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Die Gasse

Erzählung eines Lehrlings

Seit drei Wochen bin ich in Wien und wohne bei meinem Onkel, der eine kleine Wohnung – ein Zimmer, ein Kabinett, Vorzimmer und Küche, hundertachtzig Gulden jährlich – in der Kurzgasse innehat. Er ist ledig, trotzdem er schon dreiundvierzig Jahre alt ist. Um sieben Uhr früh stehen wir auf, kleiden uns an und gehen ins Café Fortuna, Ecke der Kurzgasse und Blumengasse. Wir frühstücken nämlich im Kaffeehaus. »Schau, Adolph,« sagte mein Onkel, als er wahrnahm, daß, ich darüber staunte, »es kommt mich eher billiger. Eine kleine Melange im Café Fortuna kostet acht Kreuzer, eine große zehn. Wenn ich mir das zu Hause mache, so kostet es mich dasselbe, denke an die Kohle, die Milch, den Kaffee; im Kaffeehaus hab' ich extra noch die Zeitung, die ich so erspare ...« Dann geht er ins Bureau, er ist Buchhalter der Firma Mittler und Schranz, und ich wandre hinaus nach Mariahilf, denn ich praktiziere seit dem ersten dieses [Monats] bei der Firma S. Löfflers Söhne. Der Weg von der Kurzgasse bis zu S. Löfflers Söhne ist ziemlich weit, aber wenn man in Gedanken geht! ... Es hat auch sonst sein Gutes. »Du kannst mittags nicht den weiten Weg hin- und herrennen,« sagte mir mein Onkel, »ich werde Dir jeden Tag vierzig Kreuzer geben, iß draußen irgendwo zu Mittag, wenigstens bist Du immer rasch zurück. Ich weiß, die Chefs sehen es gern, wenn ein Praktikant als Erster im Geschäfte da ist!« Ich habe jetzt in der Stumpergasse ein Gasthaus gefunden, wo ich um fünfunddreißig Kreuzer eine Suppe, Rindfleisch mit Gemüse, ein Hausbrot bekomme, so daß ich mir noch fünf Kreuzer davon ersparen kann. Ich habe auch sonst noch meine außerordentlichen Einnahmen, wenn ich im Maison Klinger Waren abliefere oder wenn ich Briefe aufzugeben habe, deren Adresse auf meinem Weg liegt. Übrigens glaube ich, daß mir ab Jänner kommenden Jahres die Briefmarkenkasse anvertraut werden wird. Manchmal schenkt mir Onkel Julius ein Sechserl. »Weißt Du, Adolph,« pflegt er zu sagen, »ein junger Mann in Wien muß immer etwas Geld bei sich haben. Wie, wenn man eine Fensterscheibe in der Tramway zerschlägt?« Die Fensterscheibe, das höre ich jeden Tag ... Abends sitzen wir zu Hause. Onkel Julius spielt mit dem Buchhalter, der uns oft besucht, stundenlang Schach, während ich stenographieren lerne. Ohne Lehrer, denn Stenographieren ist bloß eine Sache des Fleißes. Manchmal sitzen wir allein in der Wohnung. Onkel Julius und ich plaudern. »Vielleicht wird es mir möglich sein, Dich zu uns ins Geschäft zu nehmen, aber nicht vor Weihnachten,« sagte vorige Woche Onkel Julius; »wenn Du bei uns eintrittst, bekommst Du sofort fünfunddreißig Gulden Monatsgehalt. Du bist ein aufgeweckter Bursche. In ein paar Monaten schickt man Dich dann auf die Reise. Wenn Du auf der Reise Dich bewährst, wirst Du Dich ganz gut einmal selbständig machen können.« Wenn es nur schon wäre! Mittler und Schranz ist eine erste Firma. Wenn irgendwo, kann ich dort mein Glück machen. Jetzt haben wir August, bis zum Dezember sind noch ein, zwei, drei, vier Monate! Aber ich arbeite mit allen Kräften, täglich stenographiere ich abends zwei Stunden lang. Eine Stunde übe ich mich im Kalligraphieren, respektive: ich bemühe mich, meiner Schrift einen kaufmännischen Zug zu geben! Wenn ich sehe, was für ein »H« Onkel Julius macht, wenn er einen Brief an irgend einen »Herrn ...« schreibt. Wie viel kaufmännischer Schwung liegt in diesem »H«!!

Der Buchhalter, welcher abends mit Onkel Julius Schach zu spielen pflegt, ist gestern auf Urlaub gegangen. »Ich gehe nicht auf Urlaub!« sagte Onkel Julius; »fährt man weg, so muß doch ein anderer die Arbeit von Einem machen. Ich müßte den Anderen abrichten, und das ist mir zu umständlich. Außerdem schafft man sich dadurch nur Feinde. Der Chef denkt sich: ›Na also. Gar so unentbehrlich ist er doch nicht!‹ Während so – ist der Chef auf mich angewiesen. Niemand kann mich ersetzen! Wenn ich Compagnon werden will, muß er mich zum Compagnon machen, denn ich bin die Seele des Geschäftes.«

Heute ist einer der heißesten Tage. Auch abends hat es sich nicht abgekühlt. Da der Buchhalter auf Urlaub ist, sagte Onkel Julius um neun Uhr abends zu mir: »Hör' auf zu stenographieren. Es ist zu heiß. Gehen wir hinunter etwas frische Luft schöpfen.« Ich zog mir rasch den Rock an (denn ich hatte in Hemdärmeln gearbeitet), und wir gingen hinunter. Vielleicht wäre ich nicht so rasch hinuntergegangen, sondern hätte wenigstens die Seite fertiggeschrieben, aber, aufrichtig gesagt, mir war an diesem Abend nicht ganz wohl zu Mut. Mein Magen war nicht in Ordnung. Ich muß auch schlecht ausgesehen haben, aber Onkel Julius bemerkte es nicht, und zärteln wollte ich mich auch nicht, indem ich selbst davon zu reden anfing.

Auf der Stiege rutschte Onkel Julius aus und fiel. »Diese niederträchtige Gewohnheit der Kinder, angebissenes Obst wegzuwerfen! Auf der ganzen Stiege liegen diese verdammten Birnen- und Ringlottenreste herum. Wie leicht man sich da die Füße brechen kann, wenn es nicht mehr ganz hell ist!«

»Ja,« erwiderte ich, »es ist noch ein Glück, daß Du Dir nicht einen Fuß gebrochen hast.«

Wir traten auf die Straße. Neben dem Hausthor war der »Garten« eines Gasthauses. Jetzt sah mich mein Onkel an, und ich glaubte, er müsse es bemerken, wie schlecht ich aussah. Aber er sagte ärgerlich:

»Warum hast Du nicht einen steifen Kragen angezogen? Man geht nicht so auf die Straße, mit bloßem Hals, ohne Kragen! Du siehst aus wie einer von den Schneidergehilfen, die Bier holen gehen!«

Ich erwiderte nichts auf diese Kränkung, ich sah nur absichtlich die »Schneidergehilfen« an, welche jeden Moment mit einem oder mehreren schäumenden Biergläsern aus dem Wirtshaus traten. Sie gingen im Hemd, ohne Rock, den Halsknopf offen, so daß man ihre eingesunkene Brust sah, meistens nur in »Schlapfen«, so daß zwischen den Holzpantoffeln und der Hose die nackten Füße sichtbar wurden.

»Liefert Ihr auch für Maison Kramer Stoffe?« begann Onkel Julius eine Unterhaltung. In diesem Moment gingen wir am Greisler vorüber.

»Ich werde etwas Obst kaufen,« sagte Onkel Julius; »es kühlt doch ab. Komm mit herein.«

In dem halbdunkeln Lokal des Greislers herrschte ein merkwürdig saurer Geruch, wie in einem Keller. Die Greislerin selbst, eine sehr dicke, kleine Person in einer graubraunen Leinenblouse, trug gerade ihr Jüngstes auf den Armen, schwang sich von einem Fuß auf den andern und flüsterte »Sch... sch... sch...« zu ihrem Kind.

»Ich möchte Birnen!« sagte mein Onkel.

»Dort in der Ecke. Bitte, sich selbst zu bedienen. Drei Stück zwei Kreuzer.«

Onkel Julius nahm sechs Stück. »Willst Du auch?« fragte er mich.

Aber ich sah diese armen Zwergfrüchte, die ganz grün aussahen, als ob sie ewig in dem Dunkel dieses Greislerladens gelegen wären, hier gereift unter dem spärlichen Licht dieser kläglichen Gasflamme, und plötzlich erinnerte ich mich an den Obstgarten in Wittingau, wo ich im vorigen Sommer noch gewesen. Der ganze riesige Garten stand da. An die breiten Apfel- und Birnbäume war eine Leiter gelehnt. Meine Schwester aber stand oben im Gezweig, so daß man sie gar nicht sehen konnte, und schüttelte die Aste, so daß die kräftigen Früchte nur so niederprasselten ins Gras ...

»Nein,« sagte ich zu Onkel Julius, »danke.«

»Sollen wir uns gleich Nachtmahl hinaufnehmen? Was für Wurst haben Sie denn?«

Der Onkel sah sich die dürre Wurst, auch »Braunschweiger« genannt, und die Extrawurst prüfend an ... Ich aber fühlte, daß mir plötzlich noch schlechter zu Mute wurde. Ohne etwas sagen zu können, trat ich rasch wieder auf die Gasse.

Vor dem Hausthor saß die Hausmeisterin. Sie ist keine fünfzig Jahre, aber sie sieht aus wie achtzig. Sie ist ganz klein, entsetzlich mager, alles Fleisch ist abgewelkt von dem Gerüst dieser Knochen. Ihre Augen sind krankhaft rot ...

»Guten Abend!« sagte ich ihr zum Gruß.

»Guten Abend!« erwiderte sie, denn sie ist nicht gewohnt, zuerst gegrüßt zu werden. Im irrigen Glauben, daß ich gegrüßt habe, um ein Gespräch anzufangen, sagt sie:

»Das ist das Gute am Sommer, daß man ein bissel draußen sitzen kann! Den ganzen Winter war ich im Zimmer oder gar im Bette.«

Ich sagte »Ja« und rannte schnell hinauf in die Wohnung, um mir Kragen und Krawatte anzulegen. Als ich herunterkam, suchte mich schon der Onkel.

»Ich habe mir den Kragen geholt,« entschuldigte ich mich. »Hast Du gesehen, daß heute zum erstenmale die Hausmeisterin wieder im Freien sitzt? Ist sie tuberkulös? Was sie für entsetzlich rote Augen hat!«

Onkel Julius kehrte zur Sache zurück:

»Ich habe kein Nachtmahl gekauft. Die Wurst war nicht ganz frisch.«

Wir gingen auf und ab. Die Straße wurde dunkel. In den Wohnungen wurden die Lampen angezündet. Da alle Fenster weit offen standen, konnte man im Vorübergehen in die hellen Zimmer sehen. Meistens saßen die Leute um den Tisch herum ... Am Ende der Gasse befanden sich einige Fenster, die verhängt waren, doch bewegten sich die Vorhänge, und man sah einen Moment lang Frauenzimmer mit nackten Schultern herauslugen. Onkel Julius ging da schnell vorüber. »Ekelhaft,« murmelte er vor sich hin, damit ich es höre. Vor den Hausthoren waren ganze Ansammlungen von Hausleuten. Soldaten, Dienstmädchen, Hausmeister, Parteien schwatzten hier. Manche Dienstmädchen hielten die vollen Bierkrüge in der Hand und plauderten mit den »Schneidergehilfen«, wie der Onkel alle Arbeiter in Holzschlapfen und Hemd nannte.

»Diese Ludern,« sagte der Onkel; »droben warten die Leute auf das frische Bier, und hier wird es warm.«

Wir kamen an dem großen Spezereigeschäft vorüber, welches sogar ein elektrisches Bogenlicht hatte. Hier im Hellen lagen Birnen, Ribisel, Agrasel. Das Licht zog die Insekten an, und die Fliegen umflogen die Haufen von Birnen, Ribiseln und Agraseln. In Schwärmen lagerten sie sich auf die süßen Früchte. Wenn der Verkäufer von Zeit zu Zeit einige Früchte wegnahm, flogen die Schmarotzer auf. Nur die ganz angemästeten, trägen Fliegen blieben ungeniert an dem Obst kleben. Sie waren zu voll, um sich zu erheben. Der Verkäufer mußte sie mit den Fingern wegschleudern.

»Der Mann wird keine Geschäfte machen,« sagte ich zum Onkel; »wenigstens Organtin sollte er über das Obst breiten.«

»Du hast nicht genug Interesse für das Geschäftliche. Ich habe Dich früher gefragt, ob Ihr auch für Maison Kramer liefert? Das erste ist, daß man die Kunden kennen lernt.«

Die Häuser in der Kurzgasse sind durchwegs vierstöckig. Sie sind noch neu und doch schon ganz verschmiert.

»Warum werden die Häuser nicht neu angestrichen? Sie sind ja schon ganz schwarz von Schmutz.«

Unwillig erwiderte mein Onkel: »Hast Du nicht gehört, was ich Dich frage?«

»Wir liefern nichts für Maison Kramer,« sagte ich sofort und fand jetzt den Mut, zu sagen, daß ich nicht ganz wohl sei.

»Du hast nichts gegessen.« Bei diesen Worten traten wir in den »Garten« des Wirtshauses ein. Alle Tische neben uns waren besetzt. Am Tisch neben uns saß der Papierhändler Stieglitz mit seiner Frau und fünf Kindern. Einen Tisch weiter hatten der Friseur, seine zwei Gehilfen und die Friseursfrau Platz genommen. Alle vier spielten Karten. Durch den Lärm der Gasse und des Wirtshauses vernahm man fortwährend die lauten Rufe dieser Spieler ...

Onkel Julius bestellte sich ein Gollasch. Ich wollte warten. Von meinem Platz konnte ich ins Schankzimmer sehen. Dort standen »auf der Schank« zwei Teller mit pflastersteingroßen Buchteln, auf zwei anderen Tellern lagen Hauswürste. Plötzlich erinnerte ich mich an den Geruch im Lokal des Greislers, und ich spürte, daß mir wieder übel wurde. Ich drehte meinen Sessel um, so daß ich mit dem Rücken gegen das Gastzimmer zu sitzen kam.

Herr Stieglitz, der Papierhändler, begrüßte uns.

»Warum erzählst Du nie etwas von dem, was im Geschäft vorgeht? Wie viel macht Ihr Tageslosung?«

Eben wollte ich antworten, da bemerkte ich, wie Herr Stieglitz auf den Tisch schlug und drohend zu seiner Frau rief: »Gut, dann kannst Du auch die Zeche zahlen!«

Der Onkel, welcher zeigen wollte, daß er sich um die Angelegenheiten fremder Leute nicht bekümmere, rief jetzt absichtlich laut den Kellner und bestellte auch mir – ohne mich zu fragen – ein Gollasch.

Herr Stieglitz aber war aufgestanden und schrie seiner Frau zu: »Halt' das Maul! Jetzt rede ich! Ein Kind darf abends nicht zu viel essen. Wenn Du etwas bestellst, gut, dann kannst Du auch die Zeche zahlen! Haben wir's denn so dick? Du bist eine blöde Gans! Schweig! Jetzt rede ich. Zahlkellner, kommen Sie her, diesen Käse, den Sie gebracht haben, zahle ich nicht. Ich nicht! ...«

Alle Gäste aus dem Schankzimmer und dem Garten wendeten sich zu dem Tische des Papierhändlers Stieglitz. Nur der Friseur, seine Frau und die beiden Gehilfen spielten unbekümmert weiter, und die ärgsten Zornesausbrüche des Stieglitz wurden durch die Ausrufe der Spieler: »Einen Dreier!«, »Einen Untern!« übertönt.

Jetzt sah mich mein Onkel an und sagte:

»Hast Du keinen Hunger?«

»Nein.«

»Was willst Du denn?«

»Ich gehe hinauf.«

Oben in der stockfinsteren Wohnung entkleidete ich mich und legte mich zu Bett. Von Zeit zu Zeit hörte ich die scharfe, gereizte Stimme des Herrn Stieglitz durch das offene Fenster, dann wieder die regelmäßigen Rufe der Spieler ... Wach lag ich im Bette. Plötzlich hörte ich ein anderes Geräusch. Ich vernahm das Zufallen eines Fensterflügels, das Klirren eines gebrochenen Glases. Eine allgemeine Bewegung entstand in der Gasse unten. Fenster wurden zugeworfen, Scheiben brachen. Dann wurden die anderen Fenster regelmäßig geschlossen. Ein leises Pfeifen sauste durch die Gasse.

Die Thür ging auf. Ein Lichtschein fiel in das finstere Zimmer. Der Onkel trat ein.

»Ein Gewitter kommt,« sagte er.

Ich trete zum Fenster. Eine wandernde Säule von Staub und Sand tobt durch die Gasse. Der Spezereihändler räumt das Obst hinein, die alte Hausmeisterin nimmt den Sessel unter den Arm und verschwindet im Hausthor. Kellner tragen den »Garten« weg, die Tische werden leer, die weißen Tücher werden abgestreift ... Alle Hausthore sind voll von Flüchtenden. Von Zeit zu Zeit kracht noch eine Fensterscheibe aufs Pflaster.

Die ersten, großen, vollen Tropfen fallen in die menschenleere Gasse.


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