Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

Gil Blas tritt beim Doktor Sangrado in Dienst und wird ein berühmter Arzt.

 

Ich beschloß, den Herrn Arias de Londona aufzusuchen und mir aus seiner Liste eine neue Stelle auszuwählen; aber als ich gerade in die Sackgasse einbiegen wollte, in der er wohnte, begegnete ich dem Doktor Sangrado, den ich seit dem Tode meines Herrn nicht wiedergesehn hatte, und ich nahm mir die Freiheit, ihn zu grüßen. Trotz meines veränderten Anzugs erkannte er mich sofort, und nicht ohne Freude sagte er zu mir: Ah, da bist du ja, mein Freund! Ich dachte gerade an dich. Ich brauche einen tüchtigen Burschen für meinen Dienst, und ich dachte, du wärest, was ich suche, wenn du lesen und schreiben könntest. Mein Herr, sagte ich, in dem Fall kann ich Euch dienen, denn ich habe beides gelernt. Also, erwiderte er, komm zu mir, du wirst nur Angenehmes erfahren und ich werde dich ausgezeichnet behandeln. Ich zahle dir keinen Lohn, aber dir wird nichts mangeln. Ich werde dich halten, wie es sich gehört, und ich werde dich die große Kunst lehren, alle Krankheiten zu heilen; mit einem Wort, du wirst eher mein Schüler sein als mein Diener.

In der Hoffnung, mich unter einem so gelehrten Meister in der Medizin berühmt zu machen, nahm ich seinen Vorschlag an. Er führte mich sogleich in sein Haus, um mir zu zeigen, was ich zu tun hatte. Meine Tätigkeit bestand darin, Namen und Adresse der Kranken aufzuschreiben, die nach ihm schickten, wenn er unterwegs war. Zu diesem Zweck lag in seiner Wohnung ein Register aus, in das bisher eine alte Dienerin, sein einziger Dienstbote, die Adressen eintrug; aber abgesehn davon, daß sie nicht richtig schreiben konnte, schrieb sie so schlecht, daß man meist ihre Schrift nicht entziffern konnte. Das Buch, das man sehr wohl ein Sterberegister nennen konnte, da die Leute, deren Namen ich aufschrieb, fast alle starben, wurde mir jetzt anvertraut. Ich notierte gewissermaßen alle, die ins Jenseits reisen wollten, genau wie in einem Postbureau ein Schreiber die Namen derer notiert, die Plätze belegen. Ich nahm die Feder gar oft zur Hand, denn es gab zurzeit keinen angesehenern Arzt in Valladolid als den Doktor Sangrado.

Da es ihm nicht an Praxis fehlte, so fehlte es ihm auch nicht an Vermögen. Er lebte aber darum nicht besser: man speiste sehr frugal bei ihm. Wir aßen gewöhnlich nur Erbsen, Bohnen, gekochte Kartoffeln und Käse. Aber obgleich er diese Nahrungsmittel für die leichtest verdaulichen hielt, wollte er nicht, daß man sich daran sättigte; und darin zeigte er sich sehr vernünftig. Aber wenn er der Dienerin und mir das viele Essen verbot, so erlaubte er uns dafür, Wasser zu trinken, soviel wir nur wollten. Bisweilen sagte er: Trinkt, meine Kinder! Die Gesundheit besteht in der Geschmeidigkeit und der Einweichung der Teile; trinkt reichlich Wasser, das Wasser löst alle Salze. Ist der Blutumlauf zu langsam, so beschleunigt es ihn; ist er zu schnell, so hemmt es sein Ungestüm. Unser Doktor war darin so guten Glaubens, daß er trotz seines vorgerückten Alters selber auch nur Wasser trank. Er definierte das Alter als eine natürliche Phthisis, die uns austrockne und verzehre; und beklagte die Unwissenheit derer, die den Wein die Milch der Greise nannten. Er behauptete, der Wein verbrauche und vernichte sie: er sei ein Freund, der verrate, und ein Vergnügen, das uns täusche.

Trotz dieser gelehrten Erwägungen bekam ich nach acht Tagen einen Durchfall, und ich begann heftige Magenschmerzen zu spüren, die ich verwegen genug war, dem allgemeinen Lösemittel und der schlechten Nahrung zuzuschreiben. Ich beklagte mich bei meinem Herrn darüber, denn ich hoffte, er werde ein wenig milder werden und mir etwas Wein zu meinen Mahlzeiten geben; aber seine Abneigung gegen dies Getränk war zu groß, als daß er es mir bewilligt hätte. Wenn du dich erst daran gewöhnt hast, Wasser zu trinken, sagte er, wirst du seiner Vortrefflichkeit schon inne werden. Wenn dir übrigens, fuhr er fort, das reine Wasser zuwider ist, so gibt es unschuldige Mittel, um dem Magen gegen die Fadheit wässeriger Getränke zu Hilfe zu kommen. Salbei, zum Beispiel, oder Veronika gibt ihnen einen köstlichen Geschmack; und wenn du sie ganz ausgezeichnet machen willst, brauchst du nur Nelken, Rosmarin oder Feldmohn daranzutun.

Er mochte mir das Wasser noch so sehr rühmen, ich trank es mit soviel Maß, daß er mir schließlich sagte: Wahrhaftig, Gil Blas, es wundert mich nicht, wenn du dich keiner vollkommenen Gesundheit erfreust; du trinkst nicht genug, mein Freund. Wenn man das Wasser in zu geringen Mengen nimmt, so dient es nur, die Galle zu entwickeln und ihre Tätigkeit zu steigern; während man sie in reichlichen Lösemitteln ertränken soll. Fürchte nicht, mein lieber Freund, daß die Menge des Wassers deinen Magen schwäche oder erkälte: ferne sei dir die panische Angst vor häufigem Trinken! Ich bürge dir für den Ausgang. Und wenn ich dir als Bürge nicht genüge, so soll dir Celsius selber Bürgschaft leisten. Dieses lateinische Orakel gibt einen wunderbaren Lobgesang auf das Wasser, und fügt ausdrücklich hinzu: wer sich, um Wein trinken zu können, auf die Schwäche seines Magens berufe, tue diesem Eingeweide handgreifliches Unrecht und suche nur einen Vorwand für die Begier seiner Sinne.

Da es mir übel gestanden hätte, mich unfolgsam zu zeigen, während ich gerade die Laufbahn der Heilkunde beschritt, so tat ich, als wäre ich überzeugt, daß er recht hätte; ich will sogar gestehn, daß ich es wirklich glaubte. Ich trank also wieder Wasser, und obgleich ich mich von Tag zu Tag weniger wohl fühlte, siegte das Vorurteil über die Erfahrung. Ich war also, wie man sieht, für den Beruf des Arztes glücklich veranlagt. Ich konnte aber doch der Heftigkeit meiner Schmerzen nicht lange Widerstand leisten, und sie steigerten sich in einem Grade, daß ich schließlich beschloß, den Dienst beim Doktor Sangrado aufzugeben. Aber er gab mir eine neue Beschäftigung, die mich andern Sinnes machte. Höre! sagte er eines Tages zu mir, ich gehöre nicht zu jenen harten und undankbaren Herren, die ihre Diener in Dienstbarkeit ergrauen lassen, ehe sie sie belohnen. Ich bin mit dir zufrieden, ich liebe dich und habe beschlossen, schon heute dein Glück zu machen. Ich will dir das Herz der heilsamen Kunst offenbaren, die ich seit so vielen Jahren übe. Die andern Ärzte schöpfen ihre Kenntnis aus tausend mühsamen Wissenschaften; ich gedenke dir den langen Weg zu kürzen und dir die Mühe des Studiums der Physik, der Pharmazeutik, der Botanik und der Anatomie zu ersparen. Wisse, mein Freund, man braucht nur zur Ader zu lassen und heißes Wasser zu verordnen: das ist das Geheimnis, um alle Krankheiten der Welt zu heilen. Ich habe dich nichts mehr zu lehren, du kennst die Heilkunde aus dem Grunde. Jetzt kannst du, fuhr er fort, mir Hilfe leisten; du wirst morgens unsre Liste führen, und nachmittags wirst du ausgehn, um einen Teil meiner Kranken zu besuchen. Während ich den Adel und die Geistlichkeit übernehme, wirst du für mich in die Häuser des dritten Standes gehn, wenn man mich ruft; und wenn du eine Weile gearbeitet hast, werde ich dich in unsre Körperschaft aufnehmen lassen. Du bist ein Gelehrter, Gil Blas, ehe du Arzt bist; während die andern lange Zeit, meist ihr ganzes Leben hindurch, nur Ärzte bleiben, ehe sie zu Gelehrten werden.

Ich dankte dem Doktor, daß er mich so schnell instand gesetzt hatte, ihm als Vertreter zu dienen; und um ihm für seine Güte zu danken, versicherte ich ihm, daß ich mein Leben lang seinen Meinungen anhängen würde, ständen sie auch zu denen des Hippokrates selber in Widerspruch. Diese Versicherung war jedoch nicht ganz aufrichtig. Ich mißbilligte seine Meinung über das Wasser, und ich nahm mir vor, jeden Tag, wenn ich meine Kranken besuchte, Wein zu trinken. Zum zweitenmal hing ich mein gesticktes Kleid an den Nagel, um eins meines Herrn zu nehmen und mir das Ansehn eines Arztes zu geben. Dann schickte ich mich an, auf Kosten derer, die es anging, die Heilkunde auszuüben. Mein Debüt galt einem Alguasil, der eine Brustfellentzündung hatte; ich befahl, daß man ihn ohne Erbarmen zur Ader ließ, und daß man ihm das Wasser nicht mißgönnte. Dann ging ich zu einem Bäcker, der unter der Gicht laute Schreie ausstieß. Ich schonte sein Blut so wenig wie das des Alguasils und verordnete, daß man ihm ununterbrochen Wasser gäbe. Ich erhielt zwölf Reale für meine Verordnungen, was mir soviel Geschmack am Handwerk eingab, daß mich nur noch nach Wunden und Beulen verlangte. Dann traf ich Fabricio, den ich seit dem Tode des Lizentiaten Sedillo nicht mehr gesehn hatte. Er sah mich lange verwundert an und lachte so laut heraus, daß er sich die Seiten halten mußte; nicht ohne Grund: denn mein Mantel schleppte, und mein Wams und meine Hose waren viermal länger und weiter, als nötig. So konnte ich als ein groteskes Original passieren. Ich bezwang mich aber, um nicht mitzulachen, denn ich mußte auf der Straße das Dekorum wahren und den Arzt markieren, der kein lachendes Tier ist. Wenn mein lächerlicher Aufputz Fabricios Lachen erweckte, so verdoppelte meine ernste Miene es noch. Bei Gott! Gil Blas, rief er, wer zum Teufel hat dich so heiter herausgeputzt? Und als ich ihm mein Leben während der letzten Monate erzählt hatte, rief er: Ja, mein Freund, dein Los scheint mir des Neides wert. Ich möchte Gil Blas sein, wenn ich nicht Fabricio wäre.

Um dem Sohn des Bartscherers Nunez zu beweisen, daß er mein Glück nicht zu Unrecht pries, zeigte ich ihm die Reale des Alguasils und des Kuchenbäckers, und wir traten in eine Schenke, um einen Teil davon zu vertrinken. Ich trank in langen Zügen; und ohne dem lateinischen Orakel zu nahe treten zu wollen, muß ich sagen, je mehr ich mir in den Magen goß, um so deutlicher fühlte ich, daß dies Eingeweide mir das Unrecht, das ich ihm antat, nicht übel nahm. Wir lachten viel auf Kosten unsrer Herren, trennten uns erst mit Einbruch der Nacht und versprachen, uns folgenden Tages am gleichen Ort wieder einzufinden.


 << zurück weiter >>