augen hob, wenn daheim im Nachbarstädtchen die Mägdlein hinter der Gardine lugten oder, einen Gruß begehrend, im Blumengärtchen vor der Hausthür standen.

Jetzt ist er wie ausgewechselt. – Säbel und Mütze liegen auf dem Steintische und er selber hält die blondlockige Ilse im Arm und küßt wieder und wieder ihr rosiges Angesicht. Thränenperlen an ihren Wimpern, die will er nicht dulden.

»Und wenn Du nun auch ein armes Mädchen bist, Herzliebste, das heute Heimat, Hab und Gut verliert, Du bleibst dennoch mein süßes Bräutchen vor Gott dem Herrn, und mein Herz gehört Dir für alle Ewigkeit, das kannst Du nie verlieren!«

»Ach Theo, nun können wir uns ja nicht heiraten, nun muß ich von Dir gehen und darf nie zurückkehren!«

Er streicht zärtlich über den blonden Scheitel. – »Welch arger Gedanke! –Wenn ich Hauptmann bin, hol' ich mein herzig Weibchen heim!« –

Sie sieht ihn an und schüttelt mit wehem Lächeln den Kopf. »Wir sind beide arm, Theo, und Onkel Fritz sagt: ›Wo das Feuer auf dem Herd fehlt, da fliegt die Liebe zum Schornstein hinaus.‹«

»Thorheit, Schatz! Ich bin, Gottlob, kein solch' prosaischer Mensch, wie Onkel Fritz, bei welchem jeder Begriff von Glück und Behagen mit einer guten Schüssel beginnt und bei Hummer und Austern den Höhepunkt erreicht! Menschen, die sich wahrhaft lieben, ertragen Armut, Leid und Not ebenso leicht und glücklich, wie reiche Menschen ohne Liebe an der geringsten Mühseligkeit wie an Zentnerlasten schleppen! Wir werden wenig Geld und Gut haben, meine Ilse, aber wir werden mit dem Wenigen auskommen und die beneidenswertesten Leute auf Gottes weiter Welt sein!« –

Thränen glänzen in ihren großen Kinderaugen, die Arme, welche sie um seinen Nacken gelegt, lösen sich und sinken schlaff hernieder und um einen Schein bleicher denn zuvor, hebt sich ihr Gesichtchen voll rührender Bangigkeit zu ihm empor. »Ach, das gerade ist es ja, Theo!« seufzt sie. »Ob ich auskommen würde mit dem, was wir haben! Sieh, ich möchte es wohl für mein Leben gern, habe die besten und schönsten Vorsätze, – aber sie werden mir nicht viel nützen, denn die Menschen sagen, wir Alle könnten nicht rechnen; wenn wir auch Millionen hätten, wir würden damit fertig werden, denn kein Geld könne zusammen bleiben, wo nicht eingeteilt und gerechnet würde! Das ist unser Unglück, Theo, und ich habe Dich viel, viel zu unbeschreiblich lieb, als daß ich Dir eine solche Hausfrau wünschen möchte, die … die nicht rechnen kann!« –

Haltlos strömten die blauen Augen über, – Ilse lehnte das Köpfchen an die Brust des Geliebten und schluchzte bitterlich.

Lächelnd schloß der junge Offizier die Weinende in die Arme. – »Sei unbesorgt, Du herzliebes, kleines Närrchen, wenn dies die einzige Klippe ist, welche Dich in unserem Lebensmeere ängstigt, so vertraue Dich zuerst Deinem Steuermanne an, – unser Schiffchen soll niemals daran scheitern! – Wenn Du auch wahrlich nicht rechnen kannst, nun, so kann ich es desto besser und werde schon meine Hände über das Wirtschaftsbuch meines Frauchens halten, so sicher und so treu, daß kein böses Rechenexempel seinen Schatten in den Sonnenglanz unseres Glücks werfen soll!«

Sie antwortete nicht, sie küßte stumm seine Lippen, aber über das junge Angesicht ging ein so schmerzliches Beben, als sei die Sonne ihres Glückes und ihrer Liebe in dieser Stunde für ewige Zeiten untergegangen.

In tiefem, duftigem Schweigen lag rings die blühende Welt, Schmetterlinge hingen trunken an den Blumendolden, blaue Fliegen blitzten durch die Luft, und durch die Zweige ging ein Flüstern und Raunen, als ob die Frühlingselfen mitleidig beratschlagten, wie wohl einem armen Menschenkinde zu helfen sei, das – nicht rechnen kann! –

Drunten vor dem Schloßportal schwirrten die Stimmen, rollte, polterte und dröhnte es in und um die Möbelwagen, aber im Turmstübchen, hoch droben in der lustigen Einsamkeit, da war es feierlich still, so still, daß man vermeinen konnte, die Thränen fallen zu hören, welche heimlich auf Feder und Papier hernieder tauten. Stefanie von Fahrbach schrieb ein letztes Lebewohl an ihre Freundin Luise, und sie wußte es, daß nicht Luise allein diesen Brief lesen, daß sich auch ein dunkellockig Männerhaupt darüber neigen würde, mit schmerzlich gefalteten Brauen zu lesen, daß alle Liebe, alles Glück zu Ende sei, daß der süße Traum der Kindheit ausgeträumt und nie zur seligen Wahrheit werden könne, weil – ach weil man im Hause Fahrbach nicht verstand, zu rechnen! –

Oede und leer ringsum, hier, in ihrem traulich lieben Stübchen, wo sie daheim gewesen in Freud und Leid, so lange sie denken konnte. Hier spann der Epheu seine grüne Laube um das Bogenfenster, hier zwitscherte und piepste es aus jungen Vogelkehlchen, flatterte um die schlanken Mädchenhände und pickte zutraulich die Körner von den Lippen Stefanie's. Dort in der Ecke hatte stets das Puppenbettchen gestanden, da hatte sie manch' trüben Wintertag zwischen allen Herrlichkeiten ihrer Spielsachen gesessen, holde Weihnachtsträume zu sinnen und der Märchen zu lauschen, welche Mütterchen und Tante so köstlich zu erzählen wußten. Aber die Spielecke war mit der Zeit zu eng geworden; das flügge Vögelchen hatte die Schwingen geprüft und war hinaus in die Welt geflogen, himmelhoch jauchzend und schnurgerad dem Glück entgegen! Welch' ein Wiedersehen mit dem Turmstübchen, als Stefanie nach ihrer Reise heimkehrte! Den ganzen Winter lang hatte sie in der Residenz getanzt, geschwärmt, gesungen und jubiliert, so daß sie vor lauter Trubel nicht zu sich selber kam. Nun träumte sie in stillen Stunden von all dem Entschwundenen. Welke Blumen, Cotillonorden, Photographien, zerbrochene Fächer …

Sinnend, lächelnd in süßem Rückerinnern saß Stefanie im Mondenlicht und küßte »sein« Bild, – da war das Kind zum Weibe geworden, und die erste, heilige Liebe mit ihren Seufzern voll Schmerz und Seligkeit trat hinter dem blondlockigen Mädchen in das Turmstübchen und küßte segnend die junge Stirn. –Und dann kam er selber nach Fahren! –

Ganz selbstverständlich war es, daß Stefanie ihre neu erworbene Freundin Luise, in deren elterlichem Hause sie so viel Gastfreundschaft und frohe Stunden genossen, zum Sommeraufenthalt auf ihr heimatliches Gut einlud, und als in Luise's Briefen die Jagdpassion des Bruders zu einem stets länger und dringlicher behandelten Thema wurde, da sagte Herr von Fahrbach lachend: »Nun, der Wink mit dem Zaunpfahl ist nicht mißzuverstehen! Soll mir sehr angenehm sein, wenn der Herr Referendar unsere Küche mit frischem Braten versorgt. Lad' ihn ein, Stephy, daß er die Schwester begleitet!«

Mit welch' glühenden Wangen ward diese Einladung geschrieben, und wie viel zarte Vergißmeinnicht und Rosen trug Fräulein von Fahrbach hochklopfenden Herzens zusammen, die Fremdenzimmer für Luise und Roderich zu schmücken! –

Welch' ein unbeschreiblicher Augenblick, als der Geliebte über die Schwelle des Elternhauses trat, welch' eine wolkenlose Zeit erster, selig scheuer Liebe flog dahin im täglichen Verkehr mit ihm.

Kein Wort löste das süße Geheimnis, nur Luise war die Vertraute beider Herzen, und durch sie erfuhr auch Stefanie, daß Roderich eine tiefe, leidenschaftliche Liebe für sie empfinde, als völlig vermögensloser Mann aber mindestens seine Ernennung zum Assessor erwarten müsse, ehe er es wagen könne, um die Geliebte zu werben.

Stefanie schluchzte an der Brust der Freundin Thränen der Wonne und des Glücks! Gern wartete sie noch ein paar Jahre auf die Erfüllung ihrer Träume, wenngleich sie lächelnd sagte: »Aber Luise, gehört denn so viel Geld zum Leben? ich habe mir noch niemals Gedanken darüber gemacht, denn ich bekam es stets, wenn ich es gebrauchte! Wenn man ein Rittergut besitzt, hat man doch so viel Vermögen, daß man es gar niemals aufbrauchen kann! Fahren steht viele Tausende im Werte, und bedenke doch, wie lange kann man von tausend Thalern einkaufen, bis sie alle sind!«

»Wenn man so naiv rechnet wie Du, mein Herzchen, sieht das Leben allerdings so rosig aus,« lachte Luise, »Roderich und ich sind aber in sehr anderen Ansichten und Grundsätzen erzogen, und namentlich rechnet Roderich in sehr bescheidener, aber auch sehr solider Weise. Ihr Beiden werdet euch herrlich ergänzen! Was er zu sparsam ist, wirst Du zu splendid sein, wenn er aber einst Dein Vermögen beaufsichtigen und verwalten darf, werdet ihr nie ein Defizit in der Kasse zu beklagen haben.«

Stefanie verstand kaum den Sinn des Wortes Defizit; sie lebte sorglos, lachend und singend in den Tag hinein, doppelt freigebig wie früher, denn ihr gutes Herzchen, welches so ganz voll Glück und Sonnenschein war, konnte jetzt noch viel weniger wie früher ein trauriges Gesicht leiden, und so gab und schenkte sie mit vollen Händen, geliebt und verehrt im Dorfe wie ein guter Engel, dessen Erscheinen stets Licht und Freude mitbringt.

Und nun war aller Sonnenglanz so jählings in schwarze, hoffnungslos finstere Nacht verwandelt. Anfänglich drohte sie unter der Wucht eines solch' ungeahnten Unglücks zusammenzubrechen, aber ihr froher Kindersinn brach sich gleich einem Sonnenstrahl Bahn durch die finsteren Wolken. Sie glaubte noch mit der ganzen warmen Innigkeit ihres sechzehnjährigen Herzens an Gott und die Welt, und wenn sie auch unter heißen Thränen an Luise schrieb: »Nun ist es für ewig aus mit all' meinem Glück! sage Roderich Lebewohl von mir, er soll mich vergessen –,« so blühte dennoch tief unter der Asche, welche die glänzenden Bilder der Zukunft verschüttet, ein Blümlein treuer Hoffnung, welches sein thränenbetautes Köpfchen desto höher hob, je aussichtsloser sich die Verhältnisse gestalteten.

Luise antwortete in einem sehr erschütterten, herzlichen Briefe, in welchem die köstlichsten aller Worte standen: »Roderich wird Dich nie vergessen!« –

Der Reisewagen stand vor der Thür; die Eltern, Ilse und Stefanie waren bereits eingestiegen, nur Ella, die älteste der Töchter, fehlte noch. Schon zum zweitenmal rief Herr von Fahrbach von seinem hohen Kutschersitz herunter nach der Säumenden.

Endlich erschien sie in der grünen Gatterthür des Wirtschaftsgartens, einen kleinen Lindenzweig in der Hand. Sie sah sehr bleich aus, ihre Augen blickten wie in starrer Verzweiflung suchend über den Hof.

Plötzlich flammt es heiß über die abgezehrten Wangen. Dort, ganz weit zurück hinter allem Gesinde, steht der junge Volontär, welcher in Fahren die Landwirtschaft erlernt. Ein schöner, schlanker Mann, mit siegesgewissen Augen und dunklem Bärtchen. Als er nach dem Hut greift, blitzen die Brillanten an seinen Fingern. Er ist der einzige Sohn sehr reicher Eltern.

Ein Ausdruck der Verlegenheit fliegt über sein Gesicht, als sein Blick das Auge Ella's trifft. Es flammt ihm stolz, verachtend beinahe entgegen, dann wendet sie sich ab und steigt in den Wagen. Herr von Fahrbach neigt sich noch einmal zu seinen Leuten, welche weinend und wieder und wieder die Hände darbietend, das Gefährt umringen, er sieht auch seinen Volontär, »Leben Sie wohl, lieber Wellner! Lassen Sie einmal von sich hören!« ruft er ihm herzlich zu.

Der junge Mann tritt näher und stammelt ein paar unverständliche Worte, er neigt sich sehr tief über die Hand der Baronin, welche sich ihm gütig noch einmal entgegenbietet. Auch Ilse und Stefanie sagen ihm noch ein paar Worte, nur Ella sitzt regungslos, und starrt auf den kleinen Lindenzweig in ihrer Hand.

Herr Wellner ist befangen und sichtlich recht in Eile, er verneigt sich noch einmal hastig, stammelt etwas von einem Befehl des neuen Gutsherrn, welchen er erfüllen müßte, und verschwindet im Gedränge der immer neu herzuströmenden Bauern.

»Nun in Gottes Namen! Lebe wohl, du liebe, alte Heimat!« –

Die Peitsche knallt, noch ein letztes Grüßen und Rufen, dann greifen die Pferde aus und laut aufschluchzend drücken die Damen die Tücher vor die Augen.

Nur Ella nicht. Starr, wie versteinert sitzt sie und starrt auf die Lindenblätter in ihrer Hand.

Der Wind streicht durch das Wagenfenster, da erzittern sie leise, wie in tiefstem Weh. – Als sie noch aus der Knospe schauten, da sahen sie nieder in Ella's liebeverklärtes Angesicht und in Wellner's flammende Schwarzaugen, welcher bei allem, was ihm heilig, ewige Liebe und Treue schwur!

Und nun war ein Frost über Nacht gefallen, der hatte ein junges Herz so grausam gebrochen, wie der Herbststurm die Lindenblätter in den Staub reißt.

»Falsche Lieb'! falsche Treu'!« saust es im Winde und vor Ella's Ohren dröhnt noch immer der Klang jenes entsetzlichen Wortes, welches sie von Wellner erlauscht, als er mit dem Unterförster droben an der Waldhecke das Schicksal der Familie von Fahrbach besprach.

»Eigentlich hätte man sich diesen Krach schon längst an den Fingern abzählen können! Konnte ja keiner im Hause rechnen!«

»Fräulein Ella auch nicht?«

Er lachte brutal auf. » Die? gerade die hat sich am allermeisten verrechnet!« –

»In Ihnen, Sie Don Juan?«

»In mir.« – – – –

 

Wie ein Traum lag es hinter ihnen. Sie, die reichen, glückselig in den Tag hinein lebenden Menschen, welche in einem der schönsten Schlösser gehaust, so lange sie zurückdenken konnten, sie mußten sich jetzt in der kleinen Provinzialstadt in einer winzigen Giebelwohnung zusammenpferchen, anstatt Equipage und Dienerschaft lediglich auf die Dienste ihrer altgetreuen Kinderfrau Lisette angewiesen, welche freiwillig die Armut der geliebten Herrschaft teilte, und sogar hie und da die drückendste Not derselben linderte, wenn ihr Sohn, der wohlhabende Müller im Heimatdorfe, ein Kistchen mit Wurst und Schinken nach dem andern schickte, und Lisette nicht imstande war, solche Schätze allein zu vertilgen. – Dafür durfte noch nicht einmal ein Wort des Dankes laut werden, denn die energische Alte schnitt jedwedes mit der schier grimmigen Entgegnung ab: »Sei wüll mich wuhl tom Narren hol'n, gnä Frau! Häv över twantig Johr dat Braud von mine laive Herrsaft äten, un' Sei wull'n mi gliek den lütten Worstzipfel as 'n Präsent utleh'n! – Snacken! dorum sull keen Menschensiel dat Mul obdohn!«

Und wie manch' lieben Tag war solch ein lütten Wurstzipfel das einzige Fleisch, welches auf den Tisch des Herrn von Fahrbach kam!

Darum aber sah man im Hause dennoch keine unglücklichen, mürrischen oder verbitterten Gesichter, und mit allgemeiner Rührung und Teilnahme beobachtete man es, wie leicht und glücklich sich die Familie in ihr herbes Schicksal fand. Nun sah man erst, daß die jungen Baronessen durchaus keine verwöhnten und anspruchsvollen Damen waren, welche das viele Geld für ihre persönliche Behaglichkeit, für Luxus, Putz und Näschereien vergeudet, sondern daß sie sehr praktische, schlichte und fleißige Mädchen waren, welche für ihr Leben gern geschenkt und gegeben hatten, welche lediglich ihre Ausgaben nicht berechnen konnten und viel Geld unnütz und zwecklos verschleuderten, weil sie nicht den richtigen Maßstab anzulegen verstanden.

An den Giebelfenstern blühten Blumen, wehten schneeweiße Gardinen und blitzten blendend saubere Scheiben, und wenn man jenseits am Marktplatz stand, konnte man hinter Fuchsia, Levkoyen und Goldlackstauden die blondlockigen Scheitel der drei Schwestern leuchten sehen, welche sich emsig auf die Arbeit niederbeugten.

Sie verdienten sich ein karges Sümmlein durch ihrer Hände Arbeit. Ilse malte sehr allerliebste, oft äußerst genial entworfene Modelle für Neujahrskarten, welche zu ihrer Seligkeit von einer Fabrik angekauft und sogar recht schön honoriert wurden; Stefanie bunzte elegante Lederarbeiten für ein Galanteriewarengeschäft und Ella verfertigte jedwede Handarbeit, mit welcher sie eine Putz- und Weißwarenhändlerin beauftragte.

Anfänglich flogen die paar Thaler schnell und meistens für nichts durch die Finger, bis Lisette eines Tages schalt: »Dar sitten die gnä Frölen Dag für Dag un' knütten, un' pünseln un' rackern sich af wie dat leiwe Vieh, un' tom Enne möten se doch verhungern. Jetzt gieft mi mal die Groschens her, – Sei künnt so nich rechnen, dat wi utkömm' dermit!« – Und so geschah es, die Schwestern lieferten lachend ihren Verdienst an die treue Lisette ab, und der Haushalt war besser und behaglicher im Gange wie je.

Ganz ehrlich aber war das blonde Kleeblatt doch nicht, denn wenn die Alte die Barschaft einkassiert und in ihren derben Nägelschuhen freundlich brummend hinaus stampfte, steckten die Schwestern heimlich kichernd die Köpfchen zusammen, huschten zu dem alten Glasschrank in der Ecke und holten vorsichtig eine alte, silberne Theebüchse hervor. Darin klang und klirrte es, und jedes Händchen streckte sich hastig aus, um ihren geheimen Silberschatz, welcher sogar schon mit der Zeit in blankes Gold umgewandelt war, um eine kleine Zuthat zu vermehren.

Sie sparten! – Für was, war ihnen noch unklar, aber Weihnachten rückte immer näher, und just zu diesem liebsten Feste sollte der verborgene Sesam seinen Reichtum spenden. Welch' ein glückseliges Raunen, Flüstern und Wichtigthun! Eine Summe, die sie früher als Nichts erachtet haben würden, deuchte ihnen jetzt unermessen.

Ilse war die Uebermütigste. »Sechs Mark behalte ich mir aber vor!« tanzte sie mit ausgebreiteten Armen durch das enge Stübchen. »Ich muß mich ja photographieren lassen und Theo mein Bild schicken. Es ist sein sehnlichster Wunsch, denn noch in dem letzten Briefe klagte er, daß sein kleines Medaillonbildchen, das einzige, welches er von mir besäße, schon ganz abgeküßt sei!« –

»So hat er Dich wahrlich treu und uneigennützig lieb!« sagte Ella leise, den Arm zärtlich um die Glückliche legend. »O Ilse, gebe Gott, daß Ihr Beide Euch angehören könnt!«

»Und ich –« jubelte Stefanie, »ich bunze für ›ihn‹ eine kleine Ledertasche, in welcher er mein Bild tragen kann, denn Luise schreibt, daß er es Tag und Nacht mit sich führe und die Photographie dadurch schon sehr gelitten habe! –In zwei Jahren hofft Roderich in Diensten des Konsulats nach dem Ausland geschickt zu werden, und da er dann verhältnismäßig hohen Gehalt bekommt, will er auf keinen Fall ohne ein lieb' Frauchen reisen!«

»Und dieses liebe, süße Frauchen wird keine Andere sein, wie Du, meine Stephy!« jauchzte Ilse. –»O Gott, wie könnten wir schon Alle glücklich sein, – wenn …«

»Nun, ›wenn‹?«

»Wenn wir nur ein klein wenig Geld hätten!« seufzte das Offiziersbräutchen, »es ist so peinlich, dem Geliebten nichts, nichts als sich selber entgegenbringen zu können, und namentlich Ella, die sich vielleicht in einen Mann verliebt, der auf eine Mitgift rechnen muß –«.

Eine eiskalte, kleine Hand legte sich auf ihren Mund. »Still, still, mein Liebling –,« flüsterte das junge Mädchen mit einem herzzerreißenden Lächeln auf den bleichen Lippen, »so etwas ist undenkbar. Ich bleibe entweder bei den Eltern oder werde Diakonissin; das Heiraten taugt nicht für Jedermann.«

Nachdenklich sah Ilse in das ernste, schwermütige Antlitz der Sprecherin. »Wunderlich, Ella, wenn ich Dich nicht Tag und Nacht unter Augen gehabt hätte, würde ich darauf schwören, Du habest eine unglückliche Liebe! Hahaha! wie feuerrot sie wird!! Beinahe, als habe man sie auf einem Unrecht ertappt. – Je nun, wir verlangen ja keine Beichte, welch' ein Romanheld es Dir angethan, denn andere Ritter, wie solche in Druckerschwärze, sind wohl nie in Deine jungfräulich spröde Atmosphäre gelangt. Kommt Kinder! laßt uns singen! – Mir ist so himmelstürmend glückselig zu Sinne – als müsse ich meines Herzens Hoffen und Träumen in die Welt hinausjubeln!« –

Hastig flog der Klaviersessel zur Seite und Ilse griff in die Tasten –:

»Es sitzen drei Mädchen am hellen Kamin
Und singen, und plaudern und spinnen!
Da sagte die Erste, (und das bin ich!!) so schön wie mein Schatz,
So wird man kein' Zweiten mehr finden!
Mich freut es nur, daß ein Husare er ist,
Wie blitzet sein Auge voll Mut und voll List!
Und wenn er reitet, so schön,
Ja, ja, das sollt' Ihr nur seh'n!
Dann hüpft mir das Herz voller Wonne!
Ich hab's ja immer gesagt, soll ich einmal frei'n,
Dann darf's ein Soldat nur, und zwar ein Reiter sein!«

Stefanie drängte die Sängerin übermütig bei Seite und fuhr mit glockenheller Stimme fort:

»Da lachte die Zweite: Das ist wohl schon wahr,
Doch will ich dich d'rum nicht beneiden –
Denn ach, ›dein Herr Leutnant,‹ der flucht mir zu viel,«

»Oho! –Das ist Verleumdung!« –

»Ich mag auch die Schnurtbärt' nicht leiden!«

»Geschmacksache!!!«

Unbeirrt trällerte Stefanie weiter

»Mein Ferdinand –«

»Roderich!! –«

»Der ist ein hochweiser Mann!
Er ist noch gelehrter, wie unser Kaplan!
Und wenn er dichtet, so schön!
Ja, ja, das sollt' Ihr 'mal sehn,
Er nennt mich sein Täubchen, sein Röschen!« –

»Laß seh'n, ob's wahr ist!« – jubelte Ilse, Stefanie aber erhob sich, machte Ella einen feierlichen Knix und bot ihr den Klaviersessel an. »Nun spricht die Dritte!«

Ella schüttelte abwehrend das Haupt und trat an das Fensterbrett; wie in zufälligem Spiel strich ihre Hand über ein kleines Lindenstöckchen, welches sie sich mit größter Mühe und Sorgfalt aus einem kleinen Zweige ihrer heimatlichen Lieblingslinde gezogen. –Das Ästchen war in den drei Jahren, seit es geschnitten, zwar nicht sonderlich gewachsen, aber es war auch nicht vertrocknet, und das genügte dem bescheidenen Sinne Ella's.

»Nun? darf ich bitten, meine Gnädigste?!!«

»Laß sein, Stefanie! Du weißt, daß die Dritte nicht persönlich redet, sondern, daß nur Folgendes von ihr der Wahrheit gemäß berichtet wird!«

Ilse nahm übermütig Platz, spielte einen kecken Lauf und fuhr singend fort:

»Die Dritte sagt gar nichts und spinnet und spinnt –
Ist fleißig und g'rad wie ein Bienchen!
Die ist noch gar jung, weiß noch nichts von der Lieb',
Sie ist ein gar herzig' Blondinchen!
Jetzt reißt ihr der Faden! Was ist ihr gescheh'n?
Sie blickt sich ein wenig … was hab' ich geseh'n?
Ein Brief von Rosenpapier
Steckt unter'm Brusttuche ihr;
Wie kann uns der Schein doch betrügen,
Was Jene plaudern ganz laut,
Hat sie noch Keinem vertraut:
Denn junge Lieb' ist verschwiegen!« –

Neckend blinzelte die Sängerin zu der ernsten Schwester herüber, welche sich tief, tief über die Lindenblättlein neigte, – gleicherzeit aber öffnete sich die Thür, ein mächtiger Besen schwankte herein, zwei Wassereimer wurden hart aufgesetzt und Lisette's Rüschenhaube nickte über die Schwelle. Sie stemmte die Arme in die Seiten und starrte auf die jungen Damen. »Du leiwe God! jetzt quiddelieren's ok noch!!! Mit jedem Dag wird's Verdienst infamigter, anstatt twe Dahler die Woche nur noch fünf Mark – vun doderbei maken's noch Snädderädäng! – Na, in God's Namen, Kinnings, singt all tau! – Jong Vieh hot jong Mut – dat is'n oll wahr Sprichwort!« –

Kichernd und prustend vor Lachen stob es auseinander; – nach zwei Minuten saßen die jungen Damen wieder an der Arbeit und Lisette hantierte mit Besen und Schrupper, als müßte sie die vermißte Mark durch doppelte Reinlichkeit wieder einbringen. – – –

 

Nun stand Weihnachten vor der Thür, das liebe, gnadenbringende, glückselige Weihnachten. – Der Schnee wirbelte leise und dicht durch den dämmernden Morgen; Ilse kniete vor dem Ofen und blies nachdenklich in's Feuer, – da sprangen die bläulichen Funken knisternd von einem Stückchen Kienholz zum andern, schneeweiße Rauchfähnchen kräuselten auf und dann schlug eine helle Flamme in die zierlich aufgebauten Kohlen hinein. – Hei, wie das knattert und faucht! Nun wird es gleich warm im Stübchen werden und die Eltern finden es behaglich und nett, wenn sie aufstehen! –

Sonst war Ilse meist sogleich in die Küche gelaufen, wenn das Feuer brannte, um Lisette bei dem Kaffeebrauen behilflich zu sein, heute saß sie regungslos vor der Ofenthür und starrte in die höher und höher aufprasselnden Flammen.

Die Thür ward geöffnet, – leichte Schritte traten über die Schwelle und die Kaffeetassen klirrten in Stefanie's Hand.

»Nun, Ilse! so ganz in Gedanken?« –

Ein tiefer Seufzer. – »Hm … ich habe so einen absonderlichen Traum gehabt und möchte gern wissen, was er bedeuten mag.«

»Absonderlichen Traum? wie, Du auch?«

Ilse schnellte herum.

»Du etwa desgleichen?«

»Gewiß … gar zu komisch, sage ich Dir –«

»Erzähl' schnell! – Ich habe ja eine große, goldene Zahl gesehen! Die ganze Nacht –«

»Eine Zahl gesehen? Du ebenfalls?« schrie Stefanie auf und ließ beinahe das Kaffeebrett auf die Erde fallen –: »Welche Zahl sahst Du?«

»Nenn' die Deine!« –

Und beinahe à tempo klang es von beiden Lippen: »Siebenhundertfünfundachtzig!«

Beide schraken zusammen und wurden ganz bleich vor Ueberraschung –: »785! – Gott im Himmel, wir Beide dieselbe Zahl! was mag das bedeuten?«

Stefanie fühlte ihre Kniee zittern und setzte sich mechanisch nieder. Ilse aber starrte mit geheimnisvoller Miene und weitoffenen Augen in die Feuersglut: »Ich sah die Zahl groß und hellleuchtend, wie aus lauter Sternen zusammengesetzt –«

»Ich auch! – ich auch! – sie schwebte vor mir in der Luft!«

»Vor mir auch!«

»Ich griff danach!«

»Ich auch!«

»Ich hielt sie in der Hand – da floß die Zahl zusammen zu einem feurigen Herzen –!«

»Allmächtiger! ganz wie bei mir, – das ist Spuk!« –

»Ilse!«

»Stefanie!«

»Was mag das bedeuten?«

Abermals knarrte die Thür; Ella schaute erstaunt auf die Schwestern: »Kinder, was fehlt euch?«

»O Ella, Ella, unser Traum!«

»Wie? Habt ihr auch so sonderbar geträumt?«

Sprachlos starrten sich die Drei an. – »Du … Du … etwa ebenso?« stotterte Ilse.

Ella setzte sich an den Tisch und stützte sinnend die Stirn in die Hand. »Zu seltsam,« – sagte sie leise, »ich habe die ganze Nacht eine große, leuchtend helle Zahl gesehen –«

»Welche! welche?« keuchten die beiden Anderen, fiebernd vor Erregung.

»Eine dreistellige Zahl – – Siebenhundertfünfundachtzig …«

Ein Doppelschrei –: »785!!«

Ueberrascht schaute Ella auf. »Träumtet ihr etwa dasselbe?«

»Genau dasselbe! Die Zahl war aus goldenen Sternen zusammengesetzt –«

»Ja! – Woher wißt ihr das?«

»Du griffest danach –?«

»Ganz recht.«

»Da ward ein Herz daraus?«

»Ein Herz? nein, – in meiner Hand erloschen die Sterne; da schenkte ich sie Euch, und sie glühten abermals auf!«

»Wunderlich, in diesem Schlusse weicht Dein Traum von dem unserem ab!«

»Aber die Zahl ist genau dieselbe!«

»Himmel! Himmel! was mag das bedeuten!«

Ella erhob sich in höchstem Erstaunen. »Nun erklärt mir aber, was Ihr eigentlich vorhabt? Woher wußtet Ihr bereits meinen Traum?«

Da zogen Ilse und Stefanie die Schwester mit glühenden Wangen zu sich nieder auf den Fenstertritt, und es begann ein Flüstern, Aufschreien, Staunen und Verwundern ohne Ende.

Was mag's bedeuten? Ein Zufall ist das nun und nimmermehr! Drei Schwestern träumen in einer Nacht ein und denselben wunderbaren Traum, obwohl keinerlei Vorkommnis oder Gespräch eine Veranlassung dazu gegeben? Nach einer wahren Begebenheit. ( Anm.d.Verf.) Das grenzt an das Wunderbare, an das Spukhafte! Was mag's bedeuten?

»Wenn wir doch eine Wahrsagerin fragen könnten!« seufzte Ilse.

»Undenkbar! Welch' ein Gerede in dem kleinen Städtchen, wenn das ruchbar würde.«

»Oder wenn wir ein Traumbuch hätten!«

»Ich geniere mich, danach in einem Laden zu fragen.«

»Ich auch.«

»Vielleicht holt uns Lisette eins.«

»Lisette! Das ist ein Gedanke! Die Alte ist ja in mancherlei geheimnisvollen Künsten bewandert, sie bespricht das Blut, weiß ein Mittel gegen den Alpdruck, gegen Ratten und Mäuse …«

»Gewiß! Lisette weiß sicherlich auch mit Träumen Bescheid!«

»Fragen wir sie!«

»Aber vorsichtig, forscht erst aus, wie der Barometer ihrer Laune steht.«

»Da kommt sie! Pst!« …

Alle drei sprangen mit glühenden Wangen empor und erwarteten die Eintretende.

Mit dem gewohnten kurzen Ruck flog die Thüre auf. Lisette trat ein. Noch trug sie ihre erste Frühmorgentoilette, den weiten, bäuerischen Friesrock, ein dickes Wolltuch zipfelig über die buntblumige Nachtjacke gebunden, die mächtige weiße Krusselhaube auf dem Kopfe und weiche Filzschlappen an den Füßen.

Sie war noch etwas in Gedanken, starrte nachdenklich auf das Mustöpfchen nieder, welches sie zu dem Kaffeetisch tragen wollte, und schlurrte eilig fürbaß.

»Guten Morgen, Lisettchen!«

»Hm … hm … Kinnings!«

»Gut geschlafen, Lisettchen?«

»Hm … hm …«

»Auch was Schönes geträumt, Lisettchen?«

»Hm … hm …«

Da schlangen sich von rechts, links und rückwärts ein paar weiche Arme um sie, in stürmischer Liebkosung die Alte hin- und herreißend wie einen Leckerbissen, um welchen sich die Hühner zanken.

»Lisettchen, liebes Herzenslisettchen, glaubst Du etwa an Träume?«

Erstaunt riß die Ueberraschte die Augen auf und wackelte einen Moment mit dem zahnlosen Munde. – »Töv'n beten! Hävt 'r etwan den Veitsdanz kriecht, ihr Lüttjen?«

»Lisettchen – glaubst Du an an an Träume?«

»Snacken!« – und die Alte angelte eifrig mit dem Fuße nach ihrem Schlapppantoffel, welchen sie mit samt dem Gleichgewicht verloren.

»Aber süßes Lisettchen, wir haben doch etwas gar zu Wunderbares geträumt!«

»Dat mag 'n gauter Unsinn sein!«

»Wahrhaftig kein Unsinn, Lisettchen! Denk' mal, haben alle Drei ein und dieselbe Zahl im Traume gesehen!«

In den alten Aeuglein flimmerte bereits Interesse. Aber dennoch schlittete des Hauses treue Hüterin geringschätzig nach dem Ofen und tippte gegen die Kacheln, ob er schon warm werde.

»Zahlen?« murmelte sie. »Zahlen taugen all gar nix! – Awerst Nullen, – Nullen sin' gaut!«

Mit enttäuschten Gesichtern rückte das Gros der Stürmenden nach und trieb die Alte in der Ofenecke in die Enge.

»Zahlen sind schlecht? Nullen hätten wir sehen müssen?«

»Na, dat kümmt op't Verhalen an!« wackelte die Tolle an der Haube schon etwas eingehender nach den Fragenden hin: »Dat will richtig utleiht sin!«

»Ach einzige, beste, teuerste Olsch! Du kannst ja so prachtvoll Träume deuten. Du kannst ja überhaupt Alles, Lisettchen, was man sich nur denken mag! – Du bist so furchtbar klug. Liebes, süßes Liesing, hör' an, lege uns den Traum aus.«

Die Alte war ganz und gar Huld geworden. Sie hörte gern, daß sie furchtbar gescheit war, darum nahm sie feierlich auf einem Stuhle Platz, legte beide Hände mit gespreizten Fingern auf die Knie, drückte das Kinn an und sagte feierlich: »Na, dann vertellt mi ma de Sak'!«

Um sie her kniete und hockte es mit eifersprühenden Augen, und gleich einem Wasserfall brausten die Worte durcheinander, das große Ereignis zu berichten.

Da schüttelte sich die weiße Rüschenhaube wie ein Wirbelwind. »Töv'n beten! Wenn Sei wie die Gös dorchnander snattern, soll der Düwel 'n Wort verstahn!«

Da griff Ilse allein den verwirrten Faden der Erzählung auf, und dieweil sie geheimnisvoll flüsternd den außerordentlichen Fall vortrug, stand Ella mit gesenktem Haupte und verschlungenen Händen, Stefanie jedoch durch stumme Gesten lebhaft unterstützend, zu ihrer Seite.

Lisette würdevoll, ohne mit einer Wimper zu zucken, auf rohrgeflochtenem Pythiasessel in der Mitte. Obwohl sie durch keinerlei Zeichen, weder Laut noch Bewegung, den Eindruck verriet, welchen der Rapport auf sie machte, bekundeten dennoch ihre flimmernden Grauäuglein das hochgradige Interesse und die geschmeichelte Genugthuung über solch' ehrenhafte Konsultation.

Endlich hielt Ilse hochatmend inne, und Stefanie legte wuchtig beide Hände auf die Schultern der Alten und fragte dumpfen Tones: »Nun, Lisette? Glück oder Unglück?!«

Die Norne im Zwilchrock nickte ein paar mal sinnend mit dem Haupte, strich mit dem Handrücken unter der Nase her und blickte dann entschlossen auf. »Wat dat bedüten sall? für'n riken Minschen wat gautes, äwerst för Euch armet Rackertüg gor nix in mindesten. Der Traum bedüt, dat sei all Drei in de Lottri spölen solln, drei Mal de Zahl 785 tausammenrechnet, un' wat rutkömmt, als Losnommer dreckt, – – dat künn rike Mächens dohn, äwerst sei hätt' jo keen Heller nich', sei künnt' ok nich in de Lottri spöl'n!«

Sprachs diktatorisch, erhob sich und schlurrte unnahbar wie sie gekommen, wieder hinaus.

Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen, nur die Kohlen knallten im Ofen und der Wind trieb ein paar Eiskörner gegen die Scheiben.

»Ja, uns armen Mädchen nützt es nichts, wir können ja nicht in der Lotterie spielen!« seufzte Stefanie endlich schwer auf, und Ella griff resigniert zu ihrer Arbeit und flüsterte: »Ja, Ihr armen Dinger, es nützt Euch nichts!«

Ilse fuhr mit glühenden Wangen empor und warf sich stürmisch an Ella's Brust: »Doch, doch, es könnte uns alles geträumte Glück bringen, wenn Ihr Beiden nur wollt!«

Ueberrascht blickten die Schwestern die Erregte an,

Ilse aber fuhr hastig fort: »Haben wir nicht dort in der Theebüchse unsern geheimen Schatz? können wir denselben nicht verwenden, wie wir wollen, und ein Los dafür kaufen? ›Man biete dem Glücke die Hand!‹ stand nicht so auf den großen roten Zetteln hinter den Fensterscheiben des Zigarrenladens?«

»Hurrah! hurrah!« – jauchzte Stefanie, und Ella nickte hastig: »Gewiß, die große Kirchenbaulotterie, mit hunderttausend Thalern Hauptgewinn!«

»O Herr des Himmels, wenn wir das große Los gewönnen!!«

»Schnell, schnellt Ilse, rechne dreimal unsere Zahl 785 zusammen, wie Lisette sagte.«

»Und dann sofort hinüber zu dem Zigarrenhändler. Eben schließt er den Laden auf!«

»Und jetzt sind wir noch ungestört und unbeobachtet. wir können das Los kaufen, ehe es Jemand bemerkt.«

»Hurrah, das große Los!«

»Schnell, schnell, Ilse, rechne zusammen!«

»Gewiß – ich suche ja schon den Bleistift.« Mit zitternden Händen wühlte sie in ihrem Schreibkästchen, dann sank sie vor dem Tische nieder und begann mit fiebernden Pulsen das Exempel. Dreimal 785. Das ist eine schreckliche Zahl, aber es geht schon, es muß gehen! –

Ilse rechnete mit allen Fingern; endlich ist das Problem gelöst: »2255!« ruft sie feierlich und die Schwestern wiederholen mit heiligem Schauder die Nummer des großen Loses: »2255!« Und dann liegen sie einander stumm in den Armen.

»Laßt uns den lieben Gott um seinen Segen bitten!« flüstert Ella. – Da neigen sich die drei Blondköpfchen und sprechen ein kurzes, aufgeregtes, aber herzinniges Gebet.

»Und nun schnell, schnell! Ilse und Stefanie, Ihr beide geht und kauft das Los!« Schnell und lautlos fliegen die beiden jungen Damen die Treppe hinab. Die Schneesternchen umwirbeln sie wie lauter feurige Zahlen, – und dann klingelt die Schelle des Zigarrenladens; – angstklopfenden Herzens treten die seltenen Käuferinnen ein. – Gottlob, das Geschäft ist noch unbesucht.

Herr Schulze, der freundlich jugendliche Inhaber erscheint in noch etwas unfertiger Toilette, prallt erschrocken bei dem Anblick der Baronessen zurück und tänzelt wenige Sekunden danach im türkischen Schlafrock und einem weißen Taschentuch um den Hals über die Schwelle, – in der Eile wußte er das Chemisett nicht besser zu ersetzen.

»Ei, ei, meine Damen! welch' eine frühe Ueberraschung!« lächelt er galant und will einen Kratzfuß machen, welcher aber in der Enge hinter dem Ladentisch nur ein beängstigendes Flaschenklirren verursacht: »Was befehlen die gnädigen Fräuleins in so früher Morgenstunde?«

Ilse ist am couragiertesten. Sie entwickelt mit sich überstürzenden Worten ihren Wunsch, das Los Nr. 2255 kaufen zu wollen.

Herr Schulze ist etwas betroffen. »Ja, meine Damen!« zuckt er die Achseln. »Das dürfte ein schwieriges Beginnen sein. Die Ziehung ist bereits in sechs Wochen, alle Lose sind versandt und ich bezweifle sehr, daß gerade ich das Los Nr. 2255 bekommen haben sollte.«

»Ach, Herr Schulze, wir müssen es aber haben!« – flehen die rosigen Lippen höchlichst erschrocken.

»Nun, ich werde 'mal auf meiner Liste nachsehen, aber es wäre ein ganz unglaublicher Zufall.«

Er blättert eifrig in einem großen Buche und entfaltet einen zahlenbeschriebenen Bogen. – Sein Finger streicht eifrig die Rubriken herab, plötzlich zuckt er empor –: »Ah, wahrhaftig!« –

»Es ist da?« – jauchzt es ihm gegenüber im Duett.

»Ja, meine Damen – hier steht die Zahl – das ist ja in hohem Grade merkwürdig!«

»Schnell, schnell geben Sie her, Herr Schulze!« –

Der Zigarrenhändler nimmt ein Päckchen Lose aus einem Schubfache und läßt sie suchend durch die Finger gleiten. Endlich ist er fertig damit. »Na nu?« murmelt er und beginnt aufs Neue zu suchen. Abermals vergeblich.

»O Gott, es wird doch nicht schon verkauft sein?« –stöhnt Ilse.

»Werde gleich einmal nachsehen, gnädiges Fräulein!« und nun blättert er wieder in dem Buche. – Endlich fährt die fleischige Hand verlegen kratzend in das blonde Haupthaar –: »O Jerum, Jerum!« –

»Verkauft, Herr Schulze?«

»Leider, leider, meine Damen. Drunten in der Webergasse hat's der Noppe, der alte Halsabschneider, gekauft.«

»Ach, wir gehen hin und bitten ihn –«

»Sie hingehen? unmöglich, meine Damen, der saubere Patron steht in viel zu üblem Rufe. Aber ich selber könnte ja vielleicht mein Heil versuchen, wenn die Fräuleins durchaus auf diese Nummer bestehen! Hm? warum denn gerade diese Nummer? Sehen Sie 'mal, hier liegt gerade Nr. 2355 obenauf. Nehmen Sie doch diese, Baronesse! In Ihren Händchen gewinnt sie eben so sicher, wie die andere.«

Ilse schüttelte energisch den Kopf. »Es muß 2255 sein, Herr Schulze.«

»Unwiderruflich?«

»Ganz unwiderruflich!«

»Nun, dann will ich gern einmal mein Heil versuchen, obwohl ich nicht recht an einen Erfolg glaube. Ich werde den gnädigen Fräuleins sofort das Resultat! melden. Also 2255! – Hm … zu schade, daß es gerade 2255 sein muß. – Darf ich mir vielleicht erlauben, zu fragen  …«

Eine dunkle Gestalt erschien vor der Glasthüre des Ladens und Ilse legte bedeutungsvoll das Fingerchen auf den Mund: »Pst! Es kommt Jemand, – und die ganze Sache ist tiefstes Geheimnis. – Ich verlasse mich also ganz auf Sie, Herr Schulze, und hoffe das Beste!«

»Gewiß, gnädiges Fräulein, gewiß!« dienerte der Inhaber der Firma C. A. W. Schulze Nachfolger, beseligt durch den Gedanken, mit dem reizenden kleinen Fräulein ein wichtiges Geheimnis zu haben, – und er chassierte hinter dem Ladentische hervor, die Thüre hinter den neuen Kundinnen zu schließen. Mit einer Hand hielt er krampfhaft den Schlafrock übereinander, auf daß er Alles zudecke, was noch an der Toilette mangelte, und mit der anderen griff er nach der Thürklinke, graziös, mit abgespreiztem kleinen Finger, ob wohl Fräulein v. Fahrbach's ihm bereits den Rücken kehrten und durch den Schneesturm davoneilten.

– – – Wie sich drei geängstigte Vöglein im Nest zusammenducken, sehnsüchtig wartend, bis der Alten Flügelschlag näher rauscht, so saßen die drei jungen Mädchen in der Dämmerung im Ofeneckchen, und lauschten atemlos auf jedes Geräusch, welches auf der Treppe laut ward.

Einmal hatte sie der Postbote, ein andermal der Hauswirt, welcher auf den Boden stieg, zu glühenden Wangen emporgeschreckt, jetzt war Alles totenstill, nur die Wanduhr schallt leise von der Wand: »Träu – me – Schäu – me« – und ein Wagen fuhr drunten mit quietschenden Rädern durch den hohen Schnee. –

»Er ist aber ausgegangen!« flüsterte Ilse, »ich stand hier am Fenster und sah ihn in Hut und Mantel das Haus verlassen. Er grüßte mich auch, und seine Geste sprach deutlich aus: ›Jetzt gehe ich in die Webergasse zum alten Nobbe!‹«

»Nun, dann muß er auch noch kommen. Er versprach doch, sofort zu melden, wie seine Expedition ausgefallen!«

»Horch klopft es nicht draußen ganz leise?« –

»Pst … ich höre nichts …«

»Doch … soeben wieder –«

»Wir wollen hinausschleichen –«

»Nur leise, daß Mama und Lisette nichts merken!«

»Die lesen, Gottlob, im Schlafzimmer Wäsche aus«

»Um so besser. Also leise hinaus … ja, ja, es klopft wieder! Seltsam … daß wir gar keine Schritte hörten.«

Auf lautlosen Sohlen schlichen die jungen Damen zur Thüre, öffneten leise und lugten hinaus.

»Herr Schulze!« klang's wie ein Aufatmen der Erlösung von Aller Lippen.

Da stand der brave, pflichtbewußte und verschwiegene Herr Schulze in blauen Wollsocken vor der Thüre, hielt die Stiefeln an der Strippe und machte ein Kompliment um's andere.

»Meine Damen!« – flüsterte er.

»Um Gottes Willen, Herr Schulze. Sie haben keine Stiefeln an. –Sie werden sich erkälten!« entsetzte sich Ella. «

»Bitte – bitte!« wehrte er galant ab – »ich stehe auf der Strohmatte. – Meine Stiefeln knarren so sehr und hätten das Geheimnis womöglich verraten.«

»Das Geheimnis. Ach du liebe Zeit! – Bester Herr Schulze, wie steht es damit?«

Er senkte kläglich das blonde Haupt und die Stiefeln baumelten wehmütig an dem schlaff herabhängenden Arme.

»Alles – Alles umsonst, meine Damen!« – hauchte er mit Grabesstimme.

»O wie entsetzlich! Ließ er sich nicht erweichen, ließ er sich gar nicht erbitten, Herr Schulze?« jammerte das Kleeblatt mit gerungenen Händen.

»Alles umsonst, – 2255 ist ewig für Sie verloren!«

Ilse schluchzt leise auf – Stefanie neigt schwermütig das Köpfchen gegen den Thürpfosten und Ella flüstert verlegen: – »Ich darf Sie wohl nicht bitten, näher zu treten, Herr Schulze … Sie bekommen so kalte Füße …«

»Das ist mir eine Auszeichnung!« – haucht der Hiobsbote schwermütig »Ich würde gern barfuß durch den Schnee laufen, könnte ich den Damen nur den Wunsch erfüllen, aber der alte Nobbe ist durchaus unzugänglich …«

»Ungeheuer! – Scheusal!« –

Herr Schulze fuhr erschrocken zusammen, Ella aber beruhigte ihn seufzend: »sie meint den alten Nobbe.«

»Ach so … sehr wohl … denn ich, meine Damen, ich verdiene wahrlich keinen Vorwurf –« Der Sprecher hob den rechten Arm mit der Zugstiefelette beteuernd gen Himmel, – »ich that alles, was in meinen Kräften stand.« – –

»O, Herr Schulze, bester, gütigster Herr Schulze, wir sind Ihnen unendlich dankbar, wir erkennen Ihre Bemühungen von ganzem Herzen an!« klang es in holder Verwirrung um ihn her, und der also Umschmeichelte nahm schnell die beiden Stiefeln in eine Hand und legte die andere beteuernd auf das Herz.

»Was in meinen Kräften stand, sollte geschehen, den Wunsch der Damen zu erfüllen, das Schicksal aber hat mich dem alten Nobbe gegenüber machtlos gemacht! – Oh, meine Damen – ich fühle mit Ihnen –ich … empfinde innigst …«

Die Bodenthüre knarrte – »Wahren Sie das Geheimnis, Herr Schulze!« klang es angstvoll, und wie von der Tarantel gestochen, schnellte der Sprecher, seinen schönsten Gefühlserguß unterbrechend, herum und sauste, patsch, patsch, auf Strümpfen die Treppe hinab.

Die drei jungen Mädchen aber flohen zurück in ihre Ofenecke, und als Lisette das Licht brachte, war sie glücklicherweise zu sehr mit ihren Gedanken beim Wäschekorb zurückgeblieben, um zu bemerken, daß die drei Kinnings rotgeweinte Augen hatten.

Als sie am anderen Morgen Petroleum bei der Firma C. A. W. Schulze geholt hatte, standen die jungen Damen zufällig in der Küche. »Na, wie geht es denn Herrn Schulze?« fragte Ella.

Lisette sah etwas zerstreut empor. »Der Alte oder sin Jong?«

»Der junge Herr Schulze!«

»Dei hat'n Schnuppen. Sine Näs sitt' em wie'n Karfunkel in't Gesichte, un öber Zähnewieh klagt hei ok!«

Die jungen Damen wechseln einen bedeutungsvollen Blick: »Das kommt von den Strümpfen!« flüstert Ella voll Mitgefühl und die Schwestern hauchen pathetisch: »Nun leidet er für seinen Opfermut.« – – –

 

Immer näher rückte das Christfest heran und die drei Schwestern saßen abermals im Dämmerlicht zusammen und hörten melancholisch zu, wie es in dem Ofen sauste und fauchte, wie lustige Schellengeläute drunten auf der Straße vorbeiklingelten und die Kinder im beglückenden Verkehr mit Schlitten und Schneeball jauchzten, wie ein Völkchen, welches völlig aus Rand und Band gekommen.

Die Fräulein v. Fahrbachs hatten stets ein offenes, teilnehmendes Herz für ihres Nächsten Freud' und Leid, heute aber waren sie in so niedergedrückter Stimmung, daß die Außenwelt ihnen fern lag wie etwas lang Aufgegebenes und Verlorenes.

»Ja, lieben Kinder, wir müssen uns nun entscheiden,« seufzte Ilse. »Das Los Nr. 2255 ist uns verloren, ein anderes zu nehmen hat keinen Zweck und Weihnachten steht vor der Thüre. Laßt uns nun überlegen, was wir für das ersparte Geld kaufen wollen, denn eine Freude wenigstens müssen wir für die zertrümmerten Hoffnungen haben.«

Man beratschlagte her und hin, aber der rechte Eifer fehlte bei der Sache und darum kam man zu keinem Entschlusse. –

Plötzlich hob Stefanie lauschend das Köpfchen. »Es ist mir immer, als ob es hier an der Flurwand klopfte.

»Wer soll klopfen? Es wird im Ofen oder unter uns in der Etage sein.«

»Nein, nein, hört doch –soeben wieder!«

»Pst!« …

»Wahrlich, es klopft.«

»Das gilt uns! Das ist ein heimliches Zeichen, das kann nur Schulze sein.«

»Himmel, wenn er gute Nachricht brächte.«

»Schnell hinaus! Aber leise, daß man uns nicht hört!« –

Fiebernd vor Interesse und Hoffnung huschten die jungen Damen hinaus.

»Herr Schulze! Herr Schulze!«

Das war ein dreifacher Jubelschrei.

Da stand er wahrlich vor ihnen, diesmal mit dicken Filzbabuschen über den Stiefeln und einer Pelzkappe auf, die das halbe Gesicht verhüllte.

»Meine Damen, hier ist es!« stieß er hastig hervor und schwenkte einen Papierstreifen in der Luft –: »Hier ist es, und ich gratuliere Ihnen!«

Sechs Händchen streckten sich zitternd in freudigem Schreck dem Lose entgegen: »Nr. 2255! hurrah!!«

Ella fand zuerst Worte. »Ach, bester Herr Schulze, wie haben Sie das möglich gemacht?«

Der junge Mann stellte sich in graziöse Pose und deklamierte im falschen Pathos: »Gestern noch auf stolzen Rossen, heute durch die Brust geschossen Aus dem Gedicht »Reiters Morgenlied« von Wilhelm Hauff (1802-1827). ( D. Hrsg.) – –.«

»Herr Gott des Himmels! – wer?« –

Herr Schulze erschrak über die Wirkung seiner Worte. »Oh, meine Damen – ich meine das nur sinnbildlich – ich wollte damit sagen, wie es so plötzlich über einen Menschen kommen kann. Gestern fuhr der alte Nobbe noch mit stolzen Rossen spazieren und heute – hat er Bankerott gemacht. Vorher ist er aber zu mir gekommen, ob ich das Los zurückkaufen wolle, er müsse augenblicklich bar Geld haben. –Da ist es, meine Damen – und wie ich schon gesagt – ich gratuliere Ihnen!«

Große, stürmische Freude, welche nur mit Mühe und Not durch Ella im gedämpften Flüstertone erhalten wurde, und während Herr Schulze voll bescheidener Anmut die Dankes- und Lobesergüsse abwehrte, huschte Stephanie davon, den geheimen Inhalt der Theebüchse zu holen, um das Los sofort bezahlen zu können.

Der junge Mann machte die gewagtesten Kratzfüße in seinen Filzschuhen, drückte reihum die Hand, wünschte besten Erfolg und konnte sich nicht eher trennen, als bis die Stimme der Frau v. Fahrbach in nächster Nähe nach den Töchtern rief. – Da sauste er abermals mit den zierlichen Galoppsprüngen eines Oberkellners die Treppe herunter, und die drei jungen Mädchen stürmten, glühend vor Aufregung, in den Korridor zurück.

»Das war die höchste Zeit!« – jubelte Ilse, »in acht Tagen, vom zwanzigsten bis dreiundzwanzigsten Dezember, ist schon die Ziehung.«

»Und wenn es nun eine Niete ist?« flüsterte Stefanie plötzlich kleinlaut.

»Undenkbar! Nimm allein die wunderbaren Träume an. Die seltsame Fügung, daß gerade Schulze das Los hatte, daß der alte Nobbe es noch herausgab –«

»Ja, ja, Du hast Recht, es muß gewinnen! – –«

 

Welch' eine Aufregung, welch' schlaflose acht Nächte. –

So oft es möglich war, huschten die jungen Damen in den Zigarrenladen, um anzufragen. ob Herr Schulze noch keine Nachricht über den Verlauf der Ziehung erfahren, – aber derselbe konnte nur versichern, daß die Liste frühestens am fünfundzwanzigsten Dezember in seine Hände gelangen könne, und daß nur der Gewinn des großen Loses telegraphisch angezeigt werde. Da half es nichts, die ungeduldigen Herzchen mußten ruhig abwarten, bis der verhängnisvolle erste Weihnachtstag empordämmerte. – – –

Wie süß und geheimnisvoll der Christbaum doch in diesem Jahre duftete. Die drei Schwestern standen, glückselig lachend und plaudernd, um die bescheidene kleine Tanne herum, sie mit Lichtlein und weißer Watte zu schmücken und die paar Liebesgaben für die Eltern und Lisette, zu welchen der Rest des Losgeldes noch gereicht, darunter auszubauen.

Frau v. Fahrbach, welche das späte Ausbleiben nicht vertragen konnte, hatte gewünscht, das Bäumchen schon bei Beginn der Dunkelheit zu entzünden und so geschah es auch.

Drei frische Mädchenstimmen sangen den Christchoral, Papa klingelte, wie altgewohnt, und dann brach der kindlichfrohe Jubel bei dem Anblick des brennenden Baumes und der kleinen Ueberraschungen los, welche auch die Eltern und Lisette sich für diesen Abend abgedarbt hatten. Den lautesten Schrei des Entzückens aber stieß Stefanie aus. Auf ihrem Platze lag ein kleines Wertpaket, und als sie es öffnete, sank sie halb betäubt vor Seligkeit an die Brust der Mutter.

Roderich sandte einen goldenen Ring, machte der Geliebten eine erste offizielle Liebeserklärung und bat, ihm treu zu bleiben, bis er nach bestandenem Examen bei den Eltern um sie anhalten dürfe. Das war eine unbeschreibliche Ueberraschung. Freudenthränen netzten die Augen der Eltern, wie ein Wonnetaumel erfaßte es die Schwestern.

Ilse trocknete allerdings verstohlen die Augen und lief unbemerkt an den Briefkasten, ob nicht auch für sie ein Gruß von Theo eingetroffen sei, aber sie kam mit leeren Händen zurück und that sich Gewalt an, die glückselige Stimmung nicht durch ein trauriges Gesicht zu trüben.

An der Flurthüre klingelte es.

»Der Postbote, gewiß der Postbote!« sprang Ilse wie elektrisiert empor, und ehe nur Lisette oder eine der Schwestern Zeit fand, aufzustehen, flog die junge Dame bereits durch die Thüre, den Korridor entlang.

Die Thürklinke klappt, tiefe Stille. Plötzlich ein heller, zitternder Schrei des Entzückens, welcher in Küssen erstickt.

»Na nu, zum Donnerwetter, was ist denn das?« schrickt Herr von Fahrbach empor, reißt die Lampe vom Tische und eilt, gefolgt von Allen, auf den Flur.

»Theo, es ist Theo!« flüstert Ella mit feuchten Augen.

Und er war es.

Fünf Minuten später saß ein überglückliches Paar unter dem Christbaum und als in all' dem Herzen und Küssen eine sekundenlange Pause eintrat, legte Herr von Fahrbach plötzlich die Hand auf die Schulter des jungen Offiziers.

»Das war ein regelrechter Ueberfall, lieber Theo, welcher uns sämtlichst in des Siegers Hände lieferte. Aber dennoch ist Ihr lieber Besuch gegen jede Verabredung, und wenn es nicht der heilige Abend wäre, so würde ich ernstlich böse werden. Nach diesen ungezählten Küssen bleibt uns Alten ja absolut nichts anderes übrig, als Euere Verlobung zuzugeben, aber ich thue es mit schwerem Herzen, denn ein jahrelanger Brautstand ist sehr traurig, und doch werden Euch die Verhältnisse zwingen, noch eine lange Zeit mit der Hochzeit zu warten.«

Theo hatte sich erhoben und blickte dem alten Herrn mit strahlendem Lächeln in die Augen, dann zog er seine Hand ehrerbietig an die Lippen und sagte mit beinahe schelmischem Blicke: »Lieber, teurer Vater – sehen Sie doch einmal auf meine Achselstücke!«

»Klang und Gloria! Der zweite Stern! Hauptmann? Theo, Du bist Hauptmann geworden?«

»Würde ich sonst diesen Ueberfall riskiert haben? Jetzt bittet sich der Hauptmann die Braut aus und in drei Jahren, wenn dieser Stern in der ›ersten Klasse‹ strahlt, das liebe, liebe Frauchen

Nun war es völlig Weihnachten geworden. Papa Fahrbach opferte sogar sein Christgeschenk, die Flasche Rum, um einen Verlobungspunsch zu brauen, und dieweil sich dessen Duft mit dem der Tanne mischte, herrschte eine solch' glückselige Aufregung, daß kein, gar kein anderer Gedanke mehr aufkam, als der an bräutlichjunges Glück.

Und wieder klingelte es, diesmal stürmisch, heftig, gewaltig, als solle der morsche Draht reißen.

»Potztausend, das scheint der Knecht Ruprecht zu sein! Diesmal mag Lisette öffnen, denn wenn der etwa auch einen Ueberfall auf meine Ella plant, will ich lieber die Alte ins erste Treffen schicken.«

Das lustige Gelächter erstickte die Vorgänge auf dem Flur, aber jählings flog die Thüre zurück, daß sie gegen die Wand trachte, und durch verschiedene Aufschreie begrüßt, taumelte Herr Schulze in das Zimmer, schwenkte eine Depesche und sank atemlos auf einen Stuhl.

»Das große Los! richtig das große Los!« keuchte er.

Die babylonische Verwirrung kann kaum größer gewesen sein, als die, welche nun in dem Giebelstübchen der Familie v. Fahrbach herrschte! Vorerst verstand keiner sein eigenes Wort, dann legten sich allmählich die hohen Wogen und die drei Schwestern, welche sich von der Thatsache ihres Glückes überzeugt hatten, begannen mit glühenden Wangen den ahnungslosen Anwesenden die Aufklärung zu geben, daß das Los Nr. 2255 ihr rechtmäßiges Eigentum sei.

Minutenlang wirkte solch' ein Uebermaß des überraschenden Glückes völlig wie lähmend auf die Hörenden, als man aber das Los vor Augen hatte, als man anfing, die Wahrheit zu begreifen, da war es, als ob nun alle Geister der jauchzenden Freude um den Tannenbaum entfesselt wären.

Herr Schulze mußte sich zu den Glücklichen setzen und mit anstoßen, – auf die zwei Bräute – auf das große Los – auf die Schwiegersöhne, – ihm ward ganz schwindlich vor Hochachtung, Atemlosigkeit und Punschgenuß.

Endlich trat eine Pause der Erschöpfung ein.

»So, Kinder, nun erzählt aber 'mal, wie Ihr auf die Idee gekommen seid, ein Los zu nehmen!« sagte Herr von Fahrbach und lehnte sich behaglich in die Sofaecke zurück.

»Ja, und namentlich, warum die Damen gerade auf das Los Nr. 2255 bestanden!« flehte Herr Schulze, brennend vor Neugierde.

»Das war ebenso wunderbar wie einfach,« lachte Ilse, »hört zu!« Und nun erzählte sie die Begebenheit mit den drei gleichen Träumen.

»Auf Lisette's ahnungslosen Rat rechneten wir nun dreimal die Zahl 785 zusammen, was die Summe von 2255 ergab, und nahmen diese Losnummer, weil wir überzeugt waren, damit zu gewinnen.«

»Dreimal 785?« – fragte Herr Schulze erstaunt, und sein flinker Kopf hatte sofort das Exempel fertig. »Erlauben Sie, meine Damen, das stimmt nicht, dreimal 785 giebt nicht 2255, sondern 2355!«

»Unmöglich, Herr Schulze.«

»Auf Wort, gnädiges Fräulein.«

»Gebt einmal Papier her!« – Die drei Schwestern sind dunkelrot und atemlos vor Verlegenheit.

Herr von Fahrbach nimmt den Stift zur Hand, Theo aber ruft mit schallendem Lachen: »Herr Schulze hat Recht, es macht 2355! Das ist ja köstlich, ganz unbezahlbar; meine kleine Braut gewann durch einen Rechenfehler das große Los!«

Große, ungeheure Heiterkeit, selbst die drei Schwestern vergessen es momentan, sich zu schämen, daß sie so schlecht rechneten.

»Das ist eine wunderbare Fügung des Himmels,« sagt Herr v. Fahrbach endlich wehmütig, »das schlechte Rechnen brachte uns Unglück und Glück, es nahm uns Alles und gab uns Alles wieder!«

Lisette hielt sich mit beiden Händen den Kopf und schwankte in die Küche. Das war zu viel auf einmal, das konnte ihr armer, alter Kopf nicht fassen. Sie setzte sich an den Küchentisch und wollte einen Brief nach Hause an ihren Jochen schreiben, aber die Buchstaben flirrten ihr vor den Augen und die Gedanken wirbelten durcheinander wie ein Schwarm aufgescheuchter Spatzen. »Rechnen oder nicht rechnen können, das ist die Frage! – ›Sein oder nicht Sein‹ –« Wenn man nicht rechnen kann, wird man arm, aber man gewinnt unter Umständen auch das große Los – und nun weiß Lisette beim besten Willen nicht, was sie ihrem Jochen raten soll.

Ihr Haupt sinkt vornüber, sie murmelt lächelnd: »Dat is gewiß, de gnä' Herr hätt' hüt Abend ok ganz un' gar nicht rechnen könn', he wullt haf Water haf Zocker un' has Rum in de Bowle dahn, öwerst es is nur Zocker un' Rum 'worn!« – –

 

Im Hause Fahrbach hat man bald danach Hochzeit gefeiert und nie hat man in Stadt und Land so viel über ein Familienereignis gesprochen, als das so zufällig durch einen Rechenfehler gewonnene große Los.

Ilse und Stefanie sind bereits unbeschreiblich glückliche junge Frauen, Ella aber lebt still und zurückgezogen mit ihren Eltern in der behaglichen kleinen Villa am Rhein, welche sie für ihren Losanteil erstanden. Sie will nicht heiraten. – Eines Tages, nachdem die Kunde des neuerworbenen Reichtums allgemein bekannt geworden, erhielt sie einen Brief, der barg ein paar junge Lindenblätter und redete von alter Lieb' und alter Treu'.

Da faltete ein herbes, ironisches Lächeln die Lippen des stolzen Mädchens. Sie antwortete nur eine kurze Zeile: »Diesmal verrechneten Sie sich. Meine Schwestern sind reich geworden, ich bin arm geblieben wie zuvor!«

Da hörte sie nie wieder ein Sterbenswörtchen von dem, welcher sie trotz all ihres Geldes so arm an Glück und Liebe gemacht.

Herr Schulze hat eine Zeit lang in unglücklicher Liebe um Ella geseufzt, bis die Zeit das Kraut der Vergessenheit auf diesem Herzensgrabe wachsen ließ, – jetzt ist er Vater von sechs Kindern und wenn er abends auf der Bank vor der Hausthüre sitzt und die Nachbarn sich zu ihm gesellen, dann weiß ein Jeder, welche Geschichte er am liebsten erzählt – die, wie einst drei junge Damen das große Los gewannen.


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