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Erlebnisse Oblomows d. J.
Meine Uhr

I.

Als ich aus der Realschule austrat, schenkte mir mein Vater eine Uhr. Die zweite Uhr schenkte mir mein Onkel. Später wurde ich Assekuranzbeamter. Damals wollte mich mein Bruder ordentlich ausstaffiert wissen und kaufte mir meine dritte Uhr ... Trotzdem besitze ich keineswegs drei Uhren. Im Gegenteil! Eigentlich, habe ich mir immer gesagt, braucht man heutzutage keine eigene Uhr. In jedem Geschäftsladen hängt eine Uhr, an jeder Straßenfaçade befindet sich eine Kirchenuhr oder eine Uhr der Tramwaygesellschaft. Im ärgsten Fall fragt man seinen Nachbar, wie spät es ist ... Ich habe nie zu den Protzen gehört. Mein Bruder, der ein seelenguter, aber etwas eitler Mensch ist, hat mir seiner Zeit eine goldene Uhr samt Kette geschenkt. Damals hatte ich fünfunddreißig Gulden Monatsgehalt. Eine so kostbare Uhr in meiner damaligen Weste, das wäre einfach stilwidrig gewesen. Also verschwand sie auch bald, diese goldene Uhr mit Kette, die mich bei allen Bureaukollegen lächerlich gemacht hatte, um derentwillen mich selbst der Praktikant frozzelte, auf die mein Bureauchef stillschweigend, aber bedeutungsvoll blickte, wenn ich mich wegen des ausgebliebenen Avancements beschwerte ... Eines Abends saß ich gemütlich mit meinem Bruder beisammen im Gasthaus. Die Gäste hatten sich schon allmählich entfernt, das Lokal wurde leer.

»Wie spät ist es denn schon?« fragte mein Bruder ganz harmlos.

Ich bückte mich, weil ich in meiner sitzenden Stellung die Wanduhr nicht erblicken konnte, und sagte: »Viertel Zwölf.«

Er sah mich ernsthaft an: »Wo hast Du denn Deine ...?«

Ich errötete furchtbar, mein ganzes Gesicht glühte.

»Ich habe sie zu stark aufgezogen. Sie ist beim Uhrmacher.«

Er wußte genug. »Zu stark aufgezogen,« das war stets die Begräbnisformel meiner Uhren ... Kein Wort wurde mehr über die Sache gewechselt, aber unsere brüderlichen Beziehungen erlitten an diesem Abend einen fürchterlichen Stoß. Ich – wenn ich nur seiner ansichtig wurde – fühlte mich in der peinlichsten Verlegenheit, wie in flagranti ertappt.

Vor Anderen schämte ich mich meines Verbrechens viel weniger. Meinen Freunden am Wirtshaustisch erzählte ich den Zwischenfall mit vollkommener Entrüstung. »Was heißt das?« rief ich, »eine goldene Uhr soll ich tragen? Aber einen Winterrock nicht?! Ja, in Gottesnamen, ich habe sie versetzt, aber hier hab' ich statt meines dünnen Röckerls einen anständig gefütterten Winterrock!«

Meinem Bruder hatte ich all das nicht sagen können. Er hätte mir vielleicht erwidert: »Aber wenn Du mir vorher ein Wort gesagt hättest, so ...« Das konnte ich ihm nicht erklären, wie quälend, wie beschämend, wie unmöglich mir dieses »vorher ein Wort sagen« war. Im Grunde war es ihm ganz unerträglich zu sehen, wie wenig ich an den Dingen hing, wie ich sie leichten Herzens empfing und ebenso leichten Herzens ziehen ließ. Diesen Mangel an Anhänglichkeit für den eigenen Besitz hielt er für das Signum des »Lumpen«. Und damit hatte er vollkommen recht.

 

II.

Aber man wird älter, und der Eigentumssinn wächst. Am 17. Oktober 1889 (ich werde diesen Tag nie vergessen!) wurde ich – endlich! – Gerichtssaalberichterstatter. Ich mietete mir ein Kabinett in der Nähe des Gerichtes. Da in diesem Kabinett keine Uhr war und ich zu den Verhandlungen bei Gericht pünktlich erscheinen mußte, kaufte ich mir eine Uhr. In dieser Zeit erst lernte ich Uhren lieben. Nachts lag sie neben mir auf dem Nachtkastel; mein erster Blick in der Früh galt ihr. Bei Tage lernte ich die Uhr erst recht gebrauchen. Tölpel meinen, daß eine Taschenuhr nur dazu da ist, um einem die Zeit anzugeben. Bedauernswerte Tölpel! Der Sinn der Taschenuhr ist zum Beispiel folgender: Im Kaffeehaus begegnet mir der Professor I. Edelherz, Herausgeber einer angesehenen Zeitschrift. Ich begrüße ihn (er ist ein mächtiger Mann), er verwickelt mich in ein Gespräch. Im Nu hält er schon einen langen Vortrag über die Fabians in England. Eine Zeitlang höre ich zu, streue Zustimmungen in seinen Vortrag: »Sie haben vollkommen recht,« »So ist es,« »Selbstverständlich.« Allmählich spüre ich, daß ich von den fürchterlichsten Kopfschmerzen befallen werde. Alles schwimmt in meinem Kopf. Ich bin wie betäubt ... Plötzlich ziehe ich scheinbar zufällig meine Uhr aus der Tasche und rufe erregt aus: »Was? Es ist schon dreiviertel fünf? Verzeihen Sie, Herr Professor, aber ich muß, muß weg! Um halb vier soll ich in der Redaktion sein.« Ich springe auf, entronnen, gerettet! Ohne Taschenuhr ist diese Rettung fast unmöglich! ...

Meine kleine Uhr ist aus imitiertem Tulasilber und hat mich acht Gulden gekostet. Wie sehr ich gleich in den ersten Tagen diese Uhr geliebt habe, kann ich nicht sagen. Man sagt mir, daß viele Leute rauchen, weil das Rauchen eine angenehme Beschäftigung ist, die keine Kräfte braucht und doch zerstreut. Solche Beschäftigungen sind sehr nötig. Ein hiesiger Professor hat die Gewohnheit, während seiner Untersuchungen der Patienten Eibischbonbons auf der Zunge zergehen zu lassen. Schiller mußte Apfelschalen riechen, während er dichtete ... Ich hatte die Gewohnheit, meine Uhr nach der verkehrten (unschädlichen) Richtung aufzuziehen. Während der fadesten Gerichtsverhandlungen saß ich da und drehte langsam den Knopf meiner Uhr. Dank dieser Uhr bin ich gegenwärtig der ausdauerndste und gewissenhafteste Gerichtsberichterstatter Wiens.

Am 23. März 1900 ereignete sich die Unthat. Ich war bis halb drei bei Gericht, hatte seit acht Uhr früh nichts gegessen. Als ich ins Freie trat, bohrte ein entsetzlicher Hunger mir im Magen. Ich hatte nicht einen Kreuzer Geld bei mir. Nachmittag konnte ich auf ein Honorar hoffen. »Oblomow,« sagte ich zu mir, »bis Nachmittag könntest Du Dich von ihr trennen. Um halb fünf löst Du sie wieder aus! ...« Mein Magen bohrte und bohrte ... Schließlich wurde ich schwach und ließ sie ziehen. Aber wie schwer! Ich konnte mich nicht enthalten, dem Schätzmeister zu sagen: »Ich hole sie heute wieder ab.« Als es geschehen war, ging ich in ein Gasthaus, aß, aß, aß! Nach einiger Zeit wollte ich fortgehen. Wie spät war es denn? Die beiden Finger fuhren gewohnheitsmäßig in die Westentasche, welche verödet dalag ... Um halb vier erwartete ich im Kaffeehaus Geld. Der erste, der mir im Kaffeehaus entgegentrat, war Professor I. Edelherz! ...

Mit fürchterlichen Kopfschmerzen löste ich sie schon gegen vier Uhr aus. Ich steckte sie mit Sorgfalt in ihr altes Bett, in meine Westentasche. Als ich der Qualen gedachte, die ich in ihrer Abwesenheit erlitten, schwor ich mir, sie nie mehr von mir zu lassen! ... Ich erzählte diese Leiden tags drauf meinem Bruder; er legte mir die Hand auf die Schulter und fragte gutmütig:

»Hast Du sie nicht sofort wieder zu stark aufgezogen?«

Statt jeder Antwort zog ich die Uhr heraus.

»Du bist auf dem Wege der Besserung,« sagte mein Bruder.


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