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Die Verteilung der Erde

Chlodwig Fürst zu Hohenlohe löste den scheidenden Grafen Caprivi ab. Auf seine Eignung zur Führung der Kanzlergeschäfte hatte Philipp Graf Eulenburg den Kaiser hingewiesen, als der Abschluß der Kanzlerkrise so völlig anders ausfiel, als das »Konsortium« der drei Eulenburg um den Herrscher erwartet hatte. Fürst Hohenlohe, ein Grandseigneur aus einstmals selbst regierendem Hause, war noch ein Mann der alten Schule, dennoch ein Geist von weitem Überblick auch über die Zeit, in die der Kaiser ihn als Führer stellte.

»Hohenlohe ist katholisch«, hatte Graf Eulenburgs Gutachten gelautet, »aber durchaus nicht ultramontan, eher liberal als konservativ. Caprivi kennt die Süddeutschen nicht, Hohenlohe nicht die Norddeutschen.«

Staatsgeschäfte waren dem neuen Kanzler nicht fremd. Er war bayrischer Ministerpräsident gewesen, hatte das Deutsche Reich mitaufbauen helfen, in Frankreich saß er einst als Botschafter, in Elsaß-Lothringen als Statthalter. Sein Name hatte guten Klang in Deutschland und im Auslande. Er war ein kleiner, alter Herr geworden, als der Kaiser den Fünfundsiebzigjährigen rief; sein gut geschnittener Kopf zeigte ein längst verwittertes Gesicht, darin aber kluge Augen von außerordentlicher Liebenswürdigkeit und wirklichem Wohlwollen strahlten. Etwas von der gern brillierenden Art des achtzehnten Jahrhunderts umgab ihn. Er liebte die feinen, geistvollen Prägungen, schnell gefundene Aphorismen, die er häufig französisch faßte. Im Jagdschloß Letzlingen, wenn der Kaiser Gäste hatte, pflegte zum Ende des Diners ein Pokal aus mächtigem Hirschgeweih zu kreisen, ein Geschenk Friedrich Wilhelms IV., den jeder Neuankömmling mit einem Vers hochheben mußte, bevor er trank. Fürst Hohenlohe sprach wie ein plötzlich herverwehter Kavalier des Rokoko, von dem auch seine Bewegungen manches hatten:

»Vive la chasse et ses loisirs –
C'est le plaisir des rois
Et le roi des plaisirs« – –

Er liebte die gepflegte Form, zog immer die möglichen Kompromisse dem zweifelhaften Ausgang von Kampf und Schärfe vor. Er war selbst mit den bodenständigen, schwer zu behandelnden Alemannen im Elsaß ausgezeichnet ausgekommen. In das Reichskanzlerhaus brachte er überdies die Abgeklärtheit des hohen Alters mit. Er sah Menschen und Zusammenhänge voll Nachsicht und alle Zusammenhänge menschlich. Auch für die Dinge der Politik, deren Richtung er nunmehr auffangen und bestimmen sollte, hatte er oft nur die leise, überlegene Ironie des Wanderers durch ein langes vielbefrachtetes und oft durchschautes Leben. Er nahm sie mit philosophischer Heiterkeit.

»Es sind mir verschiedene Daten vorgeschlagen worden für die Wahlen«, setzte er einmal dem Kaiser auseinander, »die alle im Frühjahr liegen. Ich habe aus meiner langjährigen Erfahrung den Schluß gezogen, daß das Frühjahr für derlei Dinge unpraktisch ist. Im Frühjahr steigen die Säfte und kreisen in den Menschen, Pflanzen und Tieren, und die Leute sind sehr tatenlustig und unternehmend und infolgedessen sehr aufgeregt und halten viele Reden und machen viel Lärm. Ich schlage den Herbst vor. Nach der Ernte, da haben sich die Leute ausgetobt, haben ihre Kräfte verbraucht und dann sind sie viel gesetzter in der Beurteilung politischer Fragen.«

Ein Kanzler für Kampf und Staatsstreich war Fürst Hohenlohe nicht.

Ihm war es recht, daß über die Pläne des Grafen Botho Eulenburg zu einem »Umsturzgesetz« schließlich doch der mildere Entwurf des Grafen Caprivi triumphiert hatte. Auch ihm schien es genug, wenn die bestehenden Bestimmungen des Strafrechts gegenüber Umstürzlern verschärft wurden. Sein freiheitliches Denken beunruhigte es gewiß nicht, daß sowohl das viel besprochene »Umsturzgesetz« im Reichstag ebenso Schiffbruch litt, wie die Bemühungen der Konservativen, wenigstens ein »kleines Sozialistengesetz« im preußischen Landtag zu erzwingen. Von seiner ruhigen Einsicht, von seinem Entschluß, im Inneren keiner Politik auf Biegen oder Brechen zuzustimmen, schon weil er daraus ein Chaos für Deutschland durch die Haltung mutig werdender Nachbarn fürchtete, von seiner Milde aus Vernunft und Abneigung gegen Gewalt ließ er sich nicht durch das Feuer der Generale, nicht durch den kampflustigen Kriegsminister von Goßler, noch durch den wieder auftauchenden General Graf Waldersee abbringen.

Als Kommandeur eines Armeekorps hatte Graf Waldersee in Hamburg wenig Abwechslung, wenn er nicht gerade einmal in das nahe Friedrichsruh fuhr, um dort mit dem Fürsten Bismarck festzustellen, daß beide keine Verstimmung mehr trennte. Bei den Manövern in Rohnstock hatte Graf Waldersee als Chef des Generalstabs einmal versucht, den Kaiser einer scharfen Kritik darüber zu unterziehen, wie er sich als Korpsführer bei dem Kriegsspiel betätigt hatte. Pfiffige Überlegung hatte dem stets überklugen General den Gedanken eingegeben, die sichtlich schwindende Gunst des Kaisers, der bisweilen auch Schmeicheleien mit einem harten Wort zerriß, auf umgekehrte Art sich neu zu sichern. Erst hatte Kaiser Wilhelm die Kritik ruhig angehört, obgleich heiß in ihm die Taktlosigkeit des Generals brannte, der sich den Augenblick seines Mannesmutes gerade vor den Gästen des Kaisers, vor Kaiser Franz Joseph und seinem Gefolge ausgesucht hatte. Dann hatte der Kaiser, was die militärischen Einzelheiten betraf, ihm recht gegeben, gleich darauf aber das Wort als Oberster Kriegsherr an sich genommen und festgestellt, daß der Chef des Generalstabes seinen Offizieren unlösbare Aufgaben stelle, wodurch er ihre Kampfkraft schwäche. Der bestürzte Graf Waldersee schrieb den Hergang des Zwischenfalls sorgsam, aber anders in sein Tagebuch, indes ihm der Kaiser die zweifellose Bloßstellung vor dem Bundesgenossen mit der Abberufung aus dem Generalstab und dem Kommando nach Hamburg vergalt. Vier Jahre waren nach dem psychologischen Mißgeschick des Grafen Waldersee inzwischen verflossen: nunmehr sah der General in der Anfeuerung des kaiserlichen Herrn zum Kampf gegen die Sozialdemokratie den Rückweg zur kaiserlichen Gunst. Aber was er dem Kaiser auch schrieb, was er mit den Konservativen besprach, was er immer tat, um doch noch selbst als Reichskanzler die deutschen Geschicke ordnen zu können: weder der Kaiser, noch Fürst Hohenlohe waren zu wirklicher Kampfentscheidung zu bringen. Auch Fürst Hohenlohe machte Tagebuchaufzeichnungen:

»Ich weiß, daß eine Anzahl Politiker und hoher Streber darauf ausgehen, mich bei Seiner Majestät zu diskreditieren. Sie wollen einen anderen Reichskanzler und geben vor, daß es einer energischen Aktion bedürfe … Ich selbst gehe jeden Augenblick, wenn Seine Majestät jene Wege beschreiten will – –«

Im Ernst dachte der Kaiser an »jene Wege« nur, solange nicht die ausschlaggebende Entscheidung über Machtanwendung und Staatseingriff zu treffen war. Gewiß wollte er das Einschnüren jeder Möglichkeit zum Umsturz. Sein Temperament fand vor seinen Generalen, vielleicht vor allzu demütig sich beugenden Ministern oft Worte der Drohung und des Überschwangs. Natürlich war er dabei überzeugt, daß solche Worte bei den Generalen oder bei dem Minister blieben. Aber sie nahmen sie meist als Merkblatt für weitere Karriere auf und warben mit ihnen, um der Majestät zu dienen. War der Augenblick der Entscheidung dann aber unweigerlich und unmittelbar da, sprach eine andere Stimme aus dem Kaiser. Die Verfassungsänderung schien ihm nur möglich, »wenn aus dem Volke, aus dem Parlament heraus der bezügliche Wunsch an ihn herantrete« – –

Dem Kanzler grollte Wilhelm II. heftig und oft wegen seiner Nachsicht gegen die »Umsturzgefahr«. Aber von dem gleichen Fürsten Hohenlohe sprach er doch zu seinen Nächsten, wenn sein Zorn gegen die Sozialisten sich ausgetobt, wenn der Fürst mit Rücktrittgesuchen kam, halb scherzhaft, halb im Ernste:

»Ich mußte mir doch einen alten Herrn zum Kanzler nehmen, denn der muß ja den jungen Herrn in seinem bekannten Temperamente zügeln« – –

Der alte Herr schien nicht nur wichtig für Deutschlands innere Ruhe im Augenblick, für den Zusammenhalt des Reiches, dessen ganzer Süden seinem guten Namen, seiner Vergangenheit vertraute. Sein Ansehen, seine Welterfahrung, das Anziehende und Ausgleichende seiner Persönlichkeit wirkte auch auf Deutschlands Beziehungen im Auslande zurück. Den Franzosen hatte die wirkliche Würde, die große Verbindlichkeit, das ganze Auftreten des Botschafters gewissen Eindruck gemacht. Wenn Königin Victoria von England von ihm sprach, so nannte sie ihn nur »my cousin«. In Rußland war der Fürst begütert. Er war nicht übermäßig reich. Der Kaiser mußte ihm aus seiner Privatschatulle die Kanzlereinkünfte erhöhen helfen. Es war auch nicht zweifelhaft, daß sein russischer Besitz seine Wünsche noch festigte, auf alle Fälle gut mit Rußland zu stehen. Um das Gut zu sichern, hatte er einen seiner Söhne in den Dienst des Zaren wollen eintreten lassen. Auch hier sah er, für sich selbst wie für die anderen, die Dinge und Zusammenhänge menschlich. Das Verhältnis mit Rußland war schlecht. Alexander III. war eben gestorben. Auch ohne sein Landgut hätte er nach seinen Überzeugungen alles getan, um die russischen Beziehungen zu bessern. Er war ein Mann der Versöhnlichkeit. Sein Blick ging vor allem nach Osten.

Gerade dies war Kaiser Wilhelm II. recht.

 

Den Zarewitsch Nikolaus hatte der Kaiser schon zu gewinnen versucht, als er – noch war es kein Jahr her – nach Koburg zu Verwandtenbesuch kam. Königin Victoria hatte sich dort mit der Kaiserin Friedrich, mit dem Großfürsten Wladimir, mit der Großfürstin und der Prinzessin Alix von Hessen getroffen. Der Zarewitsch war nach Koburg auf Brautwerbung gekommen, bedrückt und eingeschüchtert durch den väterlichen Befehl, nur dann die Werbung um die hessische Prinzessin auszusprechen, wenn er vorher die unbedingte Gewißheit der Annahme hätte. So sprach der Zarewitsch überhaupt nichts.

Kaiser Wilhelm stiftete die Ehe. Er tat es nicht aus eigenem Antrieb, vielmehr auf Kaiserin Friedrichs Wunsch und nicht zum unbedingten Entzücken der alten Königin von England. Den russischen Thronfolger und Prinzessin Alix führte er mit sichtlichem Takt zusammen. Die einzigen, doch schweren Bedenken der deutschen Prinzessin lagen in dem von ihr befürchteten Glaubenswechsel, wenn sie Russin wurde. Der Zarewitsch erklärte dem Kaiser sogleich: »Sein Vater wie er seien gegen jedes Abschwören oder Bekehren. So etwas werde von der Prinzessin nicht verlangt werden. Wenn sie den orthodoxen Ritus annehme, so erhalte sie etwas zu ihrem evangelischen Glauben hinzu, nicht aber etwas an seinerstatt, was ihn beseitigen oder ersetzen solle. Die Kaiserin Charlotte habe den orthodoxen Ritus befolgt, sei aber ›dans son for intérieur‹ stets Evangelische geblieben und auch als solche gestorben.« Die russische Brautwerbung endete ohne Korb. Der Kaiser nahm sie als ein Unterpfand herzlicher Verwandtschaft. Wenn er ehrlich sein wollte, glaubte er sogar an ein Zeichen politischer Vorbedeutung. Mit Alexander III. konnten vielleicht die Vermächtnisse alten Ärgers und alten Mißtrauens ins Grab sinken. Der Zar litt an schwerem, hoffnungslosem Nierenleiden. Nikolaus II. war die nahe russische Zukunft. Den Zarewitsch wollte Kaiser Wilhelm gewinnen. Der Thronfolger liebte die hessische Prinzessin nicht mit den Bindungen der Staatsraison: von Anbeginn war er ihr leidenschaftlich, fast hypnotisch verfallen. Überglücklich umarmte er den Kaiser:

»Du hast mein Lebensglück gegründet … Das werde ich Dir mein Leben lang nicht vergessen … Du wirst im Leben stets fest auf mich zählen können« – –

Auch die künftige Kaiserin von Rußland riß das Gefühl des Augenblickes fort:

»Ich werde es nie vergessen, daß ich Dir mein Lebensglück verdanke« – –

Nikolaus II. war inzwischen schon der neue Zar geworden. Ob die Zukunft mit Rußland nur darum Gutes brachte, weil ein Zar den andern ablöste, wagte Kaiser Wilhelm noch nicht zu entscheiden. Im Innersten zog es ihn zu England. In Koburg hatte ihn Nikolaus II. seiner Dankbarkeit für sein ganzes Leben versichert. Klarheit über Annäherungsmöglichkeiten zwischen Rußland und Deutschland mußte sich sehr bald einstellen.

Trotz des Mißtrauens, das der Herrscher gegen alles Russische nie los wurde, trotz der inneren Zweifel, die in ihm auch, was Nikolaus II. betraf, noch nach der Koburger Brautwerbung blieben, schlug Kaiser Wilhelm in der äußeren Politik jetzt den Weg nach Rußland ein. Er sah dabei ein einziges Endziel: England.

 

Über Unruhen, die in Korea ausgebrochen waren, entbrannte der japanisch-chinesische Krieg von 1895. Japan war im Angriff, obgleich es selbst die Unruhen durch die Ermordung der koreanischen Kaiserin zum Höhepunkt hinaufgesteigert hatte. Denn die Festsetzung auf dem asiatischen Kontinent, der längst erstrebte Einfluß, den die Japaner auf die Ausbeutung der noch ungehobenen, noch ungemessenen Schätze Chinas gewinnen wollten, war der Grund des Krieges. China wurde geschlagen. Doch wiewohl dies eine Auseinandersetzung war, die zunächst nur die beiden Mongolenvölker anging, geriet halb Europa in Unruhe. Wenn Japan sich wirklich auf asiatischer Erde festsetzte, so bedeutete die vollzogene Tatsache für Rußland, daß ein Riegel vor seine Wünsche auf Port Arthur, auf die Mandschurei, bis tief nach China geschoben wurde. Für England bedeutete sie, daß viel von seinem chinesischen Handel verlorengehen konnte. Deutschland sah eine neue Gelegenheit, daß Japan, Rußland, vielleicht noch andere abermals an einen Landerwerb schritten, indes es selbst – wie bisher fast immer – leer ausging. China rief die Vermittlung der europäischen Mächte an. Das Signal war damit gegeben, sich um die Wiederherstellung friedlicher Beziehungen zwischen den kämpfenden Völkern mit jener Aufrichtigkeit und Moral, mit jener Selbstlosigkeit zu bemühen, die diesem ganzen Zeitalter der Verteilung der Welt bei allen Kulturvölkern eigen war.

Immerzu ziehen im Endjahrzehnt des 19. Jahrhunderts Pioniere und Truppen, verkappte wissenschaftliche Expeditionen und Handelskompanien in Asien und Afrika umher, mit rastlosem Eifer auf dem Festland und auf allen Inseln, auf denen es sich lohnt: es ist die Zeit, da eingeborene Stämme mit Feuer und Eisen, mit Glücksgütern und Alkohol der Zivilisation gewonnen, Goldgruben und Diamantenfelder unter die segensreiche Aufsicht der gesitteten Menschheit gestellt, Länder verschenkt werden, die den Schenkern nicht gehören, weil sie selbst inzwischen andere Gebiete unter der Rechtsbilligung der Beschenkten besetzen wollen, denen gleichfalls gar keine Rechtsansicht über die besetzten Landstriche zusteht.

Es ist das Zeitalter der »Kompensationen«. Wenn irgendein Staat sich etwas nimmt, soll auch ein anderer Staat sich irgend etwas nehmen dürfen. Die Kompensation erfüllt die Epoche, in der nur der eine um seine Willensmeinung nicht befragt wird, mit dessen Gut die Kompensation gewährt wird. Christliche Völker einer alten Kultur und Zivilisation plündern und stehlen, brennen und morden. Ihre christlichen Zuschauer billigen die Plünderung, wenn der Plünderer auch ihnen die Plünderfreiheit gewährt. Faustrecht und Raubritterwirtschaft sind politische Moral geworden. Staatsmänner verhandeln in gepflegten, verbindlichen Formen über alle Ausstrahlungen, unter denen gemeiner Raub gerecht in eine neue, staatliche, von allen anerkannte Gesetzmäßigkeit übergeleitet werden soll. Keine Macht gönnt der andern ein asiatisches Dorf oder einen Weideplatz in Afrika. Der japanische Gesandte auf Korea läßt die Kaiserin niederstechen. Japan führt darum Krieg mit China. Was Japan will, weiß jeder. Daß China vergewaltigt wird, wissen gleichfalls alle. Groß ist die Erregung der europäischen Kabinette, die Japan die Festsetzung auf asiatischem Boden nicht gönnen. Schon deshalb nicht, weil sogleich der Schrei nach Kompensation sich erheben wird.

Erst will England den bedrängten Chinesen helfen. Eine Flottendemonstration, ein Schritt der Großmächte soll die Japaner zur Vernunft bringen, die so hochmütig sind, daß sie den Besiegten nicht einmal die Friedensbedingungen nennen wollen. Aber England ist vorsichtig, vielleicht braucht es Japan noch einmal. Aus dem gemeinsamen Vorgehen der Kabinette, aus einer Flottendemonstration gegen Japan wird bald nur eine Warnung, der Rußland sich anschließen will. Die deutschen Staatsmänner zeigen plötzlich nicht oft beobachteten, sehr rücksichtsvollen Takt: sie wollen weder bei Japan, noch bei China anstoßen. Dem beabsichtigten Schritt der Mächte schließen sie sich nicht an, der Schritt unterbleibt. Die japanischen Soldaten marschieren weiter, die Chinesen rufen abermals um Hilfe. Rußland, Frankreich und England raten dem Sieger, doch endlich seine Friedensbedingungen zu nennen. Dabei läßt Deutschland die drei Mächte erst allein gehen. Gleich darauf treibt es freilich Ostasienpolitik auf eigene Faust. Vicomte Aoki, der japanische Gesandte in Berlin, hat dem Auswärtigen Amt angedeutet, was Japan von den Chinesen eigentlich will: die Unabhängigkeit Koreas, den Besitz von Formosa, die Halbinsel Liaotung. Überdies Kriegskostenentschädigung. Es ist der Augenblick, die Frage der Kompensationen zu erwägen. So selbstverständlich ist sie, daß es zunächst das Beste scheint, die Japaner von ihren Erobererwünschen abzubringen, damit keiner Kompensationen verlangen könne: Deutschland warnt Japan. Die Antwort der Japaner ist höflich, sie tun weiter, was ihnen beliebt. Rußland ist indes sehr unruhig geworden. Sein nächster Gedanke ist Krieg mit Japan. Aber Rußland ist ohne Rüstung, auch ohne Flottenbasis in Ostasien. Überdies halten die Russen zurück, weil sie nicht wissen, was England will. England will ausnahmsweise gar nichts. Alle englischen Kaufleute in China haben die Überzeugung, daß die Japaner den Handel in China nicht unterbinden, sondern noch fördern werden. Sichtbar wird jetzt auch in Deutschland, daß die Japaner sich weder aufhalten, noch ganz um die Beute ihres Sieges sich bringen lassen: das Problem der Kompensationen rückt immer näher.

Kontreadmiral von Tirpitz hat Kaiser Wilhelm vom Ostasiengeschwader aus berichtet, daß die Halbinsel Kiautschou ein wünschenswerter Erwerb wäre, wenn Deutschland sich nach dem so nötigen Stützpunkt in Ostasien umsehe. Der Kaiser hatte selbst erst an das gleiche Formosa gedacht, das eben die Japaner wollten. Er teilte die Auffassung aller in diesem Zeitalter. Wenn jedes Volk von allen Seiten an allen Plätzen nahm, was nur irgendeinem anderen Volk gehörte, so war Kaiser Wilhelm in vollem Recht, daß Deutschland nicht allein immer vergessen werden sollte. Dazu war sein Handel zu groß geworden, zu viele deutsche Güter schwammen schon auf den Meeren.

Der Kaiser dachte an einen Erwerb im großen Überblick. Die Einzelheiten der Verständigung mit den anderen Mächten regelte der Geheimrat von Holstein. Briefe zwischen ihm und dem Grafen Hatzfeldt wanderten hin und her. Lord Kimberley, der in der Außenpolitik kürzlich Lord Rosebery abgelöst hatte, Lord Kimberley, mit dem Graf Hatzfeldt vor wenigen Monaten eine freundschaftliche Aussprache gehabt, um alle die Mißverständnisse zwischen England und Deutschland wieder auszugleichen, sollte dem Grafen Hatzfeldt doch endlich erklären, ob Deutschland auch etwas bekäme, wenn in Ostasien die Lage zur Notwendigkeit von Kompensationen führte. Lord Kimberley antwortete sehr zuvorkommend. Deutschland wolle man gewiß nicht übergehen. Baron Holstein stellte daraufhin die weitere Bemühung ein. Er kümmerte sich nicht weiter um England. Vom Fürsten Hohenlohe wußte er, daß seine Freundschaft Rußland galt. Vom Kaiser wußte er, wie sehr er sich um den neuen Zaren bemühte. Der Kaiser drängte offenbar auf eine neue Annäherung an Rußland. Kaiser und Geheimrat gingen die gleiche Richtung. Verstimmt über England waren beide. Der Kaiser suchte Rußland, um durch die drohende Möglichkeit einer nahen Verständigung, die unter Umständen sogar auf Frankreich übergreifen konnte, England zum Schlusse doch zu Deutschland zu bringen. So viel stand fest, daß seine neue Haltung gegen Rußland, die Versuche einer Einflußnahme auf Nikolaus II., sein Verweisen des Zaren auf Ostasien mit allen Mitteln der Phantasie, der Politik, des Rasseninstinktes und selbst der Religion durch einen großen politischen Grundgedanken eigenen Ursprungs bestimmt waren. Baron Holstein träumte vor allem davon, den Zweibund sprengen zu können, wenn er mit Erfolg um Rußland warb. Um England pflegte der Geheimrat in der Regel durch scharfe Tonart, durch einen unerwarteten Keulenhieb zu werben, wie er dies 1893 mit seinen Auffassungen über Ägypten tat. Von England konnte Freundschaft oder ein Bündnis nach seiner Auffassung nur durch kalte, brutale Drohung, durch rücksichtslose Erpressung erreicht werden. Der Kaiser wollte wenigstens die Vision eines Kontinentalbundes erstehen lassen, vor dem England von selbst lieber rechtzeitig zu Deutschland kam. Auch dem Kaiser war es recht, wenn England eine Weile verstimmt war. Deutschland schlug also, ohne sich weiter mit England zu unterhalten, den Russen vor, gemeinsam gegen Japan vorzugehen.

Rußland stimmte nicht sofort zu. Natürlich gab es die deutsche Anregung erst an Lord Kimberley weiter. Sein Erstaunen über Deutschlands Selbständigkeit war groß, indes die Neigung gering, sich für englische Interessen einzusetzen, die der Lord gar nicht bedroht sah. Aber Rußland bedrückten die einbekannten Absichten der Japaner auf Port Arthur. Wenn England sich ausschaltete, war es immer noch besser, mit Deutschland zu gehen, als nur mit dem französischen Bundesgenossen. Die drei Mächte beschlossen eine Aktion. Sie begann ein wenig unsicher. Frankreich war es unbehaglich, gemeinsam mit dem Sieger von 1870 zu marschieren. Freiherr von Marschall begriff nicht ganz, warum die Russen nicht schneller handelten. Er sah ganz Asien in Aufruhr und Umgestaltung: Port Arthur war das neue Gibraltar der Japaner. Sicher war in seinem Auftreten nur Freiherr von Gutschmidt, kaiserlich deutscher Gesandter in Tokio, der es sich nicht nehmen ließ, die Note der drei Mächte an Japan dem Außenminister Hayashi selbst zu überreichen.

Der Gesandte kam zu Marquis Hayashi, wie einst Fürst Bismarck zum Fürsten Gortschakoff gekommen war: in der Hand ein demütigendes Schriftstück, das fremde Interessen verfocht und das Deutschland ohne jede Not dazu für andere überreichte. Vor dem japanischen Minister legte der deutsche Gesandte den größten Wert darauf, seine schroffe Sprache der Tonart siegreicher Generale anzupassen. Damit der Marquis ihn nicht mißverstehe, brachte er ihm, ganz abgesehen von dem Schriftstück der drei Mächte, auch noch den Wortlaut der Geheiminstruktion zur Kenntnis, die der Gesandte aus Berlin erhalten hatte. Marquis Hayashi war verstört, der Gesandte voll Stolz:

»Meine Sprache«, meldete er nach Berlin, »hat augenscheinlich Eindruck gemacht« – –

Noch drangen die drei Mächte mit ihrer Forderung nicht durch, daß Japan auf jeden Festlandsbesitz verzichten, daß es sich lediglich mit einer Geldablösung für den Entgang an Festlandsboden begnügen solle. Japan wandte sich unmittelbar an den Zaren: wenigstens die Südspitze von Liaotung wollte es sich retten, wenn es schon Port Arthur nicht haben durfte. Aber der deutsche Gesandte fand, daß die Japaner sich reichlich viel Gedanken machten, wenn drei Mächte befahlen. Noch einmal bot er, von niemanden darum gebeten, allein gelassen selbst von den am nächsten dabei beteiligten Russen, seine klare Sprache auf. Er forderte Eile. Japan sollte sich unterwerfen. Das Kaiserreich sah daraufhin den Todfeind nicht in Rußland, das um eigene ostasiatische Interessen rang, nicht in Frankreich, das natürlich dem russischen Bundesgenossen zur Seite stand, Japan sah den Todfeind in Deutschland, das diese ganze Angelegenheit gar nichts anging. Mit dem Frieden von Shimonoseki gab Japan dem Drucke eines russischen Ultimatums endlich nach. Die Inseln um Formosa fielen ihm zu und Formosa selbst. Eine Kriegsentschädigung wurde festgesetzt. Vom Festland bekam es nichts – –

Natürlich war die Frage der Kompensationen nunmehr spruchreif. Deutschland hatte dem Zaren geholfen. Frankreich hatte dem Zaren geholfen. Rußland hatte sich für China eingesetzt. Deutschland hatte nicht nur Japan gewarnt, nicht zu viel zu verlangen. Es hatte insgeheim auch die Chinesen wissen lassen, daß zu dem ganzen Vorgehen der Mächte gegen Japan Deutschland den ersten Anstoß gegeben. England hatte den Japanern nichts verwehrt, die Chinesen hatte es nicht zum Nachgeben bestimmt, England hatte wohlwollende Neutralität gehalten. Wenn schon Japan gar nichts erhielt, so war das kein Grund, daß nicht alle anderen für so viele Dienste etwas von China bekamen. Die Mächte überlegten – –

Aber für Deutschland war die Frage der Kompensationen gar nicht das Wichtigste, das sich aus Vorgeschichte und Geschichte des Friedens von Shimonoseki ergab.

 

Die Ereignisse in Ostasien schienen Kaiser Wilhelm eine günstige Fügung, durch die er auf weitem Umweg das Endziel seiner Politik zum Schlusse doch leichter zu erreichen glaubte. Was ihm Freiherr von Brandt, der frühere deutsche Gesandte in Peking, über Chinesen und Japaner, über die nahe Vereinigung aller Mongolen zum Kampfe und zur Vernichtung der Europäer erzählte, nützte er in pathetischer Steigerung aus. Wie immer, so fand er auch diesmal einen eindringlichen, scharf zugeschliffenen Satz, den er vor allem dem Zaren hinüberwarf:

»Völker Europas wahret eure heiligsten Güter« – –

Er malte das Schreckgespenst neuer Völkerwanderungen, das Heranfluten der gelben Rasse in drohendsten Farben, malte sogar ein wirkliches Bild der anrückenden Barbaren, gegen die als erster der Zar mit allen Mitteln aufgerufen werden sollte. Mit seinen Worten steigerte sich Kaiser Wilhelm in die Rolle des neuen Schützers und Herrn der Christenheit. Oft war er sich bewußt, daß er die Wirkung von Theaterszenen an sich riß. Er glaubte daran, daß sie nötig wären, um die Massen oder auch nur einzelne aufzurütteln, die er in bestimmte Richtung bringen wollte. Fast immer blieben seine innersten Absichten dabei nüchtern. Fast nie verließ ihn auch im Pathos, das ihm ein Ausdrucksmittel war, die Berechnung. Den Zaren ließ er in den Tagen, da der Gesandte von Gutschmidt seine Leistung in Tokio vollbrachte, schriftlich wissen, daß er Rußland für jede Unternehmung den Rücken decken wolle, die es in Asien vorhabe. Er drängte ihn förmlich nach Ostasien ab: weil er Rußland vom Balkan, von seinen Westgrenzen in Europa abziehen wollte, weil er für sein Entgegenkommen vom Zaren in Asien Entschädigungen erhoffte und weil die Dienste, die er Rußland erwies, die ihm seinen Herrscher immer näher brachten, England ganz unruhig machen mußten – –

Sein Denken erfüllte ein Kontinentalbund der Festlandsstaaten in Europa. Wenn der Zusammenschluß wirklich zustande kam: um so besser. Von Fall zu Fall reichten Rußland, Frankreich und Deutschland einander tatsächlich die Hand, auch wenn die Franzosen ihr Mißvergnügen darüber nicht versteckten. Vor Shimonoseki waren die drei Mächte zum erstenmal in Einheit aufgetreten.

»Wenn Euerer Majestät das gelingt«, hatte der Chef des Generalstabes von Schlieffen dem Kaiser erklärt, »einmal vor der Welt in derselben Front mit Frankreich und Rußland zu stehen, so ist das ein so ungeheuerlicher Gewinn, daß wir es nur begrüßen können. Denn wir sind auf diese Weise aus der Feuerlinie heraus und nicht mehr Scheibe, nach der geschossen wird« – –

Über Rußland mußte der Weg auch nach Frankreich führen. Sanft oder unter russischem Druck. Der Kaiser wollte positiven Aufbau: allgemeine kontinentale Verständigung, um auf dem Kontinente in Frieden leben zu können, oder das Bündnis mit England, auch wenn der Antrieb dazu in England die Furcht war, oder Deutschlands friedfertiges Dasein zwischen den Kontinentmächten und zugleich England als Bundesgenossen. Er wollte, was der Geheimrat von Holstein negativ anstrebte: Freundschaftsbeweise für Rußland, das Baron Holstein von Frankreich loszureißen hoffte, den Zwang zu langsamem Einschwenken für England, das der Geheimrat mit groben, kalten Einzelschlägen behandelte. Die ganze nächste Entwicklung schien sich günstig in dies Programm zu fügen.

Denn natürlich strömte der Zar unmittelbar nach dem Frieden von Shimonoseki von Dankbarkeit über. Dem Kaiser sagte er seine Unterstützung zu, wenn Deutschland in Ostasien an eine Erwerbung schritte. Ruhig könnte Deutschland seinen Frieden an Rußlands Grenzen genießen. Der Zar garantierte die russische Friedfertigkeit so freundschaftlichen Nachbarn. England mußte nach und nach erkennen, wie folgenschwer sich auf solche Art für das immer vereinsamtere Königreich die Dinge auf dem Kontinent entwickelten. Zumal Kaiser Wilhelm nicht vergaß, die Entwicklung den Engländern auch wiederholt noch zu betonen.

 

Alles lief schlimm und schlecht zwischen den beiden Reichen, seit die zarte Freundschaft aus der Zeit des Reichskanzlers Caprivi zerrissen war. England arbeitete an der Abrundung seines südwestafrikanischen Besitzes. Reibungen gab es, als die Buren endlich die langgeplante Bahn an die Delagoabai heranführten, die ihr einziger Ausgang ins offene Meer war. Sie machte den Seeverkehr der Buren von englischen Häfen unabhängig. Mit großer Feierlichkeit wurde die Eröffnung der Strecke begangen. Deutschland schickte zwei Kriegsschiffe in die Delagoabai. Zweifellos hatten die Engländer Grund zum Ärger, denn ganz unabhängig waren die Buren nicht, auf deren Gebiet zwar der Verkehr aller Staaten völkerrechtlich geregelt war, deren außenpolitische Vertretung aber lediglich England zu wahren hatte. Wo die harten, niederländischen, von deutschen Mischungen stark beeinflußten Kolonialbauern es vermochten, stießen sie gern an England an, dem die starke, innere Unabhängigkeit des Burenstaates recht unbequem war. Den deutschen Kaiser, der schon einmal zum Schutze der 15 000 Deutschen in Transvaal ein paar Torpedoboote in die Delagoabai geschickt hatte, als England seine Truppen durch das portugiesische Randgebiet marschieren lassen wollte, ließ der Burenpräsident in einem Trinkspruch zum kaiserlichen Geburtstag hochleben. Gereizt beschwerten sich die Engländer bei der deutschen Regierung. Kühl verwies Deutschland auf die völkerrechtliche Stellung Transvaals, auf seine Unabhängigkeit, auf die mit den Buren abgeschlossenen Handelsverträge. Die neuerliche Entsendung der Kriegsschiffe sollte beweisen, daß Deutschland sich nichts von seinen Rechten nehmen lasse. Der Zwischenfall verebbte zwar. Aber gleich darauf zeigten sich neue Meinungsverschiedenheiten zwischen England und Deutschland, als Kaiser Wilhelm, wie jedes Jahr zur Zeit der großen Segelregatten von Cowes, nach England fuhr.

Königin Victoria wünschte, daß ihr Enkel sich mit Lord Salisbury einmal ausspreche. Unmittelbar vor den Kaiser gestellt, war der Premierminister, der sonst seine Abneigung gegen Wilhelm II. nicht versteckte, die Liebenswürdigkeit selbst. Der Unterhaltung im allgemeinen Rahmen nahm er jede Schwere. Jeden Minister stellte er dem Kaiser mit einem anderen Scherze vor. Er sprudelte von Anekdoten.

»Lord Salisbury ist sehr empfänglich für Epigramme«, hatte Königin Victoria den Kaiser vorbereitet, »und in seine Reden im Parlament streut er sie gern ein« – –

Politischer Unterhaltung wich der Lord erst aus, kam dann aber von selbst auf die Türkei: den »kranken Mann« in Europa, dessen Niederbruch nicht mehr aufzuhalten sei. Die türkischen Zustände bedeuteten einen Skandal, durch den stets neue Unruhe über die Länder gebracht werde. Das Beste sei, man mache der Sache ein Ende und teile die Türkei auf. Vom Kaiser wollte er wissen, was seine Eindrücke bei dem Besuche in Stambul 1889 gewesen wären – –

Der Kaiser: »Er hätte erst Athen, dann Stambul besucht. Der Vergleich zwischen beiden sei interessant. In Athen wenig Geschäftigkeit in den Straßen, dafür aber viel zeitunglesendes, politisierendes Publikum. In Stambul sei das Geschäfts- und Handelsleben rege, viel Verkehr in den Läden, die Türken machten einen fleißigen Eindruck. Man könne vom einfachen Volk durchaus nicht den Eindruck bekommen, daß es krank sei.«

Lord Salisbury: »Das wäre sehr richtig, aber alles, was den höheren Schichten angehöre, zumal die Beamten, die ganze Administration, die Regierungsmaschine, alles, was Bimbaschi oder gar Pascha wäre, wäre total korrupt. Vor allem sei die Justiz kläglich.«

Der Kaiser: »In mancher Beziehung sei das gewiß richtig. Auch in Stambul gäbe es manchen hochdekorierten Beamten, der mit Vorsicht behandelt werden müsse. Aber der Koran sei für den Orientalen ein sehr gutes Gesetzbuch und, wenn er richtig angewendet werde, weit einem vom europäischen Konzert ausgeheckten Reformkodex, der für den Orient nicht passe, vorzuziehen. Schließlich sei die Justiz auch in Europa verbesserungsbedürftig, was den Türken nicht entgangen sei.

Lord Salisbury: »Dennoch sei er der Ansicht, man solle mit der Türkei endgültig aufräumen und sie in Interessensphären aufteilen« – –

Der Kaiser: »Das werde nicht so leicht sein. Die Türken hätten eine große historische Vergangenheit, auf die sie stolz seien. Vor allem gewaltige militärische Erfolge. Auf ihre Schlacht bei Mohacz und auf die Eroberung Stambuls seien sie ebenso stolz, wie die Briten auf Azincourt und Malplaquet.«

Lord Salisbury: »Das wäre einmal gewesen. Aber das gegenwärtige Heer tauge nichts mehr. Es könne keinen Widerstand leisten.«

Der Kaiser: »Einmal habe es vor Wien gestanden. Werde die Bevölkerung zur Verteidigung ihres Landes zu den Waffen gerufen, um seine Existenz zu sichern, so werde Europa staunen, besonders, wenn europäische Führer sich fänden. Er warne dringend davor, die Lebenskraft der Türkei zu unterschätzen. Ihre Aufteilung werde einen maßlosen Streit um die Beute entfesseln« – –

Lord Salisbury ließ unvermittelt das Thema fallen. Denn eben um die Beute kreisten seine Gedanken. Dem Botschafter Grafen Hatzfeldt hatte er schon vor der Unterhaltung mit dem Kaiser seine Pläne angedeutet. Rußland sollte ruhig nach Konstantinopel gehen. Österreich-Ungarn konnte Saloniki erhalten. Frankreich sollte Marokko, Italien vielleicht Tripolis haben. Von Deutschlands Anteil war allerdings nicht die Rede gewesen. Jetzt stand der Lord vor der Ablehnung des Kaisers. Er hatte gehofft, die kühle Abwehr, die seine Andeutungen in Berlin gefunden hatten, durch die unmittelbare Aussprache mit dem Kaiser noch wenden zu können. Aber der Kaiser wollte nicht. Er hatte vor Lord Salisbury keinen Sinn für britische Interessen. Jedenfalls tat er fremd und unbeteiligt. Enttäuscht wechselte der Lord das Thema.

Um ihm die heitere Laune wiederzugeben, begann nunmehr Wilhelm II., ihm Anekdoten zu erzählen. Die ungeheure Körperfülle Lord Salisburys erschütterte das Lachen so heftig, daß er seinen Sessel und die Lehne zerbrach, auf die er sich stützte. Kaiser Wilhelms Gefolge sprang ihm bei, ehe er auf dem Boden landete.

»Ich freue mich, daß Du eine so amüsante Unterhaltung mit Lord Salisbury hattest«, begrüßte Königin Victoria danach ihren Enkel. »Es ist nicht jeder imstande, ihn so zum Lachen zu bringen« – –

Was die Angelegenheit selbst betraf, so wünschte die Königin, daß Kaiser Wilhelm mit Lord Salisbury noch eine weitere Aussprache hätte. Sie ließ am nächsten Tage den Premierminister nach dem Diner im Park von Osborne suchen. Aber Lord Salisbury war unauffindbar, obgleich die Regel vorschrieb, daß jeder der Gäste der Königin, wenn er das Schloß verließ, genau seinen Aufenthalt angab.

»Ich bin«, gestand später der Lord seinen Freunden, »einfach davongelaufen« – –

Er war nach London gefahren. Verwundert hatte der Kaiser eine ganze Weile umsonst gewartet. Das Vergnügen an den kaiserlichen Anekdoten hatte dem Lord den Ärger nicht gemildert, daß Wilhelm II. nichts von einer Aufteilung der Türkei wissen wollte.

 

Wenn der Kaiser sich für die Erhaltung der Türkei einsetzte, so trieb er wieder russenfreundliche Politik. Rußland dachte im Augenblick an seine transsibirische Bahn. Es dachte an Port Arthur. Es hatte mandschurische Sorgen. Gleichgültig schienen ihm plötzlich Konstantinopel, die Dardanellen, der ganze Balkan, solange seine Angelegenheiten in Ostasien nicht geordnet waren. Kaiser Franz Joseph mußte gar nicht erst eine Verwahrung dagegen einlegen, daß Rußland jemals doch noch nach Konstantinopel käme. Der Zar vertrug sich, völlig in Anspruch genommen durch Ostasien, mit Kaiser Franz Joseph wenigstens äußerlich ausgezeichnet in dieser Zeit. Franz Joseph besuchte den Zaren in Petersburg. Obwohl der Kaiser von Österreich im Innersten von seinen russischen Eindrücken wenig entzückt war, vereinbarten die beiden Herrscher sogar, daß sie ohne gemeinsames Einverständnis auf dem Balkan nichts unternehmen, daß sie von Schritt zu Schritt über alle Balkanprobleme sich verständigen wollten. Rußland wollte vom Bosporus nichts wissen, obgleich selbst Kaiser Wilhelm in seinem Eifer für Rußland fand, daß Kaiser Franz Joseph die Russen nicht unbedingt verhindern sollte, wenn sie nach Konstantinopel wollten.

»Es ist notwendig, den Balkan unter einen Glassturz zu stellen«, erklärte Fürst Lobanow zu dem Problem, »bis wir mit anderen, dringenderen Angelegenheiten fertig geworden sind.«

»Ich kümmere mich nicht ein bißchen um Konstantinopel«, versicherte der Zar dem deutschen Kaiser in Wiesbaden. »Mein ganzes Interesse und meine Augen sind auf China gerichtet!«

Die feierliche Versicherung hinderte den russischen Kaiser freilich nicht, in einem Kronrate, den er bald darauf in Petersburg zusammenrief, leidenschaftlich für die sofortige Durchführung eines Handstreiches auf Konstantinopel einzutreten. Nur nach zähem Kampfe brachte ihn, unterstützt von dem Großfürsten Wladimir Alexandrowitsch und dem Haupt des Synods Pobedonoszew, der Staatsminister Witte von dem Plane ab.

Über die neue Freundschaft mit Rußland, über die fortschreitenden Verschlimmerungen der Beziehungen zu England kam es zu leisen Reibungen im Dreibund. Besorgt war das Wiener Kabinett über die Entfremdung mit England. Die österreich-ungarischen Staatsmänner empfanden alles mit Unbehagen, was ihre alte, noch nie von einer Mißhelligkeit getrübte Freundschaft mit Großbritannien trüben konnte. Italien wußte, daß es allezeit von der britischen Flotte abhängig war.

Überdies war auch die Art, wie Italien und Österreich-Ungarn im Augenblick zueinander standen, kaum von der Freundlichkeit begeisterter Bundesgenossen. Kaiser Franz Joseph hatte dem König Humbert, der ihn in Wien aufgesucht hatte, seinen Gegenbesuch in Rom versprochen. König Humbert starb, Kaiser Franz Joseph war nicht nach Rom gegangen. Der Vatikan hatte den ersten Besuch des Kaisers für den Heiligen Vater verlangt, dann erst sollte Franz Joseph im Quirinal erscheinen. König Victor Emanuel fühlte sich schwer verletzt. Offen sprach er darüber mit Kaiser Wilhelm. Dem österreichisch-ungarischen Botschafter Grafen Szögyény hatte Kaiser Wilhelm endlich Vorschläge gemacht, wie Kaiser Franz Joseph seinen Besuch in Rom trotz der störenden und feindseligen Haltung abstatten könnte, die der Vatikan einnahm Anhang.. Aber Kaiser Franz Joseph lehnte die Anregung ab. Die Unfreundlichkeit gegen das italienische Königshaus und das italienische Volk verwischte sich nicht. Sie lockerten die innere Festigkeit des Dreibundes, für die Kaiser Wilhelm seinen Vorschlag getan, weit bedenklicher, als man in Wien glaubte. Denn der erste verletzende Riß war da.

Um die gleiche Zeit hatte Italien trübe Erlebnisse in Abessinien. Sein Kolonialheer lag eingeschlossen von den abessinischen Truppen in Kassala. Zwar regte Kaiser Wilhelm englische Hilfe an. Aber England zögerte. Das Mittelmeerabkommen erneuerte Lord Salisbury nicht. Den eingeschlossenen Italienern half er in der Art, daß er unter dem Ziel ihrer Befreiung von den englischen Truppen Assuan besetzen ließ. Der vollständige militärische Niederbruch der Italiener ließ das Königreich zwar erklären, daß es niemals gegen England marschieren werde. Aber auch dieses zweifelhafte Angebot einer soeben geschlagenen Macht verbesserte weder die Beziehungen des Dreibundes, noch Deutschlands zu England. Manchmal ließ der Kaiser in dem Hin und Her gewollter Unannehmlichkeiten auf beiden Seiten das Wort vom Bund mit England wieder aufflattern. Lord Salisbury überhörte die Anregung jedesmal oder, wie der Kaiser es auffaßte: immer noch. Der Kaiser trieb seine russische Politik, seine Kontinentalbundpolitik weiter. Wo er England zeigen konnte, daß Deutschland nicht ganz zu übersehen und zu übergehen war, tat er es mit Vorbedacht.

Fast drei Jahre lang währt dieses Ausspielen einer Politik nach Osten, die den Westen erobern will. Fast drei Jahre lang währt das Aufbieten von Unfreundlichkeit, Trotz und Abkehr, um endlich die englische Bereitschaft zu gewinnen, daß es als Freund mit dem Freunde gehe. Rußland, Deutschland, Frankreich, Österreich sind für die Erhaltung der Türkei. Sie vereinigen sich, da Kreta im Aufstand gegen den Sultan sich erhebt, um die Insel nicht den Griechen zu überlassen, die England unterstützt. Kreta wird autonom, aber unter der Oberhoheit der Türkei, die England aufteilen will. Großbritannien wünscht die schärfsten Maßnahmen im unruhigen, von Banden durchzogenen Mazedonien. Aber es bleibt bei den Reformen, die von den Mächten beschlossen werden.

Dem britischen Militärattaché Oberst Swaine sagte damals Kaiser Wilhelm offen heraus, »Englands ganzes Verhalten zwinge ihn förmlich, gemeinsame Sache mit Frankreich und Rußland zu machen«. Dem englischen Botschafter hatte kurz vorher der Staatssekretär Freiherr von Marschall versichert, daß die noch ungelösten Gegensätze der kontinentalen Staaten vielleicht auch »ohne Rücksicht auf englische Interessen zu regeln und dabei auch englische Interessen als Kompensationsobjekt zu benutzen« seien. Mit dem Militärattaché sprach der Kaiser erst voll Erbitterung, dann riet er zum Anschluß Englands an den Dreibund. Vor dem Botschafter übte der Staatssekretär nur seine Grobheit. Wer die merkwürdigen Beziehungen, die zwischen England und Deutschland bestanden, ruhig übersah, konnte keinen Zweifel hegen, daß entweder der Krieg oder ein Bündnis ihre Folge sein mußte.

Augenblicke gab es, da der Ausbruch offener Feindseligkeiten zwischen den beiden Mächten an einem Haar hing. Augenblicke, in denen der Kaiser in seiner innersten Einstellung, in seiner heimlichen, entscheidenden Hinneigung zu England völlig irre wurde. Augenblicke, in denen er Anregungen seiner verantwortlichen Ratgeber nachgab oder ihnen Schritte nicht verwehrte, die er unmittelbar darauf bereute. Indes sein Kabinett immer nur nach einem greifbaren Vorteil des Tages sah, den man – ein Stück Kolonialland, einen Flottenstützpunkt – dem hartnäckig eigensüchtigen England abzwingen konnte, suchte der Kaiser als Ziel das Bündnis, das alles begleichen sollte. Zwei Zwischenfälle ließen ihn zweifeln, ob die Verständigung mit England doch je gelingen könnte: Jamesons Raid nach Johannisburg und das große Armeniermorden in der Türkei.

 

Englands Ärger über die Bahnlinie nach Laurenzo Marques, das Vorprellen der Engländer bis ans Meer, genau in den Winkel zwischen Südwestafrika und dem portugiesischen Besitz, um beide gründlich zu trennen, Jamesons Überfall – all dies hing unmittelbar zusammen: das große Genie von Cecil Rhodes stand dahinter. Nach dem Kapland war er einst krank, ohne alle Mittel gekommen. Er grub nach Diamanten. Er arbeitete sich hoch. Gesellschaften kamen auf, denen er Atem und Geschäfte einblies. Im Kapland stieg er schließlich zum mächtigsten Manne empor. Er war ein Kondottiere von heißer Phantasie, von nüchterner Erkenntnis und Abschätzung aller Dinge, von unbeugsamem Willen, einer von den Männern der großen Abenteuer auf eigene Faust, die zum Schluß als Staatsgründer und Eroberer von halben Erdteilen dastehen, wie Lord Hastings ein Kondottiere und Reichsschöpfer war, wie England viele hatte, die seine Geschichte später unter den Heroen führte.

Cecil Rhodes zog, goldreich und stark geworden, in die Riesenflächen aus, die sich hinter dem portugiesischen Besitz, im Nordwesten von Transvaal dem Innern von Afrika zudehnten. Vom ganzen Lande nahm er Besitz, ohne Auftrag, aus eigener Machtvollkommenheit: Cecil Rhodes eroberte für England neue Erde. Rhodesia, das er der britischen Krone schenkte, war achtmal oder zehnmal so groß wie das Deutsche Reich; mit dem Kapland war es ein erhebliches Stück des Kontinents. Cecil Rhodes träumte weiter in seiner klaren, alles anstürmenden Art – die Eroberung von Rhodesia war nur der Anfang des Marsches, der an der Südspitze des Kontinents begonnen hatte, aber erst in Ägypten haltmachen sollte. Dann war Wille und Ziel von Cecil Rhodes erfüllt: die Vereinigung des ganzen britischen Besitzes in Afrikas Osthälfte, die Einheit von Kairo bis Kapstadt. Der beispiellose Aufbau dieses Staatenschöpfers und Kontinentbezwingers war Strategie ohne Waffen. Er kämpfte mit Geld, mit Eisenbahnen und Telegraphenlinien. Von Kapstadt nach Kairo lief die erste Verbindung, um die er rang. Transvaal stand ihm im Wege. Auch die Buren sollten mit ihrem Lande einmal englisch werden; sie waren das fehlende Stück, das alle Stücke erst zu einem britischen Ganzen verband. Er dachte nicht daran, gegen die niederländischen Ansiedlerbauern mit Kanonen und Gewehrgeknatter loszuziehen. Er umschloß sie lieber. Rhodes hatte es erwirkt, daß die Engländer zwischen Deutschen und Buren bis ans Meer gingen. Rhodes hatte Rhodesia wie einen Gürtel um das Land gelegt. Vor den Buren lag portugiesischer Besitz, in dem die Engländer viel mitsprachen. Transvaal lag eingekesselt: eines Tages mußte es englisch werden, ohne einen Schuß, ohne daß ein Soldat marschierte – –

Dennoch fiel völlig unerwartet der Schuß. Auch Könige auf eigene Faust haben ihre Statthalter. Jameson führte in Rhodesia die Geschäfte für Cecil Rhodes, der an dem Ursprung seiner Macht residierte, in Kapstadt. Transvaal war ein Goldland. Ein Fünftel oder gar ein Viertel des Goldfundes auf der Erde wurde dort aus den Feldern geschöpft. Die Buren suchten nach Gold, fünfzehntausend Deutsche jagten von Johannisburg danach, die Zahl der Engländer, die nach Transvaal kamen, wuchs täglich. Die Umklammerung, die Rhodes um Transvaal zog, die Kapitulation der Buren mußte beschleunigt werden, wenn die einwandernden Engländer in Transvaal Bürgerrecht erhielten. Aber die Buren wehrten sich. Sie verlängerten die Zeit auf elf Jahre, nach denen die Zugehörigkeit zum Staate erst gewährt werden sollte. So lange konnte höchstens Cecil Rhodes warten, weil er noch andere Mittel gegen die Buren hatte und weil er wußte, daß sie die Einschnürung nicht aushalten konnten. Er wollte ein neues Gigantenreich etwa wie Indien: das Gold kam dann von selbst. Aber die eingewanderten Kaufleute in Johannisburg, die englische Handelskompanie, die mit einer Charter in Rhodesia saß, zwei Engländer vor allem, die vordem Kaufleute in Hamburg gewesen waren, wollten sich nicht gedulden: der Traum von Cecil Rhodes Gigantenreich war ihnen gleich – Gold wollten sie. Sie stachelten Jameson zu einem Überfall auf die Buren auf. Die beiden Kaufleute waren Cecil Rhodes befreundet. Sie hatten in manchen Geschäften mit ihm gearbeitet. Sie weihten Rhodes in ihre Pläne nicht ein, aber Jameson sah keine Gefahr darin, wenn er sich zu Dingen überreden ließ, die ihm nahe Freunde von Cecil Rhodes rieten. Rhodes hatte Rhodesia für England erobert. Rhodes war ein ganz großer Mann geworden. Abgesehen von seinem Goldhunger, den er bald stillen konnte, wollte Jameson jetzt Transvaal für das Königreich erobern. In Johannisburg sollten sich die ansässigen Engländer bei seinem Aufbruch erheben. Mit einer Schar zusammengetrommelter Banditen, mit Schutzpolizisten und Troßknechten der Handelskompanie ritt er los. Er fiel zum Jahresende 1895 in Transvaal ein. Ein ungeheurer Lärm brach in der ganzen Welt los – –

Niemand wußte, daß Englands Regierung völlig unbeteiligt an dem Zwischenfall war. Weder von Cecil Rhodes, noch von Jameson war auch nur ein Wort in London gehört worden, das auf den Raubzug hingedeutet hätte. Die Überraschung war für das Kabinett um so peinlicher, als den Ministern niemand die Unschuld glaubte. Hoch ging im nächsten Augenblick die Erregung in ganz Deutschland. Großbritannien schlug mit Faust und Fußtritt ein winziges, wehrloses, den Deutschen halbverwandtes Volk nieder. Großbritannien dachte gar nicht daran, daß in Transvaal auch andere Völker Interessen und Rechte hätten. Fünfzehntausend Deutsche lebten in Johannisburg, aber Banditen schossen in der Stadt herum, im Chaos waren die Deutschen schutzlos. Die Erregung teilte der Kaiser, das deutsche Kabinett, das ganze deutsche Volk. Keiner hatte dem anderen irgendwie Überschwang vorzuwerfen. Freiherr von Marschall und Baron Holstein sahen die Zukunft nicht nur düster. Sie machten sie düster. Unter allen Eigenmächtigkeiten und Rücksichtslosigkeiten, die sich England schon die ganze Zeit über leistete, war mit Jamesons Ritt die schlimmste Überhebung geschehen. Der Botschafter Graf Hatzfeldt sollte um seine Pässe bitten, wenn das britische Kabinett das Vorgehen in Transvaal billigte. Lord Salisbury billigte es nicht. Er erinnerte freilich den deutschen Botschafter höflich daran, daß es auf alle Fälle wenig Sinn hätte, England zu drohen. Die Nachricht traf in Berlin ein, daß Jameson mit den Buren im Kampfe stand. Graf Hatzfeldt hatte in London eine neue Note zu überreichen: Deutschland lehnte »irgendeine Veränderung der durch Verträge gesicherten völkerrechtlichen Stellung der südafrikanischen Republik« ab. Graf Münster, Deutschlands Botschafter in Paris, erhielt den Befehl, bei der französischen Regierung vorsichtig anzufragen, ob Frankreich sich nicht mit Deutschland gegen die unaufhörliche Ausbreitung der englischen Kolonialmacht zur Abwehr zusammenfinden wolle. Befehle, Anfragen, Noten, Drohungen überstürzten sich. Der Kaiser hatte ihnen zugestimmt: erregt und erbittert, moralisch betroffen und politisch verwirrt, unbehaglich dabei und verstimmt, denn eine Weile lang sah er sich am Ende seiner Politik. Indes belehrten ihn seine Ratgeber, daß in einem konstitutionellen Staate das Kabinett, nicht der Herrscher die Politik des Reiches bestimme. Noch ehe er sich in seinen Gedanken mit den ganzen Ereignissen zurechtfand, widerrief Freiherr von Marschall die zweite an Graf Hatzfeldt abgesandte Note. Sie war überflüssig: die Buren hatten Jameson und seine Anhänger bei Krügersdorp gründlich geschlagen. Nachts jagte in London der Botschafter in das »Foreign Office«. Er bekam die Note zurück. Noch war sie versiegelt gewesen – –

 

Am Morgen nach dieser Nacht, am 3. Januar 1896, suchte der Kaiser den Reichskanzler Fürst Hohenlohe auf. Ohne daß eine besondere Beratung angesetzt war, hatte er das Bedürfnis, sich über alle die Aufregungen mit ihm auszusprechen. Der Vormittag verlief in dramatischen Spannungen. Denn der Staatssekretär Freiherr von Marschall befand sich seit dem Augenblicke, da der Überfall auf die Buren ihm gemeldet worden war, in hoher Erregung. In sein Tagebuch hatte er am 31. Dezember 1895 eingezeichnet:

»Nun muß gehandelt werden« – –

Noch an diesem Silvestertage war er zu Kaiser Wilhelm in das »Neue Palais« nach Potsdam gefahren. Er hatte vorgeschlagen, daß ein Landungskorps des Kriegsschiffes »Seeadler« über Laurenzo Marques, um die Deutschen zu schützen, nach Pretoria marschiere. Der Kaiser hatte die Genehmigung gegeben. Dann häuften sich die Nachrichten aus Transvaal. Sie wurden immer bedrohlicher. Am 2. Januar wiederholte sich der Staatssekretär die Selbstanfeuerung:

»Jetzt gilt es zu handeln« – –

Aber von dem kriegerischen Zwischenfall war ihm die Ruhe der Nerven schwer erschüttert. Am 31. Dezember hatte er – ganz abgesehen von den an den Grafen Hatzfeldt nach London ergangenen Weisungen – in einem Gespräch »über die Transvaalsache« dem britischen Botschafter Sir Frank Lascelles versichert, »daß die Kontinentalmächte sich einmal auf Kosten Englands verständigen und aus englischem Leder Riemen schneiden könnten«. Vierundzwanzig Stunden später, am Neujahrsmorgen, hatte er die Unvorsichtigkeit gehabt, den französischen Botschafter Herbette zu der Verständigung der Kontinentalmächte gegen England gleich unverblümt anzuregen.

Sein Eifer zu handeln, war noch nicht gebrochen, als der Kaiser beim Reichskanzler eintrat. Der Staatssekretär bestimmte die Atmosphäre und den Ablauf der Dinge. Er redete hastig und viel. »Er war der alleinige Träger eines Aktivgedankens.« Die Frage eines Protektorats über die schutzbedürftige Burenrepublik wurde aufgeworfen. Der Gedanke wurde gleich darauf wieder fallen gelassen. Die Rede kam noch einmal auf das Landungskorps des »Seeadlers«. Die Admirale hatten Bedenken. Der Kaiser wies auf die Notwendigkeit hin, einen Teil der Marine-Infanterie in Bereitschaft zu stellen. Man sollte sie unter Umständen zur Ablösung der Mannschaften abschicken, die vom »Seeadler« ins Innere des Landes abgegeben werden müßten. Sonst war die Verwendbarkeit des Schiffes lahmgelegt. Dann aber kam man von der Entsendung der Marineinfanterie wieder ab. Inmitten seiner eigenen Vorschläge verließ der Staatssekretär die Beratung, suchte den Geheimrat von Holstein und den Dirigenten der Kolonialabteilung, den Geheimrat Kayser, auf, die beide in einem Nebenzimmer für alle Fälle sich bereithielten. Gleich darauf kehrte der Staatssekretär mit einem Depeschentext wieder zurück.

Den Text der Depesche legte er dem Kaiser vor. Sie war an den Präsidenten der Südafrikanischen Republik gerichtet, beglückwünschte ihn zur Abwehr von Jamesons Überfall und zu der Entschlossenheit, »die Unabhängigkeit des Landes gegen Angriffe von außen zu wahren«. Die Formulierung der Depesche war nicht mißzuverstehen. Sie wandte sich äußerlich an den Präsidenten Krüger. Aber sie hieb in Wahrheit los gegen England.

Der Kaiser legte das Blatt zurück. Er verweigerte die Unterschrift. Freiherr von Marschall verlangte sie noch einmal: fast schroff im Ton. Mit dem Kaiser war auch der Staatssekretär der Marine, Admiral von Hollmann, zum Reichskanzler gekommen. Er stellte sich auf die Seite des Kaisers. Der Kaiser hätte recht, wenn er das Dokument »unglaublich« nenne. Eine Auseinandersetzung entspann sich. Kaiser und Admiral blieben bei ihrer Auffassung. Der Reichskanzler Fürst Hohenlohe griff ein. Ihn hatte der Staatssekretär von der Notwendigkeit der Depesche überzeugt. Sie wäre in der Wirkung nicht nur für die Buren und für England, sie wäre hauptsächlich – wie Kanzler und Staatssekretär angaben – für die deutsche Volksstimmung berechnet. Fürst Hohenlohe wurde ernster, als es sonst seine Art war. Seinen Darlegungen gab er amtlichen Ton:

Er stehe als Vertreter der Wünsche des im Reichstage vertretenen Volkes vor dem konstitutionellen Herrscher. Er »verlange von letzterem, seine Pflicht seinem Volke gegenüber zu tun, nach den von seinen Ratgebern bestimmten, wohlüberlegten Vorschlägen, für welche er, nicht der Kaiser, die Verantwortung voll trage« – –

Einen Ausweg gab es für den Kaiser: die Entlassung des Kanzlers; zugleich des Staatssekretärs. Nicht nur, daß er dann in der schwierigen Situation ganz allein stand. Niemand hätte geglaubt, daß er beide fortgeschickt, weil er die Depesche nicht unterzeichnen wollte. Überdies verlangte sie angeblich auch die Volksstimmung. Unwahrscheinlich war, daß der Staatssekretär nicht auch den Geheimrat von Holstein befragt hatte. Er konnte nicht das ganze Auswärtige Amt fortschicken. Oder man hielt ihn für verrückt. Kam ein neuer Kanzler, begann das gleiche Spiel. Erst mußte er den Absolutismus aufrichten, bevor er eine Depesche verhindern konnte, die ihm verfehlt und mit den Verschärfungen des Textes, die noch während der Auseinandersetzungen vorgenommen wurden, ganz unmöglich erschien. So unterschrieb er und warf die Feder hin:

»Der Rat war schlecht … Wenn Du, lieber Onkel, längst tot bist, werde ich ihn mit einem Krieg mit England bezahlen müssen« – –

Der Eindruck war gering, den der Kaiser damit auf den Fürsten machte. Auch Freiherr von Marschall war nicht erschüttert:

»Das wird vorübergehen, Majestät« – – –

»Sie haben«, erwiderte der Kaiser, »meinen Besuchen in Cowes ein Ende gemacht« – –

Die Depesche wurde abgeschickt. Der Gefühlssturm in Deutschland, das für die Buren sich erhitzt hatte, wurde Entrüstung in England, das die fremde Einmischung in seine eigenen Angelegenheiten verletzte. Das ganze Königreich flammte vor Empörung auf, gleichviel, ob das britische Kabinett eine Schuld an den Vorgängen in Transvaal traf oder nicht. Dies war eine Sache für sich: die deutsche Überheblichkeit war eine andere. Die Erklärung des Freiherrn von Marschall gegenüber Sir Valentine Chirol, daß die Entsendung der Depesche einen Staatsakt, nicht die Meinung des Monarchen dargestellt hatte, machte die Lage noch schlimmer statt besser. Auf vertraulichem Wege erfuhr also England noch, daß jeder Deutsche, daß das ganze Volk sich moralisch einzumischen gedenke. Deutsche Matrosen wurden in London verprügelt. Englische Zeitungen schrien nach Krieg. Vernünftige schüttelten auch in Deutschland über die Unglücksdepesche den Kopf.

Ob in England ob in Deutschland, ob in der übrigen zuschauenden Welt, – jedem Einsichtigen war klar: solche Torheit hätte Kaiser Wilhelm überlegen müssen.

 

Die Einzelheiten und den wahren Hintergrund des Überfalls auf die Südafrikanische Republik kannte der Kaiser nicht. Den Alarm mißbilligte er, den er selbst aus vermeintlicher Rücksicht auf das deutsche Volk hatte schlagen müssen. Der Königin Victoria schrieb er, um die Wirkung der Depesche abzuschwächen, wenige Tage darauf versöhnliche, erklärende Worte, die Artigkeit, Friedfertigkeit und Romantik in dem starren, merkwürdig bizarren Stil des Kaisers verbanden. Aber ein bitterer Nachgeschmack blieb dem Kaiser. Nicht nur wegen der Haltung, in die seine Ratgeber ihn gedrängt hatten. Freiherrn von Marschall beschloß er, bei nächster Gelegenheit zu entlassen. Die zweideutige Haltung, die der Staatssekretär in dem Thronstreit um die Nachfolge in dem Fürstentum Lippe eine Weile später gegenüber dem Kaiser bewies, befestigte ihn nicht in Wilhelms II. Gunst Anhang.. Jetzt hatte er ihn in ein Abenteuer mit bösem Ausblick gedrängt. Bernhard von Bülow, der deutsche Botschafter in Rom, von Philipp Graf Eulenburg als der fähigste Kopf unter den jungen Staatsmännern Deutschlands oft genug empfohlen, sollte bald sein Nachfolger werden.

Aber noch nachdenklicher als Kanzler und Staatssekretär machte den Kaiser das Verhalten Englands. Auch wenn er glaubte, daß die englische Regierung keinen Anteil an dem Überfall hatte, so ließ sich doch nicht übersehen, daß England Schritt um Schritt in der Welt weiterkam, Deutschland aber keinerlei Zugeständnisse erhielt. Ob England offen an einen Erwerb ging, ob Unverantwortliche ihm die Arbeit abnahmen, der Erfolg war immer gleich: England wurde reicher, mächtiger von Tag zu Tag. England tat immer so, als wären seine Handlungen die Korrektheit selbst. Der südafrikanischen Handelskompanie schränkte es nach Jamesons Raid die Vorrechte ein. Es bestrafte sie. Vielleicht war dies alles echt. Vielleicht nur Maske. So tüchtig war selbst der Botschafter Graf Hatzfeldt nicht, um ganze Klarheit zu schaffen. In der Nachwirkung seiner Erlebnisse mit England, dem er sich verbünden wollte, trafen den Kaiser, der trotz seines Willens zur Ausnutzung jeder Chance doch auch in der Politik die Begriffe von Anständigkeit, Bundesgenossentreue, Aufrichtigkeit nie preisgab, die Nachrichten vom Massaker an den türkischen Armeniern – –

 

Vorspiele türkischer Grausamkeiten an den christlichen Armeniern hatte es in den abgelaufenen beiden Jahren bereits wiederholt gegeben. Die Folgen des Überfalls armenischer Studenten auf die Ottomanische Bank in Konstantinopel, die Bombenwürfe aus der Bank, übertrafen indes jede Vorstellung. Der Sultan hatte den Befehl zu einer Niedermetzelung der Christen gegeben, die drei Tage währte. Schon die vorangehenden Massakers hatten die Volksstimmung in England tief erregt. Der britische Geschäftsträger Sir Arthur Nicolson empfing Auftrag um Auftrag, den »unsagbaren, unfaßbaren Greueln«, wie noch Lord Rosebery die Armeniermorde vom Juli 1894 im Distrikt von Samsun genannt hatte, mit dem ganzen Zorn des beleidigten englischen Volksempfindens entgegenzutreten. Sir Arthur Nicolson hatte den Mut schon vorher gehabt, an Deutlichkeit in seiner Sprache nichts zu verbergen. Bei der Mißhandlung zweier armenischer Professoren durch die türkischen Gerichte brachte er seine Beschwerden dem Großwesir Said Pascha vor. Der Großwesir wiederum klagte über die englische »Stimmung, die man fast Fanatismus nennen könne«. An Lord Rosebery meldete Sir Arthur:

»Ich erwiderte, daß es in England zweifellos einen Fanatismus des Rechtes gebe und daß ich persönlich mich diesem Fanatismus anschlösse« – –

Die beiden verquälten Professoren kamen schließlich frei. Über die Morde in Samsun gestand der Sultan den Engländern eine Untersuchung zu. Sie war für den Großherrn kein Hindernis, nach dem Anschlag auf die Ottomanische Bank einen besonderen Mordbefehl zu erlassen.

Drei Tage lang zogen Polizei und kurdische Soldateska durch Stambul, um zu töten. Sie übten ihre Tätigkeit ohne jedes weitere Wort. Der Befehl des Sultans hatte sich nur auf nicht unirte Armenier bezogen. Die Urteilsvollstrecker schieden Unitarier und Nicht-Unitarier auf den ersten Blick. Sie hatten den Unterschied, wie jeder Türke, im Gefühl. Die Unitarier gingen unbehelligt den Geschäften nach. Dem Nicht-Unirten klopfte der Polizist stumm auf die Schulter. Er schlug ihn einfach tot, mit hartem Schlag auf den niedergebogenen Kopf, wie man Fische tötet. Dann warfen sie die Toten beiseite. Alle zwei Stunden fuhren Karren durch die Stadt. Sie sammelten die Opfer. Dann kamen neue Tote. Auch wieder neue Karren. 50 000 Armenier oder 80 000 fielen in diesen drei Tagen – –

Nirgends lohte die Entrüstung so hoch wie in England. In allen Städten, in allen Zeitungen, in ungezählten Versammlungen war der ehrliche wilde Schrei gegen Unmenschen. Kaiser Wilhelm entsann sich in dem Lärm der Pläne, die Lord Salisbury ihm gerade vor Jahresfrist über eine Teilung der Türkei in Interessensphären auseinandergesetzt hatte. Die Scheußlichkeiten der Türken verdammte der Kaiser wie jeder Engländer, wie jeder andere Gesittete auch. Aber die nahe Gedankenverbindung zwischen Massaker, Einmischung und Lord Salisburys Plänen machte ihn unruhig. Das englische Volk sah die ganze Angelegenheit christlich, Lord Salisbury sah sie ohne Zweifel christlich und weltpolitisch. Der Kaiser regte an, die Dardanellen zu schleifen. Es war ein Druck auf die Türkei. Lord Salisbury kam dadurch mit seinen Plänen etwas weiter. Die Türken wurden schwächer. Die Stimmung davon wurde besser in England. Auch für Rußland war viel gewonnen. Sie hatten die Fahrt ins Mittelmeer. England konnte sich ruhiger in Ägypten fühlen. Lord Salisbury war einverstanden. Damit waren englische Absichten gegen die Türkei nicht aufgehalten, eher angebahnt. Aber nicht einverstanden war Rußland. Der Zar wünschte die Öffnung der Dardanellen für alle Kriegsschiffe im Frieden. Für den Krieg verlangte er das Verbot der Durchfahrt. Der Gedanke der russischen Erklärung über die Dardanellen schon auf dem Berliner Kongreß – für Rußland selbst die Durchfahrt zu erzwingen, wenn kriegerische Ereignisse dies nötig machten – verlor nichts an trotziger Entschlossenheit. So blieb die kaiserliche Anregung ohne Erfolg. In England rauchte die unpolitische Entrüstung weiter: 80 000 Tote, wie das Vieh von einem »mörderisch gesinnten Wahnsinnigen« erschlagen – –

Königin Victoria wandte sich endlich in mehreren Briefen an ihre Tochter, die Kaiserin Friedrich, damit sie vielleicht ein gemeinsames Vorgehen Deutschlands und Englands gegen die Armeniermorde durch ihren Sohn erwirke. Kaiser Wilhelm ließ Auszüge aus den Schreiben der Königin an den deutschen Botschafter in Konstantinopel mit dem Befehl senden, daß ihm ein Überblick über die Lage vermittelt werde. Der Botschafter meldete zurück, daß nach einwandfreien Auskünften, die er sich verschafft, die Armenier durch reichliche Geldmittel von England unterstützt worden seien. Das Massaker sei ausgelöst worden durch Bombenwürfe aus der Ottomanischen Bank auf wehrlose türkische Frauen und Kinder. Die Schuldigen seien die Armenier. Von England seien sie im entscheidenden Augenblick allerdings in Stich gelassen worden. Jeder Schritt Deutschlands bedeute völlig unbegründete Einmischung in türkische Angelegenheiten. Der Botschafter riet ab.

Mündlich ergänzte er auf seinem Berliner Urlaub den Bericht. Armenier flüchteten, als die Morde ihren Anfang nahmen, in die deutsche Botschaft. Sie bestürmten den Botschafter mit Fragen, sie wiederholten sie unaufhörlich:

»When do the Red-Coats come? Wann kommen die Rotröcke?«

»Sind die Rotröcke nicht schon da?«

Erst begriff der Botschafter nicht. Endlich verstand er: die Armenier sprachen von englischen Truppen. Den Flüchtlingen verwies er ihre Phantastereien. Die Armenier blieben bei den »Rotröcken«:

»Von London aus ist uns gesagt worden, wir sollten Aufstand machen. Wir sollten dann englische Hilfe gegen den Sultan erbitten. Dann wird die englische Mittelmeerflotte von Malta einlaufen. Sie wird nach Stambul kommen, das Landungskorps wird den Sultan absetzen« – –

Sie holten alle Geld aus ihren Taschen. Es waren neue, blanke, englische Pfundstücke aus Gold. Von »maßgebender Stelle« hätten sie dieses Geld erhalten. Der Botschafter versuchte sie zu ernüchtern:

»Es sind keine Rotröcke da!«

Auch hätte er nie davon gehört, daß die Engländer kommen wollten. Dem Kaiser versicherte er noch, daß er, wenn die Dinge so lagen, gar nicht verstände, warum die britische Mittelmeerflotte ausblieb. Der Widerstand, den die Türken dann versucht hätten, wäre ohne Aussicht auf Erfolg gewesen. Die Kriegsschiffe von Malta wollte Lord Salisbury in der Tat nach Stambul senden. Er fragte bei dem Admiral der Mittelmeerflotte an, ob er es auf sich nehme, an den Dardanellen durchzukommen und nach Stambul zu fahren. Der Admiral stimmte zu, obgleich er mit dem Verlust einiger Schiffe rechne. Aber er stellte noch eine Rückfrage: ob Lord Salisbury die Bürgschaft übernehme, daß sich die französische Flotte, wenn der Sultan die Hilfe der Franzosen erbäte, nicht vor die Dardanellen legen werde. Dann sei die Rückfahrt ausgeschlossen. Lord Salisbury konnte die Bürgschaft nicht übernehmen. Die Mittelmeerflotte blieb in Malta. Der Admiral fuhr nicht aus.

Vor den Toren Konstantinopels, eine halbe Stunde von der Stadt entfernt, lag das armenische Seminar Rumely Hiszar. Es war die Hauptanstalt der zahlreichen, über ganz Kleinasien verzweigten Seminare, die aus den Mitteln reicher Armenier, reicher, glaubensfrommer Engländer und Amerikaner erhalten wurden. Die Söhne vornehmer Armenier, gern unterstützte Minderbemittelte studierten dort. Englische Lehrer gaben den Unterricht. Die Umgangssprache war englisch, die Sitten waren englisch. Die armenischen Studenten gingen, wenn das Seminar sie entließ, nach Cambridge und Oxford. Sie lebten Jahre in England, englische Gedankengänge durchtränkten sie. Wo sie hinkamen in diesem frommen, von Christenliebe aufrichtig erfüllten Land, trafen sie auf die gleiche, romantische und schwärmerische Begeisterung, die jeder Engländer schon empfunden hatte, als Byron nach Griechenland ging. Die Studenten bildeten armenische Konventikel. Sie gründeten literarische Vereine. Sie begannen, immer begleitet, stets ermutigt von den mitleidigen, englischen Sympathien, an die Befreiung des armenischen Volkes zu denken. Sie hatten von ihren Vätern überreiche Mittel. Sie schufen ein »Armenisches Komitee«. Sie predigten endlich die Erhebung gegen den Sultan. Immer war es der gleiche Hergang im türkischen Reich: ein unterdrückter Stamm erhob sich, die Türken schlugen den Aufstand nieder, dann kam die »Intervention der Mächte«. Die Armenier in London ruhten nicht. Ihr Gold rollte verschwenderisch nach der Heimat zurück unter die ärmeren Studenten. Daß England sie unmöglich fallen lassen könne, erzählten ihnen ihre englischen und amerikanischen Lehrer jeden Tag. Unruhen kleinerer Art wurden zunächst in Konstantinopel durchgesetzt. Eine Weile blieb die Polizei voll Zurückhaltung. Sie setzte die randalierenden Studenten nachts auf ein Schiff und fuhr sie in ihre kleinasiatische Heimat. Der Aufstand kam nicht, auch die »Intervention« blieb aus, obzwar die Unruhen, wenigstens in Kleinasien, allmählich an Umfang in gleichem Maße zunahmen, wie die Polizei ihre Geduld verlor. Selbst die Massakers der vorangegangenen Jahre hatte die Einmischung der Mächte nicht zu einer wirklichen Entscheidung gebracht. Endlich holten die Studenten zu einem Schlage in Konstantinopel aus: die Bombenwürfe aus der Ottomanischen Bank streckten die Frauen und Kinder nieder.

Jetzt fuhr der Sultan auf. Er wußte, daß in den Taschen der Studenten englisches Gold gefunden worden war. Von allen Studenten fast, die er verhaften ließ, meldete der Polizeiminister Nazim Pascha, daß ihre Taschen voll von Pfunden gewesen waren. Sie gaben bei den Verhören an, daß sie »die Engländer« erwarteten. Abdul Hamid war mutlos für sein eigenes Leben. Aber vor den Engländern fürchtete er sich nicht. Er kannte die Eifersucht und den Zwiespalt der Mächte. Er untersuchte nicht, wie weit es die Arbeit des englischen Kabinetts oder ob es nur das christliche Gefühlsbedürfnis einzelner schwärmender Engländer war, die zum Aufstande ermuntert hatten. Aber solange er der Großherr war, wollte er Aufstände im eigenen Reich nicht dulden. Von Lord Salisburys Plänen, unter dem Druck der Volksstimmung die Flotte nach Stambul zu schicken, erstens, um bedrohte Christen zu retten, zweitens, um endlich mit den Vorarbeiten zur Aufteilung der Türkei zu beginnen, von Lord Salisburys Unterhaltung mit dem Admiral der Mittelmeerflotte wußte der Sultan nichts. Er sah die Rebellion. Sah die Goldpfunde und den Bericht des Polizeiministers. Er befahl das Strafgericht. Am Tage darauf fuhren die Totenkarren.

Sprachlos war Kaiser Wilhelm. Er hatte nur den Bericht des Botschafters. Nazim Pascha bestätigte ihm die Richtigkeit später durch weitere Einzelheiten selbst. Von den wahren, inneren Zusammenhängen sprach der Botschafter dem Kaiser ebenso wenig, wie Graf Hatzfeldt ihm über die Hintergründe von Jamesons Überfall berichtet hatte. Überall saßen die Botschafter in ihren Palästen. Sie wußten, was sie in ihren Salons erlebten, sie wußten ferner, was die Vertreter der Macht ihnen sagten, bei der sie beglaubigt waren. Kaiser Wilhelm sah bestürzt nur die merkwürdigen Wege der englischen Politik. Der Absagebrief, den er der Königin Victoria sandte, war sehr höflich. Aber er wußte nicht, wie er jemals einem Volk mit solchen Künsten, mit solcher Technik der Politik vertrauen sollte. Fast wurde er an England irre. Zwar setzte er die Richtlinien seiner Politik im Großen fort. Im Streite zwischen Türken und Griechen stützte er mit den anderen Mächten den Sultan gegen England. Dem neuen Staatssekretär von Bülow, der den Freiherrn von Marschall im Juni 1897 ablöste, gab er ausdrücklich an, daß er von einer Unterstützung Kretas nichts wissen wolle. Noch weniger von dem Plane des Königs der Belgier, daß ein Deutscher fortan Gouverneur der Insel werden sollte. An der Blockade Kretas beteiligten sich Zweibund und Dreibund mit Betonung, indes England sich fernhielt. Dem Zaren schlug der Kaiser bei seinem Besuche in Schlesien im Herbst 1896 vor, daß Rußland und Frankreich und Deutschland gegen die gelbe Rasse, auch gegen die wirtschaftliche Überhebung Amerikas fest zusammenstehen sollten. Die Anregung schien dem Zaren nicht ohne Aussichten. Er versprach, mit den Franzosen darüber zu verhandeln. All das spielte der Kaiser aus, um England aus der Vereinsamung in die Not eines Anschlusses zu bringen. All das lag in der Linie der kaiserlichen Absichten: auch daß der Botschafter Graf Hatzfeldt zum Ende des Jahres 1896 in London abermals von einem festen Bündnis sprach, das England mit Deutschland schließen sollte. Aber die Krise seelischer Einstellung zu England seit den Nachrichten über die Armeniermorde und über Englands vermeintliche Armenierpolitik konnte der Kaiser sich selbst nicht mehr leugnen. Ob er auch Staatsnotwendigkeiten dem Gefühl überzuordnen gewohnt war, ob er auch Staatsgeschäfte nüchtern üben wollte: vor allem lebten Recht und Abwehr des Unrechts in ihm. Auf solche Art Politik zu treiben, war keinem Volke der Erde erlaubt. Er dachte an das Gespräch mit Lord Salisbury in Schloß Osborne zurück. Was der Lord offenbar in ganz weiter Ferne sah, erkannte damals auch schon Kaiser Wilhelm: Mesopotamien – Arabien – die große englische Brücke vom afrikanischen zum asiatischen Kontinent. Die Türkei mußte vorher zertrümmert werden. Um den ersten Grundstein zu der Brücke zu legen, waren achtzigtausend tote Armenier nicht zu viel. Aber des Kaisers eigenes Christentum hatte auch in Staatsgeschäften, auch zum höchsten Ruhm seines Reiches nie ein doppeltes Gesicht. Unmenschlich fand er Englands Heuchelei. Unmenschlich seine Brutalität. Niemand sagte ihm, daß weder Lord Salisbury, noch irgend ein Mitglied des englischen Kabinetts etwas von den englischen Goldpfunden gewußt, daß die Minister kein einziges Pfund für eine Erhebung der Armenier gegeben, keinen einzigen Armenier zur Auflehnung ermutigt hatten, so wunderbar die Ereignisse ihren fernen Absichten auch entgegenkamen. Der Kaiser hatte ein neues Schreckbild britischer Methoden. Er litt, denn er selbst war ein halber Engländer.

Vielleicht war doch Zar Nikolaus ein Mann von besserer Moral.

Kaiser Nikolaus II. war mit all seinen Gedanken auf den Ausbau der russischen Herrschaft in Ostasien bedacht. Dem deutschen Kaiser hatte er auf der Heimfahrt nach Petersburg versichert, wie wenig das Schicksal Konstantinopels und des ganzen Balkans ihn mit Sorgen beschwere. Er stimmte dem »Protektorat« zu, das er mit Kaiser Franz Joseph in friedlicher Eintracht abschloß, damit beide die Unversehrtheit aller Zustände auf der Halbinsel überwachten. Sogar mit dem Fürsten Ferdinand von Bulgarien versöhnte er sich, als der Fürst den kleinen bulgarischen Kronprinzen in den Glauben der orthodoxen Kirche aufnehmen ließ. Der Zar war fromm und gottesfürchtig, Schirmherr seiner großen Kirche. Ein alter Groll wurde begraben: Fürst Ferdinand wurde als rechtmäßiger Herrscher anerkannt, der Zar tat überdies alles, damit auch die anderen Höfe Europas mit Fürst Ferdinands Anerkennung folgten. In Ostasien sicherte er sich inzwischen von den Chinesen unmerklich eine Reihe kleiner Vorteile. Den Kaiser hatte er für Deutschlands Haltung gegenüber Japan seiner nie verlöschenden Dankbarkeit versichert. Nach der Anregung des Konteradmirals von Tirpitz, eine Kohlenstation entweder in Kiautschou oder in Schantung zu erwerben, nahm die deutsche Regierung den Versuch wieder auf, den Plan in die Wirklichkeit umzusetzen. Sie wandte sich an China. Sie verwies auf die Dienste, die Deutschland den Chinesen im Kriege erwiesen, und erwartete chinesisches Entgegenkommen bei einem Landerwerb, den sie sich übrigens auch ohne das gewünschte Entgegenkommen verschaffen werde. Diese höfliche Anfrage war an China schon vor Jahresfrist ergangen. Jetzt begannen die Deutschen ernsthaftere Verhandlungen wegen Kiautschou mit den Russen.

Offenbar hatte nur der Zar dabei ein gewisses Wohlwollen für Kaiser Wilhelms Pläne. Sein Kabinett schien die Verpflichtung zur Dankbarkeit für deutsche Dienste weniger ernst zu nehmen. Schon bei der Verteilung der Anleihe, die zur Tilgung der chinesischen Kriegsentschädigung an Japan aufgebracht werden sollte, hatte Rußland die Beteiligung deutscher Banken vereitelt, weil Frankreich darauf bestanden hatte. In Kiautschou sollte das russische Ostasiengeschwader überwintern. Seine Schiffe hatte es bereits dort. Deutschland konnte sich ebenso gut einen anderen Platz aussuchen. Der neue russische Außenminister Graf Murawiew war ein Mann von großem Hochmut, von betont russischer, persönlich stolzer Überlieferung, denn einer seiner Vorfahren hatte die Polen unterworfen. Er war dabei ein Mann von außerordentlicher Verschlagenheit: Graf Murawiew dachte gar nicht daran, auf Schantung und seinen Hauptort Kiautschou zu verzichten, da Rußland besondere Rechte auf dieses Gebiet für sich in Anspruch nahm; russische Schiffe hatten schon früher Kiautschou angelaufen. Graf Murawiew berief sich Deutschland gegenüber vor allem auf »le droit du premier mouillage« – –

Das deutsche Auswärtige Amt geriet in Verwirrung. Es prüfte den Sachverhalt. Früheren Fällen wurde mit großem Eifer nachgespürt, aus denen »le droit du premier mouillage« deutlicher festgestellt und in seiner Anwendbarkeit untersucht werden konnte. Der Kaiser staunte. Er ließ den Admiral von Hollmann kommen.

»Sie sind ein alter Seefahrer! Haben Sie schon jemals etwas davon gehört, daß jemand, der mit seinem Schiff irgendwo ankert, davon Rechte hat? Seien Sie so gut, gehen Sie zu Geheimrat Perels!«

Admiral von Hollmann erklärte die Berufung des Grafen Murawiew auf die von ihm gefundene Rechtsbestimmung als »Unsinn«.

Der Geheime Admiralitätsrat Perels, nach des Kaisers Meinung der zuverlässigste Sachverständige in Seerechtsfragen, sah den Admiral erst mißtrauisch an. Aber der Abgesandte des Kaisers, der sich ohne Einflußnahme der Meinung des Geheimrats vergewissern wollte, trug seine Anfrage sehr sachlich, sehr klar und nüchtern vor.

»Heller Wahnsinn!« stellte der Geheimrat fest. Er schrieb ein ganz klares Gutachten. Der Kaiser sandte es dem Zaren. In der ganzen Welt gab es kein »droit du premier mouillage«. Graf Murawiew liebte offenbar die Scherze in der Weltgeschichte. Sein verbürgtes Recht, die eindrucksvolle Fassung, die ganze Bestimmung hatte er erfunden. Er begann in Peterhof noch einmal von seinem »droit du premier mouillage«. Aber der Kaiser verwies heiter nur auf das Gutachten. Graf Murawiew sprach von seiner Entdeckung nie wieder. Doch Kaiser Wilhelm verhandelte in Peterhof über Kiautschou mit dem Zaren.

Vor der Abreise hatte er noch einen Vortrag des Admirals von Hollmann über den ostasiatischen Hafen gehört:

»Eisfrei?« hatte der Kaiser gefragt.

»Jawohl.«

Konteradmiral von Tirpitz hatte sich bei dem Befehlshaber der russischen Ostasienflotte über Kiautschou erkundigt.

»Ich habe dort«, antwortete der russische Admiral, »einen ganzen Winter ankern müssen.«

»Und wie ist es da?« hatte der deutsche Konteradmiral gefragt.

»Fürchterlich!« hatte der Russe erwidert. »Ein altes, chinesisches Militärlager. Ein entsetzliches Lokal! Keine Kneipen, keine Tingeltangel. Keine Japanerin ist dorthin zu bekommen … Ich habe daher an meine Regierung geschrieben.«

Die Abneigung der russischen Offiziere gegen Tientsin und Kiautschou reichte für Kaiser Wilhelm zur Preisgabe des Gebiets nicht aus. Er erklärte dem Zaren in Peterhof, daß er trotz allem den Versuch mit Kiautschou machen wolle.

»Ich habe dich da lieber, als die Engländer«, kam ihm der Zar entgegen, »es ist mir sehr angenehm« – –

»Wie weit reicht deine sphere of influence?« fragte der deutsche Kaiser.

»So etwa bis in die Mitte des Peiho und weitere Umgebung von Peking« – –

Kaiser Wilhelm wollte sich vergewissern, ob es dem Zaren recht sei, wenn sich Deutschland »auf der anderen Seite niederlasse«. Der Zar war der gleichen Meinung wie Kaiser Wilhelm. Nikolaus II. vergaß also geleistete Dienste nicht.

 

»Wie sind Euere Majestät zufrieden?« fragte ein paar Tage darauf noch in Peterhof der alte Generaladjutant Graf Mussin Puschkin, der damals Kaiser Wilhelm zugeteilt war. »Wie geht es mit dem Zaren?«

»Eigentlich bin ich mit dem Kaiser immer einer Meinung«.

Der alte Generaladjutant schien nicht sehr begeistert:

»Es ist meine Pflicht, Euere Majestät auf etwas aufmerksam zu machen. Ich bin glücklich, wenn es gut mit Euerer Majestät und dem Zaren geht. Nur muß ich warnen, damit Euere Majestät nicht in einen Irrtum verfallen und nicht glauben, daß der Zar, wenn er sagt, daß er einer Meinung mit Euerer Majestät sei, dies auch wirklich ist. Der Zar hat die Angewohnheit, wenn er über eine Sache einer anderen Meinung ist, die er aber nicht aussprechen will, die Diskussion dadurch zu vermeiden, daß er sich unbedingt auf den Standpunkt des anderen stellt. Infolgedessen kann ich Euerer Majestät nur raten: wenn Majestät merken, daß der Zar unbedingt Ihrer Meinung zu sein scheint, – dann hören Euere Majestät mit dem Thema auf. Weil es nämlich der Zar dann unbedingt nicht ist« – –

Der Kaiser war völlig verstört. Der Zar hatte etwas Zurückweichendes, Scheues in seinem Wesen. Oft schwieg er unsicher in der Unterhaltung. Der Kaiser hatte es für Schüchternheit genommen. Unsicher und schüchtern war er ja auch als Zarewitsch in Koburg gewesen, sein Überschwang hatte sich in dem einzigen Satz von seiner Dankbarkeit erschöpft. In Schlesien hatte er ihm kühl versichert, daß Rußland vollständig auf Konstantinopel verzichte. Er hatte das ganze, für Rußland so folgenschwere, seit Jahrhunderten brennende Problem so ganz und gar als erledigt betrachtet, daß Kaiser Wilhelm selbst ein wenig verwundert war. Die Frage blieb, ob ihm Unsicherheit die Haltung vorschrieb. Ob er nur im Eingelernten sicher war. Ob er sich hinter Zusagen wie hinter einer Mauer abschloß, um dann zu tun, was er wollte. Ob er hinter der Mauer erst um Schutz und Gewißheit bei seinen Ratgebern warb. Oder ob er mit Menschen, Dingen und Gefühlen spielte – –

»Sehen Euere Majestät immer zu«, riet noch der Generaladjutant, »daß Majestät der letzte sind, der aus dem Zimmer des Zaren fortgeht.«

»Ja, aber von Peterhof aus«, rief der Kaiser, »kann ich Deutschland schließlich nicht regieren!«

Die Umgebung des Kaisers Nikolaus war sehr offenherzig in ihrem Vertrauen zu Kaiser Wilhelm. Der Gast in Peterhof kam aus merkwürdigem Unbehagen nicht heraus. Einer der russischen Würdenträger berichtete, wie er sich selbst über das Wesen des Zaren und zwar vor dem Zaren selbst gewundert hätte. Nikolaus II. hatte geantwortet:

»N'oubliez pas, que je suis slave« – –

Mitunter hatte Zar Nikolaus etwas im Blick, das noch anderes war, als nur die dunkle, fast sinnlich wirkende Mystik, die ihn zweifellos zu verwandtem Wesen in der deutschen Prinzessin hingezogen hatte. Unausgesprochenes und Uneingestandenes lag in diesem stumm aufgeschlagenen, seitlich sich fortschlagenden Blick, der das Auge des anderen traf, aber nie verweilte, niemals sich halten ließ. Plötzlich sah der Kaiser im Geiste wieder die Randbemerkungen vor sich, die der Zar auf einen Vortrag des Kriegsministers gesetzt hatte. Der Minister hatte den Vortrag, der nach Berlin auf vertraulichem Wege gelangt war, für den russischen Generalstab als Entwurf eines Angriffs auf Japan ausgearbeitet. Überall standen die Notizen des Zaren:

»Da und da müsse geschlagen werden« – –

»Vernichten, vernichten, vernichten« – –

»Alles gefangen nehmen« – –

»Den Mikado absetzen« – –

Kindlich waren die Randbemerkungen, dennoch nicht kindlich allein. Auch der Darstellung besann sich Kaiser Wilhelm, die ihm ein Reisebegleiter des früheren Zarewitsch von einem Vorfall auf einer Reise nach Japan gegeben hatte. Mit dem Prinzen Georg von Griechenland hatte der russische Thronfolger einen japanischen Tempel aufgesucht. Er fürchtete und ehrte die Gottheit nur in orthodoxer Inbrunst. Mit den Götterbildern im Tempel trieben beide Prinzen bloß Schabernack. Vor dem Tempel schwammen auf gehegtem Teich den Japanern heilige Enten. Den Zarewitsch und Prinz Georg belustigte es, nach den Enten zu schießen und Steine nach ihnen zu werfen. Hinter dem Heiligtum sprang plötzlich ein Japaner vor. Mit krummem, japanischem Schwert hieb er ohne ein Wort den Zarewitsch quer über den Kopf. Die Wunde heilte spät und schwer. Wenn von Japan seit jenem Augenblick gesprochen wurde, standen seine Blicke still. Sie glühten – –

Eher bedrückt, als befriedigt fuhr Kaiser Wilhelm nach Deutschland zurück. Ganz unbedingt war auch dem Zaren Nikolaus nicht zu trauen.

Über Kiautschou wurden die Verhandlungen mit den Russen von Berlin aus weitergeführt. Die amtliche Form der Antwort des Zaren auf Kaiser Wilhelms Anfrage in Peterhof sah jetzt so aus, daß Kaiser Nikolaus solange auf Kiautschou nicht verzichten könne, als er nicht anderwärts Ersatz fände. Wenn deutsche Schiffe in Kiautschou überwintern wollten, so lasse der Zar allerdings dies zu. Dem russischen Außenminister Grafen Murawiew sagte nunmehr das deutsche Auswärtige Amt an, daß Deutschland sich wegen der Einfahrt deutscher Schiffe in Kiautschou an China wenden wolle. Man werde den russischen Admiral von ihrem Eintreffen vorher unterrichten. Als dies geschah, widersprach Graf Murawiew. Deutschland hätte zugesagt, sich noch vor der Entsendung der Schiffe mit Rußland zu verständigen. Indes meldete der deutsche Gesandte in Peking, daß Li-Hung-Tschang den Russen in der Tat den Hafen auf fünfzehn Jahre in Pacht überlassen hatte. Undurchsichtig liefen die Verhandlungen, voll Mißtrauen auf beiden Seiten geführt. Erst die Ermordung zweier deutscher, katholischer Missionare in Südschantung führte zu schnellen, entschlossenen, entscheidenden Schritten.

Fürst Hohenlohe setzte sich plötzlich für eine rasche Lösung der ganzen Frage mit so unerwarteter Kraft ein, daß alle Besorgnisse und Bedenken des Auswärtigen Amtes, in der Angelegenheit des Priestermordes und der Erwerbung Kiautschous auch gegen den Willen der Russen etwas zu tun, der Energie des alten Kanzlers weichen mußten. Dem Kaiser hatte das Auswärtige Amt gemeldet, daß keine Schiffe zur Ausfahrt nach Kiautschou zur Verfügung stünden. In Letzlingen suchte er den Fürsten Hohenlohe auf, um einen Entschluß über Kiautschou endgültig herbeizuführen. Der Kanzler ging auf die Gedankengänge des Kaisers sogleich ein. Er hatte seine Vorarbeiten über den Schritt in Ostasien bereits abgeschlossen. In Peking hatte er Sühneforderungen für den Priestermord gestellt, von denen er annahm, daß die Chinesen sie kaum erfüllen würden. Er erklärte sein Einverständnis, den Prinzen Heinrich mit deutschen Kriegsschiffen nach dem Osten zu schicken. Er war mit dem Kaiser in allen Einzelheiten in voller Übereinstimmung. Überdies schien es, daß der Kaiser keinesfalls mehr von seinem Vorhaben abstehen wollte. Die Räte im Auswärtigen Amt warnten. Auch die kaiserliche Umgebung sprach unruhig von großen Wagnissen.

»Es ist mir ganz einerlei«, widersprach der Fürst. »Der Kaiser hat in dieser Beziehung ganz recht!«

Im Walde von Letzlingen wurde die Entsendung der deutschen Kriegsschiffe mit dem Prinzen Heinrich nach Tsingtau beschlossen. Zum Jahresende dampfte das Geschwader.

Wann immer die Zaren von dem Besitz der türkischen Meerenge gesprochen hatten, so verdeutlichten sie ihre politische Machtabsicht den Massen daheim und der Welt mit dem glaubensvertieften Wunsch, das geheiligte Doppelkreuz an die Tore der Hagia Sophia nageln zu dürfen. In der Zorneswelle, die England noch ein Jahr nach der Kaiserdepesche an den Präsidenten Krüger gegen Deutschland befangen hielt, zählte ein vielgelesener Angriff der »Saturday Review«, der den Krieg mit Deutschland verlangte, alle Plätze der Welt auf, an denen deutsche Kaufleute mit Engländern im Wettbewerb standen. An alle diese Plätze, nach Transvaal, nach dem Kap, nach Mittelafrika, nach Ostasien war nach der »Saturday Review« die englische »Flagge der Bibel« gefolgt. Rußland rettete den Glauben bei den Osmanen, England bei mehreren Gelegenheiten. Unklug war in Prinz Heinrichs Rede vor der Ausfahrt der Hinweis auf das Evangelium des Kaisers, das er in der Welt predigen wollte. Überflüssig und unüberlegt das Wort des Kaisers, der sich, wie so häufig, von Klang und Gleichnis hinreißen ließ:

»Sollte einer uns an unseren guten Rechten kränken wollen, so fahre drein mit gepanzerter Faust« – –

Niemand unter den anderen Mächten, die ihre Missionare nach allen Erdwinkeln schickten, um die armen Wilden von Irrglauben zu Glauben und von der Wildheit der Natur zur Heranschaffung von Rohstoffen zu bekehren: niemand hatte ein moralisches Recht, auf den Kaiser und Prinzen in diesem Falle noch anders als aus Formgründen zu schelten. Aber alle waren still und klüger. Indes Deutschland endlich seine einzige Kohlenstation im weiten Asien bekam, teilten sie gründlich ohne alle großen Worte den blutgetränkten Sieg, den Japan errungen. Den Preis bezahlte China, dem sie als Freunde beigestanden hatten. Rußland ging nach Port Arthur, um das Japan gekämpft. Es nahm auch noch Dalny. Kiautschou blieb deutsch. Frankreich besetzte Kwangtschou. Dem allgemeinen Vormarsch nach Kompensationen dafür, daß ein Mongolenvolk Auseinandersetzungen mit anderen Gelben hatte, wollte sich auch England nicht versagen. Es ging nach Weihaiwei. Alles in dem Abschnitt der hier beschriebenen Geschehnisse ist erfüllt von marschierenden Missionaren, marschierenden Soldaten, von Kanonenschüssen aus christlicher Milde, von Eroberung, Machtwillen, Machtrausch und Gewalt. General Baratieri unternimmt seinen Vorstoß für das Königreich Italien in die Katastrophe von Adua. Frankreich mißgönnt den Italienern die Erfolge, noch bevor sie ausbleiben. Von den Küstenorten Obok und Dschibuti streben sie in das gleiche abessinische Innere. General Kitchener bricht nach dem Süden auf, besetzt Dongola und Berber. Von der anderen Seite marschiert um die gleiche Zeit Kapitän Marchand nach dem Sudan, um für Frankreich den Engländern zuvorzukommen. Vor den Franzosen haben die Engländer die Nigermündung besetzt. Schon sind sie im Aschantiland. Inzwischen hat Frankreich die Insel Madagaskar zur Kolonie gemacht, in Tunis die Vorbedingungen seiner Oberhoheit geschaffen. Dennoch übertrifft England alle: Rhodesia ist unterdes erobert worden, ein Kontinent im Kontinent ist neu aufgerichtet, der alle Erwerbungen der anderen übertrifft.

Unzufrieden ist England trotz alledem. Wenn man Deutschland etwas abschlägt, so ist dies ungefährlich. Deutschland ist unbequem, Deutschland ist formlos. Nur Deutschland glaubt, daß es darum schon eine Weltmacht sei, weil der Geheimrat von Holstein gelegentlich Drohnoten wegen der Bagdadbahn nach London schickt oder England »Lektionen« erteilt. Aber England fürchtet eine andere Macht. Frankreich marschiert. Frankreich sitzt in Siam. Madagaskar und Tunis hat es in verblüffend kurzer Zeit genommen. Frankreich verlangt die Räumung Ägyptens. Um Frankreichs willen gibt es ein Wettrennen nach dem Sudan. Frankreich einigt sich mit Deutschland über Togo. Es hat Unterhaltungen mit Deutschland über die Mündung des Zambesi. Frankreich ist mächtiger am Bosporus geworden, als England jemals war. Ein englischer Admiral kann die Pläne des britischen Kabinetts nicht ausführen, weil er Frankreichs Flotte fürchten muß.

Deutschland kann eines Tages gefährlich werden, wenn der Kontinentalbund wirklich zustandekommt, an dem der deutsche Kaiser zu arbeiten scheint. Frankreich ist es dann erst recht. Deutschland ist das Stiefkind unter den Kolonialvölkern. Es ist zu spät gekommen. Das Deutsche Reich ist noch nicht dreißig Jahre alt. Deutschland wird vielleicht zu englischer Freundschaft zu bekehren sein, wenn England ihm wirklich entgegenkommt. Frankreich hat längst zuviel, um sich in Bescheidenheit zu begnügen.

Deutschland hat das Bündnis mit England fünfmal, sechsmal gesucht. Vor Shimonoseki, vor Kreta hat sich der deutsche Kaiser in gemeinsame Front mit Rußland und Frankreich gestellt. Der alte Gladstone ist fort, der die Franzosen liebte.

Jetzt bietet Joseph Chamberlain, der neue Staatssekretär der britischen Kolonien, Deutschland den Bund an.


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