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Ein Franzose des Nordens

I

Landsleute im Ausland! Wie viele trifft man nicht im Laufe der Jahre, alte, schöne, häßliche, amüsante, langweilige! Man stößt zusammen, man wechselt einige Redensarten, – die Geburt oder Fehlgeburt einer Bekanntschaft; dann reist einer der Teile weiter, und wenn dann ein halbes Jahr später ein Name zur Sprache kommt, sagt man:

»Hammergren? Den kenne ich nicht.«

»Natürlich kennst du ihn.«

»Absolut nicht!«

»Doch, du kennst ihn! Ihr habt euch im Frühling 1921 in Turin getroffen.«

»Ach, war das der? Er hatte eine reizende Frau, an sie erinnere ich mich, aber sie hatte zu kurze Beine.«

Die Jahre gehen; tausend Linien kreuzen sich, man trifft sich und geht auseinander, schickt sich Grüße auf Ansichtskarten und verliert sich dann allmählich aus dem Gesicht. Aber einige wenige zufällige Begegnungen bleiben für immer in der Erinnerung haften, und eine, die ich nie vergessen werde, ist die Begegnung mit Johann Adolf Eskilsten.

Eskilsten tauchte in Le Lavandou im Jahre 1924 zu jener Zeit des Jahres auf, zu der die Mimosen blühen. Die kleine, eingleisige Eisenbahn, die sich von St. Raphael quer durch eine der schönsten, wildesten und porphyrhaltigsten Landschaften Frankreichs nach Hyères ringelt, und täglich zwei Züge nach jeder Richtung befördert, zwei Züge von Liliputwagen, von einer Spielzeuglokomotive gezogen – diese kleine Eisenbahn zählte an diesem Tage Johann Adolf Eskilsten zu ihren Passagieren. Als der Zug in der Station Le Lavandou hielt, stieg ein schlanker, gutgewachsener, blonder, blauäugiger junger Mann aus einem Coupé zweiter Klasse aus. Er trug eine Reisetasche in der Hand, ein Träger machte sich erbötig, sie zu übernehmen, aber erhielt ein kurz angebundenes Ne – ne zur Antwort. Hierauf sah er sich um. Die Station lag im Halbdunkel da, einige wenige Signallaternen funkelten an den schmalen Eisenbahngleisen, ein paar Holzkohlen schwelten irgendwo in einer Hütte schräg über dem Bahnsteig, aber im übrigen sah man kein Zeichen menschlicher Ansiedlungen. Er wendete sich dem verschmähten Träger zu.

»Mein Name ist« – er unterbrach sich. »Ich bin hergekommen, um mich zu erholen. Ich soll im Grand Hotel wohnen. Ist das hier ein guter Ort für die Nerven?«

Der Träger bekräftigte es.

»Aber hier ist ja kein Hotel.«

»Das Hotelauto hält draußen vor der Station.«

»Aber ich will kein Auto, ich will zu Fuß gehen, das ist gut für die Nerven.«

»Aber ist es auch gut für die Schuhe, Monsieur?« fragte der Träger mit sanfter Stimme. »Es ist ein Weg von einer halben Meile bis zum Hotel.«

»Was sagen Sie? Eine halbe Meile. So etwas wäre in Deutschland gar nicht denkbar. Ich liebe Frankreich, aber ich muß schon sagen: So etwas wäre in Deutschland nicht denkbar.«

»Monsieur ist Deutscher? Das konnte ich mir nach der Aussprache denken.«

»Was meinen Sie? Spreche ich wie ein Deutscher? Ich bin Schwede, und uns Schweden nennt man die Franzosen des Nordens. Wo steht das Auto?«

»Ich werde es Monsieur zeigen«, sagte der Träger. Man konnte seiner Stimme anhören, daß ihm die Verwandtschaft mit Johann Adolf Eskilsten imponierte – wenn auch dieser Vetter der französischen Nation seinen Koffer selbst zum Hotelauto hinaustrug.

 

2

Im Grand-Hotel rüstete man sich zum Mittagessen. Der lange Koch Louis hatte schon lange seine hohe weiße Mütze über die verschiedenen Terrinen gebeugt, einen Brotstreifen hier, einen Löffel dort eingetunkt, eine Pfanne vom Feuer weggestellt und eine andere näher herangerückt, etwas Petersilie in eine Soße gestreut, Zitrone auf ein paar Muscheln mit Fischhaché ausgedrückt, im Eisschrank nachgesehen, ob der Obstsalat die Temperatur hielt; die blonde Köchin Viktorine hatte ihm andächtig bei den Pfannen mit Kartoffeln? Pont-neufs und Haricots verts assistiert; Mlles. Hortense und Agnes hatten, von ihrer Tante Mme. Renée überwacht, die Teller auf den Büfetts im Speisesaal aufgestapelt; die Suppenschüsseln standen schon im Küchenaufzug, die Gäste saßen schon auf ihren Plätzen, als Johann Adolf Eskilsten seinen Einzug in den Speisesaal hielt.

»Wo ist mein Platz?«

»Wo es Monsieur beliebt.«

»Ich will einen Fenstertisch haben.«

»Leider sind alle Fenstertische besetzt.«

»Ich will heute abend einen haben. Mein Name ist Johann Adolf Eskilsten. Ich habe telegraphisch Zimmer bestellt. Ich bin hergekommen, um mich zu erholen. Bis spätestens morgen muß ich einen Fenstertisch haben.«

Mlle. Agnes sah hilflos Mlle. Hortense an, und beide blickten fragend auf Mme. Renée. Mme. Renée, die sich auf ihrem Kontorstuhl blähte wie eine Boa constrictor in ihrem Korb, hob leise raschelnd den Kopf über die Kassenbücher.

»Gebt Monsieur den Platz, der reserviert ist. Wenn ein Fenstertisch frei wird, wird Monsieur ihn bekommen.«

Ihre achatschwarzen Augen faszinierten Eskilsten, er sank auf den angewiesenen Sessel, nach einigen Augenblicken löffelte er gehorsam sein Potage à la bonne femme, ging dann zu Coquilles St.-Jaques über und versank in Gigot de mouton, Pommes Pont-Neuf.

*

Als er bei dem exquisiten Esten und dem guten Landwein etwas aufgetaut war, erwachte die Protestlust in ihm. Er fragte, ob es hier keine Hors d'oeuvres zum Mittagessen gäbe, ob man einen Schnaps haben könnte – nein? Aber Frankreich hatte doch kein Brattsystem; er wollte wissen, ob es zu den Fischmuscheln keine gekochten Kartoffeln gäbe, und verlangte Aufschlüsse über die Soße. Gab es hier nie mehr Soße? Und war sie nie mit Kartoffelmehl gestaubt? Das war die Soße in Schweden und Deutschland immer, und da bekam man viel Soße, soviel man haben wollte! Der Obstsalat war allerdings gut, aber warum gab es keine Schlagsahne dazu – womöglich mit gestoßenen Mandeln? Das kriegte man immer in ...

Eskilsten war da Zentrum des Speisesaals. Und man lauschte seiner schrillen Stimme und seinem eigentümlichen Französisch aufmerksamer, als man einem Radiolautsprecher zugehört hätte. Dann war das Mittagessen vorbei, und der neue Gast stand vom Tische auf, gefolgt von vielen Blicken. Überzeugt, einen fulminanten Eindruck gemacht zu haben, begab er sich in das Café.

 

3

Beim Kaffee und Likör machte ich selbst Eskilstens Bekanntschaft. Eine schwedische Zeitung auf meinem Tisch stach ihm in die Augen, und er stürzte sich sofort auf mich.

»Sind Sie ein Schwede? Nein, das ist doch zu nett. Gibt es etwas Schöneres, als in der Fremde Landsleute zu treffen! Das heißt, ich will hoffen, daß Sie nicht deutschfreundlich sind. Dann werden wir uns nicht miteinander vertragen. Ich liebe Frankreich, aber eines verstehe ich nicht, wie können die noch schmalspurige Eisenbahnen haben? Und was fällt ihnen ein, daß sie nur zwei Züge an einem Tag ablassen? Und warum liegt das Hotel eine halbe Meile weit vom Bahnhof? Und das Essen – da haben wir doch eigentlich daheim und in Deutschland besseres. Aber ich liebe Frankreich, jawohl, und das ist ja auch nur natürlich; wir Schweden sind doch nicht umsonst die Franzosen des Nordens. Kennen Sie die schöne Dame, die da allein am Nebentisch sitzt?«

»Ich kenne sie nicht, aber ich weiß, wie sie heißt.«

»Nun, wie heißt sie? Die ist mordsfesch.«

»Sie heißt Mme. Montfort, und Sie lügen nicht, wenn Sie sagen, daß sie mordsfesch ist.«

»Ist sie verheiratet?«

»Soviel ich weiß, ist sie geschieden.«

»Hat sie Geld?«

»Das müssen Sie sie selber fragen.«

»Das werde ich schon herausbekommen, wenn ich mit ihr bekannt sein werde.«

»Wie gedenken Sie das anzustellen?«

»Das ist doch keine Kunst. Man hat doch seine Visitkarten in Ordnung! Zum Teufel, entschuldigen Sie, daß ich mich nicht gleich vorgestellt habe – Johann Adolf Eskilsten, Turnprofessor und Leutnant in der Reserve.«

Ich sagte meinen Namen.

»Aber ich verstehe bei alledem doch nicht, wie Sie es anstellen wollen, die Bekanntschaft der französischen Dame zu machen, Herr Eskilsten.«

»Das ist doch ganz einfach. Wenn die Musik zu spielen anfängt, lege ich meine Visitkarte auf ihren Tisch und frage, ob sie tanzen will. Das ist sehr schick. So macht man es in Stockholm und in Berlin.«

Im selben Augenblick begann die Musik zu spielen. Mit einem »Sie entschuldigen« eilte Herr Turnprofessor Eskilsten an den Nebentisch und deponierte eine Visitkarte. Die schöne Mme. Montfort zog die Augenbrauen in die Höhe, aber Kavaliere waren hier rar, und mit einer Neigung des Kopfes erhob sie sich und tanzte an Eskilstens Arm fort.

Im Laufe des Abends kehrte Eskilsten an meinen Tisch zurück, glühend und siegesstolz. Er hatte seine weißen Kärtchen auf den verschiedensten Tischchen mit einem Eifer deponiert, der an die kleinen Spatzen erinnerte, die zur Sommerzeit von Tisch zu Tisch fliegen und auf jedem ein Andenken hinterlassen. Ich sah die Zukunft der lokalen Kartendruckerei in Hellen Farben. Sein Tanz war ein Gemisch von Parademarsch und Schlittschuhlauf, und sein Ohr zeigte wenig Empfänglichkeit für die Macht der Töne. Aber der Kavaliermangel machte sich geltend. Man ging lieber im Parademarsch und lief Schlittschuh, als daß man stillsaß, und ein schlechter Rhythmus ist noch immer besser als gar keiner.

»Die Frauen sind seit jeher auf mich versessen gewesen, ach, süß sind sie, alle miteinander. Aber die Schwedinnen sind doch am besten! Die Französinnen des Nordens übertreffen die eingeborenen. Hehe. Wollen wir nicht etwas trinken?«

»Gerne, wollen wir eine Flasche Weißwein miteinander teilen?«

»Aber nein, keinen Wein! Punsch wird wohl nicht dasein? Das könnt' ich mir denken – in Deutschland haben sie Punsch in allen erstklassigen Lokalen. Dann nehmen wir Whisky.«

»Nehmen Sie Whisky, Herr Eskilsten, ich halte mich an den Wein des Landes. Garçon!«

Unsere Trinkwaren kamen, und nach dem ersten Glas begann mich Herr Eskilsten gedankenvoll anzusehen.

»Hm – ich weiß nicht – du bist vielleicht der Ältere, aber ich bin doch Leutnant, und das pflegt ja auch zu zählen. Darf ich ...?«

Ich suchte der Duzbrüderschaft auszuweichen.

Ich schlug vor, sie bis zum nächsten Morgen aufzuschieben, damit wir in die Natur hinausgehen, ein Stück Erde aufzulockern, und unser Blut auf echte Blutsbrüderweise mischen konnten. Aber Eskilsten war unerbittlich. Ich trank mit ihm Bruderschaft. Wir durchsuchten unsere Gehirnarchive, um gemeinsame Bekannte zu finden, aber ohne Erfolg. Plötzlich – es war, scheint mir, beim dritten Grog – zog eine Wolke über die Stirn meines neuen Bruders. Die Musik war aus, die Damen waren gegangen, wir befanden uns allein im Kaffeehaus, aber nichtsdestoweniger beugte Eskilsten sich ganz zu mir vor und senkte die Stimme.

»Sag' mir, lieber Freund, du wohnst doch schon längere Zeit hier im Hotel?«

»Ja.«

»Du kennst die Verhältnisse?«

»Ja.«

»Wie ist es mit dem Kredit?«

Ich sah den Letzten meiner Brüder mit erhöhtem Interesse an.

»Er pflegt vortrefflich zu fein, und dir, der du so franzosenfreundlich bist, können sie gewiß nichts abschlagen. Aber versteh' ich recht, bist du in Geldverlegenheit?«

»Das gerade nicht, aber du weißt ja, wie die Banken außerhalb von Schweden und Deutschland sind. Es können ja Wochen vergehen, bis man sein Geld bekommt, und darum wollte ich dich nach dem Kredit fragen. Mein Geld ist unterwegs, das weiß ich; aber wenn die Sache sich spießen sollte, kannst du mir vielleicht für einige Tage ein paar Hunderter vorstrecken? Übrigens, weil es mir gerade einfällt, vielleicht kannst du mir schon heute abend aushelfen?«

Es erfolgte ein Zwischenspiel. Die Brieftasche, die von den vielen weißen Blättchen mit dem Namen Johann Adolf Eskilsten befreit worden war, empfing zwei gelbe Blättchen mit der Unterschrift der Direktion der Französischen Bank. Eskilsten bestellte sich einen neuen Grog, und so ging der Abend des ersten Tages zur Neige.

 

4

Als ich Eskilsten wiedersah, war er schwärmerisch. Es war gleich nach dem Lunch am nächsten Tag. Vor dem Lunch hatte er einen Spaziergang nach Le Lavandou unternommen. Die mimosenblühende, piniendunkle, porphyrrote Landschaft hatte offenbar einen gewissen Eindruck auf ihn gemacht. Der Tag war strahlend schön, die Luft schmeichelnd mild. Draußen am Horizont ruhten Les Iles d'or wie Kronjuwelen auf dem blauen Samt des Mittelmeers, und aus dem Serpentinenweg zum Strand funkelten die Porphyr und Marmorscherben, mit denen er bestreut war, wie Diamanten und Rubine, von einem freundlichen freigebigen Djinn über die Landschaft hingestreut.

Eskilsten betrachtete das Ganze durch die Wolken seiner Zigarre.

»Aber man sehnt sich eben doch nach den blauen Wogen der Ostsee«, bemerkte er kritisch.

»Warst du allein spazieren?«

»Nein, ich war in Gesellschaft von Mme. Montfort. Ich habe mich gestern abend beim Tanz mit ihr verabredet.«

Ich begann meinen letzten Duzbruder mit wirklichem Respekt zu betrachten. Eine lange Erfahrung hatte mich mit tiefer Skepsis gegen meine Landsleute in erotischer Hinsicht erfüllt. Ein Herr, der nach vier Whyskygrogs in aller früh aufstand und auf nüchternen Magen sechs Kilometer spazieren ging, um eine Dame zu erobern, das war nicht der gewöhnliche Typ eines Schweden. Und wenn man bedachte, daß dieser Herr noch überdies Französisch parlieren mußte, eine Sprache, die er zwar liebte, aber jedesmal, wenn er den Mund aufmachte, in ebenso hohem Grade züchtigte –

Sollte er die große Ausnahme sein?

»Sie ist, hol' mich der Teufel, reizend«, rief mein Duzbruder gedankenvoll durch die Wolken seiner Zigarre. »Ich hab' doch eine Unmasse fescher Weiber gekannt, aber ich will dir sagen, die ist meiner Seel' tadellos.«

»Lieber Freund, die ist mehr als tadellos, die ist ein echtes Weib.«

»Heute nachmittag machen wir zusammen einen Spaziergang zum Holzkreuz.«

»Wirklich? Das ist ja fabelhaft.«

Es war wirklich fabelhaft, das war meine ehrliche Ansicht, und ich hatte keinen Anlaß sie zu ändern, als Mme. Montfort im selben Augenblick an unseren Tisch trat. Sie trug ein überaus gutsitzendes holzbraunes Complet mit einem Hut in derselben Farbe und hatte eine bernsteingelbe Echarpe um den Hals geschlungen. Eine grüne Jadespange am Hut trug ihr Monogramm in kleinen Brillanten. Sie war wirklich, wie mein neuer Bruder sich ausdrückte, mordsfesch. Eskilsten nickte mir herablassend zu und verschwand mit seiner rasch gewonnenen moitié über den Weg zum Holzkreuz.

Sollte er die große Ausnahme sein? Es sah unleugbar so aus.

Ja, es begann mehr und mehr so auszusehen; denn in der nächsten Woche mußte ich mich daran gewöhnen, ihn und die junge französische Dame zusammen an den unerwartetsten Punkten der Landschaft auftauchen zu sehen – beim Holzkreuz, am Strand bei Le Lavandou, in den Mimosenhainen bei der Tête du Nègre. Mme. Montfort lächelte unter gesenkten Augenlidern, und mein Landsmann sprach sein eigenartiges Französisch. Er hatte eine Art zu sprechen, die eine alltägliche Redensart, wie eine These, klingen ließ, und ein Kompliment wie ein Kommando. Niemals sah ich ihn lächeln, höchstens lachte er hie und da ein kurzes Hähä!

Abends, nach dem Tanz, teilte er mir seine Erlebnisse und seine Ansichten mit. Es war klar, daß seine Hoffnungen nicht drei Monate a dato gestellt waren, und eigentümlicherweise sah es aus, als wären diese Hoffnungen nicht unbegründet. Mme. Montfort – wenn man ihre Abendtoiletten näher ansah und ihre Einsamkeit in Betracht zog, war sie vielleicht nicht die Edelfrau oder die Bourgeoisiedame, die sie sein wollte – Mme. Montfort zeigte ihm nie eine gerunzelte Stirn.

Was war die Ursache? Lag es daran, daß sie sich langweilte? Lag es daran, daß sie ein Weib war und wissen wollte, was hinter diesem sonderbaren Herrn steckte? Lag es daran, daß sie verkümmerte Muttergefühle hatte und dieser blonde Herr sie an ein eigenwilliges, trotzendes Kind erinnerte?

Ich weiß es nicht. Alles was ich weiß, ist der Rapport, den ich in den Augen meines Duzbruders las, als er eines Nachts um zwei Uhr an meine Türe klopfte und fragte, ob ich etwas Whisky und Sodawasser hätte.

Ich hatte eine Flasche Wein. Die teilten wir. Zur Ehre meines Landsmannes will ich erwähnen, daß der oben erwähnte Rapport stumm war – aber als er seine letzte Zigarette wegwarf und den Rest des Weines sich selbst einschenkte, konnte er doch nicht umhin, zu sagen:

»Aber durstig, das wird man.«

 

5

Ich will nicht leugnen, daß ich mich nach der Stunde sehnte, wo ich die zwei zusammen sah. Wer Mme. Montfort auch war, was Mme. Montfort auch war, sie war ein echtes Weib, ein intensives Weib, ein wertvolles menschliches Wesen, wenn auch aus dem dunklen, vielumstrittenen Geschlecht, das schon seit Jahrhunderten auf dieser Erde gegen unser Geschlecht ankämpft – sie war, um die Terminologie meines Duzbruders zu gebrauchen, ein mordsfesches Weibsbild.

Aber nicht sie sah ich in Eskilstens Gesellschaft, sondern eine volle, hochbusige Dame, die vor ein paar Tagen in Gesellschaft ihrer Tochter angekommen war. Ich wußte, daß sie Holländerin war, und sie sah nach einer Diamantenhändlerin aus. Offenbar hat der holländische Vater der Mutationslehre seine Studien im eigenen Lande gemacht; denn war die Mutter schwarz und strotzend, so war die Tochter blond und blutlos. Und in ihrer Gesellschaft sah ich Eskilsten. Er hatte sein stammelndes Französisch über Bord geworfen und sprach Deutsch wie das Große Hauptquartier im Jahre 1914.

Es ging aus der Konversation hervor, daß Vrouw Dekker fanatische Deutschfreundin war – was sie doch nicht gehindert hatte, energisch in der deutschen Markbaisie zu spekulieren – und daß sie sich jetzt auf die französischen Francs als Spekulationsobjekt geworfen hatte.

»Wir müssen ihre Valuta herunterbringen, bis sie einen Denkzettel haben, den sie nie vergessen«, rief die holländische Dame mit blitzenden Ringen und Augen.

»Haben sie etwas anderes verdient, so wie sie das arme, unschuldige Deutschland behandelt haben?« fragte die blonde Tochter.

Eskilsten protestierte schwach. Es gäbe Dinge in Frankreich, die er mißbillige, einiges in der Küche und anderes, aber er liebte Frankreich, jawohl, er liebte es, und er wollte Deutschland nicht alle Schuld am Krieg absprechen. Natürlich war es gut, daß die französische Valuta tief stand, so daß man billig lebte, aber er würde sie nicht allzu tief hinunterspekulieren, das war nicht gerecht gegen die Franzosen.

In diesem Augenblick kam Mme. Montfort auf die Terrasse hinaus. Sie hatte wirklich ihren beau jour. Sie war ganz in Weiß, der schöne Hals war entblößt, und ihre haselnußbraunen Augen funkelten rätselhaft aus dem Schatten eines Sonnenschirms. Sie nickte meinem Landsmann zu, der errötete und sich beeilte, seinem Urinstinkt zu folgen.

»Darf ich vorstellen? Mme. Montfort, Mme. Dekker, Mlle. Dekker!«

Ich hatte schon tags zuvor gesehen, wie die zwei Holländerinnen die Köpfe zusammensteckten und flüsternd vertrauliche Mitteilungen austauschten, wenn Mme. Montfort vorbeiging. Vielleicht hatten sie auch von anderer Seite ein Flüstern gehört. Als Eskilsten die Vorstellung vornahm, neigte die blonde Tochter unmerklich den Kopf, ihre Mutter murmelte einige Worte, unter denen man das Wort »connaissance« erkannte; möglicherweise brachte sie ihre Freude zum Ausdruck, die connaissance der jungen französischen Dame zu machen, aber es konnte ebensogut bedeuten, daß sie sich über Eskilstens connaissance wunderte. Denn mit einem Blick auf ihre Tochter und mit einem knappen Neigen des Kopfes verließ sie meinen Duzbruder und segelte durch die Türe zur Halle hinaus. Ihre Tochter folgte ihr, wie die Jolle dem Panzerschiff folgt.

Eskilsten glich am ehesten jemandem, der vom zweiten Stockwerk heruntergefallen ist. Er warf seinen neuesten Bekannten einen entsetzten Blick nach und wandte sich dann Mme. Montfort zu.

Man hätte meinen sollen, daß der Blick, den er den beiden Holländerinnen nachsandte, erzürnt gewesen sein mußte, aber das war vielmehr der Blick, den er seiner französischen Freundin zuwarf.

»Haben Sie die Damen irgendwie beleidigt?« war alles, was er sagte.

»Haben Sie gut geschlafen?« war alles, was sie antwortete.

»Ich begreife nicht – wir standen eben hier und plauderten so recht gemütlich, und da kommen Sie und – verstehen Sie, warum sie fortgegangen sind?«

»Kann man sich einen schöneren Morgen denken?« fragte sie. »Ich glaube beinahe, es ist der schönste, den wir noch gehabt haben.«

»Aber ich begreife nicht – wir sprachen von der Baissespekulation in Francs, und ich sagte, daß ich nicht recht einverstanden damit bin, weil ich Frankreich liebe – kann sie das verletzt haben?«

»Ja richtig, Sie lieben ja Frankreich«, antwortete Mme. Montfort mit einem kleinen Zucken um die Mundwinkel. »Das hätte ich fast vergessen. Ah, Monsieur, aber wenn Sie Frankreich lieben, dann vergessen Sie nicht, daß Frankreich wie eine schöne, stolze Frau ist. Sie kann sich in einer Laune erobern lassen, aber sie zu behalten, kostet einen steten Kampf.«

Eskilsten zuckle auf, klappte die Absätze zusammen und verbeugte sich steif. Es sah aus wie ein militärisches Manöver. Aber ich wußte, daß dies bei ihm die höchste Form der Galanterie war. Gerade da ertönte der Gong. Er eskortierte sie zu ihrem Tisch im Speisesaal und ging dann zu seinem eigenen. Aber während er dies tat, sah ich ihn nach einem anderen Tisch hinüberschielen, es war der der Damen Dekker.

Was hatte er mich doch am selben Abend gefragt: »Hat sie Geld?«

Ein paar Tage verstrichen, und alles ging augenscheinlich so, wie es sollte. Ich begegnete meinem Landsmann und seiner faszinierenden Freundin wie früher, bald da, bald dort in der Umgebung – oben beim Holzkreuz, am Strand, bei der Tête du Nègre. Er konversierte womöglich noch eifriger als früher, und sie hörte aufmerksam zu. Abends bekam ich dann gewöhnlich den Besuch meines Duzbruders, der mich mit Schilderungen seiner Liebe zu Frankreich unterhielt, seiner Natur, seinen Frauen und allem miteinander. Aber am vierten Tage bemerkte ich etwas. Daß ich es erst da bemerkte, zeigt, was für ein schlechter Beobachter ich bin. Ich sah die beiden immer nur draußen in der freien Natur zusammen. Ab und zu wechselten sie ein Wort in der Hotelhalle, aber nach dem Mittagessen verschwand Eskilsten in das Schreibzimmer. Aus seinen Aussprüchen und einer neuen kleinen Anleihe ging hervor, daß die ökonomische Situation das viele Briefschreiben nötig machte. Wenn Mme. Montfort ein Weilchen bei ihrem Kaffee gesessen hatte, gähnte sie leicht und ging in ihr Zimmer hinauf. Kurz darauf war der Kampf meines Duzbruders mit der Feder vorbei, er kam in das Café, sich die Hände reibend, wie man es nach einer wohlverrichteten Arbeit tut, sah sich um und steuerte auf den Tisch der Damen Dekker zu. Er sprach Deutsch und tanzte mit Mutter und Tochter, bis die Musik aufhörte. Dann zogen sich die beiden Holländerinnen zurück, und nachdem Eskilsten noch einen raschen Stehgrog an meinem Tisch zu sich genommen hatte, verschwand er die Treppen hinauf. Und manchmal klopfte es noch im Laufe der Nacht an meine Türe, und mein Landsmann kam herein, um aufs neue seinen Durst zu löschen.

Es war am vierten Tage, am Tage, an dem die großen Lichter geschaffen wurden, als mir dieses Licht aufging. Und schon am nächsten Tag kam der Abschluß der Episode.

Es war nach dem Mittagessen. Eskilsten hatte an diesem Abend einen Kopfschmerz, der ihn verhinderte, Briefe zu schreiben. Er verschwand in den Garten, um zu sehen, ob die frische Luft ihm nicht helfen konnte. Mme. Montfort blieb noch ein Weilchen an ihrem Tisch sitzen, gähnte hierauf leicht, erhob sich und verschwand. Eskilstens Luftkur hatte offenbar rascher gewirkt, als er vermutet hatte; denn kurz darauf kam er in das Café, sich die Hände reibend, wie es ein ausgeruhter Mann tut, sah sich um und steuerte auf seinen gewohnten Tisch zu. Er hatte sich noch kaum gesetzt, als Mme. Montfort in das Café kam und quer durch den Raum auf denselben Tisch zuschritt.

›Bon soir madame, bon soir mademoiselle, bon soir mon ami. Ist Ihr Kopfweh schon bester? Das freut mich.«

Sie machte ein Gesicht, als ob sie sich nach einem Stuhl umsehen würde. Eskilsten hatte sich vom Tisch erhoben, blutrot im Gesicht. Er schob seinen eigenen Stuhl hin. Aber man kam ihm zuvor. Mme. Dekker und ihre Tochter erhoben sich gleichfalls. Der Busen der dicken Holländerin schwoll wie ein Segel, und die anämische Tochter hatte zwei rote Flecke bekommen, die nichts mit Coty zu tun hatten.

»Entschuldigen Sie, Monsieur, aber wir sind müde und gehen zu Bett. Wenn Madame einen Stuhl wünscht, so sind hier zwei frei.«

Madame Dekkers Stimme war so diskret, wie die einer Holländerin sein kann. Aber alle Ohren im Café »waren gespitzt, und zwei davon waren krebsrot. Eskilsten stammelte Phrasen in einer Sprache, die dem Völkerbund Freude gemacht hätte: jeder erste Satz war französisch und jeder zweite deutsch.

»Meine Damen – ich bin verzweifelt – madame, asseyez-vous donc – gnädige Frau, gnädiges Fräulein, warum so früh aufbrechen – Madame, wenn ich geahnt hätte, daß Sie sich noch nicht niedergelegt haben, pour sûr, ich würde Sie in ihrem Zimmer abgeholt haben – meine Damen, Madame, asseyez-vous donc und nehmen wir etwas Kaffee und Liköre – warum kann man denn nicht zusammenhalten?«

Vrouw Dekkers Antwort erfolgte sofort. Es war klar, daß sie sie so vernichtend als möglich formulieren wollte. Und als die Worte aus ihrem Mund fielen, erinnerten sie auch an schwere Eidamer Käse.

»Mein Herr, Sie glaubten, daß Madame sich schon niedergelegt hätte, und darum gingen Sie nicht in Ihr Zimmer hinauf? Aber sind Sie so sicher, daß das ein Hindernis gewesen wäre?«

Es wurde still. Die junge Französin warf den Kopf mit einem Lächeln zurück. Sie würdigte die dicke Holländerin keines Blickes, sie sah unverwandt mit ihren klaren, klugen Augen Johann Adolf Eskilsten an. Sie wartete auf eine Geste, ein erlösendes Wort. Sie wartete vergeblich auf das eine wie das andere. Johann Adolf Eskilsten fand die einzig mögliche Geste nicht, und er fand auch nicht das einzige erlösende Wort; hingegen einen Wortstrom.

»Madame chère amie. Ich bin verzweifelt – meine Damen, warum so uneinig? Setzen wir uns doch alle miteinander nieder, und nehmen wir etwas Kaffee und Likör – Mon Dieu, warum soll mau sich immer das Leben schwermachen? Warum kann man es nicht gemütlich und angenehm miteinander haben – nein, Sie gehen doch nicht schon?«

Das letztere war an Madame Montfort gerichtet.

– Bis dahin hatte sie in dem scharfen Licht der elektrischen Lampen dagestanden, fein, schlank, rank wie eine Schwertklinge, mit klar leuchtenden Augen, mit stolz geschürzten Lippen und leicht bebenden Nasenflügeln. Es war nicht möglich, über ihre Rasse im Zweifel zu sein. Sie war eine echte Tochter des Landes, wo man durch Jahrhunderte mit demselben stolzen, verschwenderischen Elan geliebt und Krieg geführt hat. Die Vision war strahlend, ich beschattete meine Augen. Nun war sie vorbei. Sie glitt aus dem Raume, ohne ein Wort zu Johann Adolf Eskilsten. Die zwei holländischen Damen sanken langsam wieder auf ihre Sessel, die Mutter mit einem zornigen Fauchen, die Tochter ohne ihre frühere natürliche Röte.

Johann Adolf Eskilsten stand noch. Selbst erhob ich mich und verschwand, um nicht sehen zu müssen, wie er sich setzte.

 

7

Sehr zeitig am nächsten Morgen bekam ich ein Telegramm, das mich zwang, sofort nach Paris abzureisen. Dort begaben sich viele Dinge, und ich hatte Le Lavandou, Madame Montfort und Johann Adolf Eskilsten schon halb und halb vergessen, als ich eines Abends plötzlich an dieses Fragment der Geschichte meines Lebens erinnert wurde.

Es war im Café de Versailles. Die Musik hatte Pause; ringsherum lärmten und tosten Personen in verschiedenen Stadien des künstlerischen Erfolgs und der moralischen Déroute. Da waren alte Absinthveteranen und rotwangige Novizen aus Schweden. Es wurden viele Flaschen bestellt, und es gab viele Brieftaschenzwischenspiele. Plötzlich hörte ich eine Stimme, die mir bekannt vorkam. Sie sprach in kurzem, militärischem Rhythmus und mit diktatorischem Tonfall.

»Frankreich! Bist du verrückt? Natürlich liebe ich Frankreich! Wie könnte man ein solches Land nicht lieben? Dieser Wein! Und diese Frauen! Mjum, mjum! Ich sage dir, ich weiß, was ich rede. Ich komme gerade aus Südfrankreich, und da –«

Gerade da begann die Musik wieder. Ich sah die Hände meines Duzbruders gestikulieren, und ich sah ein junges, eifriges Gesicht seine Gesten und Worte wie ein Evangelium in sich aufnehmen. Etwas später erfolgte ein Brieftaschenzwischenspiel, ein gelber Schein mit der Unterschrift der französischen Bank wanderte in Johann Adolf Eskilstens Brieftasche hinüber. Nach einer Weile erhob sich der neue Besitzer der Banknote. Gerade da fiel sein Blick auf mich.

»Nein, bist du hier, lieber Freund! Du bist so rasch verschwunden, daß ich gar keine Zeit hatte, dir dein Geld zurückzuerstatten. Aber du bekommst es bald wieder. Und wundere dich dann nicht, wenn dein Freund Eskilsten eines schönen Tages als reicher Mann auftaucht. Erinnerst du dich noch an die kleine Holländerin, die im Hotel gewohnt hat? Da gibt's Geld, kann ich dir sagen, und Bruder Eskilsten hat nicht lange gebraucht, um das herauszufinden. Wir sind jetzt alle drei in Paris und –«

»Und Madame Montfort?« fragte ich. »Wie geht es ihr?«

Er zuckte die Achseln mit einer Geste, des Landes würdig, in dem er sich aufhielt, und das er liebte.

»Das weiß ich wahrhaftig nicht. Sie ist am selben Tag verschwunden wie du. Das war übrigens ganz gut. Sie war etwas lästig geworden. Und das Leben hat mich eine Sache gelehrt, lieber Freund, und das ist, eine Bekanntschaft nie aus sentimentalen Gründen weiter aufrechtzuerhalten.«

Da nahm ich meine gute Weinflasche und zerschellte sie an Johann Adolf Eskilstens Schädel. Aus welchem Grunde ich noch immer im Gefängnis sitze.


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