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Zwiesprache mit dem Wald

Der Wald als Lebensgemeinschaft – Was der Wald für sein Dasein braucht – Die Lebewelt der Bodendecke – Ihre chemische und mechanische Arbeitsleistung – Der Lebenshaushalt der Bäume und Sträucher – Vom Saftsteigen – Die Bedeutung der Blätter – Warum sie Wohltäter der Menschheit sind – Der Kampf ums Licht – Der Lichtgenuß der Pflanzen – Warum die Waldblumen so frühzeitig blühen – Wenn die Blätter fallen – Der Unterschied zwischen Pflanze und Tier – Ein Schutzgeist der Pflanzen – Der Farbenrausch des herbstlichen Waldes – Vorsorge für den kommenden Lenz – Ursachen des Blätterfalls – Waldwinter – Die Leichentuchdichter und die Wirklichkeit – Frühlingseinzug –Von allerlei Kätzchen – Wie Eichen und Buchen Hochzeit feiern – Insektenblütler – Blühende Nadelhölzer – Die Verbreitung der Samen und Früchte – Der Wald wird zum Flugplatz – Ameisen als Samenzerstreuer – Die Mistel – Vögel im Dienste der Pflanzen – Waldfeinde – Forleule, Nonne und Kiefernspinner – Borkenkäferfraß – Der Maikäfer als Waldzerstörer – Der Wald der Zukunft.


Der Wald ist es wert und verdient es um uns jeden Augenblick, daß wir unter seiner schönen Außenseite auch die innerlichen Regungen seines Lebens aufsuchen.

Roßmäßler.

 

Jeder echte Naturfreund weiß, was eine Lebensgemeinschaft ist. Er hat auf seinen Wanderungen Großes und Kleines mit wachen Augen und fröhlicher Anteilnahme bestaunt und die geheime Wechselbeeinflussung der Naturdinge dabei erkannt. Er weiß, wo bestimmte Pflanzenarten, bestimmte Insekten, bestimmte Vögel mit Sicherheit anzutreffen sind, denn die Beobachtung hat ihn gelehrt, daß die von ihm begehrten Gewächse besonders beschaffener Örtlichkeiten und die von ihm gesuchten Tiere einer bestimmten Umwelt bedürfen, weil sie nur dort das für Wachstum und Leben Erforderliche beisammen finden.

Der Zusammenhang zwischen Pflanze und Tier ist ihm beim Schauen bewußt geworden, und wenn er einen Naturwald durchschreitet, keinen der öden Nadelwälder, in denen die Bäume parademäßig wie Soldaten aufmarschiert sind, so ist er nicht darüber im Zweifel, daß dieser Wald keine Zufallsgesellschaft von Bäumen, Sträuchern und Bodenpflanzen, sondern eine geschlossene Einheit von vielerlei Lebensformen ist, die aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind. Eine Lebensgemeinschaft, »Biozönose«, wie der gelehrte Forscher sagt, zu der neben den Gewächsen des Waldes auch die ihn bevölkernden Tiere gehören, die großen und kleinen Säugetiere vom Hirsch bis zur winzigen Spitzmaus herab, die Vögel, die in Baum und Strauch nicht bloß ihre tägliche Nahrung finden, sondern auch Brutgelegenheit, die mächtige Heerschar der Insekten und nicht zuletzt die hochbedeutsame, größtenteils mikroskopische Welt, deren Wirkungsbereich der Waldboden ist. So innig ist dieser Lebensverband zu einer Einheit zusammengeschmiedet, so unverbrüchlich sind seine Glieder eins durch das andere bedingt, daß er die Fähigkeit besitzt, sich völlig aus eigener Kraft zu erhalten, solange sein Lebensgleichgewicht nicht in gewaltsamer Weise gestört wird.

Das darf freilich nicht zu dem Irrtum verleiten, als herrschten unter den Waldbewohnern immer nur Eintracht, Ruhe und Frieden. Den Spaziergänger, der dem Stadtlärm entflieht, um in der Waldeseinsamkeit den Nerven eine Erholung zu gönnen, mag es verständlicherweise bedünken, als sei im Schatten der dichten Kronen aller Daseinskampf verstummt. In Wirklichkeit ruht er im Walde so wenig wie irgendwo sonst in der freien Natur, und wehe dem Wald, wenn es anders wäre! Denn erst dem Wettstreit um Licht und Nahrung, der die Schwachen bedroht und die Starken fördert, verdankt er den Zustand des Gleichgewichts, der ihm als Biozönose eignet und ihm seinen Dauerbestand verbürgt.

Wohl gibt es zahlreiche Lebensverbände mit gegenseitiger Bedingtheit ihrer gesamten Mitgliedschaft – es sei nur an die Wiese erinnert, an Heiden, Moore und so weiter –, doch ist bei keinem das Gleichgewicht, das Wechselspiel zwischen Kampf und Anpassung, gleich gut gesichert wie beim Wald. Er war schon da, als vom Menschengeschlecht noch jegliche Spur auf der Erde fehlte. Millionen von Jahren lebt er bereits, wenn auch nicht immer mit gleichem Gesicht. Er zieht seine Lebenskraft aus sich selbst. Noch niemals haben Menschenhände einen Naturwald aufgebaut. Wo Klima und Bodenbeschaffenheit überhaupt einen Baumwuchs möglich machen, wird jede beliebige Pflanzengesellschaft im Laufe von ein paar hundert Jahren unausweichlich zu einem Wald, und wenn sich Klima und Boden nicht ändern und Menschenmacht nicht gewalttätig eingreift, so wahrt dieser Wald, wo er einmal gewachsen, für alle Zeiten sein Herrscherrecht und dehnt sein Reich immer weiter aus.

 

Was der Wald für sein Dasein braucht

Wesentliche Vorbedingung für die Waldbildung ist ein Klima, das dauernd dem Boden durch Niederschläge den nötigen Wasservorrat sichert. Wo diese Bedingung nicht erfüllt ist, hat der Wald sein Recht verloren. Wohl sind die Bäume durch ihre verzweigten und nötigenfalls tiefreichenden Wurzeln weit besser als Sträucher und krautige Pflanzen zur Wasserausnutzung des Erdreichs befähigt, doch sind auch ihre grünen Kronen, die Stätten der wichtigsten Lebensvorgänge, viel weiter vom feuchten Quellgrund entfernt, und die gesamte Oberfläche der wasserabgebenden Organe ist über alle Vorstellung groß.

Eine Birke mit 200 000 Blättern verdunstet nach Kerner Tag für Tag rund 60 bis 70 Liter Wasser, mehr an heißen und trockenen Tagen, weniger an kühlen und feuchten, und 7000 Liter während des Sommers. Eine Buche im Alter von hundertzehn Jahren gibt innerhalb des gleichen Zeitraums 9000 Liter ab an die Luft, und ein nur kleines Stück Buchenwald (400 Stämme auf einem Hektar) verdunstet die riesige Wassermenge von 3 600 000 Liter. Kein Wunder, daß Wälder nur leben können, wo ihnen ein ständig feuchter Grund die Deckung ihrer Verluste verbürgt. Auch für die Nadelhölzer gilt das, obgleich bei diesen die Verdunstung wegen der Kleinheit ihrer Blätter sieben- bis zehnmal geringer ist.

Außer dem Wasser hat der Wald in der Zeitspanne, da seine Bäume wachsen (man nennt sie seine Vegetationszeit, zum Unterschied von der Ruhezeit), mindestens drei Monate lang bestimmte Sommerwärme nötig, für die genügsamsten unserer Bäume eine von 12 bis 14 Grad, für anspruchsvollere wesentlich mehr. Je höher jedoch die Temperatur in der Vegetationszeit des Waldes steigt, desto höher natürlich sein Wasserbedarf zum Ausgleich des Verdunstungsverlustes.

Wir verstehen, warum die deutschen Wälder so unterschiedlich zusammengesetzt sind, denn Temperatur und Niederschlagsmengen weichen je nach den »Klimaprovinzen«, die die Botaniker festgestellt haben, mannigfach voneinander ab. Es ist kein Zufall, daß die Buche in Ostpreußen nahezu vollkommen fehlt, denn die Grenze ihrer Verbreitung hängt nicht von der Sommerwärme ab, sondern von der Winterwärme. Während im oberen Rheintal zum Beispiel die Vegetationszeit der dortigen Wälder 180 Tage dauert, ist sie im südlichen Teile Ostpreußens durch den späten Frühlingseinzug und den früh beginnenden Herbst auf 150 Tage beschränkt. Die Buche, zumal ihr junger Nachwuchs, ist gegen Kälte besonders empfindlich. Dem rauhen kontinentalen Klima weicht sie geradezu ängstlich aus.

Ganz anders unsere Nadelhölzer, die anspruchslos, wetter- und kältefest sind und auch in allen nordischen Ländern, wo außer der Birke das Laubholz fehlt, noch endlos erscheinende Waldungen bilden. Gleichwohl sind in unserem Vaterlande die Nadelwälder nicht auf den Norden, die Laubwälder nicht auf den Süden beschränkt. Es gibt keinen Grenzstrich, der beide trennt, weil diese wie jene die Gabe besitzen, sich den klimatischen Unterschieden auf das feinste anzupassen.

So bedeutsam indessen die Klimaeinflüsse für das Leben der Bäume sind, für sich allein genügen sie nicht, um das Wachstum der Bäume sicherzustellen. Der Waldbaum braucht mehr zu seinem Gedeihen. Er braucht, um den unterirdischen Wurzeln die Atmungsmöglichkeit zu erhalten, lockeren, gut durchlüfteten Boden und zu seinem Fortkommen neben dem Wasser, das ihm die Niederschläge liefern, ausreichend mineralische Nährstoffe. Wie für die Wurzeln unter der Erde, so braucht er auch für Stamm und Krone genügend Spielraum zu deren Entwicklung und schließlich, als ganz besonders wichtig, Sonnenlicht für die grünen Organe, mögen sie Blatt oder Nadel heißen.

Was Waldboden ist, glaubt jeder zu wissen, der einmal auf dem weichen Teppich aus braunen Nadeln oder Laubblättern sorglos umhergestiefelt ist. »Alles was tot oder lebensmüde aus den Kronen der Bäume herabsinkt, fällt der Vermoderung anheim und wandelt sich langsam in Humus um, aus dem dann die Bäume mit Hilfe der Wurzeln ihren Nahrungsbedarf beziehen.« Eine höchst einfache Sache, meint man, davon nicht viel zu erzählen ist. Wer aber ein wenig tiefer eindringt in das Geheimnis der Waldbodendecke, dem dämmert sehr bald die Erkenntnis auf, daß sie durchaus keine bloße Anhäufung toter Pflanzenbestandteile darstellt, sondern reich von Leben erfüllt ist, das in geregelter Arbeitsteilung für den Haushalt des Waldes wirkt.

Es ist gewiß keine Übertreibung, wenn man die Anzahl der Bodenbewohner einer nur kleinen Fläche Waldes auf Hunderte von Billionen schätzt, denn der bei weitem höchste Prozentsatz dieser verborgenen Kleinlebewesen gehört der Welt der Spaltpilze an, auch Bakterien genannt. Man ahnt, was das zu bedeuten hat. Lebendiges, das noch winziger wäre als diese einfachsten aller Geschöpfe, ist bis zur Stunde unbekannt und schlechterdings auch unvorstellbar. Manche von ihnen sind so klein, daß selbst die stärksten Mikroskope, die zwei- bis dreitausendfach vergrößern, sie nur im Ausmaß der Punkte und Kommas in diesem Buche erscheinen lassen.

Innerhalb der noch wenig erforschten, ins Riesige gehenden Artengesamtheit gehören unsere Bodenbakterien einer Sondergenossenschaft an, die überall, wo sie in Tätigkeit tritt, zersetzend und fäulniserregend wirkt. Wo immer sich in der freien Natur oder sonstwo der überaus segensreiche, wenn auch für unser Menschenempfinden unerfreuliche Vorgang abspielt, den wir mit dem Worte Verwesung bezeichnen, ist nicht der Tod die bewirkende Ursache, wie wir gewöhnlich zu glauben geneigt sind, sondern die unsichtbare Arbeit der Kleinsten der Kleinen im Lebensbereich. Wo sie nicht sind, gibt es keine Verwesung. Allem Lebendigen, Pflanzen wie Tieren, würde die Form und Mischung des Körpers auch nach ihrem Tode erhalten bleiben, wenn keine Bakterien existierten. Eine Vorstellung, die in uns Grauen erregt.

Im Walde fällt diesen wahren Wohltätern die verwickelte Aufgabe zu, alle in den Boden gelangten tierischen oder pflanzlichen Reste aufzulösen und umzuwandeln, die darin enthaltenen chemischen Stoffe aus ihrer Gebundenheit zu befreien und in Verbindungen zu überführen, die den kommenden Pflanzengeschlechtern (und durch diese wieder den Tieren) als unerläßlicher Rohbedarf zum Aufbau ihres Körpers dienen. Mit einem Satz: die Bodenbakterien bilden die Verwesungsprodukte durch ihr unermüdliches Wirken wieder in Nahrungsrohstoffe um, nach denen die höheren Pflanzen hungern. Die »Seelenwanderung« der Ägypter und in späterer Zeit der Griechen ist eine durch nichts gestützte Mythe, Tatsache ist aber der ewige Kreislauf aller lebenswichtigen Stoffe, an dem die Gemeinschaft der Fäulnisbakterien den bedeutendsten Anteil hat. Mit ihnen im Bunde sind weiterhin stets Bodenalgen und vielerlei Pilze, pflanzliche Wesen, die auf der Leiter des Lebens schon etwas höher stehen als die Bakterien oder Spaltpilze, zu deren Beobachtung aber gleichfalls ein gutes Vergrößerungsglas gehört.

Besorgt diese Dreiheit die chemische Arbeit, so leisten andere Lebewesen im Waldboden die mechanische. Indem sie dauernd das Erdreich durchpflügen, Blattreste, Zweigstücke, Knospenschuppen, kurz alles was von den Bäumen herabfällt, tiefer ins Erdreich hineinbefördern, zerfallene Gewebe verzehren und beim Durchgang durch ihren Körper in krümelige Masse verwandeln, lockern sie den Boden auf und sorgen damit für seine Durchlüftung. Zu diesen bodenverändernden Tieren zählt das Heer der Insektenlarven, der Tausendfüßer, Spinnen, Milben, Asseln und wie sie sonst noch heißen, besonders aber der Regenwürmer, von deren gesegneter Wirksamkeit schon Darwin ein Loblied gesungen hat. Sie vermengen die mineralische Erde mit den modernden Pflanzen- und Tierresten und bereiten so den Boden für das Wachstum der Pflanzen vor. Die Blätter, die der Regenwurm als Nahrung in seine Röhren zieht, werden, nachdem sie in Fäden zerrissen, zum Teil verdaut und mit Absonderungen des Darmes reichlich gesättigt sind, mit sehr viel Erde untermischt. Und diese krümelige Masse bildet die dunkelgefärbte Schicht, den reichen und gesunden Humus, auf dem die Bodenkraft beruht. Die Wirkung der Laubblätter auf den Boden ist günstiger als die der Nadeln. Wechselt trockenes Wetter mit feuchtem, so kommen die Laubblätter in Bewegung, rollen sich auf oder legen sich flach und schließen den Boden viel weniger dicht als die unbewegliche Nadeldecke.

Wo allzu häufige Niederschläge und vorwiegend kühle Temperaturen die nötige Zersetzung hindern, häufen die Abfallstoffe sich an, ballen sich langsam zu einer schwarzen, zähen, filzigen Decke zusammen und bilden schließlich eine Art Torf. »Trockentorf« zum Unterschiede vom eigentlichen nassen Torf, der nur in offenen Mooren entsteht. Der Boden, den Fadenpilze durchsetzen, wird an Humussäuren reich, wird »sauer«, wie die Chemiker sagen, und nur noch wenige Gewächse können aus solchem »Rohhumusboden« genügend brauchbare Nahrung ziehen. Und alles das, weil die Kleinlebewesen, die Bodenwühler und Bodenmischer und mit ihnen die Bakterien, infolge der Kühle und Feuchtigkeit ihre nützliche Arbeit einstellen mußten. Die ausdruckslosen Landschaftsbilder der Hochlagen unserer Mittelgebirge sind Zeugnisse solcher Rohhumusböden.

Eine gesunde Waldbodendecke, etwa die eines Buchenwaldes, müssen wir uns in drei Schichten denken. Zu oberst die lockere, trockene Laubschicht, bis vierzig Zentimeter mächtig, als Folge des herbstlichen Blätterfalls. Darunter zehn Zentimeter hoch mit Pilzen durchsetztes moderndes Laub, und wiederum ein Stockwerk tiefer, am Grunde in hellen Sand sich verlaufend, die eigentliche Humusschicht. Bis dreißig Zentimeter mächtig, ist sie von einer tiefdunklen Färbung und in allen Buchenwäldern von tintenartigem Geruch. Sie ist der Nährquell der meisten Pflanzen und deshalb auch in ganzer Ausdehnung reich von deren Wurzeln durchzogen.

 

Der Lebenshaushalt der Bäume und Sträucher

Wie alles sich zum Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und lebt.
Wie Himmelskräfte auf- und niedersteigen
Und sich die goldnen Eimer reichen.

Goethe.

 

Hier unten, in der nachtdunklen Tiefe, saugen die Wurzeln das Wasser ein, das dann in scheinbarem Widerspruch mit den Gesetzen der Natur die Schwerkraft siegreich überwindet, stammaufwärts bis in die Kronen klimmt, hinein in die höchsten Wipfelzweige, um schließlich wieder durch die Blätter in die Luft verdampft zu werden. Eigentlich törichte Kraftvergeudung, meint man im ersten Augenblick, und wenn es nichts als Wasser wäre, was da mit wundersamem Pumpwerk, das heute noch jeder Erklärung spottet, zu Höhen von dreißig, fünfzig Meter vom Erdboden aus emporbewegt wird, so wäre die Einrichtung wirklich sinnlos. Es ist indessen nicht Wasser schlechthin.

Es hat seinen Grund, wenn der Volksmund seit alters vom »Saftsteigen« in den Bäumen spricht und damit das Nahen des Frühlings begrüßt. Denn dieser kletternde Wasserstrom führt erstens die im gelösten Zustand von den Wurzeln aufgenommenen wertvollen Bodensalze mit und zweitens organische Verbindungen, die in der Pflanze entstanden sind, vor allem Zucker- und Eiweißstoffe. Das alles nimmt er in sich auf und befördert es dorthin, wo es verbraucht wird. Die festen Stoffe behalten die Bäume, das Wasser dagegen scheiden sie aus, nachdem es seine Arbeit getan hat.

Wäre der Wasserdunst über den Waldbäumen nicht so durchsichtig wie die Luft, so würden wir jede einzelne Laubkrone rings von Wolken eingehüllt sehen. Da das nicht der Fall ist, müssen wir uns, wie so oft, an dürre Zahlen halten, um eine Vorstellung zu gewinnen, wie ungeheuer der Wasserverbrauch eines Laubwaldes während des Sommers ist. Der Forstbotaniker R. v. Höhnel berechnete das Gewicht des Wassers, das durchschnittlich ein Hektar Buchenwald in seiner Vegetationszeit verdampft, auf drei Millionen Kilogramm. Um eine solche Menge Wasser mit Hilfe von Feuer in Dampf zu verwandeln, würden 500000 Kilogramm Steinkohlen oder 1250000 Kilogramm Holz verbrannt werden müssen. Das aber ist das Vierfache dessen, was im Verlaufe von hundert Jahren ein Hektar Buchenwald erzeugt.

Wir kennen bis heute, wie gesagt, die rätselhafte Kraft nicht genau, die dem Pumpwerk der Bäume und anderer Pflanzen die Fähigkeit dazu verleiht, der Schwerkraft erfolgreich ein Schnippchen zu schlagen. Wir kennen nur die Leitungsbahnen, denen das Wasser beim Aufstieg folgt. Und da erhebt sich nun gleich die Frage: wie sieht solch ein Baumstamm im Innern aus, der derart Wunderbares vollbringt, etwa der Stamm einer alten Eiche, die während ihres langen Lebens viele Menschengenerationen an sich vorüberwandern sah und sich noch immer, wenns Mailüfterl weht, genau wie in ihren Jugendtagen mit hoffnungsgrünem Gewande schmückt.

Von außen sieht solch ein Eichenstamm mit seinen tiefen Rissen und Furchen nichts weniger als jugendlich aus, und um es gleich im voraus zu sagen, es ist auch im Innern nicht alles so, wie es der Uneingeweihte sich denkt. Während im Körper der höheren Tiere alle Organe und Gewebe aus lebenden Zellen zusammengesetzt sind, zeigt uns die höhere Pflanze, der Baum, und zwar je betagter er ist desto mehr, daß alles, was an ihm lebendig ist, höchstens ein paar Jahrzehnte zählt. Im größten Teil des Stammes, der Äste und der halbwegs kräftigen Wurzeln gibt es nur noch totes Gewebe, und was von diesem eingeschlossen aus durchweg lebenden Zellen besteht, ist eine verhältnismäßig schmale Zone, gebildet aus der Wachstumsschicht, dem sogenannten Kambium, und dem aus diesem hervorgegangenen allerjüngsten Rindenteil, den wir als Bast zu bezeichnen pflegen. Ihm schließt sich nach außen die Borke an, deren Zellen sämtlich erstorben sind. Der Bildungsschicht des Kambiums verdankt der Baum sein Dickenwachstum während seiner Vegetationszeit, erkennbar an den Jahresringen, und außerdem die Möglichkeit, Verwundungen wieder auszuheilen, oft zwar mit mangelndem Erfolg. Nach der Innenseite des Baumstamms zu folgt auf den Kambiumring das Holz, zunächst das Splint- und dann das Kernholz, und in den jüngsten Splintholzschichten finden wir jetzt auch die Leitungsbahnen aus langen Röhren oder Gefäßen, in denen der Nahrungssaft des Baumes von den kleinsten und feinsten Saugwurzeln bis zu den grünen Blättern steigt.

Lange Zeit hat man angenommen, daß die in den Stämmen aller Bäume, bei Laub- und Nadelhölzern verschieden ausgebildeten Leitungskammern lediglich der Durchlüftung dienten, ähnlich wie die Atmungsorgane oder Tracheen bei den Insekten. Daß aber wirklich der Wasserstrom in ihnen aufwärts geleitet wird, im Holz der Bäume, nicht in der Rinde, wie man angenommen hatte, ging zweifelsfrei aus Versuchen hervor und lehren außerdem alte Bäume mit bis auf einen dünnen Holzmantel vollständig hohl gewordenem Stamm, die trotzdem fröhlich weitergrünen. Der stehengebliebene Mantel genügt zur Leitung des aufgenommenen Wassers. Damit für den Laubausbruch im Frühjahr das Aufbaumaterial nicht fehle, muß allerdings der arme Krüppel noch Reservestoffe speichern, die ihm der Wasserstrom nicht gewährt. Wir werden bald hören, woher er sie nimmt.

Die Blätter, die grünen Organe der Pflanze, sind die Endstation auf der Strecke, die das von den Wurzeln aufgesaugte und von gelösten Mineralstoffen mehr oder minder erfüllte Wasser in ununterbrochenem Aufstieg durchmißt. Sie sind überhaupt die wichtigste Stelle im ganzen Haushaltsbetriebe des Baumes, denn von der rastlosen Tätigkeit, die unsichtbar in den Zellwerkstätten des grünen Laubes geleistet wird, hängt Sein oder Nichtsein des Baumes ab.

Wie es im Innern des Blattes aussieht, erfahren wir erst durch das Mikroskop. Das von einer einfachen Zellenlage, der Oberhaut oder Epidermis, rings umschlossene grüne Gewebe, das Blattfleisch, wie man es auch wohl nennt, besteht aus verschieden geformten Zellen, die an der Oberseite des Blattes Säulen oder Röhren ähneln, alle dicht aneinandergereiht wie Pfähle in einem geschlossenen Pfahlwerk. Sie bilden die Palisadenschicht. Die Zellen der Unterseite des Blattes sind kugelig oder wie Arme gestaltet, unter sich nur locker verbunden und vielfach durch Lufträume unterbrochen. Sie bilden insgesamt die Schwammschicht. Die Epidermis der Blattunterseite weist zahlreiche rundliche Pforten auf, die in die Luftkammern der Schwammschicht führen. Spaltöffnungen nennt die Fachsprache sie.

Jede im Blattfleisch enthaltene Zelle stellt nun eine Werkstätte dar, und da Millionen einzelner Zellen in einem Blatte vereinigt sind, erscheint es uns wie eine große Fabrik. Wer aber glaubt, die Inneneinrichtung aller dieser Fabrikwerkstätten müsse entsprechend ihren Leistungen sehr verzwickt beschaffen sein, wird durch die Wirklichkeit enttäuscht. Die glashellen Wände der Arbeitsräume umschließen nichts als Protoplasma, eine feingekörnte schleimige Masse, in deren Chemie die Wissenschaft noch immer nicht einzudringen vermochte, in diesem Zellplasma einen Kern und neben ihm zahlreiche Körperchen, die lebhaft smaragdgrüne Färbung zeigen. Das sind die Chlorophyllkörperchen, Blattgrünkörperchen auf deutsch, die durch ihr massenhaftes Auftreten das an sich völlig farblose Blatt dem Auge grün erscheinen lassen. Besonders reich an diesen Körperchen sind die Palisadenzellen, weshalb auch die Oberseite der Blätter auffallend dunkelgrün erscheint.

In diese Zellenarbeitsstätte dringt durch unsichtbare Poren das Nährstoffe führende Wasser ein, das die Wurzeln im Erdboden aufgesaugt und die Leitungsbahnen in Stamm und Gezweig bis in die Blätter befördert haben. Und hier, in den Zellen dieser Blätter, und zwar in den Blattgrünkörperchen, spielen sich nun die Vorgänge ab, auf denen, wie schon einmal betont, die Ernährung, also der Aufbau der Pflanze und letzten Sinnes der Bestand der ganzen Lebewelt beruht. Eins aber fordern die Blattgrünkörper, wenn sie ihre Arbeit verrichten sollen: Sonnenlicht muß um sie sein. Die Wurzeln wirken in der Tiefe, wo rabenschwarze Finsternis herrscht, die Blätter jedoch schaffen nur im Licht. In der äußeren Form wie im inneren Bau, in ihrem ganzen Wesen und Sein sind sie dem Sonnenlicht angepaßt.

Kaum treffen die ersten Morgenstrahlen die grünen Zellen in den Blättern, da setzt auch schon deren Tagewerk ein. Die Luft, die die Kronen der Bäume umspült, ist, wie wir aus der Chemiestunde wissen, aus einem Fünftel Sauerstoff und vier Fünftel Stickstoff zusammengesetzt, und außerdem enthält sie etwa ein Tausendstel ihres Gewichts an Kohlensäure (Kohlendioxyd). Auf diese sind die Blätter erpicht. Begierig schlürfen sie das Gas durch alle Spaltöffnungen ein, und augenblicklich verbreitet es sich durch die uns bekannten Luftkanäle nach allen Richtungen durch die Gewebe und wird von den Zellen eingesaugt. Der Kohlensäure geht es dort schlecht. Die Blattgrünkörper, vom Licht erregt, fallen gemeinschaftlich über sie her und spalten sie in ihre Bestandteile Sauerstoff und Kohlenstoff. Den Kohlenstoff eignen sie sich an, den Sauerstoff treiben sie wieder aus. Er kehrt auf dem Wege durch die Spaltöffnungen in die Atmosphäre zurück. Die eben freigemachte Kohle wird dagegen ohne Aufschub wieder in neuer Verbindung gefesselt, andere Vorgänge spielen sich ab, die wir hier nicht zu verfolgen brauchen, und letztes Ergebnis dieser Vorgänge ist ein Stoff aus Kohle und Wasser, ein sogenanntes Kohlehydrat, das meistens zuerst als Stärke erscheint. Aus dieser, ihrem »täglichen Brot«, wie Francé die Stärke einmal genannt hat, bereitet die Pflanze in ihren Millionen und aber Millionen Zellwerkstätten alle übrigen Aufbaustoffe, die sie zum Wachstum, zum Leben braucht.

Wohlgemerkt, diese Zubereitung aller Lebens- und Zellbildungsstoffe, bei der der Kohlenstoff der Luft und die von den eifrig suchenden Wurzeln dem Boden entrissenen Nahrungsstoffe, die man mit einem Wort »Nährsalze« nennt: Salpeter-, Schwefel- und Phosphorsäure, Kalk, Kali, Magnesia und Eisen, chemisch zusammengeschmolzen werden – diese »Assimilation«, wie der wissenschaftliche Ausdruck lautet, vollzieht sich nur im rosigen Licht. Aus eigener Kraft vermag kein Baum den Betrieb in den Zellenlaboratorien seiner Blätter in Gang zu halten. Er bedarf dazu der Hilfe der Sonne, der Spenderin aller Lebenskraft. Ist sie im Westen untergegangen, um über andere Länder und Meere die Ströme ihres Lichts zu ergießen, so haben alle die grünen Zellen ihr Wundertagewerk vollbracht. Das Räderwerk des Betriebes steht still.

Statt dessen setzt nun die Nachtschicht ein. Alles, was an Lebensstoffen im Lichte des Tages erzeugt worden ist, sei es Stärke, Zucker, Eiweiß oder seien es Nebenprodukte, kann nicht an Ort und Stelle verbleiben, wenn anderntags mit neuen Kräften im Betriebe geschafft werden soll. Was hätte das auch für einen Zweck? Die assimilierenden grünen Blätter wirken und weben ja nicht für sich selbst. Fortgesetzt werden neue Zellen in den Knospen und Wurzelenden durch Teilung der alten ins Leben gerufen, die wachsen und sich festigen wollen und deshalb kräftige Nahrung brauchen.

So wandern denn die Blattfabrikate, nachdem sie verflüssigt worden sind, in nächtlicher Stille aus den Blättern in die Stengel und Wurzelspitzen, dorthin, wo Zellen gebildet werden, und zwar verfolgt dieser Nahrungsstrom wie jener andere, uns schon bekannte, eine bestimmte Leitungsbahn. Stieg der Strom, der die grünen Blätter mit den Salzen des Bodens versorgte, durch die jüngsten Jahresringe des Holzkörpers bis in die Krone empor, so führt dieser zweite Lebensstrom jetzt in entgegengesetzter Richtung auf der Innenseite des Bastes bis in die zartesten Wurzeln hinein.

Die Wachstumsschicht, das Kambium, trennt und erhält beide Leitungsbahnen, indem es ihr sinnvoll gebautes Gewebe aus Röhren, Zellen und Gefäßen alljährlich neu erstehen läßt. Auf der einen Seite, der Außenseite, erzeugt das Kambium jungen Bast, auf der Innenseite junges Holz, und zur Vollbringung dieser Leistung, durch die der Stamm an Umfang zunimmt und Jahresringe entstehen läßt, wird wiederum Bildungssaft verbraucht, sogar der größte Teil des Vorrats, der in den Blättern bereitet wird. Der Rest wird als eiserner Bestand in Zellmagazinen aufbewahrt, um für den Laubausbruch im Frühjahr das Baumaterial zu bilden.

So kennen wir nun die Bedeutung der Blätter und wissen, warum sie nicht nur bei Bäumen, sondern bei allen höheren Pflanzen ganz allgemein vorhanden sind. Auch ihre dünne, flächige Form erkennen wir als Notwendigkeit. Es ist für die Träger der Blattgrünkörper, für Organe, die dem Licht angepaßt sind, überhaupt keine andere möglich. Und wenn wir rückblickend überdenken, was uns der Wald soeben erzählt hat, vom Kreislauf der Stoffe, vom Chlorophyll, vom Kambium und den Leitungsbahnen, die noch im armen Baumkrüppel wirken, der bis auf eine dünne Umhüllung aus Altersschwäche hohlgefault ist, so werden wir über die Menschen lächeln, die sich vermutlich weise dünken, wenn sie der Ansicht Ausdruck geben, Bewußtheit entblöße die Dinge des Schimmers, mit dem die Seele sie umhüllt, und töte das Göttlich-Unbewußte. Ich meine, daß niemand die Harmonie, die Erhabenheit und Schönheit des Waldes mehr mit der Seele empfinden kann, als einer, den jeder Waldspaziergang bewußt ins Verwundern und Freuen führt.

Eines, das auch nichts Göttliches tötet, ist aber aus unserer Schilderung bisher noch nicht hinreichend klar geworden: daß und warum die grünen Blätter unvergleichliche Wohltäter sind.

Noch immer liest man in älteren Büchern, die Pflanze atme nicht wie das Tier, das aus der Luft freien Sauerstoff aufnimmt und Kohlensäure wieder aushaucht. Bei Pflanzen sei es umgekehrt. Doch ist das längst als Irrtum erkannt. Man verwechselte einfach die Atmung der Pflanze, die der von Mensch und Tier entspricht (nur wegen der fehlenden Ortsbewegung und des geringeren Kraftverbrauchs ganz unvergleichlich schwächer ist), mit dem, was neben der Atmung einhergeht, mit der Gewinnung von Kohlenstoff. Die Atmung der Pflanzen erfordert kein Licht. Sie spielt sich auch in der Finsternis ab, und zwar an jedem Teil der Pflanze, sofern er nur noch lebendig ist. Die Kohlenstoff-Assimilation geht aber – noch einmal sei es gesagt – nur innerhalb der grünen Blätter und immer nur im Lichte vor sich. Die Blätter verschlucken Kohlensäure und geben den einen Bestandteil dieser, den Sauerstoff, an die Luft zurück.

Es findet also in der Natur ein bedeutsamer Kreislauf der Gasarten statt. Menschen und Tiere atmen beständig giftige Kohlensäure aus, die die Pflanze zu ihrer Ernährung braucht. Die Pflanze dagegen gibt Sauerstoff ab, der Lebensluft bildet für Mensch und Tier. Der erquickende, nervenstärkende Einfluß, den wir an der reinen Waldluft preisen, beruht zum allergrößten Teil auf der Gegenwart der Billionen Blätter und ihrer Blattgrünkörperchen. Es ist erwiesen, daß ein Eichbaum von vierzig Zentner Trockengewicht rund 1750 Kubikmeter Kohlensäure in sich birgt, sowie daß allein die bayrischen Wälder der Luft im Verlaufe eines Sommers 29 Milliarden Kilo desselben giftigen Gases entziehen und dafür 20 Milliarden Kilo Sauerstoff wieder ausströmen lassen.

Nun ist jedoch die Kohlensäure in der atmosphärischen Luft nur in geringer Menge vorhanden und der Verbrauch an dieser Gasart seitens der grünen Pflanzen des Festlandes demgegenüber gewaltig groß. Nach einer sorgfältigen Berechnung müßte der Vorrat der Atmosphäre in etwa drei Jahrzehnten erschöpft sein, sofern er nicht wieder aufgefüllt würde. Ersetzbar durch andere Verbindungen ist die Kohlensäure nicht. Träte also nach dreißig Jahren tatsächlich eine Erschöpfung ein, so wäre das nicht nur der Untergang des gesamten Gewächsreichs auf der Erde, sondern auch sämtlicher Tiere und Menschen.

Zum Glück ist kein Anlaß zu solcher Befürchtung, weil der Verbrauch an Kohlensäure durch Zufuhr ausgeglichen wird, und zwar durch die Atmung von Mensch und Tier, durch die Verbrennung von Holz und Kohle sowie durch die Tätigkeit der Vulkane.

Ein erwachsener Mensch atmet Tag für Tag etwa 900 Gramm des Gases aus, und schätzt man die gesamte Menschheit auf 1800 Millionen ein, so beträgt die ausgeatmete Menge täglich rund 1620 Millionen Kilogramm. Weitere Werte an Kohlensäure liefern die Tiere und die Pflanzen, und schließlich entweichen den Feueressen auf dem gesamten Erdenrund unschätzbare Mengen von Kohlensäure. Sachkenner haben feststellen können, daß der Austausch der Kohlensäure, die durch die Pflanzen festgelegt wird, und jener, die durch die erwähnten Vorgänge unablässig neu entsteht, annähernd zu einem Gleichgewicht führt.

Wenn also eine Katastrophe im Reiche des Lebens denkbar wäre, so könnte sie nur durch ein Erlöschen der grünen Pflanzen herbeigeführt werden. Menschen und Tiere müßten ersticken. Den Zauberkräften der Allmutter Sonne und den Billionen von Heinzelmännchen im Zellengefüge der grünen Blätter verdanken wir, daß wir atmen können.

siehe Bildunterschrift

Tafel 6
Verschneite Kiefernschonung

siehe Bildunterschrift

Tafel 7
Zwergohreule im Nadelwald

siehe Bildunterschrift

Tafel 8
Kein kerzenbesteckter Weihnachtsbaum – eine Kiefer mit jungen Langtrieben

siehe Bildunterschrift

Tafel 9
Von Stürmen zerfetzte alte Wetterfichten auf dem Brocken

 

Der Kampf ums Licht

Am Lichte hängt,
Zum Lichte drängt
Doch alles.

 

Licht heißt die Losung im Reich der Gewächse. Auch die bescheidensten unter ihnen, die ärmsten der Armen, die ihr Schicksal im dämmrigen Schatten zu leben gewohnt hat, dürsten nach einem Sonnenkuß und recken sich förmlich die Hälse aus, um etwas Helligkeit zu erhaschen. Ganz können sie das Licht nicht entbehren, wenn sie nicht elend dahinsiechen wollen. Es geht in der Lebensgemeinschaft des Waldes im Grunde nicht viel anders zu als in einer Lebensgemeinschaft der Menschen auf überfülltem Wohngebiet, nur ist das Los der jungen Pflanzen insofern noch um etliches härter, als sie nicht einmal in frühester Kindheit von sorgenden Händen geleitet werden.

Die Mutterpflanze schickt ihren Samen auf gut Glück in die feindliche Welt. Sie gibt ihm eine Schutzwehr mit, vielleicht auch ein paar Flügelchen zur ersten und letzten Lebensreise, die ach schon nach Minuten endet, und hat damit das ihre getan. Wehe aber dem Samenkörnchen, wenn es als Kind eines echten Lichtbaumes auf die Welt gekommen ist und an einen schattigen Fleck gerät, was mitten im Walde fast Regel ist. Als junges Keimpflänzchen siecht es dahin. Selbst wenn es in einer Baumlücke Fuß faßte und in der ersten Entwicklungszeit bequem seinen Lichthunger stillen kann, ist es noch lange nicht über den Berg. Denn aus dem Schößling wird ein Bäumchen, das täglich die Zahl seiner Blätter vermehrt. Sie alle verlangen nach dem Licht, jedoch die hohen, bejahrten Waldväter, zwischen denen das Bäumchen aufwuchs, sind auf ihr eigenes Wohl bedacht und sperren ihm Lichtstrahl nach Lichtstrahl ab. Gemeinnutz geht hier nicht vor Eigennutz. Wenn nicht ein Blitzstrahl oder ein Sturmwind dem Kümmerling zu Hilfe kommt, indem er einen der Alten zerschmettert oder aus dem Gleichgewicht reißt, ist keine Rettung mehr für ihn. Im Glücksfall holt er vielleicht noch ein, was die Sonnenarmut der Umgebung an seiner Entwicklung gesündigt hat.

Kein Kampf wird unter den Pflanzen des Waldes mit gleicher Erbitterung ausgefochten wie der um das lebensnotwendige Licht. Wer richtig zu beobachten weiß, dem drängen sich die Beweise dafür bei jedem Waldbesuch förmlich auf.

Hochaufgeschossen und kerzengerade stehen in unsern gedrillten Forsten, die es leider immer noch gibt, obgleich ihre Zahl sich bereits vermindert, die Bäume reihenweis aufmarschiert. Ein vergewaltigtes Volk ohne Raum. Jeder einzelne ist bestrebt, nach Möglichkeit viel Licht einzufangen, das heißt in seinem Höhenwachstum mindestens Schritt mit den Nachbarn zu halten, falls er sie nicht überwachsen kann. Kommt einer erst ins Hintertreffen, so ist das bereits der Anfang vom Ende. Die Erzeugung von Aufbaustoffen geht wegen mangelnden Lichtes zurück, das Wachstum wird entsprechend geringer, stockt oder führt zur Verkümmerung, kurzum es ist um den Schwächling geschehen.

So aber wollte es der Förster. Er pflanzte die Bäumchen absichtlich dicht, um sie zum Wettwachsen anzuspornen, wohl wissend, daß er auf diese Weise hohe und schlanke Stämme erzielt. Was tut es, daß unter dem dichten »Schluß« auch kräftige, wüchsige Bäume leiden, weil Raum- und Lichtmangel die Entfaltung genügend großer Kronen verhindern? Dem hilft man durch eine Durchforstung ab. Das Maßgebliche für den Förster ist, daß ihm der Holzhändler seine schlanken, pfeilgeraden Säulenstämme dem Werte entsprechend hoch bezahlt.

Wie anders ein Baum, der im Freistand aufwächst und allseits vom Licht umflutet ist. Kein Zwang treibt ihn aufwärts in Wolkennähe. Auf kurzem, aber dickem Schaft entfaltet er eine tiefangesetzte, astreiche, breitausladende Krone, die allen Sturmangriffen standhält. Wohl »reinigt« auch er, wenn das Schattendach der grünen Belaubung zu mächtig wird, den Stamm nach und nach von Seitenästen, nie aber so zeitig und so gründlich wie seine Gefährten im engen Verband, deren Tragsäulen dauernd im Halbdunkel bleiben.

Am besten bezeugen oft alte Randbäume, die in einseitiger Beleuchtung am Waldessaume auf Posten stehen, die Allgewalt des Sonnenlichts. Die Kronenentwicklung im Vorderlicht ist unverhältnismäßig stärker als im geschwächten Hinterlicht, und während der Baum an der Vorderseite die Äste wie verlangende Arme nahezu waagerecht von sich streckt, sind die dem Waldinnern zugewandten so steil wie nur möglich aufgerichtet. Der Baum ist lichtschief, sagt der Forstmann.

Es grenzt beinahe ans Fabelhafte, wie scharf die Sinnesorgane der Pflanzen auf Lichtempfindlichkeit eingestellt sind, wie mächtig, um wissenschaftlich zu reden, ihr »Phototropismus« ausgeprägt ist. Winzigste Helligkeitsunterschiede, die unsere feinsten Meßinstrumente nicht mehr nachzuweisen vermögen, findet die Pflanze unfehlbar heraus. Das schwache Leuchtbakterienlicht genügt für manche Keimlinge noch, um sich sofort nach ihm hinzuwenden, ja selbst eine blitzartig kurze Beleuchtung löst deutliche Krümmung bei ihnen aus, sobald sie lange im Dunkeln standen und deshalb in besonderem Maße »phototropisch« veranlagt sind, auf deutsch gesagt also Lichthunger haben.

Trotz solcher erstaunlichen Lichtwendigkeit besitzt die Mehrzahl aller Pflanzen in ihrer Jugend die Fähigkeit, bedeutend mehr Schatten vertragen zu können als im späteren Lebensalter. Und das ist ein wahres Glück für den Wald. Ohne diese Schattenanpassung der jungen Nachkommenschaft der Gewächse wäre ihm keine Verjüngung möglich, denn allzuviel Licht fällt der Pflanzenjugend in seinen Hallen nicht in den Schoß, wie sehr sie sich krümmen und recken möge. Es gibt sogar eine Reihe von Pflanzen, die direktes Sonnenlicht gar nicht vertragen, das anderen Lebensbedürfnis ist. Moose, Farne, Heidelbeerbüsche, Waldmeister und eine Menge Blumen fühlen sich unter den schattenden Kronen von Fichten, Eichen und Buchen sehr wohl, ja können nur unter ihnen gedeihen, und auch der an Bäumen kletternde Efeu biegt einzig seine jüngsten Sprossen dem spärlichen Licht im Walde zu. Die älteren Stengel wenden sich ab und drücken sich fest in die Rindenspalten. Sie kennen keine Lichtsehnsucht mehr.

Der verstorbene Wiener Botaniker Wiesner hat einen beträchtlichen Teil seines Lebens dem Studium der Frage gewidmet: Wie groß ist die Lichtmenge, die eine Pflanze zum Gedeihen nötig hat, oder mit Wiesners Bezeichnung dafür: Wie groß ist der »Lichtgenuß« der Gewächse? Um diesen Lichtgenuß zu ermitteln, bediente er sich eines Photometers oder, auf deutsch, eines Lichtstärkemessers, der wesentlich auf der Eigenschaft photographischer Kopierpapiere, im Licht zu dunkeln, gegründet war.

Setzt man solches Kopierpapier eine Zeitlang direktem Sonnenlicht aus, so erreicht es einen Schwärzungsgrad, der nicht mehr steigerungsfähig ist. Das dauert, sagen wir, zehn Sekunden. Im Walde dagegen braucht das Papier zur Erlangung des gleichen Schwärzungsgrades eine erheblich längere Zeit, weil das Sonnenlicht nur spärlich das Dickicht der Baumbelaubung durchdringt. Sagen wir einmal zweihundert Sekunden. Eine einfache Rechnung ergibt demgemäß für den Wald ein Zwanzigstel der Lichtstärke, die auf freiem Felde wirkt. Auf dieser Grundlage schuf sich Wiesner einen verbesserten Lichtstärkemesser und stellte mit diesem das Verhältnis des gesamten Tageslichts (direktes und zerstreutes Licht) zu jener Helligkeitsmenge fest, die die Pflanzen auf ihrem Standort empfangen. Das Gesamtlicht setzte er gleich I, ohne Rücksicht auf die Tatsache, daß diese Einheit je nach dem Orte, der Stunde und der Jahreszeit wechselt. Was immer gleich blieb trotz Zeit und Ort, das war ja doch nur das Verhältnis zwischen dem Gesamtlicht I und der Lichtmenge etwa im Waldesschatten. Ist I sehr groß, weil sich die Sonne gerade in Gebelaune gefällt, so ist auch im Walde die Helligkeit größer. Ist's aber trübe in freier Natur, weil sich die Sonne in Wolken hüllt, so herrscht auch entsprechender Dämmer im Wald. An einer bestimmten Stelle in ihm wird aber nach dem Beispiel von vorhin die ihn erfüllende Menge Licht ein Zwanzigstel von I betragen.

Und das Ergebnis der Prüfungen? Eine bedeutende Vertiefung unseres Wissens vom Leben der Pflanzen und ihrer Verbreitung über die Erde. Für unser engeres Thema, den Wald: die Aufhellung vieler Einzeltatsachen, die uns als besinnliche Waldbesucher zwar mehrfach zum Nachdenken angeregt haben, zu deren Verständnis uns aber bis heute der »photometrische Schlüssel« fehlte.

Die Pflanzen, das ist die Grunderkenntnis, sind den ständig wechselnden Lichtmengen sehr viel besser angepaßt, als wir nach dem bloßen Augenschein glauben. Die grobe Scheidung der Gewächse in Sonnenpflanzen und Schattenpflanzen wird der Wirklichkeit nicht gerecht. Vielmehr beruht ihr Angepaßt sein an unterschiedliche Wohnbezirke auf ungemein feiner Empfindlichkeit für jenes bestimmte Quantum Licht, auf das sie von Haus aus eingestellt sind und das sie zu ihrem Gedeihen brauchen.

Nun bemerken wir zwar, daß auf sonnigen Waldwiesen andere Lichtverhältnisse herrschen als unter dem Laubdach des Waldes selbst, daß aber schon in der Nähe der Wälder und noch mehr an ihrem Außenrande das Licht beträchtlich geringer ist als auf einem völlig baumlosen Feld, darüber belehrt uns das Auge nicht. Erst Wiesners Lichtmesser stellte das fest. An einem Vormittag im März betrug in Wien die Gesamtlichtstärke 0,427 Einheiten, zur gleichen Zeit aber fand sich im Augarten am Südrande eines noch kahlen Roßkastanienbestandes nur eine Lichtmenge von 0,299, und zwar im vollen Sonnenschein. Im Schatten eines der dicken Stämme betrug sie gar nur 0,023 Einheiten. An einem anderen sonnigen Märztage stellte Wiesner um 12 Uhr mittags die Sonnenlichtstärke auf freiem Felde mit 0,712 Einheiten fest. Hundert Schritt vor einem Gehölzrande fand er jedoch in derselben Minute nur die Hälfte der Lichtstärke vor, im Schatten der noch laublosen Bäume sogar nur 0,166. Und nun erst in der Maienzeit, wenn die Bäume im Schmuck ihrer Blätter stehen!

Auch das freilich wies der Forscher nach, daß sich die Lichtstärke unter den Baumkronen je nach der Art der Belaubung ändert, die ihnen eigentümlich ist. Bei einem Gesamtlicht von 0,555 Einheiten herrschte im Mai um die Mittagsstunde unter der Kastaniengruppe, die vorher schon einmal erwähnt worden ist, eine Lichtstärke von nur 0,012. Im Schatten der Laubkronen hoher Schwarzpappeln war sie dagegen relativ groß: bei 0,200 Himmelslicht betrug sie immer noch 0,100. Das zeigt den erheblichen Unterschied, der auf der Belaubungsart beruht. Die einen Baumarten lassen dem Lichte zahlreiche Wege zum Durchtritt frei, während andere möglichst alle Lücken im Laubdach zuzusperren bestrebt sind. Und das ist nun wieder insofern wichtig, als davon die vielerlei Arten der Sträucher, die im Walde das »Unterholz« bilden, und neben ihnen die krautigen Pflanzen aus Gründen des Lichtbedarfs abhängig sind. Auch die seit langem bekannte Tatsache, daß die Waldbäume in der Regel bestimmte Begleitpflanzen um sich scharen, wird uns auf diese Weise verständlich.

Unterholz. Wenn ein zünftiger Förster, der aus der älteren Schule stammt und einzig auf Holzerzeugung bedacht ist, das Wort auch nur aus der Ferne hört, beginnt seine Stirn sich schon leise zu runzeln. Er ist kein Freund von Unterholz. Es erscheint ihm im Gegensatz zum Naturfreund viel mehr als Unkraut denn als Waldzier, weil es die soldatische Gleichförmigkeit des Baumbestandes unliebsam stört und möglicherweise den Holzertrag schmälert. In weiten, gut verwalteten Forsten mit gleichhohen und gleichstarken Bäumen von einerlei Alter, Namen und Art kann man mitunter stundenlang wandern, ohne Sträuchern zu begegnen, wie sie ein Naturwald in Menge beherbergt.

Nicht allerorten jedoch ist es so. Die meisten Sträucher sind zäh von Natur, und wo sie vorhanden sind, weichen sie schwer. Entfernt man sie nicht mit Stumpf und Stiel, so schlägt ihr Wurzelstock wieder aus und nach kurzer Zeit steht der zähe Geselle in alter Herrlichkeit wieder da. Wird ihm zum Fruchten Zeit gelassen, so finden sich leicht auch gefällige Tiere, die ihm durch Verschleppung seiner Früchte den Liebesdienst der Verbreitung erweisen.

Wer mit oder ohne Photometer an Sträuchern Lichtstudien machen will, findet genugsam Gelegenheit. Im Schatten geschlossener Fichtenwälder, wo günstigstenfalls ein Sechzigstel der gesamten Lichtflut zu Boden dringt, nicht selten sogar nur ein Neunzigstel, darf er freilich kein Strauchwerk erwarten. Auch nicht im gotischen Buchendom mit dichtem, lichthemmendem Kronenschluß, der nur ein Fünftel des Sonnenlichts durchläßt. Wer die vielerlei Listen erspüren will, durch die sich die Pflanzen des Unterholzes den günstigsten Platz zu erobern wissen, der muß in einen Kiefernwald, einen Eichen- oder Mischwald gehen, am besten in einen Auenwald.

Die Kiefer ist ein echtes Lichtkind, so düster und melancholisch sie aussieht. Waagerecht streckt sie die Äste aus, als wolle sie sich von Anfang an die Nachbarschaft vom Leibe halten, um möglichst viel Lichtnutzraum zu gewinnen. Und wenn im Schatten der eigenen Krone oder der ihrer Nachbarbäume die unteren Äste Lichthunger leiden und langsam lebensmüde werden, so läßt sie sie ruhig zu Boden sinken und dehnt dafür ihren Kronenschirm aus, auf daß er recht locker und durchlässig werde. Überall sieht man an Sonnentagen den tiefblauen Himmel durch ihren Wipfel, leuchtend strahlt die Sonne hindurch, und die Strauchflora, die in der Tiefe wohnt, hat gute Tage im Kiefernwald.

Im Eichenwald ist es ähnlich so, denn auch der Eichbaum ist lichtbedürftig und reinigt von Zeit zu Zeit seine Krone durch Abwurf überflüssiger Zweige, die sie zu schattig machen würden. Er gönnt nicht nur Sträuchern und Krautpflanzen Sonne, er läßt, großmütig wie er ist, selbst artfremde Bäume neben sich aufkommen, Ulmen, Ahorne oder Hainbuchen, Einsprengsel, die nicht bestandbildend sind. Der günstigste Tummelplatz für die Gesträuche ist aber erst der lichte Auwald, die buntestgemischte Pflanzengemeinschaft und vollendetste deutsche Waldform, die abgesehen von der Rotbuche und den der ständigen Feuchtigkeit wegen nur selten vertretenen Nadelhölzern fast alle Waldbäume in sich vereint. Hier hat keine Art die alleinige Herrschaft. Hier gibt es keinen Kronenschluß und keine einheitlich grüne Decke riegelt das goldene Sonnenlicht ab. Ein Heer der verschiedensten Sträucher und Stauden verteilt sich zwischen den Waldesalten, den Eichen, Hainbuchen, Ulmen, Eschen und wie der Mensch sie sonst benannt hat, und alle finden sie ausreichend Licht, um wachsen, blühen und fruchten zu können.

Dennoch, auch in diesen Wäldern leben die niederen Sträucher und Kräuter keineswegs sorgenlos in den Tag. Je dichter die mächtigen Herren des Waldes ihre Häupter mit Laub umkränzen, desto mehr muß die kleine Gefolgschaft zu ihren Füßen sich drehen und wenden, um alle ihre beblätterten Zweige und vor allem die jungen Sprossen in günstigste Lage zum Licht zu bringen. Sämtliche, auch die kleinsten Lichtquellen müssen erkundet und ausgenutzt werden.

Geborene Kinder des Glücks sind jene, die einen Standort am Waldessaum, an Wegrändern oder an lichten Stellen vom Schicksal zugewiesen bekamen, denn sie genießen etwa zwei Drittel des uneingeschränkten Himmelslichts. Die Folge davon: sie entwickeln sich kräftig, wachsen verhältnismäßig schnell und zeitigen nach üppiger Blüte entsprechend reichen Samenertrag. Die jenseits der dichten Buschwand stehen, gedeihen zwar gleichfalls als Unterholz, sind aber zum Teil schon Enterbte des Glücks, die nicht zum Blühen und Fruchten kommen.

Bemerkenswert ist, wie auch Wiesner hervorhebt, die augenfällige große Eile, mit der sich im Frühjahr die Sträucher begrünen, während die Bäume noch nahezu kahl sind. »Im Wiener Augarten«, schreibt der Forscher, »sah ich schon um Anfang April den Schwarzen Holunder, den Spindelbaum, die Heckenkirsche, die Liguster-, Weißdorn- und Traubenkirschensträucher in ihrem vollen Blätterschmuck stehen, während die sie überragenden Bäume (Linden, Ahorne, Pappeln usw.) erst ihre Knospen zu öffnen begannen.« Wiesner erklärt das auf einfachste Weise als eine »Anpassung der Gesträuche an das photochemische Klima«. Das geringste Licht im zeitigen Frühling genügt ihnen, um die Knospen zu sprengen, und so vollzieht sich ihre Belaubung gerade noch zur rechten Zeit, bevor die schattenden Kronen der Bäume ihnen die Möglichkeit dazu nehmen. Die Gestaltung der assimilierenden Blätter, ihrer wichtigsten Organe, erfordert größere Mengen Licht als die Inganghaltung aller anderen pflanzlichen Lebenstätigkeiten.

Wer hellen Blicks durch die Natur geht, schaulustig und erwartungsfroh, den lassen in jedem neuen Lenz die Waldblumen ganz das gleiche erleben, was wir von den Sträuchern erfahren haben: das Wunder des Vorgefühls für etwas, das vorläufig noch in der Zukunft liegt. Die Waldblumen wissen nichts davon, daß die Sträucher, die ein Stockwerk höher wohnen, und die um abermals ein Bedeutendes über dem Buschwerk gipfelnden Bäume sich bald mit schattendem Laub bekleiden, und dennoch mahnt sie ein dunkles Ahnen: jetzt oder nie ist die Zeit zum Blühen, denn bald bricht die große Dämmerung an. Es ist etwas Seltsames, dieses »Ahnen«. Es geht durch die ganze Lebewelt und wartet noch immer auf eine Erklärung, die für die Gesamtheit der Fälle zutrifft. Es ist die gleiche geheime Macht, die die Brunst und Paarung der Waldsäugetiere in einen Jahresabschnitt verlegt, der die Geburt der Nachkommenschaft zu einer günstigen Zeit verbürgt. Dieselbe Macht, die den Waldschmetterling, der selbst nur Blütenhonig schlürft, zum Zwecke seiner Eiablage genau die Pflanze aufsuchen läßt, an der die später schlüpfenden Raupen gleich die für sie passende Nahrung finden. Ob wir das zweckentsprechende Anpassung oder vererbte Gewohnheit nennen, ursprünglich aus einer Not geboren und dann allmählich fest eingewurzelt, die Tatsache bleibt gleich rätselhaft.

Es läuft der Frühlingswind
Durch kahle Alleen,
Seltsame Dinge sind
In seinem Wehn.

In jedem Laubwald, auch im schattigsten, schmückt sich der Boden im März und April, wenn die Finken noch ihre Strophe »studieren« und erste Drosseln die Heimat grüßen, für ein paar Wochen mit Blumen aus. Anemonen und Buschwindröschen, Lerchensporn und Lungenkraut, Leberblümchen, Märzenbecher, Himmelsschlüssel und viele andere nutzen nach Kräften die kurze Lichtzeit, um ihre bescheidenen Lebensaufgaben im großen Waldverband zu erfüllen. Sehnsüchtig harren sie der Insekten, auf daß diese ihre Bestäubung vermitteln, der wilden Bienen, Hummeln und Falter, die als erste vom Schlummer erwachen, und die Insekten brauchen die Lenzblumen, um aus ihren Kelchen Nahrung zu saugen. So ist ihr kurzes Blütendasein doch auch von einer Bestimmung erfüllt. Es müssen sehr unfrohe Menschen sein, deren Herz nicht gerührt wird durch den Anblick dieser zarten, lieblichen Lenzverkünder, gefühllose, die sich an ihnen vergreifen.

siehe Bildunterschrift

Abnahme des relativen Lichtgenusses in Prozenten im Birken-, Eichen- und Buchenwald.
Nach Hueck.

Die Not, die bei Pflanzen Lichthunger heißt, macht Groß und Klein erfinderisch. Auf der Waldwiese gibt es in Überfluß Licht und deshalb ein Blühen ohne Ende, solange die gute Jahreszeit währt. Im Walde selbst, wie immer er heiße, herrscht nirgendwo ein Übermaß, wohl aber, wir wissen es, oft ein Zuwenig. Es wäre anders auch unverständlich, daß sich die Bäume, die Herrscher im Walde, vielfach bei Lichtmengen wohlbefinden, die uns beinahe unglaublich dünken. So begnügt sich nach Wiesner unsere Rotbuche oft mit nur einem Sechzigstel Vollicht, im geschlossenen Bestande sogar mit nur einem Achtzigstel. Die Hainbuche kommt mit einem Sechsundfünfzigstel aus, der Ahorn mit einem Achtundzwanzigstel, die Stieleiche mit noch weniger. Andere freilich, wie die Birke, sind bedeutend anspruchsvoller.

Der Mangel, um nicht zu sagen die Not, hat aber für die Bäume und Sträucher, wie überhaupt für die grünen Pflanzen, doch auch etwas Gutes zur Folge gehabt. Er ließ sie eine Erfindung machen, die ihren assimilierenden Blättern selbst bei kärglich bemessenem Licht die Gewähr für ersprießliches Arbeiten bietet. Wie alle unsere Zimmerpflanzen die Blätter und Blüten dem Fenster zuwenden, dem Einfallstor für das Himmelslicht, und langsam kehrtmachen, wenn ihr Topf um 180 Grad gedreht wird, so stellen auch alle Gewächse im Walde, das kleine, unscheinbare Pflänzchen und der vielhundertjährige Baum, im allgemeinen ihre Blattflächen senkrecht zur Richtung des Lichteinfalls. Und nicht nur die Stellung ihrer Blätter wird vom Lichtbedürfnis geregelt, sondern auch ihre Größe und Form sowie die Länge und Art des Blattstiels, der sie erst in die Lichtlage bringt und je nach Erfordernis darin erhält.

Betrachten wir einmal einen Ahorn oder eine Roßkastanie, die unschwer im Freistand auffindbar sind, zunächst auf ihre Zweiganordnung und dann auf Verteilung, Richtung und Größe sämtlicher gefingerten Blätter. Erstaunt werden wir die Wahrnehmung machen, daß alle diese grünen »Hände« des gleichen oder doch nahezu gleichen Lichtgenusses teilhaftig werden. Sie bilden gemeinsam ein Mosaik, denn alle sind sie derart gestellt, daß keines das andere verdeckt, wobei ihre unterschiedliche Größe und die verschiedene Länge der Stengel eine gewichtige Rolle spielen. Wenn trotzdem im Verlauf des Tages ein Teil der Blätter beschattet wird, so nicht infolge falscher Einstellung, sondern weil sich der Einfallswinkel der Sonnenstrahlen stündlich ändert, während der Baum unverrückbar feststeht. Vormittags werden die Blätter der einen, nachmittags jene der anderen Seite teilweise in den Schatten gestellt oder nur vom zerstreuten Lichte getroffen. Allein der Schatten verweilt nicht lange. Unablässig rückt er weiter wie der des Zeigers der Sonnenuhr.

Wer selber zu entdecken liebt, ein bißchen auf eigene Hand zu forschen – und was gibt es Schöneres für den Naturfreund auf einem besinnlichen Gang durch den Wald –, der wird, nun einmal angeregt, eine Fülle verschiedener Methoden des Lichtfangs bei den Pflanzen erkennen. Die Gestalt der Bäume, die Form ihrer Krone, der tiefere Sinn der Verzweigungsweise, die unterschiedliche Richtung der Blätter an waagerechten und aufrechten Zweigen, die ungleiche Große je nach der Belichtung, das alles und vieles andere mehr wird ihm als zweckvoll verständlich werden vom Standpunkt der Lichtraumnutzung aus. Und was für die großen Holzarten gilt, trifft ebenso auf das Strauchwerk zu und bei verständiger Würdigung der biologischen Unterschiede auch für die krautigen Bodenpflanzen.

 

Wenn die Blätter fallen

Wie die Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen.
Blätter verweht zur Erde der Wind nun, andere treibt dann Wieder der knospende Wald, wenn neu auflebet der Frühling. Also der Menschen Geschlecht; dies wächst und jenes verschwindet.

Homer.

 

Bei allem, was wir vom Suchen der Pflanzen nach ihrem wertvollsten Lebensquell und den Mitteln zu seiner Ausschöpfung hörten, drehte es sich um die grünen Blätter, von denen das Dasein der Pflanzen abhängt. Der Verlust der Blätter ist gleichbedeutend mit Aufhören jeglicher Nahrungszufuhr und damit der Fortpflanzungsfähigkeit, denn die Entstehung der Zeugungsorgane setzt reichlichen Nährstoffvorrat voraus. Und doch dünkt uns nichts so selbstverständlich, als daß unsere Laubbäume und Gesträuche alljährlich zu einer bestimmten Zeit den ganzen Blätterschmuck von sich werfen, einfach weil bei uns in Deutschland auf jeden Sommer ein Winter folgt, der das Pflanzenleben in Fesseln schlägt. Man nennt das eine Binsenwahrheit und denkt nicht weiter darüber nach.

Auch Binsenweisheiten sind jedoch wert, daß man gelegentlich auf sie eingeht, wie einer der kundigsten Forstbotaniker, Ludwig Klein, es in einem Vortrage über »Ästhetik der Baumgestalt« tat. Ein höheres Tier, das nur ein einziges wichtiges Organ verliert, so etwa führte er darin aus, bleibt Zeit seines Lebens ein armer Krüppel, falls der Verlust nicht gleich tödlich wirkte. Der Baum dagegen, der viele tausend lebenswichtige Blätter einbüßt, wird weder zum Krüppel noch geht er ein. Woher dieser krasse Unterschied?

Das Tier ist ein zentralisiertes Gebilde mit weitgetriebener Arbeitsteilung seiner einzelnen Organe, die alle sehr unselbständig sind. Die höhere Pflanze, also der Baum, ist das direkte Gegenteil. Die Arbeitsteilung seiner Organe steckt gleichsam noch in den Kinderschuhen und die Bedeutung der Einzelorgane, die große Selbständigkeit besitzen, ist daher für sein Leben gering. Die Beschädigung, selbst der Verlust sehr vieler, bleibt meist ohne dauernde schädliche Folgen, denn da der Baum von Jahr zu Jahr eine steigende Zahl von Organen bildet, behält er auch nach den schwersten Einbußen ausreichend arbeitsfähige übrig. Er kann sich nicht nur in jedem Herbst den gewohnheitsmäßigen Blätterfall leisten, den er im Frühling wieder wettmacht, sondern auch während der Vegetationszeit den Abwurf einer Menge Gezweigs, das wegen Lichtmangels kümmerte. Er kann sogar unter günstigen Umständen seine ganze Krone verlieren, ohne daran zugrunde zu gehen. Im nächsten Lenz schlägt er wieder aus und bildet allmählich die Krone neu.

Eine weitere Kluft zwischen Tier und Baum ist uns bereits bekannt geworden, die Tatsache, daß in alten Bäumen nur noch ein kleiner Teil des Stammes, der kräftigen Äste und starken Wurzeln aus lebendem Zellengewebe besteht. Nutzlos gewordene Organe lassen sie rücksichtslos verhungern oder stoßen sie einfach ab. So ist, wie Klein als Schlußergebnis seiner Betrachtung feststellen konnte, im Haushalt des Baums als Gesamtorganismus der Grundsatz wunderbar durchgeführt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.

Sobald die letzten Zugvögel fort sind, die Tage immer kälter werden, der Regen sich in Schnee verwandelt und die Temperatur des Waldbodens sinkt, ist für die Bäume die Stunde gekommen, da sie ihren Haushalt auflösen müssen. Eine Weile vermögen zwar die Wurzeln ihr Pumpwerk noch in Gang zu halten, zumal wenn genügende Schneebedeckung den Boden vor dem Gefrieren schützt, lange jedoch auf keinen Fall. Die trocknende Wirkung der herbstlichen Winde steigert die Wasserverdunstung zu stark, als daß zwischen Einnahme und Verlust ein gehöriger Ausgleich möglich wäre. Dringt eines Nachts gar der Frost in die Erde und sperrt die Wasserleitung ab, dann gibt es kein Halten mehr für das Laub. Pausenlos rieseln die Blätter herab, für Grämliche immer ein schmerzlicher Anblick, und schon nach Stunden strecken die Bäume ihr Astwerk laublos zum Himmel auf. Bei einem Bergahorn zählten die Blätter, die innerhalb dreißig Minuten sanken, nach Grupe 16 518. In jeder Sekunde fielen neun.

Dennoch ist der Frost nicht die Ursache für den herbstlichen Blätterfall. Er trägt nur zu dessen Beschleunigung bei. Den Hauptgrund bildet die unzureichende, täglich sich mindernde Wasserzufuhr bei gesteigertem Verbrauch. Wissen wir doch aus alter Erfahrung, daß sich ein und dieselbe Baumart im Gebirge viel früher entlaubt als in den benachbarten Niederungen, wo der Boden die Wärme länger bewahrt, und daß in feuchten, geschützten Waldschluchten Birken und Buchen noch sommerlich grünen, wenn unweit davon auf den trockenen Hügeln die Artgenossen schon Blatt um Blatt verfärbt zu Boden tanzen lassen.

Es wäre jedoch ein schlechter Haushalt, der es zum Äußersten kommen ließe, ohne rechtzeitig vorzubeugen. Der Pflanzenhaushalt ist gut geleitet. Seit etlichen hunderttausend Jahren verspürten die Bäume an ihrem Leibe die periodische Wiederkehr eines warmen Sommers und kalten Winters, und ebenso lange hing ihr Gedeihen vom Grade der Einstellung dazu ab. So prägte sich ihnen dieser Wechsel in endlos langer Geschlechterfolge so fest und unverlierbar ein, daß kleine Anzeichen schon genügen, um zweckvolle Handlungen auszulösen.

Lange bevor mit dem Eintritt der Fröste die Lebensgefahr bedrohlich wird, zieht der Baum alle wertvollen Stoffe aus den gefährdeten Blättern zurück und speichert sie in Vorratskammern, im lebenden Holz des Stamms und der Zweige, fürsorglich während des Winters auf, um sie im Frühling des kommenden Jahres als Baustoffe wieder verwerten zu können. Gar nichts bleibt von den Blättern übrig als ihr erstorbenes Gerüst und die gleichfalls vom Leben verlassenen Zellen, in denen lediglich noch Reste der umgewandelten Blattgrünkörper in Form einer gelblichen Masse ruhen. Der Baum hat keine Verwendung für sie, der Naturkenner aber freut sich ihrer, weil sie die Färbung des Herbstlaubs bestimmt. Freilich nur den gelben Grundton, der ihrer eigenen Tönung entspricht, nicht jedoch das herzerfreuende fröhlichbunte Farbenspiel.

Zu dessen Erzeugung stellt sich rechtzeitig während der Abwanderung der Stoffe ein eigentümlicher Farbstoff ein, der wie ein heimlicher Schutzgeist der Pflanzen überall dort zu erscheinen pflegt, wo Kälteschutz für sie wünschenswert ist. Er ist es, der in der Vorfrühlingszeit das bekannte liebliche Purpurrot auf die ängstlich geschlossenen Blütenköpfchen der zarten Gänseblümchen schminkt und ähnlich so andere zeitige Lenzblumen gegen die nächtliche Kühle beschützt. Derselbe geheimnisvolle Farbstoff, »Anthokyan« nennt die Wissenschaft ihn, nimmt sich nun auch der herbstlichen Blätter während der Stoffabwanderung an und färbt sie aufs mannigfaltigste um. In so großen Mengen tritt er auf, daß er schon äußerlich sichtbar ist, und je nachdem sich im Zellsaft der Blätter Säuren befinden oder fehlen, erscheint er dem Auge rot oder blau. Sind nur wenig Säuren vorhanden, so färben die Blätter sich violett, mischt sich dem roten Anthokyan besonders viel Gelb von den Überbleibseln der einstigen Blattgrünkörperchen bei, so leuchten sie weithin orangefarben.

Der ganze bunte Feuerzauber, mit dem der herbstliche Wald uns entzückt, und zwar um so mehr, je reicher an Arten die ihn bevölkernden Bäume und Büsche durch- und nebeneinander stehen, erklärt sich so scheinbar auf einfache Weise und bleibt doch ein Wunderwerk der Natur. Die Kronen der Hainbuchen, Birken und Ahorne brennen weit sichtbar in lebhaftem Gelb, die Espe kleidet sich in Orange, die Buchen erglühen in prachtvollem Rot, in vielerlei Tönungen abgestuft. Mit goldbraunen Blättern schmückt sich die Eiche, scharlachrot wie Feuergarben lodert es aus einem wilden Kirschbaum, der vereinzelt eingesprengt ist. Die Sträucher, die Zwerge, die sich die Wegränder oder den Waldsaum als Standort erwählten, wetteifern mit den Riesen im Wald. Der Hartriegel und der Spindelbaum, der trotz seines großspurig klingenden Namens nur selten über die Buschform hinauskommt, fügen dem herbstlichen Kunterbunt sogar eine neue Tönung hinzu: sie färben ihr Laub schön violett.

Lange hält dieses Farbengeleucht des verzauberten Waldes jedoch nicht an. Nur zwei oder drei Oktoberwochen. Um Allerseelen ist es verglüht. Bis dahin mag sich getrost der Herbstwind an den verfärbten Blättern versuchen, er bläst ihr sieghaftes Leuchten nicht aus. Erst muß die Gesamtheit der Kohlehydrate und eiweißartigen Verbindungen durch die Stengel ausgewandert und die Lösung der Blätter von ihren Zweigen gehörig vorbereitet sein, ehe der Sturmwind die bunte Pracht von den Bäumen zu schütteln imstande ist. Eine Trennungsschicht am Grunde der Blattstiele muß sich herausgebildet haben, ein zartes Gewebe, dessen Zellen so locker zusammengeschlossen sind, daß ihr Verband durch äußere Einflüsse mechanischer oder chemischer Art im Augenblick gelöst werden kann. Ist dieses Trennungsgewebe fertig, so haben die Winde leichtes Spiel. Nur wenige Stöße, und alle Herbstwunder taumeln lautlos ins Massengrab, um eines Tags in veränderter Form von neuem eingeschaltet zu werden in den nie ruhenden Lebenskreislauf.

Der Baum hat nur noch eins zu tun, bevor er sich dem Winterschlaf hingibt: er muß all die winzigen Wunden schließen, die ihm der Laubfall zugefügt hat, denn andernfalls wären der Wasserverdunstung abermals tausend Türen geöffnet. Um das zu verhüten, bedient er sich des Universalmittels aller Pflanzen, die irgendwie verletzt worden sind: er entwickelt als Pflaster eine Korkschicht, die wasserundurchlässig ist, und kann, wenn die Blattnarben sämtlich bedeckt sind, sorglos dem Winter entgegenharren. Seinen Haushalt hat er in Ordnung gebracht.

Er hat sogar noch mehr getan, nämlich vorgesorgt für den künftigen Lenz. Bevor er das ohnehin abgenutzte, erneuerungsbedürftige Laub freiwillig den Stürmen zum Spiel überließ, lugte bereits aus den Achseln der Blätter hoffnungsfroh keimendes Leben hervor, zarte, unter Knospenschuppen wohlgeborgene junge Blättlein, die nur auf die Frühlingssonne zu warten und sich dann zu entfalten brauchen, um wieder ein schattendes Laubdach zu bilden. Auch Blüten sind bereits vorbereitet. Nicht nur im Wald, auch in Gärten und Anlagen kann man sich leicht davon überzeugen. So auffällig zeigen die Blattknospen sich und so mannigfach wechseln Gestalt und Sitz und die Färbung der sie schützenden Schuppen, daß Kundige auf den ersten Blick die Baumart nach ihnen bestimmen können.

Am entlaubten Zweig einer Roßkastanie fällt uns zuerst durch ihre Größe die End- oder Gipfelknospe auf, in der außer Blättern der Blütenstand dem Wesen nach fertig angelegt ist, und an den Seiten desselben Zweiges, dicht über den hufeisenförmigen Narben der abgetrennten früheren Blattstiele, finden wir kleinere Seitenknospen, je zwei sich gegenüberstehend (gegenständig), alle im Harzüberzug erglänzend. Gegenständige Seitenknospen weisen auch Eschen und Ahorne auf, doch fehlt ihren Schuppen der Harzüberzug. Bei der Esche sind sie schwarz, wie verbrannt, beim Bergahorn gelbgrün mit schwarzem Saum, beim Spitzahorn, dessen Gipfelknospe zudem von mehreren kleinen umstellt ist, tragen sie gelb- bis rotbraune Färbung.

Bei allen anderen häufigen Waldbäumen entspringen die Seitenknospen am Zweige einzeln und in verschiedener Höhe (wechselständig) und sind ihm entweder angedrückt (Hainbuche, Espe, Eberesche) oder sie stehen von ihm ab (Rotbuche, Ulme, Schwarzerle, Winterlinde usw.). Bei der Rotbuche sind sie lang und spitz, von braunen Knospenschuppen umhüllt, bei der Ulme eiförmig zugespitzt und von flaumigen, schwarzbraunen Schuppen behütet. Die Stieleiche, deren Seitenknospen ebenfalls wechselständig sind, ist ohne weiteres daran erkennbar, daß ihrer großen Gipfelknospe sich mehrere kleinere Knospen gesellen. Genug indessen der Fingerzeige, die nichts als anregen, aufmerksam machen und dem Naturfreund Schauen schenken und Erleben vermitteln wollen.

siehe Bildunterschrift

Tafel 10
Rothirsche im tiefverschneiten Nadelwald

siehe Bildunterschrift

Tafel 11
Bergkiefern im Riesengebirge, im Hintergrunde die Schneekoppe

siehe Bildunterschrift

Wacholderbüsche, im Kiefernwald häufig das Unterholz bildend

siehe Bildunterschrift

Tafel 12
Blühende Kuhschelle

siehe Bildunterschrift

Kuhschelle verblüht

siehe Bildunterschrift

Siebensterne im Kiefernwald

siehe Bildunterschrift

Tafel 13
Im hochgelegenen Fichtenwald hat der Rippenfarn seine Wedel entfaltet

Ist es nicht etwas Wundersames und gleichzeitig Hochbeglückendes um die erlauschte, erlebte Gewißheit, daß hinter den fallreifen bunten Blättern schon wieder der künftige Frühling webt? Daß es im Herbst kein Ende gibt, das nicht zugleich ein Anfang ist? Die Dichter hatten uns blind gemacht mit ihren Strophen vom sterbenden Wald.

Und sei er herrlich anzusehn,
Ich mag jetzt nicht im Laubwald gehn –
Dies heiße Prangen
In Gelb und Rot,
Dies wilde Verlangen
In Todesnot:
Ein Taumel am Tage,
Das prahlt und lacht
Im wüsten Gelage,
Und Frost in der Nacht.
Betäuben, Berauschen
In letzter Not –
Ich mag's nicht belauschen,
Ich wünsch ihm den Tod.

Muß man, darf man die Herbstpracht des Waldes mit knospendem Leben im Hintergrund so mattherzig sehen und empfinden wie Ferdinand Avenarius in diesem Herbstgedicht »Waldeskampf«? Wo ist denn im Herbstwald Betäuben, Berauschen, wo angesichts seiner Vorbereitung auf jubelndes Blühen im neuen Lenz eine »letzte Not«, eine »Todesnot«? Wir wissen mehr von der Natur und mehr vom ewigen Stirb und Werde in unserm geliebten deutschen Wald. Hinter dem Bilde des Vergehens leuchtet uns ein höheres auf, das weiterweisende des Überdauerns, des Wandels, der Unsterblichkeit heißt. Lenau hat, wie sein Waldlied bezeugt, das Wesen des Blätterfalls besser erkannt:

Rings ein Verstummen, ein Entfärben.
Wie sanft den Wald die Lüfte streicheln,
Sein welkes Laub ihm abzuschmeicheln,
Ich liebe dieses sanfte Sterben.

In dieses Waldes leisem Rauschen
Ist mir, als hört' ich Kunde wehen,
Daß alles Sterben und Vergehen
Nur heimlich stillvergnügtes Tauschen.

siehe Bildunterschrift

Knospen und Triebe von Laubhölzern.
1. Endknospe und Seitenknospenpaar vom Bergahorn.
2. Eichentrieb.
3. Schwarzpappel mit Endknospe und zwei Seitenknospen; unten rechts daneben eine Seitenknospe mit der großen Blattstielnarbe.
4. Kreuzdorntrieb, der statt der Endknospe einen Dorn trägt.
5. Espenzweig. Die Sternchen deuten die Basis von zwei Kurztrieben an, von denen der obere zwei dicke Blütenknospen und über ihnen zwei ungleiche Laubknospen trägt.
6. Kurzzweig der Buche, aus vier Kurztrieben bestehend, die immer mit den ringförmigen Schuppenspuren beginnen. Der oberste Kurztrieb trägt eine Endknospe sowie die Stielstummel der abgeschnittenen Blätter und einer männlichen Blüte.
7. 8. 9. Triebspitzen der Buche, der Weißbuche und der Erle.

Nun dürfen wir aber aus dem Wandel, der sich in unsern deutschen Wäldern jahraus jahrein zur Herbstzeit abspielt, nicht etwa die Folgerung ziehen wollen, daß das Verhalten aller Bäume, gleichviel wo sie leben, in gleicher Weise vom Jahreszeitwechsel abhängig sei. In tropischen Ländern, wo Sommer und Winter nicht wie bei uns in Erscheinung treten, wiederholt sich der Laubfall gewisser Arten nicht selten mehrfach im gleichen Jahr, und eine wirkliche Ruhezeit kennen daher diese Bäume nicht. Es gibt dort Arten, die ihr Laubdach in wenigen Tagen von Grund auf erneuern, und es gibt andere, die die Blätter nach und nach durch neue ersetzen. Während einzelne Zweige völlig entlaubt sind, als habe ein Frost ihre Blätter zerstört, zeigen andere sommerlich üppiges Grün oder lachen im zartesten Frühlingslaub.

Auch manche unserer heimischen Bäume verleugnen, in warme Länder verpflanzt, rasch die Gewohnheit des Laubabwurfs und stellen sich vollkommen anders ein. So sind zum Beispiel unsere Obstbäume in Brasilien immergrün, und unsere Buche, die in Dänemark höchstens vier Monate lang belaubt ist, grünt auf Madeira doppelt so lange. Es sei aber gleich hinzugefügt, um Mißverständnissen vorzubeugen, daß alle Bäume ohne Ausnahme nach kürzerer oder längerer Zeit ihre abgenutzten grünen Blätter abwerfen und erneuern müssen, die »sommergrünen«, wie die unsern, nach jeder Vegetationsperiode, die »immergrünen« nach mehreren.

Es gab eine Zeit in der Erdgeschichte, wo auch auf unserm deutschen Boden die Laubbäume während des ganzen Jahres ihr grünes Blätterkleid tragen durften. Wo keine Herbstpracht die Wälder schmückte, kein erbarmungsloser Winter den Bäumen die Wasserleitung sperrte und ihnen durch endlos lange Nacht das nötige Lebenslicht entzog. Vor vielen Jahrhunderttausenden war das, im Tertiär, jenem Erdgeschichtsabschnitt, während dessen der Stamm der Säugetiere verblüffend rasch zur Blüte gelangte, um ausgangs der gleichen Erdperiode im Menschen seine Krönung zu finden. Obgleich sich bereits die Kältepole der Erde herausgebildet hatten und damit klimatische Unterschiede, war das Gepräge der deutschen Gewächse immer noch ein halbtropisches. Für die Zeit des älteren Tertiär verrieten das jene nordischen Wälder, aus denen der in der »blauen Erde« des Samlands (zwischen dem Frischen und Kurischen Haff), aber auch sonst an der Ostseeküste angehäufte Bernstein stammt.

Bernstein ist, wie jedermann weiß, der anfangs zähe und später versteinerte Harzausfluß von Nadelbäumen, entweder Kiefern oder Fichten, und dieses durchsichtige gelbe Harz hat einst im weichen, halbflüssigen Zustand außer vielerlei Insekten auch eine Fülle von Pflanzenteilen in seine Masse aufgenommen. Durch diese Einschlüsse wissen wir, daß damals nicht nur Nadelhölzer, Kiefern und Fichten, in Deutschland grünten, sondern auch Palmen und Magnolien, Ölbäume, Lorbeer, Kampfer- und Zimtbäume. Immergrüne Eichen und Buchen gesellten sich diesen »Ausländern« zu. Es ist freilich keinesfalls anzunehmen, daß diese grundverschiedenen Arten und ihre strauchartigen Begleiter zum Mischwald vereinigt gewesen sind. Vermutlich werden die Nadelhölzer, die eigentlichen Bernsteinbäume, geschlossene Bestände gebildet und jene andern, von denen im Bernstein Einzelheiten erhalten blieben, als Einsprengsel aufgenommen haben.

Immergrüne deutsche Laubbäume gab es auch noch im Miozän, dem mittleren Abschnitt der Tertiärzeit, als die klimatische Zonenbildung schon weiter fortgeschritten war. Damals rauschten auf üppigen Waldmooren Sumpfzypressen und Wasserzypressen, die eine jetzt in Virginia, die andere in China zu Hause, sowie die gewaltigen Mammutbäume oder Wellingtonien, die jetzt in Kalifornien an den Abhängen der Sierra Nevada buchstäblich in die Wolken ragen und deren Stamm einen Umfang erreicht, vor dem alle Vorstellungskraft erlahmt. Und wieder gaben sich alte Vertraute aus unserer heimatlichen Flora mit diesen Fremden ein Stelldichein, Eichen und Buchen, Linden und Ulmen, Pappeln, Birken und Walnußbäume, Erlen, Weiden und manche andere, viele darunter immergrün. Die Mehrzahl der Bäume half nach dem Tode die mächtigen Braunkohlenflöze erzeugen, die Ursprungsstätten der »brennenden Steine«, mit deren in fernen Urzeittagen aufgespeicherter Sonnenkraft wir heute unsere Öfen heizen.

Die Weltenuhr tickte. Nach einer Zeit, die geologisch angesehen nur eine kurze Spanne bedeutet, nach allgemein menschlichen Begriffen jedoch eine halbe Ewigkeit, bot Deutschland nochmals ein anderes Bild. Nach Abschluß der Tertiärperiode brach über das nördliche Europa und weite Gebiete Asiens die große Eis- oder Schneezeit herein, nicht etwa plötzlich, unvorbereitet wie ein Reif in der Frühlingsnacht, vielmehr von Jahrhundert zu Jahrhundert sich verbreitend und Fortschritte machend.

Es ist bekannt, wie sich das vollzog. Von Skandinaviens Bergen kommend, rückten gewaltige Gletschermassen in breiter Front bis nach Thüringen, beim Vormarsch durch Schneefälle reichlich gespeist, und von den Höhen der Alpenmauer krochen ebenfalls mächtige Gletscher in die verschneiten Täler hinab und weit in die süddeutsche Ebene vor. Es blieb aber nicht bei der einen Eiszeit. Viermal rückten in gleicher Weise die Eisunholde in Deutschland ein, ungleich lange Zeiten verweilend. Und jedesmal, wenn sie tauend und triefend das Unglücksfeld ihres Wütens räumten, massenhaft Irr- oder Wanderblöcke, Trümmergestein und Berge von Sand als traurige Andenken hinter sich lassend, begann eine wärmere Zwischenzeit. In dieser besiedelten Tiere und Pflanzen, die vor den Gletschern, der Not gehorchend, nach Osten und Westen geflohen waren, von neuem das eisfrei gewordene Land – wofern sie der Schnee nicht schon vorher begraben oder der Eishauch getötet hatte. Die Dauer der vier Eiszeiten selbst schätzen Sachkenner auf dreihunderttausend, die der wärmeren Zwischenzeiten auf reichlich zweihunderttausend Jahre.

Uns, denen bei allem, was wir betrachten, das Rauschen des Waldes im Ohre tönt, fesselt jedoch nicht die Eiszeit an sich. Uns geht es um ihren starken Einfluß auf die zeitgenössischen Bäume, der diese zum periodischen Abwurf ihrer grünen Blätter zwang und damit auch zu einer Umschaltung ihres inneren Lebenshaushalts. Selbst wenn wir annehmen, daß die Ausbildung unserer heutigen Klimazonen mit ihrem Jahreszeitenwechsel schon vor der Eiszeit vollendet war, dürfen wir trotzdem das Laubabwerfen in periodischer Wiederkehr der großen Schneezeit aufs Konto schreiben. Erst während deren langer Dauer wurde der herbstliche Blätterfall für Bäume und Sträucher unseres Klimas zum festen inneren Lebensgesetz, das fortan ein Geschlecht dem andern unverbrüchlich weitervererbte. Der Rhythmus, der ihnen während der Eiszeit unerbittlich eingeprägt wurde, schwingt heute, nach Tausenden von Jahren, noch in ihren Nachkommen fort.

Was den Bäumen verhängnisvoll wurde, war nicht so sehr die Eiszeitkälte als der in Massen fallende Schnee. Wenn wirklich, wie man errechnet hat, das Klima während der Schreckenszeit um zehn Grad kälter war als heute, zum großen Teil durch die eisige Ausstrahlung der gewaltigen Gletschermassen, so gingen die Bäume dadurch nicht ein. Die Tatsache, daß die kältesten Orte, die es auf unserer Erde gibt, im sibirischen Waldgebiet liegen (Jakutsk mit -62 Grad Celsius und Werchojansk mit -67,7 Grad Celsius niedrigster Temperatur), sie lehrt überzeugend, daß ausreichend Wärme in Verbindung mit Luftfeuchtigkeit den Bäumen während der Sommerzeit noch Lebensmöglichkeiten bietet, wie tief auch der Winterkältegrad sinkt. Gefahrdrohend wurde dagegen der Schnee, der etwas Unbekanntes war und während der niederschlagsreichen Eiszeit häufig, ergiebig und ausdauernd fiel. Wir wissen aus eigenem Erleben, was dichter Schneefall für Folgen zeitigt, wenn er zur Unzeit im späten Frühling bei weitgediehener Entfaltung der jungen Blätter niedergeht, oder im Herbst vor Beginn des Laubfalls.

Rasch sammeln die Flocken sich auf den Blättern, zumal wenn diese recht breitflächig sind, wie bei Ahornen, Buchen, Ulmen, und hüllen Äste und Zweige ein. Am schnellsten natürlich bei feuchtem Schnee. Bald bilden sich Verbindungsbrücken zwischen den Zweigen und ihren Blättern, bald zwischen zwei benachbarten Ästen, dehnen sich aus und höhen sich auf, bis schließlich die gesamte Krone, soweit sie dem Schnee irgend zugänglich war, einheitlich weiß umkleidet ist. Der Himmel jedoch setzt sein Flockenspiel fort, und jauchzend wirbelt der Wind es umher. Schon ächzen die Bäume unter der Last, die sich mit jeder Minute vermehrt. Zweige brechen, Äste krachen und fallen polternd zum Boden herab, zuerst nur die schwachen, bald auch die starken. Armdicke weichen dem lastenden Druck. Und wenn das Schneetreiben lange anhält, splittern und bersten gar kräftige Stämme und ganze Bäume stürzen um, schwächliche Nachbarn mit sich reißend. Kein Forstmann, der nicht mit Schrecken zurückdenkt an Schneebruchverheerungen in seinem Wald.

Es bedarf keiner lebhaften Einbildungskraft, um sich den Lebenskampf auszumalen, in den die tertiären Laubbäume durch den Klimasturz gerieten. Eine furchtbare Musterung setzte ein, bei der es um Tod oder Leben ging, und siegreich konnten nur jene bestehen, die sich den neuen Lebensbedingungen weitgehend anzupassen verstanden.

Mit wenigen Ausnahmen konnten es alle. Milliarden von Einzelbäumen verdarben, denn jede Umstellung braucht ihre Zeit, die Arten selbst aber starben nicht aus. Alle waren von Haus aus gewohnt, nach längerer oder kürzerer Frist sich ihrer schadhaft gewordenen Blätter mit nur noch geringer Leistungskraft durch Abstoßung zu entledigen. Ihre Selbsterhaltung verlangte es. Jetzt forderte der Wandel der Zeit nichts weiter als eine neue Regelung der alten Gewohnheit des Laubabwurfs. Erstens mußte er vollständig sein und zweitens immer regelmäßig vor dem Beginn des Winters erfolgen. Der Blätterverlust bedingte dann zwangsläufig eine längere Ruhezeit. Wer da weiß, wie schmiegsam die Anpassungsgabe des Lebens im allgemeinen ist, den nimmt es nicht wunder, daß die Umschaltung unserer Laubbäume trefflich gelang, haben wir doch bereits erfahren, daß aus der gemäßigten Klimazone in die Tropen verpflanzte Bäume leicht das Umgekehrte vollbringen.

Die immergrünen Nadelhölzer, die heute als Kiefern, Fichten, Tannen in unsern Wäldern die Vorherrschaft haben und in vermutlich ganz ähnlichen Arten schon während der Eiszeit in Deutschland lebten, litten unter der Gletscherkälte und den sie begleitenden Dauerschneefällen kaum mehr als ihre heutigen Enkel unter der Unbill der Gegenwartswinter. Sie sind durch Kleinheit, Form und Ausrüstung ihrer grünen Blätter gefeit, der schmalen, langen und spitzen Nadeln, die an und für sich schon den trocknenden Winden wenig Angriffsflächen bieten. Der Verdunstungsschutz aber ist noch verstärkt. Die Oberhaut ist beträchtlich verdickt und die Spaltöffnungen sind tief versenkt, so daß der Luftstrom an ihnen vorbeistreicht, ohne sie unmittelbar zu berühren. Ein zähes Festigungsgewebe, dicht unter der Oberhaut gelegen, wirkt abermals verdunstungshemmend und schützt obendrein die schlanken Nadeln vor Knickungsgefahr durch äußeren Druck. Und schließlich ist ihre Oberfläche noch mit einer Wachsschicht überdeckt. Mögen die eiskalten Stürme brausen, sie trocknen die winzigen Blätter nicht aus. Die Lärche, die ihre zarten Nadeln regelmäßig im Herbste abwirft, bedarf solcher Schutzmaßnahmen nicht.

Gleich gut halten unsere Immergrünen den Fährlichkeiten des Schneedrucks stand, und wieder bilden besonders die Blätter durch Form und Stellung den Talisman. Bei der Fichte stehen die kurzen Nadeln ziemlich regellos um den Zweig, bei der Kiefer streben sie, wesentlich länger, zu zwei und zwei vom Zweige fort, in beiden Fällen für den Schnee eine wenig günstige Unterlage. Selbst bei der Tanne, deren Blätter wie gescheitelt und gekämmt zwei Längsreihen an den Zweigen bilden, findet er keinen sicheren Halt. Die Nadeln sind zu kurz und zu glatt, und außerdem hängen die Enden der Zweige, wie überhaupt bei Nadelbäumen, in der Regel etwas nach unten und federn bei jeder Erschütterung. Der Anflug eines Vogels genügt, um feinen Pulverschnee rieseln zu lassen, und jeder halbwegs kräftige Windstoß wirft auch feuchten Schnee herab, sofern ihn der Frost nicht schon festgeleimt hat.

Tagelang fallender nasser Schnee kann selbstverständlich auch Nadelhölzern mehr oder weniger Schaden zufügen. Vor allem die starren Äste der Kiefern splittern dann häufig unter der Last. Und ebenso können schwere Rauhfröste zu beträchtlichen Schneebrüchen führen. Dagegen pflegen Trockenschneefälle den Bäumen nur selten gefährlich zu werden, am wenigsten den elastischen Fichten, denen dabei ihre straffe Gestalt, die schmale Pyramidenform, noch ganz besonders zum Vorteil gereicht. Der Schnee, der nur an den äußeren Enden der stockwerkartig geordneten Zweige die Möglichkeit zum Halten findet, verteilt sich so auf zahlreiche Arme, die biegsam genug sind, um nicht zu brechen. Zwar neigen die Fichten sich unter der Schwere, die auf der Windseite stärker drückt, doch stehen sie nach dem Verschwinden der Schneemassen wieder so kerzengerade wie sonst. Die Tanne hat ähnliche Gestalt, die Kiefer nur in ihrer Jugend. Wir kennen ja alle durch Augenschein das herrliche, malerische Bild, das tiefverschneite Wälder bieten, mitunter tage- und wochenlang. Sofern das Frostwetter gleichmäßig bleibt, bis unser Außenthermometer den Anbruch wärmerer Tage meldet, schlüpfen die Bäume gesund wie zuvor aus ihrer weißen Vermummung heraus.

 

Waldwinter

Bald erblühn im Schnee dir wieder
Neue Rosen, neue Lieder
Ungesucht und ungezählt,
Frisch und fröhlich wird dein Wagen,
Wenn in hellen Festestagen
Neuer Mut die Schwingen stählt.

Fr. Schanz.

 

Naturverlassene Stubenhocker – auch Dichter sind oft genug mit dabei – nennen die winterliche Schneedecke wenig geschmackvoll ein »Leichentuch«, unter dem das einst so fröhliche Leben in Todesschlaf versunken sei. Und nicht bloß bildlich ist das gemeint. Sie sind durchaus davon überzeugt, daß ihr Leichentuch wirklich nur Totes verhüllt. Schon früher sprachen wir davon, als vom bunten Herbstlaub die Rede war, und von den Knospen, die in den Achseln der welk zu Boden taumelnden Blätter schon wieder vom Frühlingserwachen träumen. Jetzt, wo wir einmal im Winterwald sind, erscheint es nicht unnütz, das weiße Bahrtuch hier und da ein wenig zu lüften, um nachzuschauen, was es verbirgt.

Wie an den Bäumen die jungen Knospen im höchsten Sinn ein Lebendiges sind, wenn auch gebunden und unentwickelt, so wirkt und webt der Kreislauf des Lebens auch unter der Waldbodendecke fort, gleichviel wie hoch sich der Schnee auf ihr häuft. Die ganze Schar der Blumenelfen, die wie aus der Erde gezaubert erscheint, wenn Bäume und Sträucher noch nicht daran denken, die Knospenhülle fallen zu lassen, die Schneeglöckchen, Gelbsterne, Buschwindröschen, Lerchensporne, Leberblümchen und viele andere Lenzvorboten – sie alle hamstern schon im Sommer in unterirdischen Zwiebelknollen oder kriechenden Stengelgliedern jene Bildungsstoffe ein, die sie zur neuen Entfaltung brauchen. Noch ehe der Frost in den Boden dringt, sind Blüten- und Blattknospen angelegt, und wenn die Zeit der Zwölf Nächte vorbei ist, auch jeden Tag zum Aufbruch bereit. Doch wohl ihnen, daß sie zu warten lernten, bis ihre Zeit erfüllet ist. Es geht ihnen wie den Waldmaikäfern, die regelmäßig schon im Herbst aus ihrer Puppenhülle schlüpfen und dann am Ort der Geburt überwintern, um sich im Wonnemonat Mai den Weg in die Außenwelt zu bohren. Erst muß auf äußere Reize hin, von deren Art wir leider nichts wissen, ein innerer Weckruf die Kunde vermitteln: die große Lebensstunde ist da.

Eine ganze Welt von Pflanzen und Tieren atmet unter dem »Leichentuche« und wartet der Wiederkehr schönerer Zeit. Im Kiefernwald richten sich unter Moospolstern oder unter der Nadelstreu die Raupen des schlimmen Kiefernspinners ihre Winterquartiere her, schaffen sich eine kleine Höhlung und rollen sich uhrfederartig ein. Zeitig im Frühjahr erwachen sie wieder und setzen ihren Nadelfraß fort, den sie im Spätsommer unterbrachen. Am gleichen Ort überwintern als Puppen die Kiefernspanner und Kieferneulen. In Höhlungen unter Moos und Laub schlummern die schon im Herbst befruchteten Weibchen des hübschen bunten Hummelvolks, die Stammütter neuer Hummelstaaten, während die gleichfalls befruchteten Weibchen der staatenbildenden Faltenwespen mit Vorliebe hinter gelockerter Baumrinde ihre Winterruhe halten.

Ameisen suchen die tieferen Lagen ihrer Sommerbauten auf, sofern sie sich nicht an günstigen Orten besondere Winterquartiere schaffen, in die auch die junge Brut überführt wird. Unsere einzellebenden Bienen sowie die Grabwespen und die Schlupfwespen verdämmern die sorgenschwere Zeit in Erdlöchern oder Pflanzenstengeln, in langen Stollen unter Steinen, im Fallaub und an ähnlichen Plätzen, nicht selten friedlich in größerer Zahl zu Schlafgenossenschaften vereint. Auch Käfer, darunter flinke Läufer, rotten sich vielfach gesellig zusammen, um unter Baumrinde zu erstarren, bohren sich in Hölzer ein (Borkenkäfer), graben sich Röhren in die Erde (Mistkäfer) oder suchen Zuflucht im dürren Laub oder unter Moos (Blattkäfer und Marienkäfer).

Und noch mehr solcher heimlichen Schläfer gibt es im verschneiten Winterwald, Schläfer, die jeder Naturfreund kennt, von denen jedoch der Ofenhocker in seiner Naturfernheit nichts weiß. Er meint, daß die wenigen Stubenfliegen, die ihm im warmgeheizten Zimmer mit nicht zu beirrender Hartnäckigkeit um seine werte Nase schwirren, die einzigen Insekten seien, die vom Oktober bis zum Frühjahr einen Freipaß bekommen hätten. Mitnichten. Es wimmelt in Wäldern und Feldern von vollentwickelten lebenden Kerfen, die alle die glückliche Stunde ersehnen, da ihnen die Wärme die Schwingen löst. Zu Tausenden und aber Tausenden hocken bunte Schmetterlinge, Zitronenfalter, Trauermäntel, Füchse, C-Falter, Tagpfauenaugen, um nur ein paar der bekanntesten Arten aus der langen Liste zu nennen, in wettergeschützten Winterherbergen, in Spechthöhlen, Baumspalten usw., in die der Sturm nicht hineinfauchen kann. Sie versanken um die Herbstsonnenwende in einen Zustand der Reglosigkeit und lassen sich erst von der Märzsonne wecken. Nur ganz gelegentlich kommt es vor, daß solch ein Träumer schon mitten im Winter aus seinem Starrezustand erwacht und eine Zeitlang Frühling spielt, dann nämlich, wenn er zum Unterschlupf das Innere eines Gebäudes erwählte, wo höhere Temperaturen herrschen, oder wenn ihn an linden Tagen die Sonne besonders freundlich bestrahlt.

Was aber werden die Leichentuch-Dichter zu der Enthüllung der Tatsache sagen, daß nicht nur schlafende Insekten, sondern auch quicklebendige im Winterwalde ihr Wesen treiben? Wenn die bisher erwähnten Arten längst im geschützten Unterschlupf ruhen, erscheinen in der Vorweihnachtszeit, zuweilen erst Anfang Januar, verspätete zarte Schmetterlinge und tanzen bei Anbruch der Dunkelheit im Laubwalde ihren Hochzeitstanz!

Frostspanner sind es, ausschließlich Männchen, die taumelnden Flugs um die Baumstämme kreisen und nach Gesponsinnen Ausschau halten, armen Stiefkindern der Natur, die mangels der Flügel nur kriechen können und überhaupt nicht an Falter erinnern. Mit ihren langen Stackelbeinen klettern sie schnell an den Bäumen empor und harren – freilich unbewußt – des seligsten Augenblicks ihres Lebens, da sie ein fliegender Freier umwirbt. Haben sich beide zur Paarung gefunden und ist kein verfänglicher Leimgürtel da, vom Förster vorbeugend angelegt, so steigt das Weibchen stammaufwärts weiter und setzt, wenn seine Stunde gekommen, an den Knospen Eier ab. Um Mitte April des neuen Jahres beginnen dann an den schwellenden Trieben die Räupchen ihr Zerstörungswerk.

Ein anderes Bild. In der Adventszeit erscheinen zierliche Eichengallwespen mit schwarzem Leibe und glashellen Flügeln, die aber nicht wie die Frostspannerschädlinge aus dem Schoße der Erde kommen, sondern aus jenen kugelrunden, erst gelben, später rot angehauchten Galläpfeln oder Apfelgallen, die wir im Sommer und mehr noch im Herbst in Menge an Eichenblättern finden. Bereits ehe der Novembersturm das Raschellaub mit den Äpfelchen abriß, lagen die Tierchen fast fertig entwickelt in ihrem Gallenkämmerchen, aber erst viele Wochen später nagten sie sich durch die Apfelwand und stürmten hinaus in den schweigenden Wald. Weibchen diesmal, ausschließlich Weibchen, denn die Natur hat in diesem Falle die Arterhaltung dadurch gesichert, daß sie im Laufe eines Jahres zwei verschiedene Generationen von Eichengallwespen auskommen läßt, eine im Frühjahr, im Mai oder Juni, bei der es beide Geschlechter gibt, und eine im Spätherbst schlüpfende, die nur aus weiblichen Tieren besteht. Merkwürdig aber, diesen Weibchen hat sie die Wundergabe verliehen, sich ohne Männer fortzupflanzen. Wenn Stürme durch den Eichwald brausen, Schneeflocken wirbeln und Eisnächte dräuen, ist keine Zeit zu Liebesfeiern. Die schönen Tage sind dünn gesät. Es würde den Artbestand gefährden, wenn sich im weiten Eichenforst die beiden Geschlechter erst suchen müßten.

Freilich, den jüngferlich zeugenden Weibchen winkt kein freundliches Erdenlos. Junge Blätter zur Eiablage stehen ihnen nicht zur Verfügung, so müssen sie sich an die festverschlossenen Winterknospen der Eichen halten, um ihre Eier unterzubringen, und diese Winterknospen sind hart. In stundenlanger mühsamer Arbeit durchbohren sie mit ihrem Legestachel die Knospen bis unter die Blattanlage, senken dort ihre Eier ein und sterben dann den Erschöpfungstod. Die aus den Eiern schlüpfenden Larven erzeugen ihrerseits filzige Gallen von dunkelvioletter Färbung, machen darin im Laufe des Frühjahrs ihre ganze Entwicklung durch und fliegen, wenn alles grünt und blüht, als fertige Wespchen in die Welt, nunmehr in beiderlei Geschlecht.

Das Kerbtierleben trotz Wintersnot ist aber auch damit noch nicht erschöpft. Zur selben Zeit, wenn die Spanner sich paaren, tauchen an milden, sonnigen Tagen scharenweise Mücken auf, Winterschnaken mit langen Beinen, bräunlichem Rücken und großen Augen, um tief bis ins kommende Jahr hinein unter einzelstehenden Bäumen des Waldes nach Stammesart Tanzkränzchen abzuhalten. In unsern norddeutschen Kiefernheiden stelzen sogar bei gelindem Frost, noch öfter bei beginnendem Tauwetter, vier Millimeter kleine Tiere, Winterhafte, direkt auf dem Schnee, metallisch glänzende spaßige Kerlchen mit sichelförmig gebogenem Leib.

Die Kälte ficht all diese Tierchen nicht an, wie zierlich und zart auch ihr Körper gebaut ist. Die Frostspanner liegen schon wochenlang zum Ausschlüpfen reif in der Puppenhülle und steigen doch erst aus der Erde, nachdem der Winter schon etliche Male die Frosthand auf den Boden gedrückt hat, und für die winzigen Herbstgallwespen ist Kältefestigkeit nachgewiesen, die schlechthin ans Märchenhafte streift. Der holländische Forscher Beyerinck stellte in einer Januarnacht bei sechs Grad Kälte Wipfelzweige, an denen eine Anzahl Weibchen mit Eierlegen beschäftigt war, in einem mit Wasser gefüllten Glase erbarmungslos im Freien auf. Als er am andern Morgen nachsah, hatten sich einige der Tierchen über den Schnee davongemacht, ein Wespchen aber war über Nacht ins eisige Wasser hineingefallen und darin regelrecht eingefroren. Beyerinck taute es vorsichtig auf, und siehe da: das Gallwespenweibchen begann, als ob nichts geschehen wäre, von neuem sein mütterliches Geschäft.

Man findet kein Ende bei der Aufzählung all der daseinsfrohen Geschöpfe, die entweder, um nicht zugrunde zu gehen, in einem heimlichen Kämmerlein ruhen oder dem Winter und seinen Launen todesmutig die Stirne bieten. Noch haben wir nicht der Winterschläfer aus dem Säugetierreiche gedacht, von denen der eine oder andere zeitweis sein warmes Lager verläßt, um sich nach den Vorräten umzusehen, die er im Sommer gespeichert hat. Soweit sie im Walde zu Hause sind, gehören dazu die Siebenschläfer und die zierlichen Haselmäuse, der Stachelheld Igel, das flinke Eichhorn und der träge, behäbige Dachs. Wozu allerdings zu bemerken ist, daß Eichhorn und Dachs zwar während des Winters schlaffrohe Bärenhäuter sind, doch keine »echten« Winterschläfer. Die bleiben in ihrem Ruhebett, bis die eisigen Stürme ausgetobt haben, während die Hörnchen bei trockenem Wetter und freundlichem Wintersonnenschein sich schleunigst den Schlaf aus den Augen reiben und tagelang munter den Wald durchstreifen. Doch müssen sie sich vor den Mardern hüten, die ihnen im Winter genau so eifrig wie sommertags auf den Fersen sind. Grimbart mit seiner dicken Schwarte ist noch viel weniger kältescheu, nur kriecht er, vorsichtig wie er ist, bloß abends oder nachts aus dem Bau.

Auch die Vögel dürfen wir nicht vergessen, die unter allem, was kreucht und fleucht, dem Naturfreund am meisten das Herz erwärmen. Was keins der jagdbaren Tiere vermag, mögen sie Haar- oder Federwild heißen, kein Eichkätzchen und kein Winterinsekt, ein Zaunkönig, der mit markiger Stimme sein Lied im verschneiten Waldrevier schmettert, ein Trupp von Meisen, Kleibern und Baumläufern, der im Gefolge eines Buntspechts immerfort rufend den Wald durchstreift – sie bringen das schwierige Kunststück fertig, Auge und Ohr zugleich zu entzücken, im sonst so stillen Winterwalde Frühling und Sommer vorzutäuschen und selbst das verhärtetste Gemüt für Augenblicke froh zu stimmen.

Es ist ein Irrtum, anzunehmen, das Waldleben stehe im Winter still. Man muß nur die richtigen Brillengläser, offene, aufnahmefrohe Ohren und nebenbei ein wenig Kenntnis vom Naturgeschehen besitzen, um die gewaltige Summe von Leben, regsamer oder gebundener Kraft, im deutschen Winterwald wahrzunehmen. Nur Sehenden offenbart sie sich und bietet sie tröstliche Gewähr, daß sich die goldene Lebenskette, die der Novemberfrost scheinbar zerbrach, im Vorfrühling hoffnungsvoll wieder schließt.

 

Frühlingseinzug im Walde

Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
Man weiß nicht, was noch werden mag,
Das Blühen will nicht enden.

Uhland.

 

Wann hält dieser Frühling Einzug im Wald? Viel früher, als Volksmund und Volkslied meinen und der Kalender uns weismachen will. Biologisch beginnt er schon Ende Dezember, zur Zeit der germanischen Sonnenwende, wenn in der östlichen Waldregion der Alpenberge die Christrose blüht, an unseren Bäumen, Sträuchern und Stauden die Knospen aufbruchsfertig sind und die Frühblüher unter den Bodenpflanzen sich gleichfalls rüsten, ans Licht zu steigen. Der Waldfrühling, den wir als solchen empfinden, setzt allerdings erst später ein. In der ersten Märzhälfte sind seine Herolde, Leberblümchen und Waldwindröschen, bereits in größerer Anzahl zur Stelle, falls nicht ein nächtlich gefallener Neuschnee sie unsern Blicken unsichtbar macht, und täglich treten dann im Geschwindmarsch neue Vorfrühlingsblumen hinzu.

Die Bäume und Sträucher scheuen sich noch, die Schuppen der Laubknospen aufzulockern und ihren Blättern dadurch den Weg zu rascher Entfaltung freizumachen. Die Wurzeln in der Bodentiefe künden noch leichte Nachtfröste an, und das Pumpwerk im Stamm ist aus diesem Grunde noch nicht voll in Betrieb gebracht. Dennoch, den lebhafter werdenden Pulsschlag der alten Erde verspüren auch sie, wie ihn die bunte Blumenschar spürt, die täglich reicher den Waldboden schmückt.

Etliche unter den Gehölzarten fangen bereits zu blühen an, und eine von ihnen, der Haselstrauch, hat gar schon Ende Februar als erster den Anfang damit gemacht. Zwar sind es keine duftenden Blüten, mit denen er uns zu erfreuen weiß, sondern nur winzige, unscheinbare, die rings um eine Spindel gruppiert sind. Als Lenzkünder aber entzücken sie doch. »Kätzchen« heißen sie im Volksmund, und wenn wir etwas genauer hinsehen, entdecken wir, daß es am selben Strauche zwei verschiedene Sorten gibt: solche, die schlaff von den Zweigen hängen, wie lange Quasten oder Troddeln, und andere, die in eirunden Knospen unmittelbar an den Zweigen sitzen und sich durch karminrote Pinselchen, die aus den Knospenschuppen ragen, leicht dem Auge bemerkbar machen. Die erstgenannten sind männliche Kätzchen, aus vielen kleinen Blüten bestehend, die insgesamt (an einem Kätzchen!) Millionen von Pollenkörnchen entwickeln und diese, sobald sie ausgereift sind und der Wind mit den Troddeln spielt, in gelben Wölkchen verstäuben lassen. Die kleineren Kätzchen sind weibliche Blüten und ihre roten Pinselchen »Narben«. Diesen liegt die Aufgabe ob, den männlichen Pollen abzufangen und dem Fruchtknoten zuzuführen, damit es zu einer Befruchtung kommt. Sie sorgen dafür, daß wir zu Weihnachten Haselnüsse zum Knacken haben.

Ganz ähnlich wie beim Haselstrauch spielt sich die Pollenübertragung bei vielen unserer Waldbäume ab, nur laden sie uns nicht so vertraulich zur Teilnahme an ihrer Hochzeit ein. Rot- und Weißbuchen, Eichen, Pappeln, Erlen und Birken sind Kätzchenträger, doch nur bei den Erlen und bei den Pappeln reifen die Kätzchen am laublosen Baum. Die andern halten die Liebesfeier erst während ihrer Belaubung ab oder schieben sie gar hinaus, bis der Laubmantel ziemlich fertig ist.

Gewöhnlich zu Anfang des Lenzmonats März beginnt die Erle am Bachrand den Reigen, der schwärzeste, finsterste unserer Bäume, an dem in der Regel noch die alten, dunkelbraunen Fruchtzäpfchen haften, wenn seine Kätzchen in Blüte stehen. Sie ähneln denen des Haselstrauchs, sind aber in beiden Geschlechtern gestielt. Nur wenig später hängen die Pappeln ihre schmucken Räupchen aus, die männlichen durch die karminroten Staubbeutel ganz besonders farbenfreudig, die weiblichen trotz ihrer ebenfalls in schönem Karminrot leuchtenden Narben im ganzen etwas blasser getönt. Beide hängen sie schlaff nach unten, und keine Belaubung hindert den Wind, beim Werk der Bestäubung behilflich zu sein.

Auch nicht bei den Birken, obgleich bei diesen der Laubausbruch bereits erfolgt ist, wenn die weiblichen Kätzchen empfangsbereit sind. Die Blätter sind noch so winzig und zart, so locker über das Zweigwerk verteilt, daß sie der Bestäubung nicht hinderlich sind. Noch wirken sie wie ein hauchdünner Schleier, der über die Kronen geworfen ist. Die ungestielten männlichen Kätzchen, mit braunen Deckschuppen übersät, hängen an den Langtriebenden, während die höchstens ein Drittel so großen schlanken und grünen weiblichen Kätzchen straff aufgerichtet auf den Spitzen der beblätterten Kurztriebe stehen.

So unterschiedlich die Blütenstände bei all diesen Laubholzarten sind, im Grunde wandeln sie samt und sonders nur das Schema Haselstrauch ab. Anders bei unseren Eichen und Buchen, die während der Laubentfaltung blühen, und zwar in solcher Heimlichkeit, daß nur sehr wenige Waldliebhaber die Blüten aus eigener Anschauung kennen.

Wer glaubt, daß unser stolzester Baum, die mächtige Stiel- oder Sommereiche, entsprechend auffallend blühen müsse, wird durch den Augenschein enttäuscht. An der Außenseite ihrer Krone schlenkern von den Enden der Zweige lange, dünne Schnüre herab, die in verschieden großen Abständen unscheinbare Einzelblüten mit blassen, grüngelben Staubfäden tragen. Durch nichts erinnern sie an die Kätzchen der Haseln, Erlen, Pappeln und Birken. Sie sind aber wenigstens auffindbar, wogegen die Fruchtblüten an den Zweigspitzen trotz ihrer leuchtend roten Narben völlig den Blicken verborgen sind.

siehe Bildunterschrift

Tafel 14
Eichhörnchen, die Affen des deutschen Waldes, anmutige Tiere, aber arge Nesterplünderer

siehe Bildunterschrift

Tafel 15
Eine alte Kiefer von wunderlicher Gestalt

siehe Bildunterschrift

Tafel 16
Waldgeißbart, mit halbmeterlangen gelbweißen Blütenrispen

siehe Bildunterschrift

Weiße Pestwurz, in feuchten Waldschluchten im Gebirge vorkommend

siehe Bildunterschrift

Tafel 17
Ein gutes Zapfenjahr im Fichtenwald

Und nicht viel anders ist's bei der Buche, die ihre Staubblüten nicht vereinzelt, sondern als kugelige Büschel an langen Stengeln herabbaumeln läßt. Die weiblichen sperrt sie je zu zweit in eine becherartige Hülle, aus der nur die rötlichgelben Narben als Blütenstaubfänger ins Freie ragen. In diesen stattlichen Kugelgebilden, die aufrecht am Ende der Langtriebe stehen, entwickeln sich während des Sommers die Früchte. Die Hülle wird holzig, die seidigen Härchen wandeln sich zu Weichstacheln um, und wenn im Oktober der Herbst ins Land kommt und die Blätter der Buche rot übermalt, dann springt die Becherfrucht vierlappig auf und fällt mit den »Bucheln« (Bucheckern) ab.

Die Weißbuche, um auch sie zu erwähnen, hat nichts mit der echten Buche zu tun. Ihr Stamm ist zwar ebenso silbergrau und ihr Herbstlaub gleichfalls rotbraun gefärbt, doch schon durch die Blätter, die scharf gesägt sind, weicht sie von der Rotbuche ab, und vollends durch ihre Blüten und Früchte. Die schlaffen männlichen Blütenstände erinnern an die der Erlen und Birken; die weiblichen, kleiner und unscheinbarer, doch ebenfalls nach unten hängend, bilden dünne, lockere Ähren, aus denen rote Narben schauen.

Wir sehen, die Windblütler unter den Laubbäumen, die entweder selbst Bestände bilden oder in solche eingesprengt sind (was für die Pollenübertragung wesentlich günstiger ist als Freistand), zeichnen sich alle durch unscheinbare, Honig- und duftlose Blüten aus. Je weniger Hüll- oder Blumenblätter ihre Zeugungsorgane umschließen, desto leichter die Pollenverstäubung und desto größer zugleich die Aussicht, daß die von der bewegten Luft entführten lockeren Pollenzellen bei einer Narbe Aufnahme finden. Wären die Blüten lebhaft gefärbt oder sonstwie auffällig ausgestattet, so zögen sie unliebsame Besucher aus dem Volk der Insekten an, die ihnen nicht das geringste nützen, als Pollensammler und Pollenverzehrer aber empfindlich schaden können. Das gleiche gilt für Bodenpflanzen, insbesondere für Gräser, bei denen die Pollenübertragung ebenfalls der Wind besorgt.

Anlockungsmittel wie Duft und Honig oder prunkende Wirtshausschilder, die schon von fern den Gästen verkünden: »Achtung! Hier gibt es Speise und Trank«, sind nur für Insektenblütler nötig, zu denen unter den häufigen Waldbäumen Ahorne, Ulmen und Linden zählen. Sie spenden ihren Besuchern Nektar, zuckerhaltigen Blütensaft, und zwingen sie, ihre Liebesbriefchen, die zarten Blütenstaub enthalten, bei einer Nachbarin abzugeben. Daß auch die kätzchentragenden Weiden echte Insektenblütler sind, beweist jeder schöne Vorfrühlingstag. Sind sie doch für die ersten Falter, die ersten Hummeln und Einsiedlerbienen, die aus dem Winterschlaf erwachen, die liebsten »Wirte wundermild« in der noch blumenarmen Natur.

Die Nadelhölzer in unseren Wäldern vertrauen wieder ihre Befruchtung dem immer gefälligen Winde an und gleichen die Unzuverlässigkeit, die diesem losen Gesellen eignet, ebenso wie die Kätzchenträger durch riesige Pollenerzeugung aus. Die Kiefer leistet in dieser Beziehung geradezu Unglaubliches. Wenn an einem schönen Maienmorgen nach ausgiebigem Gewitterregen, der tags zuvor herabgerauscht ist, die tief zerfahrenen dunklen Wege im Kiefernforst voll Wasser stehen, und zwar voll schwefelgelbem Wasser, so ist das ein Zeichen, daß der Wind sein Liebeswerk an den Bäumen vollbracht hat. In Zeiten, da die Naturgeschichte ein Buch mit sieben Siegeln war und sich um alles absonderliche, schwer deutbare Naturgeschehen sofort ein Aberglaube rankte, sprach man von einem »Schwefelregen« und knüpfte schlimme Gedanken daran.

Für uns sind die mächtigen gelben Wolken, die dreißig, fünfzig und mehr Meter hoch vom Winde emporgetrieben werden und von der Abendsonne vergoldet stundenlang über den Kiefern schweben, ein anziehendes Naturschauspiel. Erst während der Dunkelheit sinken die Staubkörnchen, Myriaden und aber Myriaden, langsam aus ihrer Höhe herab, zu einem Teil auf guten Boden, nämlich auf die Blütenzäpfchen an den Spitzen der jungen Endtriebe, zum größeren Teil auf tauben Grund, auf Äste und Zweige, auf den Waldboden oder in die Regenlachen, die das Maigewitter zurückließ. Wer die zu großen gelben Sträußen zusammengedrängten Staubblüten kennt, die rings um die ganze Krone verteilt auf dem unteren Teil der Endtriebe sitzen, der weiß, daß die Kiefer sich ohne Schaden solche Verschwendung erlauben darf.

Ähnlich so ist es bei der Fichte, nur daß sie keinen so reichen Schatz von Pollen zu versenden hat. Sie leistet sich aber etwas anderes, was wir bei Windblütlern sonst nicht finden: sie besteckt den oberen Teil ihrer Krone mit leuchtend purpurroten Kerzen, als ob sie Insekten herbeilocken wolle. Es sind ihre weiblichen Blütenstände, die Urgebilde der mächtigen Zapfen, die im August bereits fertig sind, drei Monate nach der Blütezeit, dann aber nicht mehr wie die Kerzen aufrecht in die Höhe ragen, sondern schwer an den Zweigen hängen. Die vor dem Verstäuben erdbeerroten, später gelblichen Pollenzäpfchen von der Gestalt eines Singvogeleies blühen einzeln zwischen den Nadeln, immer an den Spitzen der Zweige und über die ganze Krone verteilt. Die Weißtanne trägt ihre Samenblüten ebenfalls straff aufgerichtet (wie später auch die reifen Zapfen), doch stehen sie nicht an den Enden der Zweige und sind statt purpurrot bleichgrün gefärbt. Die kleineren gelben männlichen Blüten hocken zu vielen zwischen den Nadeln. Bei der Lärche schließlich sind die karminroten Fruchtblüten meistens nur spärlich vertreten und kaum zwei Zentimeter lang (ein Drittel so lang wie die der Fichten), während die gelben Pollenblüten nicht selten fast alle Zweige bedecken. Sie sind dementsprechend auch zwerghaft klein.

Von Anfang März bis Ende April reißt die Baumblut in unsern Wäldern nicht ab. Wenn die Weidenkätzchen begonnen haben, folgen bald Ulmen und Erlen nach, und ausgangs März schließt die Pappel sich an. Die Erlen blühen bis Mitte April, die anderen bis gegen Monatsende. Inzwischen haben im Nadelwalde, in den ersten Tagen des April, die Lärchen zu stäuben angefangen, im Laubwald die malerischen Birken, nachdem sich etliche Tage zuvor ihre Blätterknospen erschlossen hatten. Esche und Spitzahorn blühen mit, doch erst von der Mitte des Monats an. Im Mai endlich wird Generalmarsch geblasen, daß auch die letzten Bäume im Walde hochzeitlichen Schmuck anlegen, denn »dieser Monat ist ein Kuß«, um mit dem alten Logau zu sprechen,

Den der Himmel gibt der Erde,
Daß sie jetzund seine Braut,
Künftig eine Mutter werde.

Der Bergahorn behängt seine Zweige mit zierlichen gelben Blütentrauben, Rotbuche und Eiche die ihren mit Kätzchen. Die Weißbuche tut es ihnen gleich. Die Eberesche stellt große gewölbte, reichblühende weiße Trugdolden aus, die Esche blüht noch den ganzen Monat, die Birke mindestens noch den halben. Im Nadelwald lösen die alten Kiefern, Fichten und Tannen die Lärche ab, die sich inzwischen völlig begrünt hat. Wenn um die Wende zum Rosenmond die Vögel im Walde schweigsamer werden und mit ihrer Brut beschäftigt sind, ist auch die Zeit der Baumblüte um.

Ein einziger Baum nur, dem wir am häufigsten in der Gesellschaft des Menschen begegnen und der doch ein echtes Waldkind ist, die Linde nämlich, hat noch nicht geblüht. Erst Mitte Juni beginnt ihre Zeit, lange nach dem Laubausbruch, so daß ihre zierlichen Blütenbüschel nur noch wenig zur Geltung kommen. Den Mangel auffälliger farblicher Reize ersetzt sie durch kräftigen Blütenduft, der zu dem Köstlichsten gehört, was Wildpflanzen zu erzeugen vermögen. Das Singen und Summen von tausend Bienen, die namentlich während der Mittagsstunden die weißgelben Lindenblüten umschwärmen, beweist uns, wie weit ihre Duftwirkung reicht.

Die Zeit zwischen Blühen und Fruchten der Bäume ist je nach der Art verschieden lang, doch werden die Früchte unserer Laubhölzer immer im Jahre der Blüte reif, wenn auch die Samen in der Regel erst im nächsten Frühjahr keimen. Nicht so einheitlich ist die Fruchtreife bei den Nadelhölzern geregelt. Die Tanne streut ihre reifen Samen gewöhnlich im Oktober aus, und ebenso macht es der Lärchenbaum, der gleichzeitig seine Nadeln abwirft, während die entleerten Zapfen noch lange an ihm hängenbleiben. Bei der Fichte beginnt der Samenausfall ebenfalls schon im Oktober, doch setzt er sich bis zum Frühjahr fort, worauf dann auch die Zapfen fallen. Die Samen der Kiefer reifen dagegen erst im Herbst des folgenden Jahres. Im ersten Winter sind die Zapfen nicht größer als eine Haselnuß. Erst im Oktober des zweiten Jahres ist ihr Wachstum abgeschlossen, und wenn die Witterung günstig ist, entlassen sie dann auch einen Teil des mit ihnen reif gewordenen Samens. Der Rest fällt erst im Frühling aus, im März und April des dritten Jahres, und immer noch bleiben die Kiefernzapfen mindestens bis zum Herbst am Baum. So kann man die Merkwürdigkeit erleben, im Mai an ein und derselben Kiefer gleichzeitig junge rötliche Blüten, grüne, noch geschlossene Zapfen, die aus dem vorigen Jahre stammen, und alte, aufgesprungene und entleerte im dritten Lebensjahr vorzufinden.

 

Die Verbreitung der Samen und Früchte

Es muß sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln,
Nur scheinbar steht's Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allem,
Denn alles muß in nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.

Goethe.

 

Anregend für den Naturbeobachter ist die Erkundung der Mittel und Wege, derer sich Bäume und Bodenpflanzen zu ihrer Samenverbreitung bedienen. Die Mutterpflanze, die ihre Kinder im Gegensatz zu Mensch und Tier nicht in der Nähe behalten darf, weil dichte Bestände das Dasein gefährden, tut was sie kann, um der Sprößlingsschar die erste und einzige Lebensreise nach Möglichkeit aussichtsreich zu gestalten. Ihr Haupthelfer ist natürlich der Wind, und deshalb finden wir die Samen vielfach mit Anhängseln ausgerüstet, die ihre Oberfläche vergrößern und ihnen Schwebfähigkeit verleihen, wenn auch zumeist nur für kurze Fahrt. Mehrfach im Jahre, vor allem im Herbst, wird auch der Wald zum Pflanzenflugplatz, auf dem sich Flugkünstler vielerlei Art im Wettbewerb miteinander tummeln. Es geht um den denkbar wertvollsten Preis, um die Sicherung ihres eigenen Lebens. Ein bißchen Kenntnis vom Wesen der Pflanzen, die ihre Früchte ausschwärmen lassen, ist freilich für den Beobachter nötig, um trotz der vielfachen Mißerfolge, die ihm die Piloten vor Augen führen, den Wert ihrer Flugzeuge schätzen zu können.

In großer Anzahl liegen zum Beispiel unter einem Ahornbaume die gleich nach dem Abflug gelandeten Früchte, immer aus zwei Samenkörnern mit je einem langen Flügel bestehend, und dann und wann wirbeln neue herab und landen gleichfalls nicht weit vom Stamm. Wo bleibt da die »Verbreitung« der Samen? Nun, erstens stellt der geschilderte Zustand den Anfang des Samenfliegens dar und die gescheiterten Flügelfrüchte sind nur ein geringer Bruchteil dessen, was der Mutterbaum erzeugt. Die Mehrzahl sagt ihm erst Lebewohl, wenn die stürmischste Jahreszeit beginnt und der Laubwald kahl und entblättert dasteht, dann also, wenn den beschwingten Samen die günstigste Reiseaussicht winkt. Zum zweiten aber ist der Ahorn von Hause aus gar nicht dazu bestimmt, mit anderen Bäumen im Schlusse zu stehen. Er ist kein Baum, der wie Eiche und Buche oder wie die Nadelhölzer mit seinesgleichen Bestände bildet. Es geht ihm wie der Sommerlinde, die wenigstens bei uns in Deutschland ihre kugeligen Früchtchen, zu dritt an einem Flügelblatt hängend, auch nur bei Freistand verbreiten kann. Die Fruchtstände sitzen so fest an den Zweigen, daß eine schwache Luftbewegung nur wenige losreißt und entführt, kaum über den Bannkreis der Mutter hinaus. Je stärker aber der Wind in den Baum und in die gewölbten Tragblätter faucht, desto mehr nimmt er auf seinen Schwingen mit fort und desto weiter befördert er sie, teils durch die Luft, teils auf dem Boden. Hier sind es aber die Frühlingswinde, nicht die Herbstwinde, die den Nüßchen bei ihrer Verbreitung zu Hilfe kommen.

Auch bei der Ulme ist das der Fall, die ihre in Menge erzeugten Samen mit breitem häutigen Flügelsaum schon Ende Mai davonschweben läßt. Wenn sie in Buchenwaldungen steht, allseitig von artfremden Bäumen umgeben, dann sieht man die hellbraunen Samenscheibchen in Massen den Boden des Standorts bedecken, auch wieder, weil kein gefälliger Wind ihre Sehnsucht ins Weite erfüllen hilft. Wenn sie jedoch als lichtbedürftiger, frischen Boden liebender Baum sich draußen am Waldrande aufgepflanzt hat oder gar auf freiem Felde, so macht sie von ihrer Fähigkeit, die Nüßchen weithin zu verstreuen, sogar schon bei schwachem Winde Gebrauch. An ihrer Verbreitungsart liegt es gewiß nicht, daß sie zur großen Betrübnis der Förster seit Jahren immer seltener wird. Die Birke ist glücklicher daran. Sie weiß ihre ungemein leichten Samen, an denen ähnlich wie Schmetterlingsflügel zwei große, zarte Tragflächen sitzen, mit solchem Erfolge auszusäen, daß überall, wo eine Waldlücke ist, alsbald eine junge Birke emporschießt. Zwei bis drei Wochen nach dem Ausfliegen fangen die Samen zu keimen an, und die Keimpflanze kann noch im gleichen Jahre den ersten Höhentrieb vollenden. In Schonungen tauchen gar nicht selten so zahlreiche Birkensprößlinge auf, daß sie als Hauptbaumart erscheinen.

Schwebfähig sind auch die Samenkörner unserer deutschen Nadelhölzer Kiefer, Fichte, Tanne und Lärche, und zwar dank einem federleichten, mehr oder weniger windschiefen Flügel, an dessen unterem Ende sie sitzen. Fallen sie aus den Zapfen heraus, was nur geschieht, wenn sie trocken sind, so halten sie durch ihr Eigengewicht den Flügel immer in senkrechter Lage und geben dem Wind so Gelegenheit, ihn von der Seite her zu fassen und eine Strecke weit fortzutragen. Die Drehbewegung, in die sie geraten, weil ihre Tragfläche schief gebaut ist, kommt ihnen beim Flug noch besonders zustatten. Stets fallen sie zu einer Jahreszeit aus, wenn die trocknende Wirkung auf die Zapfen kaum noch von der Sonne ausgeht, vielmehr eine Folge der Winde ist, wenn also auch die Bedingung erfüllt ist, die für die Verbreitung der Samen sorgt. Die Zapfenschuppen sind wassersaugend und schließen sich bei feuchtem Wetter in kurzer Zeit so eng zusammen, daß die zwischen ihnen liegenden Samen dadurch am Ausfall verhindert werden.

Am tollsten belebt ist der Pflanzenflugplatz, wo Pappeln und Weiden versammelt sind, zwei nah miteinander verwandte Bäume. Dort schneit es um Ende Juni herum, wenn sich die Kapselfrüchte öffnen, die üppig mit seidenweichen Härchen bewachsenen Samen hervorquellen lassen und dem Winde anvertrauen. Man muß das Schauspiel gesehen haben, um die gewaltige Samenerzeugung der Weiden und Pappeln für möglich zu halten. Die ganze Luft ist von Fliegern erfüllt, so daß für den einzelnen meist kein Raum bleibt, aus dem Gewimmel herauszusteuern. Die Flugwerkzeuge verfangen sich, und die Insassen schaukeln in ganzen Gruppen nach kurzer Fahrt auf den Boden herab. Oft ist der ganze Waldrand bedeckt von riesigen Klumpen verunglückter Flieger, und wer beim Spaziergang den Spaß erlebt, ins Flugfeld der kleinen Piloten zu kommen, sieht bald seine Kleider mit ihnen besät und hat Mühe, sie wieder loszuwerden. Man braucht ihnen aber nicht gram zu sein. Denn einmal sind die seidenen Schöpfchen so überaus zart und zierlich gesponnen, daß schon ihr Anblick Freude gewährt, und zweitens erinnern sie unwillkürlich an jene anderen zarten Flöckchen, aus denen das Sommerkleid selbst gewebt ist, an Baumwolle nämlich, die in den Tropen ähnlich aus Kapselfrüchten hervorquillt und deren Samen wie die unserer Pappeln ausgezeichnete Flugkünstler sind. Der Pappelhaarschopf ist leider zu weich und allzuwenig widerstandsfähig, als daß er technisch verwertbar wäre.

Bei den Waldbodenpflanzen spielt der Wind als Verbreiter ihrer Samen und Früchte naturgemäß keine große Rolle. Die meisten streuen ihre Samen einfach unter und neben sich aus, sofern sie nicht wie das Bingelkraut, wie der Sauerklee oder wie das Springkraut, im Volksmunde »Rührmichnichtan« geheißen, besondere Schleudereinrichtungen haben. Nur eine bescheidene Anzahl Arten, von denen die meisten auf lichten Waldstellen oder am Waldrand zu treffen sind, vertrauen die Zukunft ihres Geschlechts den wechselnden Launen des Windes an. Der Fichtenspargel gehört dazu, der unter Buchen oder Kiefern im dunklen Waldbodenmoder wurzelt, das Wintergrün im Fichtenwald, die giftige Kuhschelle und die Kratzdistel, Waldweidenröschen und Kuckucksblume.

Die große Mehrzahl der Waldbodenblüher, die uns im zeitigen Frühjahr erfreuen, und neben ihnen verschiedene Gräser, verdanken die Samen- und Fruchtverbreitung dem unermüdlichen Ameisenvölkchen. Entweder ist es ein fettes Öl, das in dem Samen gespeichert liegt, oder irgendein schmackhaftes Anhängsel, was den Tierchen Veranlassung gibt, die Körner zu suchen und im Geschwindschritt ihren Nestern zuzutragen. Nicht allen jedoch gelingt ihre Absicht. Viele verlieren die wertvolle Last beim Überschreiten von Hindernissen oder beim Zusammentreffen mit beutelustigen Raubinsekten, vor denen es schleunigst Reißaus nehmen heißt. Andere fallen auf ihrem Marsche Eidechsen, Kröten und Vögeln zum Opfer oder enden unter der Schuhsohle eines einsamen Wanderers. Und da der Wald oft die Kreuz und Quer von Ameisenstraßen durchzogen ist, auf denen dauernd reger Verkehr herrscht, so braucht die weite Zerstreuung der Samen nicht noch besonders bewiesen zu werden. Im Bau einer einzigen Kolonie der bekannten Roten Waldameise ermittelte ein schwedischer Forscher rund 36 000 Samen, die durch die emsigen Arbeiterinnen während der Vegetationszeit der Pflanzen aus großer Entfernung herangeschleppt waren. Nicht selten sind die Ameisenstraßen förmlich gekennzeichnet durch die Pflanzen, für deren Samen die fleißigen Sammler eine besondere Vorliebe haben.

siehe Bildunterschrift

Stück eines Mistelbusches mit Beeren.

Auf eigenartige Weise verbreitet wird die in manchen Gegenden häufig, in anderen selten erscheinende Mistel, die allerdings nicht auf dem Waldboden, sondern ganz im Gegenteil hoch im Geäste von Waldbäumen wohnt, von Nadelhölzern und Laubholzarten. Sie ist ein immergrünes Gewächs, das namentlich zur Winterszeit auf den kahlen Bäumen auffällig wirkt und deshalb schon bei den alten Germanen in besonderem Ansehen stand. Sie schrieben ihr Wunderkräfte zu, vor allem der Mistel auf trotzigen Eichen (auf denen sie heute bei uns nicht mehr vorkommt), weil sie sich weder den luftigen Standort noch die Erscheinung der grünen Blätter im weißen Winterwald deuten konnten. Wir Heutigen wissen um das Geheimnis. Wir kennen die Mistel als »Halbschmarotzer«, als eine jener wenigen Pflanzen, die einerseits ihren Nahrungsbedarf auf listige Art dem Wirtsbaum entziehen, dem sie in ähnlicher Weise aufsitzen wie ein Pfropfreis dem fremden Wildling, und andrerseits die Fähigkeit haben, sich durch Vermittlung der Blattgrünkörper mit Kohlenstoff aus der Luft zu versorgen. Auch das Geheimnis der Samenverbreitung, kraft deren die Mistel in Baumwipfeln thront, ist uns seit langer Zeit bekannt. Die Pflanze entwickelt beerenartige, in der Regel weiße Früchte mit überaus zähem, klebrigem Fleisch. Im Dezember sind sie ausgereift und bilden dann für verschiedene Drosseln, besonders für die Misteldrossel, unsere größte deutsche Art, ein hochwillkommenes nahrhaftes Futter. Ein Teil der Samen bleibt gewöhnlich mit dem fadenziehenden Fleisch am Schnabelrand der Vögel haften, und wenn sie ihn nach beendeter Mahlzeit an Ästen oder Zweigen wetzen, so sorgen sie, ohne es zu wollen, für die Verbreitung der klebrigen Körnchen. Die keimen alsbald an Ort und Stelle, treiben »Senker« durch die Rinde, bis dahin, wo die Saftströme fließen, aus denen die Mistel sich ernährt, und wachsen im Laufe der nächsten Jahre zu großen Kugelnestern heran.

Es ist aber keineswegs nur die Mistel, die ihre Verbreitung den Vögeln verdankt. Es gibt eine große Anzahl Pflanzen, die gleichfalls fleischige Früchte erzeugen und damit gefiederte Gäste locken. Den listigen Kniff einer Klebstoffumhüllung der Samen kennen sie freilich nicht, brauchen ihn aber auch nicht zu kennen, weil sie keine Halbparasiten sind und deshalb keinen Wert darauf legen, im Wipfel von allerlei Bäumen zu thronen. Genug, wenn Drosseln und andere Sänger die schmackhaften Beeren fleißig verschlucken. Denn da die Verdauung bei diesen Vögeln durchaus ihrem Appetit entspricht, so pflegen die Samen nur kurze Zeit in Magen und Darmkanal zu verweilen und werden im Gegensatz zu dem Fruchtfleisch meist unversehrt wieder ausgeschieden. Höchstens hat der Magensaft ihre harten Schalen etwas erweicht, was aber kein Nachteil für sie ist, vielmehr ihr leichteres Keimen ermöglicht. Wie oft sieht man Büsche auf Mauern grünen, auf Dächern und schmalen Felsgesimsen, wohin sie gewiß keine Menschenhand pflanzte. Sie keimten einfach aus Vogelkot auf, wie viele Tausende ihresgleichen, nur daß sie vor diesen den Vorzug haben, als Wunderbäumchen bestaunt zu werden – von jenen nämlich, denen der Sinn für stille Naturbeobachtung fehlt und die keine Ahnung davon haben, daß Pflanzensamen auf Reisen gehen.

Den größten Gewinn aus der Samenverbreitung durch unsere heimischen Drosselarten, Rotkehlchen und verwandte Sänger ziehen die beerentragenden Sträucher dank ihren meist lebhaft gefärbten Früchten. Rot leuchten die Beeren der Berberitze, des Weißdorns und des Schneeballstrauches, die alle drei die Waldränder zieren. Rot ist die Farbe der Hagebutten, die von den Heckenrosen grüßen. Korallenrot wie Leuchtsignale winken die giftigen Seidelbastfrüchte, die seltsamerweise den Vögeln nicht schaden, und rosarot heben die Samenmäntel des bekannten Pfaffenhütleins sich von der grünen Belaubung ab, besonders auffallend, wenn sie geplatzt sind und die orangefarbenen Samen an kleinen Fädchen heraushängen lassen.

Wir wissen von der Eberesche, dem allbekannten »Vogelbeerbaum«, wie stark gerade rote Früchte auf das gefiederte Völkchen wirken. Wurden doch, ehe aus Deutschlands Wäldern die scheußlichen »Dohnensteige« verschwanden, in denen alljährlich zu Millionen die edelsten Sänger zugrunde gingen, gerade die Beeren der Eberesche als Lockspeise unter die Schlingen gehängt. Angeblich fing man »Krammetsvögel«, aus Nordland zugereiste Drosseln, doch nur die Eingeweihten wußten, was alles sich hinter dem Worte verbarg. Zur Hauptsache wurden die herrlichen Singdrosseln in den Vogelgalgen erwürgt, zu einem beträchtlich kleineren Teil ihre mehr oder weniger nahen Verwandten, Mistel- und Wacholderdrosseln, Rotdrosseln, Ringdrosseln und die Amseln. Die letzte, für die Schlemmerküche ungeeignete Dohnensteiggruppe bildeten Rotkehlchen, Nachtigallen und verschiedene andere Vögel, die nach der Auslösung aus den »Dohnen« in die Büsche geschleudert wurden.

Alle diese Waldsolisten, die hauptsächlich von Insekten leben, sind auf die leuchtend roten Beeren der Waldsträucher ebenso erpicht wie auf die Früchte der Ebereschen und deshalb vortreffliche Samenverbreiter. Sie gehen aber mit gleichem Behagen auch an andersgefärbte Beeren, an die schwarzen des Ligusters, die häufig bis tief in den Winter hinein wie Trauben an den Sträuchern hängen, an die blauen der Heidelbeerbüsche, in Bergwäldern selbst an die Tollkirschenfrüchte, die für den Menschen, der sie genießt, nicht selten tödliche Wirkung haben, den Drosseln aber vortrefflich bekommen. Daß auch die schmackhaften Walderdbeeren von allerlei Vogelvolk gern genommen und gleichzeitig weiterverbreitet werden, versteht sich nach dem Gesagten von selbst.

Wesentlich anders liegen die Dinge bei Früchten und Samen, die nußartig sind, bei Bucheln, Eicheln und Haselnüssen, sowie bei den Samen der Zirbelkiefer. Denn merkwürdig, ausgerechnet die Tiere, die hauptsächlich ihre Verbreitung besorgen, Eichhörnchen, Eichel- und Tannenhäher, sind solche, die sie als Nahrung verzehren, entweder zeitweilig oder dauernd den ganzen Bedarf mit ihnen bestreiten. Das klingt ein bißchen widerspruchsvoll, erklärt sich jedoch auf ganz einfache Weise. Jedem Naturfreund ist bekannt, daß Eichkätzchen in den »fetten« Wochen, wenn Überfluß an Früchten herrscht, nicht nur ihr Bäuchlein gehörig mästen, sondern auch gewohnheitsmäßig für die mageren Wochen sorgen. Sie schleppen Eicheln und Haselnüsse in allerlei heimliche Verstecke oder vergraben sie irgendwo, kurz legen sich Vorratskammern an. Es ist, als wüßten sie aus Erfahrung, daß mit dem Anbruch der Winterszeit eine lange Nacht für sie beginnt und daß sie diese nicht wie die Ziesel in einem Zuge durchschlafen können. Sie sind keine echten Winterschläfer, wie viele ihrer Stammesgenossen aus der Gemeinschaft der Nagetiere; sie erwachen von Zeit zu Zeit aus dem Traum, wenn die Wintersonne ihr Baumnest bescheint, scheiden bei dieser Gelegenheit aus, was die Natur in der Zwischenzeit in der Retorte des schlafenden Leibes an üblen Stoffen zusammenbraute, und spüren dann jedesmal das Bedürfnis, den knurrenden Magen zur Ruhe zu bringen. Viele der eingescharrten Nüsse finden die Hörnchen natürlich nicht wieder, denn so weit reicht ihr Gedächtnis nicht, und diese oder jene Frucht, die an einen guten Ort geriet, erfüllt dann ihren Daseinszweck weitab von dem Standort der Mutterpflanze. Auch sonst verstreuen sie Nüsse und Eicheln, die sie nicht immer vom Zweige pflücken, sondern mindestens ebensooft vom Erdboden aufzunehmen pflegen und dann auf dem Wege zum Lieblingsbaum, beim Aufklimmen oder bei ihren Sprüngen von einem Ast zum andern Ast ganz gegen ihren Willen verlieren. Man weiß ja, wie oft sich zwei neidische Hörnchen im Astbereich eines Baumes jagen, wie oft aber auch die Notwendigkeit, vor einem Feinde die Flucht zu ergreifen, sie plötzlich aus sorgloser Ruhe scheucht.

Aus ähnlichem Anlaß verbreiten die Vögel vom Boden aufgelesene Früchte, der Eichelhäher Bucheln und Eicheln, der Tannenhäher vorzugsweise die großen Samen der Zirbelkiefer, die er mit seinem mächtigen Schnabel zwischen den Zapfenschuppen heraushackt. Auch sie verspeisen ihre Beute nicht immer gleich an Ort und Stelle, sondern fliegen mit ihr davon. Und wenn sie schon leidlich gesättigt sind und irgendein unverhofftes Geschehnis ihre Blicke auf sich lenkt, so lassen sie nach Familiensitte die Früchte unbedenklich fallen. »Hans Huckebein verschleudert nur die schöne Gabe der Natur.« Busch war ein guter Vogelkenner.

 

Waldfeinde

Nicht was lebendig kraftvoll sich verkündet
Ist das gefährlich Furchtbare …
Ein unsichtbarer Feind ist's, den ich fürchte.

 

Das Gegenstück zu diesen Tieren, die unbewußt und unfreiwillig am Aufbau der Lebensgemeinschaft helfen (wenn auch verschiedene von ihnen allerlei auf dem Kerbholz haben, was der Forstmann schwer verzeiht), bilden nun die Tiere des »Abbaus«, die Waldfrevler und die Waldverderber, die zum Insektenreiche zählen. Jeder hat schon von ihnen gehört, zum vollen Bewußtsein der schweren Gefahren, die unsern Wäldern von ihnen drohen, können jedoch nur jene gelangen, die irgendwann einmal Augenzeugen der höllischen Zerstörungskraft waren, die auch den Schwachen innewohnt, wenn sie zu Massen vereinigt wirken.

Eine Reihe von deutschen Ländern, Schlesien und Brandenburg, in Bayern Mittel- und Oberfranken, in Norddeutschland Pommern und Mecklenburg erfuhren es in der neuesten Zeit, als plötzlich die Forl- oder Kieferneule in ihre Nadelholzforste einbrach und in erschreckender Vermehrung gewaltige Kiefernbestände verdarb; die Bayern auch ein paar Jahrzehnte früher, als der Ebersberger Forst, (ein Staatswald mit rund 7700 Hektar geschlossener Waldfläche) östlich von München gelegen, vom Nonnenfalter heimgesucht wurde. 900 000 Festmeter Fichten mußte nach Abschluß der Katastrophe die Forstverwaltung schlagen lassen, weil sie durch Kahlfraß vernichtet waren. Nur noch am Rande grünte der Wald. Im Innern erschien er braun und erstorben, etwa anderthalb Gehstunden weit. Kein Wunder bei der Zahl der Falter, die in ihn eingedrungen waren. Beinahe jeder einzelne Stamm war über und über mit ihnen besetzt, soweit der Blick hinaufreichen konnte, und das auf einer Fläche Wald, die Tausende von Hektaren umfaßte! »Versucht man die Masse der Falter zu schätzen«, schrieb damals der Forstbotaniker Pauly, »so kommt man selbst bei bescheidener Rechnung auf Hunderte von Millionen.« Wurden doch später an einem Stamme 30 000 bis 90 000, einmal sogar 140 000 Nonneneier festgestellt.

Wohl die furchtbarsten Nonnenschäden, von denen die forstlichen Jahrbücher melden, ereigneten sich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts (1845-1868) im westlichen Rußland und den angrenzenden preußischen Regierungsbezirken Königsberg und Gumbinnen. Die von der Verwüstung betroffene Waldfläche nahm schließlich eine Ausdehnung an, die größer war als das Königreich Preußen. Rund 110 Millionen Festmeter Holz an vernichteten Bäumen mußten »eingeschlagen« werden, 96 Millionen davon in Rußland, 14 Millionen in Preußen. In der Nacht zum 29. Juli 1853 fielen die Falter wolkenartig in die Forste um Goldap, Lyck und Angerburg ein, vergleichbar einem Schneegestöber, wie es nicht heftiger denkbar war. Hunderttausende toter Falter bedeckten wie Schaum den Pillwungsee. Die Menge der vom 8. August bis zum 8. Mai des nächsten Jahres allein im Rothebuder Revier gesammelten Eier wog annähernd 150 Kilo und wurde auf 150 Millionen geschätzt, die Zahl der gesammelten und getöteten Falter auf anderthalb Millionen. Trotz dieses gewiß erfolgreichen Feldzugs fanden sich später so riesige Herden junger Nonnenräupchen vor, daß nach Ansicht der Forstverwaltung etwa die Hälfte aller Eier den eifrigen Sammlern entgangen war. Die eben ausgeschlüpften Raupen fielen zuerst die Fichten an und nach deren Kahlfraß die Kiefernbestände. Die überall eingesprengten Laubhölzer, Weiden, Espen, Eschen und Ahorne, blieben vom Raupenfraß verschont, nicht aber auch die Beerensträucher.

Noch schlimmer waren die Nonnenschäden im Jahre 1854. Das Sammeln der Eier war völlig unmöglich, denn nicht nur die Oberfläche der Stämme, die bei der Sammelei im Vorjahr die Rindenschuppen eingebüßt hatten, war förmlich von ihnen eingehüllt, die weiblichen Falter legten die Eier jetzt auch an allerlei Kräutern ab, an Bretterzäunen und Häusergiebeln. So kam ein Raupenfraß zustande, wie er bis dahin nicht erlebt war. Bis zum 27. Juni waren im Rothebuder Revier über 10 000 Morgen Nadelholzbestand kahlgefressen, und anderen 5000 Morgen Wald stand das gleiche Schicksal bevor. Ende Juli waren die meisten Fichten des Reviers ihrer Nadeln beraubt, der Bestand auf über 16 000 Morgen bereits tot. Der Raupenkot, der zuletzt den Waldboden 5 bis 7,6 Zentimeter, stellenweise sogar 15 Zentimeter hoch bedeckte, rieselte ununterbrochen gleich einem heftigen Regen aus den Kronen der Bäume herab. Im Regierungsbezirk Königsberg hatten die Nonnenraupen von 1854 bis 1859 in ähnlicher Weise gehaust, um dann auf das gewöhnliche Maß zurückzugehen. Erst in den Jahren 1867 und 1868 erschienen sie wieder verstärkt auf dem Plan und brachten erneut 100 000 Festmeter Holz zum Absterben. Den Forsten der russischen Ostseeprovinzen kam 1856 ein Naturereignis zu Hilfe. Ein plötzlicher Gewittersturm trieb Millionen und aber Millionen von schwärmenden Nonnen aufs Meer hinaus. Die Leichen der ertrunkenen Falter, die von den Wellen angespült wurden, bildeten zwischen Libau und Windau einen 15 Zentimeter hohen und 70 Kilometer langen Wall.

Mit solcher Begabung zur Massenvermehrung, wie Nonne und Forleule sie besitzen, sind unter den Faltern glücklicherweise nur wenige Waldfeinde ausgestattet. Bloß Kiefernspanner und Kiefernspinner können ähnlich verhängnisvoll werden, wenn die Bedingungen für ihr Gedeihen und ihre Ausbreitung günstig sind. Mäßiger Fraß der Spannerraupen ist forstwirtschaftlich ohne Bedeutung, treten sie aber in Unmengen auf, wie in den Jahren 1892 bis 1896 im Nürnberger Reichswald oder in den Jahren 1900 bis 1910 in Norddeutschland, so zeitigt ihr Kahlfraß die schlimmsten Folgen. Der Schaden, den sie dem Nürnberger Reichswald allein im ersten Jahr ihres Wütens zufügten, belief sich auf 11 000 Hektar Forst. Der größte Kiefernspinnerfraß, von dem wir genaue Kunde besitzen, war der in den Jahren 1862 bis 1872, dessen Mittelpunkt die Provinz Brandenburg bildete. Er erstreckte sich nach Judeich-Nitsche auf eine Gesamtfläche von 2349 Quadratmeilen, innerhalb derer etwa 313 Quadratmeilen über 25 Jahre alte Kiefernbestände bedroht waren. Im Hauptfraßgebiet wurden 41 600 Hektar beschädigt, davon 10 242 Hektar kahlgefressen. Rund zwei Millionen Festmeter »Raupenholz« mußten eingeschlagen werden, und der Gesamtschaden bezifferte sich auf rund 2 360 000 Mark. In neuerer Zeit aber hat man gelernt, auf einfache und doch wirksame Art die Vermehrung des Schädlings in Schranken zu halten. Man läßt durch Probesammeln der Raupen in ihren Winterlagern erkunden, ob für das Frühjahr Gefahr im Verzug ist, und nötigenfalls bringt man an den Stämmen in Brusthöhe breite Leimringe an, um den aus der Nadelstreu kommenden Raupen den Weg nach der Krone abzuschneiden. Teils bleiben sie am Raupenleim kleben, zum größten Teil aber verhungern sie.

Es ist das Verhängnis der Nadelhölzer, daß sie, die durch Insektenfraß an sich schon viel schwerer als Laubhölzer leiden, gerade die schlimmsten Waldverwüster unter ihren Feinden haben. Die Nonne geht zwar auch Laubbäume an, in erster Linie die Buche, doch pflegt ihr Auftreten in der Regel nur dann zu ernstlichen Schäden zu führen, wenn sie auf Nadelbäumen frißt. Wir haben den Hauptgrund schon angedeutet. Es ist nicht dasselbe, ob ein Baum, der die Gesamtmasse seiner Blätter alljährlich durch völlig neue ersetzt, von Schädlingen kahlgefressen wird, oder ob ein Baum, der neue Blätter nur an den jungen Trieben erzeugt, den gleichen Schicksalsschlag erfährt. Von Nonnenraupen entnadelte Fichten gehen fast immer rettungslos ein, weil sie die in Jahren erworbenen Nadeln unmöglich in kurzer Zeit neubilden können, während die Mehrzahl unserer Laubbäume selbst einen wiederholten Kahlfraß verhältnismäßig gut übersteht, sofern sie nicht vorher schon angekränkelt oder hilflose Schwächlinge waren. Ausschließlich oder fast ausschließlich auf Laubhölzern fressende Schmetterlingsraupen sind deshalb (von Ausnahmen abgesehen) selbst dann keine wirklichen Waldverderber, wenn sie zur Massenvermehrung neigen. So wurden im Jahre 1868 auf Rügen die herrlichen Buchen der Stubnitz auf über 2000 Hektar Fläche von Buchenspinnerraupen entlaubt, ohne daß der Wald als solcher, so trostlos er aussah, zugrunde ging. Die schlimmste Folge des Massenangriffs (der sich, nachdem schon im August die Buchen sämtlich entblättert standen, auch auf die Ahorne, Eichen, Haseln und alle anderen kleinen Gesträuche erstreckte) war der Verlust an Holzzuwachs, den später die geringe Breite der Jahresringe erkennen ließ.

siehe Bildunterschrift

Tafel 18
Blühendes Heidekraut im Kiefernforst

siehe Bildunterschrift

Tafel 19
Die Kiefer blüht

siehe Bildunterschrift

Junge Triebe der Kiefer

siehe Bildunterschrift

Tafel 20
Blühende Christ- oder Weihnachtsrose

siehe Bildunterschrift

Ihre Verwandte, die Grüne Nieswurz

siehe Bildunterschrift

Tafel 21
Junger Nachwuchs im Walde.
Oben Goldhähnchen auf dem ersten Ausflug,
unten ein Rotrückenwürger mit Jungen

Auch gegen Borkenkäferfraß, der Nadelhölzer bei starkem Befall und längerer Dauer zum Absterben bringt, sind Laubhölzer wesentlich besser gefeit. So können Eschen, Ulmen und Birken, die von bestimmten, nach ihnen benannten Borkenkäfern heimgesucht werden, die Schädlinge jahrelang ertragen, ohne durch sie den Tod zu erleiden. Sorgen bereiten freilich auch diese und ähnlich wirkende Holzzerstörer dem seiner Pflicht bewußten Forstmann, die Tatsache aber bleibt bestehen, daß so bedeutende Verheerungen, wie Nonnenraupen und Borkenkäfer in Fichtenwäldern, Forleulen, Kiefernspinner und -spanner in Kiefernforsten hervorrufen können, in Laubwäldern nicht zu verzeichnen sind.

Selbst beim Maikäfer, der ein Hauptschädling unter den Insekten ist, fällt die Vernichtung der Blattorgane an den von ihm befallenen Laubhölzern (besonders gern befrißt er Eichen) forstlich nicht allzu schwer ins Gewicht, vor allem nicht im Vergleich zu dem Schaden, den er bei massenhaftem Auftreten (in »Flugjahren«) durch seinen Blätterfraß dem Obstzüchter und den Weinbauern zufügt. Diesen kann er die Ernte verderben, der Forstmann beklagt nur den Zuwachsverlust und noch mehr den Ausfall der Samenernte, der »Mast«, wie der übliche Ausdruck lautet. Viel bedeutender als die Einbuße, die der Käfer selbst verursacht, ist der durch den Wurzelfraß seiner Larven, der Engerlinge, erzeugte Schaden. Junge Pflanzen in Baumkulturen verkümmern und gehen schließlich ein, und wenn die Vermehrung der Wurzelzerstörer in trockenen, nährstoffreichen Böden ungewöhnlichen Umfang annimmt, kann es, wie Escherich sagt, geschehen, »daß ganze Waldungen durch den Maikäfer ihrem Verderb entgegengehen«. Kulturen sind nicht mehr hochzubringen, und auch der natürlichen Waldverjüngung wird durch die Larven ein Ende gemacht. Das Jungholz verkrüppelt, und beim Altholz kündet der Eintritt der Wipfeldürre das allmähliche Absterben an. Während die Vermehrungskurve bei anderen Schädlingen wieder sinkt, nachdem sie am Höhepunkt angelangt war, weil gleichzeitig auch die große Heerschar der Raubinsekten, Parasiten und sonstigen tierischen Waldpolizisten gewaltigen Zuwachs erfahren hatte, kann die Gefahr des Engerlingfraßes jahrelang unvermindert dauern. Die Maikäferfeinde aus der Tierwelt sind leider verhältnismäßig gering, vor allem fehlen die Brutschmarotzer der artenreichen Schlupfwespengruppe, die ihre Eier an allerlei Wirtstiere aus dem Insektenreiche legen, damit sich die Nachkommen von ihnen nähren. Die unterirdische Lebensweise behütet den Maikäferengerling vor solchem schauerlichen Geschick.

Man ist überhaupt sehr leicht geneigt, die Hilfeleistung zu überschätzen, die einem durch schwere Schädlingsplagen in seinem Dasein bedrohten Forst von insektenvertilgenden Tieren kommt. Wohl sind sie Bundesgenossen des Forstmanns im Kampfe gegen das fressende Heer. Wohl wissen wir, daß unser Volksfreund »Star« in ungeheuren Schwärmen anrückt, wenn irgendwo mächtige Fichtenwälder von Nonnenraupen überflutet oder große Laubholzbestände in Maikäfernot geraten sind. Es bedarf nicht erst eines SOS-Rufs, um Vögel aus meilenweitem Umkreis in ganzen Geschwadern heranzuführen. Unaufgefordert sind sie zur Stelle und räumen unter den Raupen und Puppen, Faltern und Käfern gehörig auf. In Kiefernforsten, die ebenso schwer durch die Forleule in Bedrängnis sind, versammeln sich, gleichfalls ungerufen, in Massen die großen Puppenräuber, Laufkäfer, die sonst vereinzelt leben und unter allen ihren Verwandten allein zum Klettern befähigt sind, so daß sie den Raupen der Kieferneulen bis in die Kronen nachsteigen können. Mit ihnen erscheinen winzige Schlupfwespen, die in den Forleuleneiern schmarotzen, Raupenfliegen oder Tachinen, denen entsprechend ihrem Namen die Eulenraupen als Herbergsmütter für ihre Nachkommen dienen müssen, kurzum ein Aufgebot tüchtiger Helfer, reich an Arten und mächtig an Zahl, betätigt sich im gefährdeten Wald. Ein Buch müßte schreiben, wer alle Vögel, die außer den Staren beteiligt sind, alle Schmarotzer- und Raubinsekten, alle Spinnen und Tausendfüßer, alle insektentötenden Pilze, alle Bakterien würdigen wollte, die die Forstleute in ihrem ständigen Kampfe gegen die Waldfeinde unterstützen.

Dennoch, selbst diese vereinigten Kräfte reichen bei Massenüberfällen durch Waldverderber fast niemals aus, um der Zerstörung ein Ziel zu setzen und die bedrohten Bestände zu retten. Wenn beispielsweise die Schädlingsentwicklung durch eine Reihe trockener Sommer und strenger Winter begünstigt war und die Heerschar der Verwüster wie eine Sintflut den Wald überschwemmt (was nahezu die Regel ist), dann können nur rasche und gründliche Mittel die feindlichen Gewalten bezwingen, Mittel, wie eines die neueste Zeit in der Ausstreuung pulverförmiger Gifte vom Flugzeug aus gefunden hat, das dann freilich nicht nur die Feinde des Waldes, sondern auch deren Gegenspieler, wichtigste Glieder der Lebensgemeinschaft, gleich rücksichtslos und in Massen vertilgt. Für Warmblüter, Säugetiere und Vögel, sind glücklicherweise die neuerdings verwendeten Verstäubungsmittel in jeder Hinsicht ungefährlich, und auch den Insekten gegenüber wirken sie rascher, gleichsam schlagartig, im Gegensatz zu den früheren Giften.

 

Der Wald der Zukunft

Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.

Goethe.

 

Ein großer Teil der Insektenschäden, wie wir sie durch Beispiele anschaulich machten, ist zweifellos durch die Gleichförmigkeit des Waldaufbaus verschuldet worden, die ihrerseits wieder veranlaßt wurde durch übersteigertes Nützlichkeitsstreben: möglichst rasch und möglichst billig viel wertvolles Nutzholz zu erzeugen. Bis zum Beginn des vorigen Jahrhunderts galten im größten Teile Deutschlands Eichen und Buchen als wertvollste Hölzer, deren Erhaltung auch den Regierungen ganz besonders am Herzen lag. Dann aber trat eine Wandlung ein, die nach dem Forstwissenschaftler Hausrath, einem der gründlichsten Erforscher der Geschichte des deutschen Waldes, durch folgendes ihre Erklärung findet.

Die ersten Versuche, in Laubholzgebieten Nadelhölzer anzubauen, gingen aus dem Bestreben hervor, für das Eichenbauholz Ersatz zu gewinnen und dadurch eine größere Schonung der Eichenbestände möglich zu machen. Hinzu kam, daß die Bodenkraft infolge der dauernden Laubstreunutzung stark zurückgegangen war und vielfach dem anspruchsvolleren Laubholz nicht mehr zu genügen schien. So wurde planmäßig aufgeforstet, zuerst in den Jahren 1770 bis 1790 und dann von 1815 bis 1830, und jedesmal fielen den Nadelhölzern bedeutende Ödlandflächen zu, die durch die schweren Waldverwüstungen während der Kriege entstanden waren. Mindestens beim Beginn der Aufforstung lag, wie gesagt, die Absicht vor, wieder zum Laubholz zurückzukehren, sobald durch den Anbau des Nadelholzes der Boden genügend gebessert sei. »Das gute Gedeihen«, schreibt Hausrath wörtlich, »das erste Nadelholzkulturen auf alten Laubholzböden zeigen, bestach nun vielfach und führte dazu, den Nadelholzanbau in der Folge auch auf Böden auszudehnen, die sehr wohl für Laubholz geeignet waren. Auch bei den Erstaufforstungen alten Acker-, Weide- und Ödlandes wurden fast nur Nadelhölzer verwendet. So wuchs ihr Anteil an der Waldfläche. Ausschlaggebend aber war die Änderung der Verkehrsverhältnisse durch die Eisenbahnen und der immer weiter greifende Ersatz des Holzes durch die Steinkohle. War um 1800 die Waldwirtschaft in vielen Gebieten noch mit Recht auf die Erzeugung von möglichst viel Brennholz und damit auf die Begünstigung der Buche gerichtet, so drang seit 1830 die Steinkohle immer mehr in Gebiete ein, die bisher nur den Holzbrand gekannt hatten. Die Brennholzzucht und damit der reine Buchenwald lohnte nicht mehr; möglichste Nutzholzerzeugung erschien mit Recht als das Ziel der Forstverwaltungen. Nutzholz aber liefern uns Nadelhölzer in viel größeren Mengen als die Buche und die meisten anderen Laubhölzer. Sie liefern es aber auch in viel kürzeren Zeiten als die Eiche, freilich ohne deren Wert zu erreichen. Zu allem kam dann weiter hinzu, daß die aufblühende Papierindustrie und der sich immer mehr ausdehnende Bergbau schwache Nadelhölzer in großen Massen verlangten und gut bezahlten.«

Aus diesen wirtschaftlichen Gründen breitete sich der Holzartenwechsel in Deutschland weiter und weiter aus und ist auch bis jetzt nicht zum Stillstand gekommen. Zwei Drittel der gesamten Flächen, auf denen deutsche Wälder grünen, sind von Kiefern und Fichten beherrscht. Es war so verhältnismäßig einfach, diese beiden Nutzholzarten gleichaltrig, sauber in Reih und Glied in reinen Beständen anzubauen. Viel Waldbaukunst war nicht nötig dazu und ebensowenig ein Forstpersonal, dessen Ausbildung über den Durchschnitt hinausging. Dagegen war es jederzeit möglich, die Bäume, wenn der Bedarf es verlangte, gleich hektarweise fällen zu lassen (daher die Bezeichnung »Kahlschlagbetrieb«) und die entstandenen öden Flächen nach der erforderlichen Schlagruhe von einem Jahre oder zweien durch Saat oder Pflanzung aufzuforsten. Selbst aus den Stöcken oder Stubben ließ sich noch ein Erlös erzielen.

In Norddeutschland blieb diese Waldbauweise im allgemeinen bis heute in Brauch, in Mitteldeutschland und noch mehr im Süden setzte jedoch vor fünfzig Jahren allmählich ein Umschwung zum Besseren ein. Weitblickende Forstwissenschaftler erkannten, daß die Gleichartigkeit der Wälder und die dauernde Bevorzugung der ertragreichsten Nadelhölzer, zumal in Verbindung mit Kahlschlagbetrieb, dem Walde zum Unheil gereichen mußte, weil sie das Gegenteil dessen war, was seinen Lebensgesetzen entsprach. Die Gefahren durch Feuer, Schnee und Windbruch, vor allem durch Insektenplagen redeten eine zu deutliche Sprache, und was am allerbedenklichsten war: die Bodenkraft sank in vielen Fällen von Jahr zu Jahr immer mehr herab. Wer die Bedeutung der Bodendecke und des in ihr wirkenden reichen Lebens für die Wohlfahrt des Waldes kennt, dem leuchtet ohne weiteres ein, daß ihr die Freilegung großer Flächen durch Abholzung der gesamten Bestockung unmöglich gut bekommen kann. Jahrzehntelang von Bäumen durchwurzelter und von ihnen beschatteter Boden, der plötzlich schutzlos dem Witterungswechsel mit seinen schroffen Gegensätzen Hitze und Kälte, Trocknis und Nässe für längere Zeitdauer ausgesetzt wird, büßt seine Leistungsfähigkeit ein.

So ging man in niederschlagsreichen Gebieten, in den Vogesen und im Schwarzwald, hier und da auch in bayerischen Wäldern, zu einer neuen Wirtschaftsform über, die wesentlich von der bisherigen abwich und unter dem Namen »Femelbetrieb« oder »Plänter-« (Blender-) Wald bekannt ist. Kahlschläge gibt es dabei nicht, auch keine Gleichaltrigkeit der Bestände. Alle möglichen Altersstufen vom Jährling bis zum hiebreifen Baum werden einzeln, horst- oder gruppenweise auf derselben Fläche gemischt und dauernd in dieser Mischung erhalten. Gefällt werden nur die ältesten, stärksten sowie die schlechtgewachsenen Stämme und solche, die irgendwie schadhaft sind. Doch erst nach bestimmten Umlaufzeiten, in der Regel nach fünf bis zehn Jahren, werden die Fällungen wiederum auf der gleichen Fläche vorgenommen. Wo sich Bestandslücken nicht von selber durch Samenfall wieder zu schließen vermochten, erfolgt die Verjüngung durch Saat oder Pflanzung. Überall bleibt auf diese Weise die Waldbodendecke frisch und gesund, und die Entnahme der Einzelstämme geschieht fast immer nur im Zeitpunkt ihrer höchsten Gebrauchsfähigkeit. Soweit es irgend möglich ist, mischt man den Nadelholzbeständen geeignete Laubholzarten bei.

Vom Ideal eines wirklichen Waldes, wie ihn nicht nur der Naturfreund erträumt, sondern auch jeder rechte Forstmann mit gründlicher biologischer Schulung als forstliches Hochziel erkennen muß, ist aber auch diese verbesserte Waldform aus mancherlei Gründen noch weit entfernt. Nicht der alte romantische Urwald, mit dem die germanischen Vorväter kämpften, kann das Erstrebenswerte sein. Überall, wo Kulturmenschen wohnen, ist seine Zeit für immer vorbei. Der Kulturmensch braucht Nutzholz für tausend Zwecke, braucht es als Lebensnotwendigkeit tagtäglich in unvorstellbarer Menge, und dieser Riesenholzbedarf ist nur durch geregelten Nutzungsgang aus den vorhandenen Wäldern zu decken. Was wir ersehnen, mit Recht ersehnen, das ist ein Wald, der sich wie sein Urahne dauernd aus eigener Kraft erhält, sich von Natur aus selbst erneuert und von den Menschen nichts weiter fordert, als daß sie ihm dazu die Möglichkeit lassen. Ein Mischwald, versteht sich, kein Einheitsforst aus Kiefern, Fichten oder Buchen, höchstens mit Einsprengseln hier oder dort, sondern eine Lebensgemeinschaft im weitesten Sinne des Begriffs, ein Lebewesen höherer Ordnung, das keinen andern Gesetzen gehorcht und keinen zu gehorchen braucht als den ihm eingeborenen.

Dank einem genialen Forstmann, dem früh verstorbenen Alfred Möller, Oberforstmeister und Direktor der Eberswalder Forsthochschule, wissen wir, daß dieser Vollwald der Zukunft, der »Dauerwald«, wie er ihn nannte, allgemein zu verwirklichen ist. Ausgehend von einem Sonderfall, in dem ein Privatmann, Fr. von Kalitsch, aus forstmännisch praktischer Überlegung in seinem Kiefernwaldbesitz auf Bärenthoren bei Dobritz in Anhalt die Wirtschaftsweise des Dauerwaldes bereits erfolgreich durchgeführt hatte, begründete Möller wissenschaftlich die dort gewonnene tiefere Einsicht und baute den Dauerwaldgedanken zielbewußt zum Wirtschaftsplan aus. In vielem decken die Leitsätze Möllers sich mit den bewährten Erfahrungssätzen, die für den Plänterwald maßgebend sind. Neu aber ist das letzte Ziel, zu dessen Begründung er sie (1920) aufstellte: die dauernde Gesunderhaltung dessen, was er als »Waldwesen« bezeichnete, das heißt der Gesamtheit der pflanzlichen und tierischen Kräfte, die im Walde wirksam sind.

»Jeder einseitige Eingriff in das Waldwesen«, schreibt Möller wörtlich, »sei es Züchtung eines starken Wildstandes, Eintreiben von Weidevieh oder Streuentnahme, sei es Läuterung mit Aushieb der Weichhölzer, Hochdurchforstung oder Lichtschlag oder irgendeine andere Form der Holzentnahme – jeder Eingriff verändert das Waldwesen, indem er das Gleichgewicht der zahllosen miteinander in Wechselwirkung stehenden Faktoren oder Organe verschiebt. Da wir solche Verschiebungen zur Erfüllung unseres Hauptzwecks, der Holzernte, dauernd vornehmen müssen, so sollen sie jedesmal möglichst mäßig sein, denn Stetigkeit ist der Gegensatz von Plötzlichkeit. Da wir bestimmte Mengen Holz jährlich ernten wollen und müssen, so wird die Stetigkeit um so besser gewahrt, auf je größere Fläche wir die Nutzung verteilen, und das Ideal ist und bleibt die von Kalitsch so einfach ausgesprochene, sich selbst gegebene und dann auch befolgte Vorschrift: Durchforste deinen ganzen Wald alljährlich und verteile die Holzernte auf die ganze Fläche deines Wirtschaftsgebiets. So wird die Stetigkeit des Waldwesens am besten gewahrt.« Und an einer anderen Stelle: »Das Holz muß geerntet werden als Frucht des Waldes, der Wald aber muß bleiben.«

Natürlich ist Dauerwald immer Mischwald, aus Licht- und Schattenhölzern bestehend, denn nirgends gibt es in Deutschland Boden, der nur eine Holzart zu tragen vermöchte. Die bestandesgeschichtliche Forschung wies nach, daß überall dort, wo mangelnde Einsicht auf großen Flächen reine Bestände einer bestimmten Holzart schuf, früher neben den bevorzugten andere Arten gediehen sind. »Wer Dauerwaldwirtschaft treiben will, der wird in seinen reinen Beständen jeden alten Mischholzrest, gleichviel von welcher Art er sei, sorgsam erhalten und zur Samenertragsfähigkeit heranpflegen.« Vor allem redet Alfred Möller der Buche, der »Mutter des Waldes« das Wort, die durch den reinen Nadelholzanbau an vielen Orten vertrieben wurde, obgleich das Nadelholz ihrer bedarf. Sie mehrt nicht nur die Erzeugung der Kiefer und gibt ihren Selbstertrag noch dazu, sie trägt auch als Fichten-Gesellschafterin zur Besserung des Bodens bei und übt so auf die Gesundheit des Waldwesens einen wohltätigen Einfluß aus. Wie sie für den Dauerwald nötig ist, so dürfen ihm auch die anderen Holzarten unseres deutschen Waldes nicht fehlen und ebensowenig die reiche Strauchflora, die bei der heutigen Betriebsform völlig mißachtet zu werden pflegt. Wo werden, fragt Möller, in einem Walde der wilde Obstbaum, die Mehl- und Elsbeere, Pfaffenhütchen und Kornelkirsche, Schwarzdorn und Weißdorn angebaut? »Viel wird bereits gewonnen sein, wenn der Dauerwaldwirtschaftler seinen Wald bis in den letzten Winkel hinein nach seltenen Hölzern und Sträuchern durchsucht und deren jedes einzelne Stück wie ein Naturdenkmal erhält, immer bedenkend, daß jede Art das lebende Waldwesen mehr vervollständigt und eine Rolle in ihm spielt.«

Erschöpfung des Bodens ist ein Zustand, den der Dauerwald nicht kennt. Wie die natürliche Verjüngung für ihn nichts anderes bedeutet als eine Lebensäußerung nach ewigem Naturgesetz, so bleibt auch sein Boden dauernd gesund. Waldboden und Holzbestand sind nicht Teile, die jeder für sich bestehen können. Unlöslich sind sie einander verbunden, in dauernder lebendiger Wirkung beeinflussen sie sich gegenseitig. Solange der Holzbestand gesund ist, kann auch der Boden nicht leidend sein. Erfahrung und Wissenschaft sind darin einig, daß bei naturgemäßer Wirtschaft der Entzug mineralischer Nährstoffe durch die jährliche Holzentnahme zu keiner Erschöpfung des Waldbodens führt, solange der Wald nicht an der Erzeugung neuen Nährstoffs gehindert wird. Kahlschlag und Laub- oder Nadelstreunutzung sind beim Dauerwald ausgeschlossen. Gesund ist die Tätigkeit eines Bodens, der seine sämtlichen Abfallstoffe in Jahresfrist zur Verwesung bringt.

Leider war die Zeit seit dem Kriege dem Dauerwaldgedanken Möllers und seiner Durchführung wenig hold. Man scheute vor Versuchen zurück, deren Ausgang sich erst nach vielen Jahren mit Sicherheit voraussehen läßt. »Kahlschlagwirtschaft«, schrieb Möller selbst, »ist ein breiter, bequemer Weg, und ihrer sind viele, die darauf wandeln. Dauerwaldwirtschaft ist ein schmaler, steiler, dornenvoller Pfad, und wenige sind es, die sich auf ihm mühen. Es winkt ihnen aber ein hohes Ziel: die nachhaltige Erhöhung der heimischen Holzerzeugung.« Und noch eins, fügen wir hinzu, das wahrlich nicht geringer ist: die Wiedergeburt des deutschen Waldes! Ein fruchtbarer, genialer Gedanke, der gleich bei der ersten Veröffentlichung im forstwirtschaftlichen Blätterwalde ein hundertstimmiges Echo fand und dessen Name zum Schlagwort wurde, das nun als solches den Weckruf Möllers weiter und immer weiter trägt – ein solcher aufrüttelnder Gedanke, bei dem es um unser Vaterland geht, ist in seiner Wirkung nicht aufzuhalten.

Die Zeit der gedrillten Nadelholzforste, in denen die jetzigen Generationen seit ihrer Kindheit gewandert sind, geht langsam ihrem Abschluß entgegen. Die Zeit des neuen Wirtschaftswaldes, des Dauerwaldes, kündet sich an. Die heute erblühende deutsche Jugend wird einmal wirkliche Mischwälder sehen und stärker noch als wir Älteren spüren, daß Waldvolk-Blut ihre Adern durchpulst.


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