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Neuntes Kapitel

Wie die Räuber mit der Dame umgingen. Der große Plan, den Gil Blas entwarf, und sein Ausgang.

 

Es war schon länger als eine Stunde Nacht, als wir in der Höhle ankamen. Wir führten zunächst die Tiere in den Stall, wo wir sie selber an die Raufen binden und versorgen mußten, denn der alte Neger lag seit drei Tagen im Bett. Abgesehn von der Gicht, die ihn heftig angefallen hatte, lähmte ihm ein Rheumatismus alle Glieder. Nur die Zunge blieb frei, und er benutzte sie, um durch greuliche Lästerungen von seiner Ungeduld Zeugnis abzulegen. Wir ließen den Elenden fluchen und lästern und gingen in die Küche, wo wir der Dame all unsre Sorge angedeihen ließen, denn sie schien von den Schatten des Todes umschwebt. Wir ließen es an nichts fehlen, um sie aus ihrer Ohnmacht zu wecken, und wir waren so glücklich, daß es gelang. Aber als sie wieder zu Sinnen kam und sich in den Händen all der unbekannten Männer sah, empfand sie erst ihr ganzes Unglück und erbebte. Die größten Schrecken des Schmerzes und der Verzweiflung malten sich in ihren Augen, und von neuem erlag sie plötzlich den grauenhaften Bildern der Unwürdigkeiten, die ihr drohten; sie fiel noch einmal in Ohnmacht, ihre Lider schlossen sich wieder, und die Räuber dachten schon, der Tod werde ihnen ihre Beute entreißen. Da befahl der Hauptmann, der es für geratener hielt, sie sich selber zu überlassen, als sie durch erneute Hilfe zu quälen, sie auf das Bett Leonhardens zu tragen, wo man sie ganz allein ließ.

Wir gingen in den Saal hinüber, und einer der Räuber, der Feldscher gewesen war, untersuchte die Wunden des Leutnants und des Reiters und rieb sie mit Balsam ein. Dann wollte man sehn, was in den Koffern war. Die einen enthielten Spitzen und Wäsche, die andern Kleider; aber im letzten, den man öffnete, fanden sich ein paar Säcke voll Pistolen, was den Herren Kumpanen unendliche Freude machte. Nach dieser Untersuchung richtete die Köchin das Büfett her, deckte und trug auf. Wir unterhielten uns zunächst von unserm großen Siege. Da richtete Rolando das Wort an mich: Gestehe, Gil Blas, sagte er, gestehe, mein Kind, du hast große Angst gehabt. Ich antwortete, das gäbe ich gern zu; aber nach zwei bis drei Streifzügen würde ich mich wie ein Recke schlagen. Die ganze Kumpanie ergriff meine Partei und sagte, man müsse mir verzeihen; der Kampf sei lebhaft gewesen; und für einen jungen Menschen, der noch nie im Feuer gestanden habe, hätte ich mich nicht übel aus der Affäre gezogen.

Dann kam das Gespräch auf die Maultiere und die Pferde. Es wurde beschlossen, wir sollten andern Tags vor dem Morgengrauen sämtlich ausziehn, um sie in Mansilla, wo man schwerlich schon von unserm Überfall gehört hätte, zu verkaufen. Nach dem Nachtmahl kehrten wir in die Küche zurück, um nach der Dame zu sehn; wir fanden sie in demselben Zustand und glaubten nicht, daß sie die Nacht überstehn würde. Trotzdem warfen einige der Räuber ein profanes Auge auf sie und bezeigten ein brutales Verlangen, das sie befriedigt hätten, hätte nicht Rolando sie vorläufig noch zurückgehalten. Aus Achtung vor ihrem Hauptmann unterdrückten sie ihre Gier, sonst hätte nichts die Dame zu retten vermocht; selbst ihr Tod hätte ihr vielleicht ihre Ehre noch nicht gesichert.

Wir ließen also die unglückliche Frau in ihrem Zustand liegen und zogen uns in unsre Zimmer zurück. Ich meinerseits beschäftigte mich, als ich zu Bett gegangen war, statt zu schlafen, einzig mit dem Unglück der Dame. Ich zweifelte nicht, daß es eine vornehme Frau war, und ich fand ihr Los nur um so beklagenswerter. Ich konnte mir die Greuel, die sie erwarteten, nicht ohne Zittern ausmalen, und sie packten mich nicht minder lebhaft, als hätte mich Blut oder Freundschaft mit ihr verbunden. Schließlich begann ich über die Mittel zu grübeln, wie ich ihre Ehre vor der drohenden Gefahr erretten und zugleich selber entschlüpfen könnte. Ich sagte mir, der alte Neger könne sich nicht rühren, und seit seiner Krankheit führe die Köchin den Schlüssel zu dem Gitter, das den Ausgang innerhalb der Falltür sperrte. Dieser Gedanke erhitzte meine Phantasie, und ich entwarf einen Plan, den ich gut durchdachte und dessen Ausführung ich alsbald auf folgende Weise begann:

Ich tat, als hätte ich die Kolik. Ich stieß zunächst ein klagendes Stöhnen aus; dann erhob ich die Stimme und schrie. Die Räuber erwachten und standen bald um mich her. Sie fragten, weshalb ich so schriee. Ich antwortete, ich hätte eine furchtbare Kolik, und um sie sicherer zu täuschen, begann ich mit den Zähnen zu knirschen, Grimassen zu schneiden und schauerliche Verrenkungen auszuführen. Dann wurde ich plötzlich ruhig, als hätten meine Schmerzen mir eine Frist gewährt; im nächsten Augenblick aber begann ich mich von neuem auf meiner Streu zu wälzen und die Hände zu ringen. Mit einem Wort, ich spielte meine Rolle so gut, daß die Räuber, so schlau sie waren, sich täuschen ließen und wirklich glaubten, ich hätte heftiges Leibschneiden. Aber wenn ich meine Rolle so vortrefflich spielte, so wurde ich zum Lohn dafür auf sonderbare Art gefoltert; denn meine barmherzigen Brüder bemühten sich, im Glauben, ich habe Schmerzen, eifrigst, mir zu helfen: der eine brachte eine Flasche Branntwein und goß mir die Hälfte davon in den Mund, der andre gab mir ein Klistier von süßem Mandelöl, ein dritter machte ein Handtuch heiß und legte es mir glühend auf den Bauch. Ich mochte noch so laut um Erbarmen rufen, sie schrieben das Schreien der Kolik zu und machten mir beharrlich wirkliche Schmerzen, indem sie mir die erleichtern wollten, die ich gar nicht hatte. Schließlich, als ich es nicht mehr ertragen konnte, mußte ich ihnen sagen, daß ich kein Schneiden mehr spürte und sie bäte, mir Pardon zu geben. Sie quälten mich nun nicht länger mit ihrer Hilfe und ich hütete mich, noch weiter zu klagen, aus Furcht vor ihrem Mitleid.

Diese Szene dauerte fast drei Stunden. Die Räuber rüsteten sich nunmehr, da der Tag nicht mehr sehr fern sein konnte, zum Aufbruch nach Mansilla. Ich spielte meine Komödie weiter. Ich wollte aufstehn, um zu tun, als hätte ich die größte Lust, sie zu begleiten; aber sie hinderten mich daran. Nein, nein, Gil Blas, sagte der Herr Rolando, bleib hier, mein Sohn. Du kannst ein andermal mit uns kommen. Ruhe dich den ganzen Tag lang aus; du hast die Ruhe nötig. Ich glaubte, nicht weiter drängen zu dürfen, sonst hätte man wohl gar meiner Bitte nachgegeben. Ich stellte mich also nur sehr traurig, und zwar so gut, daß, als die Räuber die Höhle verließen, keiner von ihnen den geringsten Argwohn hatte. Nach ihrem Aufbruch sprach ich mich selber also an: Wohlan Gil Blas! jetzt gilt es Entschlossenheit zu zeigen. Wappne dich mit Mut. Die Sache scheint leicht: Domingo ist nicht imstande, sich deinem Unternehmen zu widersetzen, und Leonharde kann dich an seiner Ausführung nicht hindern. Diese Überlegungen erfüllten mich mit Zuversicht. Ich stand auf, nahm Degen und Pistolen und ging zunächst zur Küche. Aber bevor ich eintrat, stand ich still und lauschte. Ich hörte Leonharde zu der Unbekannten sprechen. Weint nur, meine Tochter, sagte die Alte; zerschmelzt in Tränen, spart nicht mit den Seufzern, das wird Euch Erleichterung verschaffen. Euer Zustand war gefährlich; aber da Ihr weint, ist die Gefahr vorüber. Euer Schmerz wird sich legen, und Ihr werdet Euch daran gewöhnen, hier mit unsern Herren zu leben, die ehrenhafte Leute sind. Gar manche Frauen wären froh, an Eurer Stelle zu sein.

Ich ließ Leonharde keine Zeit, noch weiter zu reden. Ich drang ein, setzte ihr die Pistole auf die Brust und verlangte mit drohender Miene den Schlüssel zum Gitter. Sie war entsetzt, und obgleich sie ihre Laufbahn zum größten Teil schon hinter sich hatte, hing sie noch genug am Leben, um mir nicht zu weigern, was ich verlangte. Als ich den Schlüssel in Händen hatte, richtete ich das Wort an die bekümmerte Dame. Gnädigste Frau, sagte ich, der Himmel hat Euch einen Retter gesandt; erhebt Euch, um mir zu folgen; ich werde Euch führen, wohin es Euch gefallen möge. Die Dame blieb meiner Stimme nicht taub; sie raffte all ihre Kraft zusammen, stand auf, warf sich mir zu Füßen und beschwor mich, ihre Ehre zu schonen. Ich hob sie empor und versicherte ihr, sie könnte auf mich zählen. Dann nahm ich die Stricke, die ich in der Küche sah, und mit Hilfe der Dame band ich Leonharde an die Beine eines großen Tisches, indem ich ihr versicherte, ich werde sie töten, wenn sie den geringsten Laut von sich gebe. Die gute Leonharde war überzeugt, daß ich nicht zögern würde, das zu tun, wenn sie mir zu widersprechen wagte, und ließ mich tun, was ich wollte. Ich zündete Licht an und ging mit der Unbekannten in die Kammer, wo die Gold- und Silberstücke lagen. Ich steckte mir soviel Pistolen und Doppelpistolen in die Taschen, wie sie nur fassen konnten; und um die Dame zu überreden, daß sie desgleichen tat, stellte ich ihr vor, sie nehme ja nur zurück, was ihr gehöre; so tat sie es ohne Bedenken. Als wir einen großen Vorrat hatten, gingen wir zum Stall, den ich mit angeschlagenen Pistolen allein betrat. Zum Glück war Domingo so von seinen Schmerzen übermannt, daß ich mein Pferd aus dem Stall ziehen konnte, ohne daß er es auch nur bemerkte. Die Dame wartete an der Tür. Wir eilten in den Gang hinein. Wir kamen zum Gitter, öffneten es und erreichten die Falltür. Wir hatten viel Mühe, um sie zu heben, oder vielmehr, wir brauchten dazu die ganze Kraft, die das Verlangen nach der Rettung uns lieh.

Der Tag graute eben, als wir aus diesem Abgrund auftauchten. Es drängte uns sofort hinweg. Ich sprang in den Sattel; die Dame stieg hinter mir auf, wir schlugen im Galopp den ersten besten Pfad ein und hatten den Wald bald hinter uns. Wir kamen auf eine Ebene, die von mehreren Straßen durchschnitten wurde; wir ritten eine davon aufs Geratewohl entlang. Ich schwebte in Todesangst, sie könne uns nach Mansilla und Rolando mit seinen Kumpanen in die Arme führen. Zum Glück war meine Angst unnötig. Wir kamen gegen zwei Uhr nachmittags nach Astorga. Ich bemerkte, daß manche Leute mich auffallend ansahen, als sei es ein so neues Schauspiel, daß eine Dame hinter einem Mann zu Pferde saß. Wir stiegen im ersten Gasthof ab, und ich befahl, daß man ein Rebhuhn und ein junges Kaninchen aufs Feuer brachte. Während man meine Bestellung ausführte, geleitete ich die Dame in ein Zimmer, wo wir uns zu unterhalten begannen, denn unterwegs hatten wir bei dem schnellen Ritt nicht sprechen können. Sie versicherte mir, wie sehr sie den Dienst, den ich ihr geleistet hatte, würdigte, und sagte, nach einer so hochherzigen Tat vermöchte sie nicht zu glauben, daß ich ein Genosse der Räuber wäre, denen ich sie entrissen hätte. Ich erzählte ihr meine Geschichte, um ihr die gute Meinung von mir zu bestätigen. Sie sagte mir, sie heiße Doña Mencia de Mosquera, und der junge Edelmann, der gestern getötet worden, sei ihr Gatte gewesen, mit dem sie eines Ehrenhandels wegen floh.


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