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Erster Teil


Der Meistercoup des Detektivschriftstellers Lebrun

1

Der Detektivschriftsteller Maurice Lebrun sank auf den Kaffeehaussessel, prustend wie ein Seehund. Endlich! Eine Woche hindurch hatte er sich von der Menschheit abgesperrt. Eine Woche hindurch hatte er kaum einen Bissen gegessen. Eine Woche hindurch hatte sich seine Hand bewegt, über weiße Papierbogen, gelbe Papierbogen, blaue Papierbogen und grüne Papierbogen, je nach der koloristischen Inspiration des Hotelpikkolos, in dem Augenblick, in dem er in die Papierhandlung geschickt wurde. Er hatte geschrieben und geschrieben, bis die Bewegung seiner Hand über die vielfarbigen Papierbogen in seinem Gehirn ein Gefühl der Seekrankheit erzeugt hatte und sein inneres Gesichtsfeld wie mit schwarzen Strichen liniiert war. Jetzt war er endlich fertig, bis auf einige abschließende Zeilen. Aber auch diese standen klar vor seinem inneren Blick:

Renard Lepin lächelte und drückte auf einen unsichtbaren Knopf. Sofort öffnete sich eine Luke im Fußboden, und durch diese Luke wurde langsam ein Mann hinaufgeschoben. Er war an Händen und Füßen gebunden; seine Augen rollten wild.

»Meine Herren,« sagte Renard Lepin, »darf ich Ihnen den Gentleman vorstellen, der drei Wochen lang dem Polizeikorps dieses Landes getrotzt hat?«

An den Verbrecher gewendet rief er:

»Haha, mein Freund! Du glaubtest dich gewiß schon sicher! Aber du hattest die Rechnung ohne den Wirt gemacht, hein? Du hattest die Polizei besiegt, aber du hattest Renard Lepin vergessen? Ah, aber man vergißt Lepin nicht, man macht seine Rechnung nicht ohne ihn!«

Er wendete sich an die übrigen Anwesenden. Mit erhobenem Zeigefinger, wie um Aufmerksamkeit zu gebieten, sprach er diese Worte:

»Meine Herrschaften, die Sache war tatsächlich ganz einfach – «

 

2

Der Detektivschriftsteller Lebrun zuckte zusammen. Der Kellner brachte die Speisekarte. Er wühlte in seinem zerrauften schwarzen Maulwurfshaar, strich mit seiner behaarten Hand über sein beinahe lilafarbenes Gesicht, setzte seinen Zwicker auf und starrte die Speisekarte wild an. Hierauf bestellte er eine Mahlzeit, die für vier Personen genügt hätte; denn er war im Essen und Trinken ebenso unmäßig wie in seiner literarischen Produktion, die schon vierzig Bände umfaßte. Der Kellner ging, und er nahm seine Reflexionen wieder auf. Die obenstehenden Zeilen und noch einige dazu, waren der Schlußeffekt seines Buchs. Sie bewiesen ganz evident, daß Renard Lepin, das Kind seines Geistes, einfach der Meisterdetektiv war, gegen den alle anderen Detektivs wie kleine Kinder erschienen, nicht nur die wirklich existierenden, offiziellen Detektivs – die ja in allen Detektivromanen den bequemen Standpunkt des Kretins einnehmen –, sondern auch alle Detektivs in der Literatur. Solche Probleme, wie Renard Lepin löste, hatte kein Detektiv seit der Erschaffung der Welt gelöst. Zu einer solchen Ruhe, einer solchen Sicherheit, wie Renard Lepin sie zeigte, hatte sich kein Sherlock Holmes je aufgeschwungen. Sherlock Holmes! Maurice Lebrun hohnlachte. Hatte er sich nicht in einem Buch den Spaß gemacht, Renard Lepin Sherlock Holmes gegenüberzustellen! Was war das Resultat gewesen? Renard Lepin hatte gesiegt – natürlich, natürlich! Er hatte gesiegt, wie sein Schöpfer Lebrun selbst siegen würde, wenn er Problemen gegenübergestellt würde, die kein anderer lösen könnte.

Der Kellner brachte das Essen. Maurice Lebrun stürzte sich wie ein Rasender auf Austern, kalte Bouillon, sole dieppoise, Fasan, Rocquefort und Omelette Suzette. Drei Flaschen standen – Habtacht vor ihm, und auf einen Wink seiner Hand opferten sie für Renard Lepins Vater ihr Blut in Strömen. Unterdessen dachte Renard Lepins Vater weiter:

Der Schluß des einundvierzigsten Gesangs der Lepiniade, der wieder einmal die überragende Ausnahmsstellung des Meisterdetektivs bewies, war so ziemlich fertig; und das war gut; denn am nächsten Tage, spätestens um zwölf Uhr, mußte das Buch in der Redaktion der Revue Lévy abgeliefert sein. Sonst war es für die Redaktion der Revue Lévy zu spät, das Buch als Fortsetzungsroman anzunehmen; und das wäre bedauerlich für die Leser der Revue, die in diesem Falle um Renard Lepins neue Heldentaten kamen; aber fast ebenso bedauerlich wäre es für Renard Lepins Vater, der in diesem Fall um das fette Honorar der Revue kam. Es war die einzige Revue in Paris, die anständige Honorare zahlte, und infolgedessen war sie mit Manuskripten überhäuft; aber sie hatte versprochen, den Raum für Renard Lepin bis zum nächsten Tage zwölf Uhr freizuhalten, und ein Scheck mit vier Nullen war ausgefüllt. Ein Vorschlag, den Betrag als Vorschuß auszubezahlen, war mit Bestimmtheit von der Redaktion abgewiesen worden, die bereits verschiedene Quittungen über Vorschüsse, Maurice Lebrun signiert, in ihrem Besitz hatte. Aber da das Buch faktisch so gut wie fertig war, war Maurice Lebrun faktisch so gut wie der Inhaber des Schecks, und dieses Mittagessen war ein Vorgeschmack von –

In diesem Augenblick hörte Renard Lepins Vater eine Stimme neben seinem rechten Ohr erklingen. Diese Stimme sagte mit starkem ausländischem Akzent:

»Verzeihung, wenn ich störe. Aber ist das nicht Maurice Lebrun, Renard Lepins weltberühmter Dichter? Mein Name ist Louis Gerrard, Rentier aus Chikago.«

 

3

Maurice Lebrun sah wütend auf, den Mund voll von Omelette à la Suzette. Er schluckte sowohl diese wie seine Wut bei dem Anblick des Fremden. Es bedurfte nicht des Scharfsinns von Renard Lepins Vater, um zu sehen, welcher Klasse dieser angehörte. Die Worte Amerikanischer Multimillionär standen mit Feuerschrift auf seiner Stirn geschrieben. Maurice Lebrun haßte es, beim Essen und Trinken unterbrochen zu werden, aber es gab eine Menschenklasse, für die er immer eine Ausnahme machte. Das waren reiche, einfältige Literatursnobs. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß sie das schönste Gnadengeschenk des Himmels für arme Dichter sind. Ein reicher Literatursnob in Frankenvaluta konnte es sich erlauben, ihn beim Kaffee zu unterbrechen, ein Literatursnob in Pfund beim Braten, aber ein Literatursnob in Dollar durfte ihn bereits bei der Suppe stören.

Der Fremde starrte den großen Detektivschriftsteller an, als wollte er ihn mit den Augen verschlingen. Seine Züge wetteiferten an Schärfe mit den Bügelfalten seiner Hosen; aber im übrigen sprach aus seiner ganzen Person nur Reichtum mit Einfalt gepaart. Maurice Lebrun winkte mit der Hand, halb erstickt von Omelette und Champagner:

»Setzen Sie sich! Setzen Sie sich!«

Der Fremde setzte sich mit einem Ausdruck überwältigter Dankbarkeit.

»Mister Lebrun,« sagte er, »ich sehe, daß ich zu spät komme. Wenn ich beizeiten gekommen wäre, würde ich mir erlaubt haben, Sie zu diesem Mittagessen einzuladen.«

Lebrun bewilligte mit einer majestätischen Geste diese Gastfreundschaft.

»Aber wenn ich auch zu spät gekommen bin, um Sie einzuladen,« fuhr der Fremdling fort, »bin ich doch nicht zu spät gekommen, um Sie um eine andere Gunst zu bitten: Lasten Sie mich die Mahlzeit bezahlen, die Sie gegessen haben!«

Lebrun machte eine Bewegung mit seiner violetten Hand.

»Warum nur das Mittagessen, das ich gegessen habe? Warum nicht ein neues?«

Der Fremde sah verständnislos aus.

»Wissen Sie nicht,« rief Lebrun, »was der große Napoleon bei Milesimo sagte: ›Die Schlacht ist verloren, aber es ist noch Zeit, eine neue zu gewinnen!‹ Es ist wahr, daß ich beim Dessert war, als Sie kamen, aber ich wüßte nicht, warum dies ein Grund sein sollt, nicht wieder zu den Austern überzugehen!«

Der Fremde klatschte vor Begeisterung in die Hände.

»Von Renard Lepins Dichter habe ich mir das Gigantische auf allen Gebieten erwartet«, rief er. »Ich hatte recht! Gestatten Sie mir, ein Mittagessen zu bestellen, das eines solchen Mannes würdig ist!«

Er bestellte, seltsame Gerichte à la Newbery und à l'Américaine, eingeleitet von Cocktails und gefolgt von vielen Weinen. Maurice Lebrun aß und trank, ein leichter Schweiß perlte auf seiner Stirn, seine violetten Wangen glänzten um die Wette mit dem Burgunder, und sein schwarzes Haar fiel in wilden Wolken über sein auf der Nase wippendes Pincenez. Er ließ den Fremdling nach Herzenslust weiterreden. In seinem Inneren rezitierte er wieder und wieder die Schlußzeilen des einundvierzigsten Gesanges der Lepiniade. Er lauschte ihnen mit jener Vibration in der Seele, mit der man dem Triumphmarsch im Schlußakt einer großen Oper lauscht.

»Wissen Sie, was ich an Ihren Büchern besonders liebe, Mister Lebrun!« rief der Fremdling, nachdem er die dritte ausgetrunkene Flasche weggestellt hatte.

»Nein«, sagte Lebrun und richtete einen Augenblick seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes als die Töne des Lepinmarsches. »Was denn?«

»Daß Renard Lepin niemals die Arme über der Brust kreuzt!« rief der Fremde feurig. »Sowie andere Detektivs einen Verbrecher arretiert haben, kreuzen sie sofort die Arme über der Brust und halten eine Rede. Das tut Renard Lepin nie –«

»Er hat doch einen eisernen Arm«, knurrte Maurice Lebrun und gab dem inneren Orchester das Zeichen, den Lepinmarsch wieder aufzunehmen.

»Ja?« rief der Fremdling, »aber da ist noch eine andere Sache, die mich mit noch mehr Bewunderung erfüllt. In allen anderen Detektivromanen gibt es nicht ein Kapitel, in dem der Held sich nicht eine Zigarette anzündet, sooft er eine Replik sagt! Das tut Renard Lepin nie! Darum werden alle anderen Detektivs in einem Sanatorium für Nikotinvergiftungen landen, während Renard Lepin ewig jung bleiben wird. Sein Wohl! Er lebe hoch!«

»Er lebe hoch!« sagte Maurice Lebrun mechanisch, während das Orchester in seinem Kopf einen Tusch mit Trommelwirbel schlug. Eigentlich, ging es ihm durch den Sinn, war das ein eigentümlicher Gastgeber, den er heute abend hatte. Was waren das für Komplimente, die er da machte? An Renard Lepin gab es hundert Dinge zu bewundern – beispielsweise die meisterliche Art, wie er die Rätsel in dem neuen Buch löste – aber gerade den Umstand, daß er nicht rauchte, zum Gegenstand seines Enthusiasmus zu wählen, war, gelinde gesagt, sonderbar. Wer war sein Gastgeber? Daß er Amerikaner war, stand fest, obwohl der Name, Louis Gerrard, fast ebensogut französisch wie amerikanisch sein konnte! Daß er reich sein mußte, war auch klar. Was für einen Schnitt seine Kleider hatten! Die Garderobe war Maurice Lebruns wunder Punkt. Er wollte, um alles in der Welt, elegant sein, aber wie er es auch anstellte, an welchen Schneider er sich auch wendete, seine Kleider hingen von ihm herab wie von einer Vogelscheuche. Die Kleider des Amerikaners hingegen saßen wie an einem Mannequin in einem Schaufenster. Die Rockaufschläge fielen mit leichtem Schwung über die Brust; und die Falten seiner Hosen! Die fielen lotrecht auf die Mitte des Schuhs, so gerade wie Lineale! Maurice Lebrun sah sich selbst an. Seine Rockaufschläge gingen vielleicht noch an, aber seine Beinkleider! Sie entbehrten der vertikalen Falten, aber hatten dafür um so mehr horizontale. Und dabei waren sie erst vor zwei Tagen beim Schneider gewesen! Warum mußte er immer so aussehen! Hatten andere Menschen irgendeinen Trick?

»Wie stellen Sie das an?« sagte er brutal zu seinem Gastfreund.

»Was denn?«

»Ihre Falten so zu erhalten?«

Der Fremdling folgte der Richtung von Maurice Lebruns Blick und lächelte.

»Ah,« sagte er, »ja, sie haben sich ganz gut gehalten, wenn man bedenkt, daß sie schon bald einen Monat nicht beim Schneider gewesen sind.«

»Bald einen Monat!« brüllte Maurice Lebrun beinahe. »Meine waren vorgestern beim Schneider – und Sie sehen! Wie stellen Sie das an? Sie haben irgendeinen Trick, gestehen Sie es nur!«

»Ich habe einen kleinen Trick,« sagte sein Gastgeber »den ich nicht gerade meinen nennen kann, aber der auf jeden Fall ganz gut ist. Ich lege die Hosen jede Nacht in mein Bett!«

»In Ihr Bett?«

»In mein Bett, zwischen die zwei Matratzen. Die Körperschwere besorgt das übrige. Am nächsten Morgen sind die Hosenfalten so scharf wie eine Messerklinge.«

»Wie eine Messerklinge!«

»Gewiß. Wollen Sie Ihre Hosen so haben, so vergessen Sie nicht, sie zwischen die Matratzen Ihres Bettes zu legen. Am besten legen Sie alle Paare zugleich hin! Dann werden sie noch besser! Ihr Wohl! Habe ich Renard Lepins Vater mit dieser Mitteilung eine kleine Freude gemacht, so bin ich für diesen Abend reich belohnt. Aber kosten wir jetzt die edelste Traube Ihres Heimatlandes, Monsieur Lebrun! Ihr Wohl!«

»Ihr Wohl!« sagte Renard Lepins Vater und trank, während seine Augen fasziniert an den Hosenfalten des Amerikaners hingen, die scharf wie Giletteklingen von seinen Knien nach abwärts gingen. – »Zwischen den Matratzen sagen Sie? – Ihr Wohl!«

Noch viele Gläser wurden an diesem Abend geleert, auf Renard Lepin, auf Frankreich, auf Renard Lepins Vater, auf die Freundschaft zwischen Frankreich und Amerika, auf den einundvierzigsten Gesang der Lepiniade und auf die gute Aufnahme dieses einundvierzigsten Gesangs in der Revue Lévy. Nach dem letzten Glase erhob sich Maurice Lebrun, doch nicht um eine Rede zu halten, sondern um zu gehen; er taumelte durch das Lokal in die Nacht hinaus, und dann umfing die Dunkelheit sowohl seinen Körper wie seine Seele.

 

4

Er erwachte mit einem Ruck. Eine Stimme hatte im Schlaf zu ihm gesprochen und gesagt: Es ist elf Uhr. Auf! Du sollst heute um zwölf Uhr in Anwesenheit der Redaktion der Revue Lévy guillotiniert werden! Er hob das Antlitz von den Kissen, nicht ungleich der Morgenröte – streckte die Hand aus und griff nach seiner Uhr. Merkwürdigerweise lag sie auf dem Nachtkästchen. Also konnte er heute nacht nicht so arg drangewesen sein, als er eigentlich den bestimmten Eindruck hatte. Es war wirklich elf Uhr. Jede Minute war kostbar! Vor zwölf mußte er in der Redaktion sein, und die Schlußzeilen des einundvierzigsten Gesanges waren noch niederzuschreiben.

Er wusch sich äußerst flüchtig, zog sich Hemd, Unterhosen, Strümpfe und Schuhe an, und sah sich nach seinen Hosen um ...

Er konnte sie nicht entdecken.

Sie hingen nicht am Kleiderstock.

Sie hingen auch nicht über dem Stuhl, wo sein Rock und seine Weste hingen.

Sie hingen auch nicht im Kleiderschrank.

Das war höchst mystisch! Wo in aller Welt konnten sie hingekommen sein? Er konnte doch nicht ohne Hosen nach Hause gekommen sein. Na, hier war keine Zeit zu verlieren. Er mußte eben einen anderen Anzug nehmen ... Er sah in den Kleiderschrank, um einen anderen Anzug zu wählen. Es hingen drei andere Anzüge auf den Kleiderhaken, und insofern hatte er die Wahl frei. Aber das war nur scheinbar.

Denn mit Augen, die vor Schreck ebenso geweitet waren wie nur je die Augen seiner Helden, sah er eine Sache:

Alle Anzüge im Kleiderschrank entbehrten gleicherweise der Hosen!

Ja, alle drei! Was sollte das heißen? Was war die Erklärung?

Maurice Lebrun stand mitten im Zimmer, mit Hemd, Unterhosen, Strümpfen und Schuhen angetan, und starrte mit schlaffhängendem Unterkiefer um sich. Dann raste er durch das Zimmer, suchte unter dem Tisch, dem Bett, den Stühlen und hinter den Vorhängen und blieb dann wieder wie gelähmt stehen. Er war immer ein Feind übernatürlicher Erklärungen gewesen, aber in diesem Augenblick war er nahe daran, dazu zu greifen. Wo waren seine Hosen?

Dann ging eine Zuckung der Energie durch seinen Körper. Er legte den Finger auf den elektrischen Taster und drückte wie rasend dreimal. Es klopfte, und der Schuhputzer des Hotels zeigte sich.

»Wo sind meine Hosen?«

»Die Hosen des Herrn –«

»Ja, wo sind die Hosen zu meinen vier Anzügen?«

»Zu den vier Anzügen des Herrn –«

»Zum Teufel, Mensch, hören Sie nicht, was ich sage? Wo sind die Hosen zu meinen vier Anzügen?«

Die Klangfarbe von Lebruns Stimme war beinahe ebenso ultraviolett wie sein Gesicht. Der Schuhputzer glotzte ihn in dumpfem Entsetzen an.

»Der Herr hat keine Hosen herausgehängt – ich komm' nicht in die Zimmer – das muß das Stubenmädel –«

Lebruns violetter Zeigefinger flog wieder auf den Taster. Zweimaliges rasendes Läuten, und das Stubenmädchen zeigte sich, lächelnd; denn sie war an reichliche Trinkgelder gewöhnt.

»Wo sind meine Hosen?«

Das Stubenmädchen brach in ein kicherndes Lachen aus. Es brach jäh ab, als ihr Auge dem Auge von Renard Lepins Vater begegnete.

»Hihihi! – die werden wohl im Kleiderschrank sein – wo denn sonst?«

Lebruns Stimme war das Gebrüll des gemarterten Ochsen.

»Wo sie sonst sein können, das zu sagen, ist Ihre Sache, meine Liebe! Im Kleiderschrank hängen drei Anzüge, und hier über dem Stuhl hängt einer, und die Hosen zu allen vieren sind weg. Wollen Sie mir sagen, wo die Hosen sind, sonst –«

Das Stubenmädchen stürzte zu dem Kleiderschrank, verschwand unter dem Bett, tauchte unter den Tisch und die Stühle, guckte hinter die Vorhänge und in den Papierkorb und blieb mit offenem Mund stehen, was Renard Lepins Vater mit unbeschreiblicher Wut erfüllte. Zum drittenmal drückte er wie rasend auf den Taster, und der Pikkolo zeigte sich.

»Hatte ich Hosen an, als ich heute nacht nach Hause kam?«

Der Pikkolo explodierte wie ein überheizter Dampfkessel, aber seine Heiterkeit brach ab, als Maurice Lebruns Antlitz sich auf ihn herabsenkte, blauschwarz wie eine Gewitterwolke, während Maurice Lebruns Finger rasch wie der Blitz nach seinen Ohren griffen.

»Ich weiß nicht, ob Monsieur Hosen anhatte, als Monsieur nach Hause kam,« schrie er, »ich werde den Nachtportier fragen – «

Er flog die Treppen hinunter und kam zurück.

»Der Nachtportier ist ausgegangen. Niemand im Hotel weiß, ob Monsieur Hosen anhatte, als er heute nacht heimkam.«

Maurice Lebrun sah auf die Uhr und schlug sich an seine violette Stirn.

»Ein Komplott! Ein Komplott! Man bestiehlt mich, um mich zu hindern, in die Redaktion zu kommen! Aber ich bin Detektivschriftsteller, ich bin Renard Lepins Vater, ich werde die Hosen finden, ich werde die Diebe finden, ich werde sie entlarven, und ich werde –«

In Unterhosen setzte er sich auf den Schreibtischstuhl und begann die Schlußzeilen des einundvierzigsten Gesanges hinzukritzeln. Von Zeit zu Zeit sah er auf die Uhr. Es war dreiviertel zwölf, es wurde zehn Minuten vor zwölf, es wurde fünf Minuten vor zwölf. Als die Uhr drei Minuten vor zwölf zeigte, nahm Maurice Lebrun die Telephonmuschel und rief die Revue Lévy an.

»Hallo! Hier Maurice Lebrun! Mein Roman ist fertig bis auf –«

»Herr Lebrun, Sie kennen unsere Vereinbarung, der Roman vor zwölf Uhr fix und fertig auf unserem Tisch, sonst –«

»Aber der Roman ist fertig!«

»So bringen Sie ihn her!«

»Ich kann jetzt im Augenblick nicht kommen – ein unglückseliges Mißgeschick – aber der Roman ist fertig, Sie hören, was ich sage: er ist fertig!«

»Herr Lebrun, wir kennen Sie. Wir kennen Ihr Talent, aber wir kennen leider auch Ihre Versprechungen. Wenn wir den Roman nicht in einer Viertelstunde hier auf unserem Tisch haben, müssen wir –«

Maurice Lebrun warf die Hörmuschel so heftig in die Gabel, daß sie sprang, stürzte zu dem Schreibtisch zurück und brüllte der Dienerschaft, die ihn mit drei aufgerissenen Mäulern beobachtete, zu:

»Ich bin Detektivschriftsteller. Ich bin Renard Lepins Vater! Und so etwas passiert mir! Ich habe tausend Geheimnisse in meinen Büchern gelöst, und ich sollte das Geheimnis meiner Hosen nicht lösen können? So sucht doch! Sucht im Zimmer! Durchsucht das ganze Hotel! Findet meine Hosen! Findet den Elenden, der sie gestohlen hat, sonst –«

Der Rest seiner Flüche vermischte sich mit dem Knirschen der Feder. Um viertel eins mischten sich diese Laute mit einem dritten, einem Telephonsignal. Es war die Redaktion der Revue Lévy.

»Herr Lebrun, da Sie sich noch nicht mit Ihrem Manuskript eingefunden haben, nehmen wir an, daß es nicht fertig ist – wir wollten schon sagen, wie gewöhnlich –«

»Aber es ist fertig! Es ist fertig!«

»Warum bringen Sie es dann nicht?«

»Ein Malheur! – Ein Komplott! – Ein Anschlag! – Meine Hosen –«

»Ihre was?«

»Ich habe vier Paar Hosen, und die sind von einem Konkurrenten gestohlen worden, alle miteinander! – Aber der Roman –«

»Genug, Herr Lebrun, strengen Sie Ihre Phantasie nicht weiter an! Eben jetzt nehmen wir einen anderen Roman an. Adieu!«

 

5

Spät am selben Abend – nach einem Tage, den Maurice Lebrun damit verbracht hatte, in Unterhosen von Wand zu Wand zu laufen, darüber nachgrübelnd, wohin seine Hosen gekommen waren, wer sie genommen hatte, und welche Strafen für ein solches Verbrechen angemessen waren – spät an diesem Abend fand man die Hosen von Renard Lepins Vater – alle vier Paar. Sie wurden gefunden von dem Stubenmädchen, das sich mit Lebensgefahr in die Höhle des Löwen gewagt hatte, um aufzuräumen.

»Sehen Sie her, Monsieur Lebrun! Ihre Hosen!«

Maurice Lebrun sah mit blutunterlaufenen Augen auf den Punkt, auf den sie deutete.

Zwischen den zwei Matratzen seines Bettes lagen vier zerknüllte, beinahe unkenntliche Gegenstände. Es waren seine sämtlichen Hosen, denen er, als er diese Nacht nach Hause kam, offenbar eine Generalbehandlung nach amerikanischem Rezept angedeihen lassen wollte. Wenn sie jetzt überhaupt etwas gleichsahen, so waren es vier Paar von einem Expreßzug überfahrenen Beine. Er sah sie an, ja, er sah sie lange an, aber er sagte nichts. Das Stubenmädchen sagte auch nichts. Sie wußte, daß der einfachste Vokal sie das Leben kosten konnte.

 

6

Hingegen heißt es, daß ein Laut sich den Weg über die Lippen von Renard Lepins Vater bahnte, als er zwei Wochen später die eben erschienene Nummer der Revue Lévy sah. Auf der ersten Seite stand in Sperrdruck:

»Wir beginnen heute den Roman eines neuen Schriftstellers, der sogar noch spannender ist als alles, was je Maurice Lebruns Feder entflossen ist. Lesen Sie von Anfang an mit!«

Darunter stand mit Kursivdruck:

»Der Verfasser ist ein aufgehender Stern, ein Franzose, namens M. Louis Gerrard. Sein Bild befindet sich weiter unten.«

Und unter diesem Text prangte die Photographie eines eleganten Herrn mit amerikanisch geschnittenem Gesicht, dessen Züge an Schärfe mit seinen rasiermesserscharfen Hosenfalten wetteiferten.


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