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Zweiter Teil


Besuch in den Erblanden des Propheten

Sehr geehrter Herr Doktor! Eines Tages erhob sich ein Wind in Marseille, ein Dampfer wartete an einem Kai; und wenn wir uns auf ein Sofa in einer Kajüte dieses Dampfers setzten, konnten wir – so versicherte man uns – in sechsunddreißig Stunden in den Erblanden des Propheten sein. Noch vor einhundertfünfzig Jahren bezahlte unser gemeinsames Vaterland den »Malefiztürken« einen jährlichen Tribut, in der Absicht, zu erreichen, daß ihre Kaperschiffe im Mittelmeer die Handelsfahrzeuge des Königreichs Schweden nicht aufbringen, beschlagnahmen und plündern, oder den Sklavenmarkt in Tunis mit ihrer Besatzung beliefern sollten. Navigare necesse est. Sowohl die »Malefiztürken« wie Schweden sahen ihren Vorteil in dieser Übereinkunft. Aber heute seht man sich auf ein Sofa in einer Kajüte eines Dampfers; es weht; der Hafen von Marseille schäumt unter den Propellern; Dampfer kommen aus Afrika, beladen mit dunkelhäutigen Kriegern; Dampfer gehen nach Afrika, beladen mit krummnasigen Kaufleuten. Schon am nächsten Tag zu Mittag stechen die Berge Sardiniens harte Zacken in den Horizont; wiederum am nächsten Morgen steigt man in der Erbprovinz des Propheten ans Land, ohne gekapert, geplündert und auf dem Weg zum Sklavenmarkt zu sein.

Anstatt besten steht man mitten in dem Straßenleben, das sich um die Souks oder Basare der früheren Hauptstadt bewegt. In diesen Souks, je nach den Waren, die dort verkauft werden, Teppichsouks, Parfümsouks, Sklavensouks benannt, steht Bude an Bude mit kleinen Löchern in der Wand. In diesen Löchern, in die das Licht durch Spalten in den Bretterdächern der Gassen sickert, liegen Frauenkleider zum Verkauf, Schleier, Pantoffeln, Kondensmilch aus der Schweiz, Grammophone aus Amerika, Wandteppiche, Bodenteppiche und Gebetteppiche. Da kann sich der Europäer Andenken aus Tunis kaufen, in Paris gemacht, und da können sich die arabischen Damen Toiletten aus Paris kaufen, in Tunis gemacht. Mit gekreuzten Beinen sitzen bärtige Männer in diesen Löchern; sie murmeln Zitate aus dem Koran, Flüche über die Ungläubigen und Aufforderungen an besagte Ungläubige, hereinzukommen und chenes Geschäft zu machen – dieses ch ist kein Schreibfehler, es ist ein unvollkommener Versuch, das furchtbare kh des Arabischen wiederzugeben, das wie das Zerreißen von Tempelvorhängen, wie das Zerschmettern ungläubiger Hirnschalen klingt.

Aber an der Ecke, da, wo die Souks in die Zivilisation übergehen, an der offenen Pforte der Souks, der Bab el Souika, sitzt der Zuckerwerkverkäufer, zwischen seinen von der Wärme feuchten Leckereien thronend, umschwärmt von weißgekleideten Kunden, umschwärmt von blauschwarzen Fliegen, schmunzelnd über den reichen Verdienst. Da spielen schwarze, zahnreiche Musikanten auf Krügen, die mit dünner Haut überspannt sind, oder auf Violinen, denen alle anderen Saiten fehlen als jene einzige, mit der Paganini die Meisterspieler in Venedig besiegte; und da tanzen, anstatt Mohammeds ernsten Nachfolgern, Schlangen mit blauweißen Giftrachen zu ihrer Musik. Aber vor den maltesischen Cafés sitzen junge Araber, die die Religion des Propheten vergessen haben, bei Kaffee und Rum; und die Touristenautos rasseln vorbei, die Klienten Cooks nach El Bardo führend, nunmehr ein Museum, einstmals das Schloß des Bey von Tunis, erbaut von höchstdesselben Einkünften aus gekaperten Gotenburger Briggs und dem Verkauf flachshaariger Jünglinge aus dem Kronoberger Sprengel.

Doch vorbei an Bab el Souika, Herr Doktor, vorbei an den spielenden Männern, vorbei an den tanzenden Schlangen, den rasselnden Straßenbahnen und Cooks goldstrotzenden Klienten saust unser Privatauto – denn wir sind doch mächtige Bürger eines valutastarken Landes – Dougga zu, einstmals Thugga genannt, einstmals die Hauptstadt einer römischen Provinz – denn wohin hat Rom seine eiserne Ferse nicht gesetzt? – nunmehr Bauerndorf, bewohnt von den zahnreichen Nachfolgern des Propheten. Noch erhebt sich sein Kapitolium zum afrikanischen Himmel; noch findet man Bona Deas Tempel in dem Piniendickicht; aber in den Tempelnischen steht das Düngerwasser fußhoch – denn da schlafen die Nachfolger des Propheten, und im Amphitheater – denn wo herrschte wohl Rom, ohne für Brot und Schauspiele zu sorgen? – im Amphitheater werden prophetische Kühe.

Wir verlassen Thugga. Nach einem flüchtigen Besuch in Korbous – einem islamitischen Bethesda, wo sich viele rechtgläubige Füße in ein schwefelhaltiges Wasser versenken, das für Ischias und Hühneraugen gut ist – nach einem kurzen Besuch in Bethesda reisen wir mit einem weißlackierten Zug weiter. Der Zug ist nicht aus Koketterie weiß lackiert, nicht, um im Falle eines Zusammenstoßes eine weißgetünchte Gruft für allen prophetischen Unrat zu bilden. Keine Zugzusammenstöße ereignen sich auf der Eisenbahnlinie, die uns mit diesem Zug befördert; denn es geht nur ein Zug am Tage nach jeder Richtung; und wenn der Zug weiß lackiert ist, so ist es aus Furcht vor der Wüstensonne. Und sie verdient es auch, gefürchtet zu werden. Unerbittlich und grausam wie Moloch schleudert sie ihre strahlende Lava auf die Erde. Die Nähe des Meeres bricht ihren Angriffen die Spitze ab. Solange die Eisenbahn der Küste entlang fährt – von Tunis nach Kala Srira – grünt die Wildnis, ja sie blüht, denn es ist Frühling; und Milliarden von Blumen mit heißen Farben decken die Felder, blitzblau, flammengelb, feuerrot. Hie und da fliegt eine Gruppe schwarzer Hütten vorbei; ein umherirrender Beduinenstamm hat sein Lager aufgeschlagen; Männer im schwarzen Burnus rauchen Pfeife; Frauen in blauen Gandouras sammeln die Ausscheidungen wollplüschbrauner Kamele auf, denn das ist ihr Koks; kleine Kinder hüten schwarze, grasende Ziegen; auf dem Kopf haben sie rote Fes, die sie wie Scharen von Mohnblumen aussehen lassen. Dies ist El Bled, das Feld, das bebaubare – aber von den Arabern nicht angebaute – Gebiet an der Küste. Aber bei Kala Srira verläßt die Eisenbahn die Küste und geht in einem Bogen, vorbei an dem heiligen Kairouan mit seinen dreihundertachtzig Moscheen, vorbei an der römischen Ruinenstadt Sbeitla, über Henchir Souatir der Wüste zu. Die Weide wird magerer und magerer; die Kaktusse werden höher und höher; die Fettbuckel der Beduinenkamele werden niedriger und niedriger; die Beduinenweiber werden hagerer und hagerer; dann hört die Weide und sogar der Kaktus ganz auf. Der Zug schnaubt durch die roten Felsenklüfte bei Seldja – rote, hundert Meter tiefe Steinschluchten, deren lotrechte Wände den Wänden von ägyptischen Grabkammern gleichen. Plötzlich erweitert sich der Blick: soweit das Auge reicht, sieht es nur Sand. Sand, Sand, Sand, Sand, Sand. Und über diesen Sand herniederquellend: Sonne, Sonne, Sonne. Eine weißflammende Sonne, ein rotflammender Sand. Ein verheerender Sand, eine verzehrende Sonne. Die Luft zittert wie die Heißluft über einem Schmelzofen; die Sonnenstrahlen fallen lotrecht zu Boden, zitternd wie Lanzen, die das Ziel getroffen haben; der Schatten eines Menschen ist kaum einen Fuß lang; und durch die kochende Luft rasselt der weißlackierte Zug weiter und weiter in die Wüste hinaus. Stunde um Stunde vergeht; nur Sonne, nur Sand, und außer Sonne und Sand die genügsamen Gewächse – Khobeza nennen sie die Araber –, die es verstanden haben, sich ihre Diät auf der Grundlage dieser zwei Ingredienzien einzurichten. Die Wüste flammt in Millionen Nuancen von Gelb, Rot und Weiß; es sieht aus, als hätte ihr Schöpfer alle anderen Farben auf seiner Palette verbraucht; aber plötzlich sticht ein dunkler Fleck von der löwenfarbenen Einförmigkeit ab. Ist es der dunkelblaue Schatten einer Wolke? Nein, der Himmel hat keine Wolken. Der Fleck wird größer und größer. Bald schneidet er einen Haken in den Horizont; bald zeichnen sich starre Federbüsche von diesem Horizont ab. Der Fleck wird grün; plötzlich hält der Zug auf einer zweigleisigen Station, wimmelnd von burnusbekleideten Gestalten mit ernsten Gesichtern und Granatrosen hinter den Ohren. Wir sind in der Oase Tozeur, in der Sahara, Herr Doktor, sechshundert Kilometer von Tunis, fünfzehntausend Araber, fünfzehn weiße Menschen, zweihunderttausend Palmen und eine unbekannte Anzahl Aprikosenbäume, Feigenbäume und lippenschminke rotblühende Granatsträucher umfassend. »Die Natur äfft die Kunst nach«, sagte Oscar Wilde.

Eine solche Oase, Herr Doktor, gibt allerlei zu denken. Ringsherum liegt die unbarmherzige Wüste, brennend wie Gehenna, wie Scheol, wie die Hölle. Aber mitten in dieser Wüste strömt eine Quelle hervor, ja, eine Quelle mit lebendem Wasser. Granatsträucher, Feigenbäume, Aprikosenbäume und Palmen erheben sich aus dem Sand, und siehe da, in ihrem Schatten, ja in ihrem paradiesischen Schatten wandern reiche und glückliche Menschen. Sie haben nichts von der unbarmherzigen Wüste zu fürchten, nichts von Scheol oder Gehenna, denn sie sind auserwählt; für sie blüht das Paradies, und den ganzen Tag lang können sie seinen Bächen entlangwandeln, Palmenwedel in den Händen. Ja den ganzen Tag lang, ja das ganze Leben lang. –

Sie tun es zuweilen, aber nicht gerne. Am liebsten reiten sie auf einem Esel, oder vielleicht auf dem Füllen einer Eselin; und am liebsten beladen sie es außerdem mit allem, was ein Esel nur an Gemüsen, Früchten und anderen Dingen tragen kann.

O du, der grauen Arbeit graues Tier, gibt es ein Los so hart wie deines, einen Hals, so gepeitscht wie deinen, einen Schweif so wund wie deinen? Bevor der Zerouk, das Gebet des Sonnenaufgangs, aus den Moscheen erklingt, widerhallen die Stockhiebe von deinen mageren Lenden; lange nachdem der Maghreb, das Gebet des Sonnenuntergangs aufgehört hat über die Pfade der Oase zu tönen, widerhallen diese Lenden von denselben Peitschenhieben. Erst lange nachdem Allah sich an dem Duft dieser Gebete der Gläubigen erquickt hat; und erst lange nachdem seine Gläubigen sich an Kuß-kuß und Kaffee erquickt haben; und erst lange nachdem die Fliegen aufgehört haben, sich an dir zu erquicken, o Esel erst lange nachher, o du, der grauen Arbeit graues Tier, bekommst du einen Schluck von dem Wasser und ein Büschelchen von dem Grünfutter, das du heimgeschleppt hast, um dich selbst daran zu erquicken.

O Pythagoras! O Buddha! Lasset mich in der nächsten Inkarnation als was immer in der Welt wiedergeboren werden, als Weib, als Ehemann in den Vereinigten Staaten, als Bürger in Sowjetrußland, aber laßt mich nicht als Esel wiedergeboren werden.

(Es kann an einer solchen Inkarnation genug sein, murmeln Sie in Ihrer malitiösen Art, Herr Doktor.)

Was die Oase ansonsten bietet – Kamele, Üppigkeit, Propheten auf meditierender Wanderung, braune Wäscherinnen, nackte Wäscher, Palmen, die ihre grünen Pleureusen in den Bächen spiegeln – all dies, Herr Doktor, können Sie sich bei Ihrer hohen Bildung und lebhaften Phantasie leicht vorstellen, auch wenn Sie nicht im weißlackierten Zug durch die flammende Djehennem der Wüste zu Mohammeds (und vielleicht auch noch anderer Religionsstifter) Paradies gereift sind.

In dieser Zuversicht schließe ich, indem ich Sie, Herr Doktor, beschwöre, in mir allezeit Ihren ergebenen Freund, Ihren glühenden Bewunderer und Ihren gehorsamsten Diener zu sehen, servus servorum.


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