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Die Krisis

»Unangenehme Tage,« sagte gestern meine Tischnachbarin, ein älteres Fräulein, »überall wird jetzt nur von Wahlen geredet, von Liberalismus, Sozialismus, Antisemitismus. Alle Menschen sind jetzt förmlich fanatisiert, die Menschlichkeit leidet darunter.«

Das Fräulein, das mir diese Lamentation zuflüsterte, war zweiundvierzig Jahre alt. Keines Mannes erhitzte Leidenschaft war ihr je nahegekommen. Sie war sozusagen eingetrocknet im Laufe der Jahre. Was sollte ich ihr antworten? Ich schwieg.

Meine andere Nachbarin, ein junges blondes Mädchen, frisch und blank, nahm sich des alten Fräuleins an:

»Ja, die Menschen werden gemeiner in diesen Tagen.«

Diese Hilfstruppe ärgerte mich sehr. Erregt antwortete ich:

»Bitte, haben Sie den Genossen Ehrentraut gekannt?«

Nein, woher hätte sie ihn gekannt haben sollend Einen »Genossen«!

»Dann dürfen Sie nichts mitreden! Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Aber den Genossen Ehrentraut muß man zumindest gekannt haben, wenn man über dieses Thema mitsprechen will. Wissen Sie, daß Genosse Ehrentraut mit den Worten: ›Hoch Die Sozialdemokratie!‹ starb? Nun, das imponiert Ihnen nicht? Wäre er mit den Worten: ›Leb' wohl, Klara!‹ oder mit einem tiefen Seufzer: ›Marie! – – –‹ gestorben, das hätten Sie begriffen, selbstverständlich! ... Nun sage ich Ihnen aber, es sterben heutzutage mehr Leute mit dem Ruf: ›Hoch die Sozialdemokratie!‹ als mit dem Seufzer: ›Marie! – – –‹«

Das junge Mädchen neben mir war bei diesen Worten geradezu bleich geworden. Mit einer spitzen, ärgerlichen Stimme, wie ich sie noch nie von ihr vernommen hatte, sagte sie, überlegen thuend:

»Wir haben ein Dienstmädchen gehabt, die an einer Lungenentzündung mitten am Waschtag erkrankte. Zwei Tage darauf starb sie mit den immer wieder wiederholten Worte«: ›Vierzehn Hemden, sechs Tischtücher, dreiundzwanzig Taschentücher.‹«

Sofort fragte ich: »Bitte, wie hieß das Mädchen?«

»Das ist ja alles eins,« erwiderte meine Nachbarin.

»Pardon, das ist durchaus nicht alles eins. Ich finde diese letzten Worte fast so großartig wie das ›Mehr Licht!‹, das man Goethe aufgebunden hat ... Nennen Sie den Namen!«

»Ich weiß ihn nicht mehr!«

»Wenigstens den Vornamen, bitte!«

»Ich weiß ihn nicht mehr. Ich habe ihn vergessen, vollkommen vergessen!« Bei diesen Worten stand das junge Mädchen, hochrot im Gesicht, vom Sessel auf und ging zur Thür hinaus.

Ich saß zehn Minuten lang da und redete kein Wort. Die Gespräche der anderen Tischgenossen schwirrten über mich hinweg. Ich war wie unter die Bildfläche der Diskussion getaucht. Nicht einen Satz von all dem Gesprochenen hörte ich jetzt ...

Plötzlich ging die Thür wieder auf. Ich tauchte wieder an die Oberfläche empor ...

Das junge Mädchen setzte sich wieder auf den Sessel neben mich. Ihre Stirn und ihre Haare waren ein bißchen naß. Offenbar hatte sie sich draußen das Gesicht gewaschen, das erhitzte Gesicht.

Kaum hatte sie sich niedergesetzt, sagte sie auch schon zu mir:

»Möchten Sie mir doch etwas über den Tod des Genossen Ehrentraut erzählen?«

»Ja!« sagte ich und sah ihr lang in die Augen voll Dank für diese Frage.

»Also fangen Sie an.« Sie konnte meinen Blick nicht länger ertragen.

»Ja,« begann ich, sah sie an und dachte dabei anfangs an etwas anderes, »ich bin mit Ehrentraut zusammen auf einer Abteilung im Allgemeinen Krankenhaus gelegen. Er hatte eine schwere Lungenentzündung. Wie heute erinnere ich mich noch an den Krankensaal, besonders an den Abend ... Es war ein düsterer, langer Saal. Zwanzig Betten an jeder Seite. In der Mitte des Saales hing eine Lampe, die spärliches Licht ausstrahlte. Um neun Uhr wurde die Lampe ausgelöscht. Die Wärterin sagte laut: ›So! Jetzt wird geschlafen!‹ Aber da lagen alle Patienten, vollkommen wach, und wälzten sich in ihren Betten. Wenn es dunkel in einem Krankensaal ist, hört man auch das Stöhnen viel besser, namentlich dieses verhaltene Stöhnen rücksichtsvoller Patienten, die aber doch nicht anders können und schließlich stöhnen müssen in ihrem Schmerz ... Wir hatten es so eingerichtet, daß Ehrentraut neben mir lag. Beide lagen wir mit offenen Augen da. Ich hatte das Ärgste schon überstanden, er lag mitten in der Krisis .. Ich habe zu sagen vergessen, daß es im März 1897 war. Damals fanden in Wien die ersten Reichsratswahlen in der fünften Kurie statt .. Bei Tage disputierten wir Gesünderen eifrig über die Wahlaussichten ... In der Früh und nachmittags hatten wir uns Zeitungen heraufholen lassen. Frau Berger, unsere Wärterin, las uns vor. Manchmal schlief einer mitten in der Vorlesung ein. Manchmal mußte sie die Zeitung für einen Moment weglegen, um einem Kranken behilflich sein zu können. Ehrentraut hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Einmal stieß er einen Ruf aus, den die Wärterin hörte. Sie sah zu ihm auf, erschrak über sein erregtes Gesicht, legte die Zeitung weg und sagte: ›Nein! Ich lese nicht weiter. Sie regen sich zu stark auf!‹ Ehrentraut spielte den Kühlen. ›Aber was fällt Ihnen ein?‹ Aber als er sah, daß die Vorstellung nichts fruchtete, brach er in die entsetzlichsten Schmähungen gegen die Wärterin aus ... Am 9. März war es abends geworden. Ehrentraut hatte den Tag halb bewußt, halb in Delirien zugebracht. Zeitungen durften schon seit drei Tagen nicht mehr vorgelesen werden. Man mußte ihm jede Aufregung ersparen. Aber jeden Moment fragte er nachmittags, ob wir noch nichts wissen. ›Heute ist ein entscheidender Tag.‹ sagte er mit ernstem Gesicht.

»Neun Uhr. Die Lampe wurde ausgelöscht: ›So, jetzt wird geschlafen.‹ kommandierte Frau Berger.

»Ehrentraut lag neben mir. Seim Augen waren offen. Ex machte mir ›Pst! Pst!‹, und ich sah zu ihm hinüber.

»›Jetzt weiß man schon das Wahlresultat,‹ zischelte er mir von seinem Polster aus zu.

»›Aber wir haben so wie so gesiegt,‹ antwortete ich beruhigend.

»›Vielleicht weiß es die Berger schon. Frag' Du sie!‹ drängte er.

»›Später, bis die anderen schlafen! Wir schicken sie dann um eine Extra-Ausgabe,‹ gab ich zur Antwort, um ihn durch Gespräche nicht zu erregen. Ich drehte mich im Bett um, so daß ich mit dem Rücken zu ihm lag. Bald schlief ich ein ...

»Um dreiviertel elf erwachte ich infolge lauten Redens. Ehrentraut delirierte: ›Und so feiern wir, Genossen und Genossinnen! heute die Feier, Genossen und Genossinnen! und der Sieg, Genossen und Genossinnen, der Sieg, den wir feiern, ist ein Triumph. Unsere Stimmen haben sich gesammelt ... Ja, gesammelt! ... Genossen und Genossinnen! Der Sieg ist gesammelt! ... Und so brechen wir aus in den Ruf: Hoch die Sozialdemokratie!‹ ... Alle Kranken erwachten bei diesem gellenden Hoch. Die Wärterin eilte herbei. Ich redete ihm zu. Aber er verstand nichts mehr. Mit jener grausigen Beharrlichkeit der Delirierenden schrie er zwei-, dreimal hintereinander in den Saal: ›Hoch die Sozial...! Hoch ... die Sozial...!‹ Das Wort machte ihm schon Schwierigkeiten.

»Später erschien der Primarius, Professor Redtenbacher, und gab ihm zur Beruhigung eine kleine Morphiuminjektion ... Er hatte sich dann in der Nacht gründlich beruhigt ... Als ich in der Früh auf sein Bett schaute, hatte man seinen Körper schon mit dem Leintuch bedeckt ...«

Einen Moment lang schwieg die ganze Tischgesellschaft. Meine Nachbarin, das junge Mädchen, brach zuerst das Schweigen:

»Aber Sie sind ganz geheilt entlassen worden!«

»Ja Marie,« sagte ich unwillkürlich lächelnd, dann sah ich sie ganz glücklich und murmelte nochmals jenes liebe kleine Wort, das mein letztes sein wird ...


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