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Die »Ganz neue Weltkonstellation«

Der Kolonialstaatssekretär Joseph Chamberlain war der Reibungen und Schwierigkeiten Englands mit aller Welt überdrüssig geworden. Völlig vereinsamt war Großbritannien unter den Mächten, ganz und gar auf seine eigene Kraft und Mittel angewiesen, seit geraumer Zeit überall dort von Neid, von Händeln verfolgt, wo noch andere außer ihm nach Einfluß und Herrschaft zu streben vermochten. Unwillkommene Nachbarschaften richteten sich am Rande seiner eigenen Gebiete ein. Ferne, reiche Ländereien, die England längst seiner Macht oder wenigstens seinen Kaufleuten gesichert glaubte, waren in ihren Beziehungen und Geschäften nicht so zu leiten und zu beherrschen, daß das Königreich allein im Vordergrunde gestanden hätte. Ziele, die England sich in fremden Erdteilen steckte, wurden plötzlich auch die Ziele anderer Mächte. Bei verschiedenem Anlaß – im Kriege zwischen China und Japan, in türkischen Fragen, im kretenser Aufstand – hatte sich gezeigt, daß die Mächte sich sogar zu einem einheitlichen Vorgehen zusammenschließen konnten, vor dem England seine Wünsche und Absichten zurückstellen mußte. Unschwer ließ sich erkennen, daß Kaiser Wilhelm, stets voll warmer Worte voll Entgegenkommens gegenüber Rußland, die allmähliche Schaffung eines Kontinentalblockes in Europa bewußt anstrebte. Kam er zustande, so war England machtlos oder in gefährlichen Schwierigkeiten. Übermäßig freundlich konnte man das Verhältnis nicht nennen, in dem England und Deutschland all die jüngsten Jahre über miteinander gelebt hatten. Die Verstimmungen waren groß genug gewesen. Aber sie bedeuteten – trotz der Peinlichkeiten, die sich an Jamesons Überfall auf die Buren und an die Depesche des Kaisers an den Burenpräsidenten schlossen – wenig im Vergleich zu den Aussichten, die Rußland den englischen Wünschen nach Ausbreitung in Ostasien eröffnete. Noch weniger im Vergleich zu den schweren Zusammenstößen, die es seit dem Beginn der neunziger Jahre unaufhörlich mit den Franzosen gegeben hatte. Ägypten war in diesem Abschnitt britischer Kolonialgeschichte eine der wichtigsten Sorgen. Immer wieder verlangten die Franzosen seine Räumung. Obgleich sie wußten, daß General Kitchener nach dem Sudan aufgebrochen war, um auch das ägyptische Vorland dem einmal besetzten Gebiete zu sichern, marschierten sie dennoch dahin. Es war nicht abzusehen, zu welchen Konflikten es darum in absehbarer Zeit kommen mußte. Hatten die Franzosen im Sudan Glück, so war die ägyptische Frage erst recht aufgerollt.

»Diese Franzosen sind unmögliche Leute«, erklärte der Kolonialstaatssekretär in jüngster Zeit seiner Umgebung immer wieder. »Sie haben die Verständigung mit Rußland. Da ist die beste Versicherung ein Bund mit Deutschland. Diese Leute – die Franzosen – machen uns dasselbe, was uns Spanien gemacht hat. Wir haben genug von ihren Geschichten. Mit einem Bund mit Deutschland können wir den Frieden der ganzen Welt diktieren!«

Joseph Chamberlain war jung, klar, energisch. Er war ein großer Kaufmann in der Politik. Er wußte, daß zur Sicherung des eigenen Nutzens die beste Möglichkeit in der Gewährung von Vorteilen an den Partner bestand, mit dem man gehen wollte. Geschäfte in der Welt waren nur zu erreichen, wenn die Welt in Ruhe lag. Mit Deutschland im Bunde konnte England die Ruhe erzwingen. Dann konnte man sich in die Geschäfte teilen. Er dachte in ganz einfachen, großen Linien. Er wollte den Mut haben, ihnen nachzugehen und sie dem Erdschicksal einzuzeichnen. Lord Salisbury hörte sich die Pläne seines Kolonialministers mit Skepsis an. Der Lord war alt. Er hatte immer die Staatskunst so getrieben, daß sich durch sie auch Geschäfte für England ergaben, aber in der Staatskunst, in der Politik und Diplomatie, in denen ihm Englands Größe das erste Axiom, die Beherrschung von Technik und Handwerk daneben die Hauptsache und die staatsmännische Wissenschaft an sich gewesen waren, kam für ihn der Kaufmann nicht an erster Stelle. Er war für eine Staatskunst der reinen Diplomatie. Chamberlain für eine Auseinandersetzung der Staatskontore. Lord Salisbury stellte – selbst ein Mann voll kühlen Mißtrauens – bei allen Mitspielern psychologische Entscheidungen mit in die Rechnung. Chamberlain glaubte vor allem an den Anreiz und die Beweiskraft von Ziffern. Lord Salisbury hatte alte und viele Erfahrungen. Von Fürst Bismarcks Russenpolitik bis zu der Unterhaltung mit Kaiser Wilhelm über die Teilung der Türkei hatte er nur Enttäuschungen erlebt. Der junge Chamberlain begann erst mit den Versuchen, etwas aufzubauen. Entzückt war Lord Salisbury nicht von Chamberlains Zukunftsabsichten für England und Deutschland. An ihre Verwirklichung glaubte er nicht. Aber er ließ den Staatssekretär zunächst gewähren.

Joseph Chamberlain sprach ohne Rückhalt aus, was er sich dachte. Die Russen sollten in Ostasien nicht bedrängt werden. Port Arthur sollten sie behalten. Talienwan sollte ihrem Einfluß verbleiben. Die ganze Mandschurei wollte England als russisches Einflußgebiet anerkennen. Aber an den neuen, weiten Gebieten sollte Rußland es sich zunächst genug sein lassen. Wenn Deutschland sich England offen verbündete, waren Veränderungen in Ostasien und in der ganzen übrigen Welt nicht durchzusetzen ohne beider Zustimmung. Er eröffnete Deutschland, daß freilich die Gegensätze, in denen England zu Rußland und Frankreich stand, auf lange Dauer nicht unüberbrückbar wären. Er drohte nicht, wie dies die deutschen Staatsmänner bisher bei jeder Gelegenheit getan hatten, wenn sie ihre Wünsche anmeldeten, aber er gab zu und betonte ausdrücklich, daß England – um aus seiner »splendid isolation« herauszutreten, deren Sinn und Nützlichkeit gegenüber den in der abgelaufenen Zeit oft vereinigten Mächten verstrichen war – nur die Wahl zwischen Deutschland und seinen beiden Grenznachbarn habe. Ihm stünde Deutschland näher, schon um der vielen, gemeinsamen Interessen willen – –

 

Deutschland hatte um das Bündnis mit England durch viele Jahre gekämpft. Der Kaiser hatte bei verschiedenem Anlaß den großen Kontinentalblock angestrebt, vor allem, um England ganz zu Deutschland zu bringen. Noch im Ausgang des Jahres 1897 und nach der Jahreswende hatte der Botschafter Graf Hatzfeldt gemäß den Aufträgen, die ihm aus Berlin zugekommen waren, die mannigfachsten Anknüpfungen in London versucht. England sollte zu einer Annäherung beitragen, indem es Deutschland, als die Russen Schwierigkeiten machten, bei der Erwerbung von Kiautschou half. Der Botschafter machte nach den Weisungen des Staatssekretärs von Bülow allerlei Andeutungen. Die Russen hätten ein Bündnis gegen England vorgeschlagen. Deutschland wolle England beistehen, wenn es gegen die Annektion von Hawai Einspruch erhebe, wo die Amerikaner sich festgesetzt hatten. Die Beteuerungen deutscher Freundschaft nahm England sehr kühl auf, und als Graf Hatzfeldt den deutschen Wunsch aussprach, daß England und Deutschland wenigstens »irgendwo in der Welt« sich zu gemeinsamer Arbeit finden sollten, hatte England nicht die leiseste Bemerkung, wo solch ein Punkt oder solch eine Arbeit in der Welt wären. Plötzlich war erreicht, was Deutschlands auswärtige Politik, was vor allem der Kaiser ersehnte. Aber überraschend wie das Angebot des britischen Kolonialstaatssekretärs war die Haltung des deutschen Kabinetts.

Der Staatssekretär von Bülow erkannte unvermittelt, daß ein Bündnis mit England im Grunde Deutschland doch nur wenig nütze. Zwar hatte Chamberlain ausdrücklich versichert, daß England an einen Krieg mit Rußland nicht denke. Aber gerade von solchen geheimen Absichten Englands war der deutsche Staatssekretär durchdrungen. England besaß zahlreiche Panzerschiffe. Sie nützten Deutschland nichts, wenn es mit Rußland und seinem Bundesgenossen Frankreich im Kriege lag. Daß England allein mit seiner Flotte Frankreich an seiner atlantischen Küste, an seinen Mittelmeerufern und durch die Bedrohung seiner Kolonien in Schach halten konnte, daß Italien mit angespannten Kräften an Englands Seite marschieren mußte, sowie Großbritannien es befahl, daß England auf dem Kontinent wiederholt mit großen, eigenen Armeen gefochten hatte, seit den Tagen der Jeanne d'Arc über Hochstaedt, Oudenarde und Malplaquet bis zu der Entscheidung von Waterloo, daß die deutsche öffentliche Meinung darüber wie gewöhnlich in abgedroschenen Schlagwörtern dachte, die in Wahrheit gar nicht zutrafen: all das spann sich auch der Staatssekretär von Bülow nicht weiter aus. »Das Hazardspiel der Vertragsschließung«, den durch Jahre gesuchten Bund mit England, lehnte er in dem Augenblick ab, da er erreicht schien. Der Geheime Rat Baron Holstein dachte über Chamberlains Angebot nicht anders. Nur formulierte er, wie er dies meist tat, seine Gründe für eine Ablehnung mathematisch genauer. Außerdem wußte er besser als Joseph Chamberlain, was jetzt für Deutschland günstiger war.

Er traute England nicht über den Weg. In allen Kniffen der Staatskunst war Baron Holstein wohl bewandert. Auch hatte er Staatskunst bisher nie anders als mit Kniffen und schwersten Druckmitteln betrieben, immer nur bedacht auf Deutschlands eigene, sofort greifbare Vorteile oder was er dafür hielt. Der Vorteil des anderen kam dabei gar nicht in Betracht. So sah er von Anbeginn in Chamberlains Angebot nur den Versuch, die gleichen Mittel zu irgendeinem lediglich englischen Zwecke anzuwenden. Ein Bündnis mit England hatte für Deutschland auf einmal nur dann Wert und Bedeutung, wenn

1. »Rußland uns angreift« – –

2. »England weniger breitspurig auftritt« – –

Staatssekretär und Geheimrat waren sich darüber einig, England zunächst mit guten Ratschlägen zu antworten. Es wurde ihm empfohlen, lieber das Abkommen mit Österreich-Ungarn und Italien wieder zu schließen, das in der Entfremdung der jüngsten Zeit nicht mehr erneuert worden war. Für Chamberlains Hinweis, daß England sich nach einer deutschen Ablehnung an Rußland und Frankreich wenden wolle, hatte der Staatssekretär die nach seiner Auffassung zweifellos sehr kluge Antwort, daß Deutschland eine Annäherung und Verständigung Englands mit Rußland nur begrüßen könne, da ein solches Bündnis die französische Bundesgenossenschaft für Rußland überflüssig mache. Daß aber im Falle eines Krieges zwischen Deutschland und den beiden von Chamberlain in Aussicht gestellten, neuen Bundesgenossen – also Rußland und England – die Franzosen in jedem Falle ihre Armee marschieren ließen, um die 1870 verlorenen Provinzen wiederzubekommen, daran dachte weder der Staatssekretär, noch der Geheimrat. Baron Holstein hielt ebenso das Bündnisangebot des Kolonialstaatssekretärs wie den Ausblick auf eine russisch-englische Verständigung für Gaukelei ohne Sinn und Hintergrund. Ernster als beide dachte darüber der Kaiser. Obgleich ihm der Staatssekretär von Bülow nur den Antrag des Bündnisses gemeldet hatte. Die Ansage Chamberlains, daß Englands Weg zum Zweibund führe, wenn Deutschland nicht mit ihm gehen könne oder wolle, hatte er dem Herrscher verschwiegen.

 

Der Kaiser stand vor dem englischen Bündnisproblem mit seiner innersten Neigung, Deutschland und England zu einem wahren, festen Bunde zu vereinigen, und mit dem tiefen Mißtrauen vor Englands Methoden, die er allmählich durchschaut zu haben glaubte. Für Rußland hatte in ihm eigentlich immer nur ein Gedanke der Pietät gesprochen. Kaiser Wilhelm I. hatte ihm Rußland auf dem Sterbebett empfohlen. Für Rußland sprachen die ungeheueren, in seinen Gebieten überall aufgespeicherten Kräfte, die Deutschland gewiß unbesiegbar machten, wenn sich die beiden Reiche gegen Tod und Teufel zusammentaten. Ferner sprach für Rußland, daß Deutschland Kiautschou doch durch das schließliche Einverständnis der Russen erworben hatte. Wenigstens hatten sie den Erwerb nicht unmöglich gemacht. Auch hatte Kaiser Wilhelm dem Zaren gewisse Zusagen darüber gegeben, daß Deutschland ihm keine Schwierigkeiten in Ostasien bereiten wolle. Er selbst hatte Nikolaus II. in seiner ostasiatischen Politik ermuntert. Aber gegen Rußland sprach die Abneigung des russischen Volkes, der russischen Armee, der russischen Gesellschaft, die im Grunde alles Deutsche ablehnten. Die unerwarteten Freundschaftsversicherungen der Engländer machten den Kaiser argwöhnisch. Dem Wesen des Zaren mutete er nicht viel Besseres als Hinterlist zu. Die Erlebnisse in Peterhof hatten ihn doch ein wenig ernüchtert. Freilich mußten den Zaren vor allem monarchische Grundsätze leiten. Dem Herrscher stand der Herrscher vielleicht näher als der Kolonialstaatssekretär Chamberlain oder gar Lord Salisbury. Aber wenn Kaiser Wilhelm in seinen Gefühlen auch schwankte, zum Schlusse sagte er sich doch, daß er seine ganze Politik nicht geraume Zeit getrieben haben wollte, um sie aus immer stärker gewordenem Mißtrauen gegen England in dem Augenblicke fallen zu lassen, da England also doch wirklich zu Deutschland kam. Er brauchte nur auf der Hut zu sein. Seine Entscheidung an den Staatssekretär war, das Angebot des Kolonialministers günstig aufzunehmen. Was der Staatssekretär ihm verschwiegen hatte, fand er von selbst und wies daraufhin: daß Englands Weg, wenn Deutschland absagte, zum Zweibund führen müsse.

Mehr als von Gefühlen wollte er sich allerdings von Sicherheiten in der Frage des englischen Bündnisangebotes leiten lassen. In Homburg bestätigte ihm noch einmal Graf Metternich die Meldungen des Staatssekretärs von Bülow über Chamberlains Vorschläge:

»Jawohl, Majestät, – er will unsere Bajonette haben.«

»Aber gegen wen?« fragte der Kaiser. Graf Metternich gab eine Auskunft, die in unmittelbarem Widerspruch zu Chamberlains Eröffnungen stand. Die Auskunft des Grafen beruhte auf den ihm in Berlin gegebenen Grundlagen:

»Gegen Rußland, Euere Majestät!« – –

»Aber wir leben mit Rußland doch im tiefsten Frieden!« erwiderte der Kaiser. »Wir können doch nicht einfach über Rußland herfallen.«

»Ja«, gab Graf Metternich zu, »das weiß ich auch nicht« – –

»Ein Bündnisangebot von England ist eine sehr ernste Sache!« fuhr der Kaiser fort. »Da Chamberlain wissen ließ, daß es gegen Rußland gehen soll, geben Sie ihm die Traditionsskizze« – –

Der Kaiser hatte ein Dokument im Sinn, das als eine Art Vermächtnis von ihm und seinen Vorgängern immer in feierlicher Erinnerung gehalten worden war. Es sprach von Rußlands und Preußens Waffenbrüderschaft von 1813, von dem großen Befreiungskampf, den beide Länder ausgefochten. Die russischen Kaiser hielten die Skizze in gleichen Ehren.

»Moralisch«, fügte Kaiser Wilhelm hinzu, »sind wir Rußland auch durch Bindungen nahe, die ich – ohne jeden Grund – nicht alle durchbrechen kann!«

Dann ging der Kaiser auf die englische Verfassung und auf die begrenzte Macht der britischen Kabinette über. Was das eine Kabinett verabredete, konnten seine Nachfolger wieder umstoßen.

»Daher ist es nötig, daß Chamberlain den Beweis erbringt, daß er Ministerium und Parlament hinter sich hat.«

Graf Metternich hatte die Auffassung des Kaisers nach Berlin zu melden. Die Antwort aus Berlin lautete, der englische Kolonialstaatssekretär hätte sich mit den britischen Ministern längst auseinandergesetzt. Auch mit dem Parlament werde er die Angelegenheit schon in Ordnung bringen.

»Das genügt mir nicht«, beharrte der Kaiser, »das Bündnis muß von der Regierung im Parlament erklärt und ratifiziert werden!«

Aber der Kaiser hörte von der Angelegenheit vorläufig nichts mehr. Nach geraumer Weile wurde ihm als Lord Salisburys angeblicher Standpunkt berichtet:

»Was der gute Chamberlain spricht, ist nicht so ernst zu nehmen« – –

Mißtrauen stieg aufs neue in Kaiser Wilhelm auf. Bisweilen konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, als versuchte es England überhaupt nur mit Spiegelfechtereien, um irgendwo in der Welt wieder einen Staatsstreich durchzuführen, indes Deutschland guter Stimmung bleiben sollte. Seine Gedanken wanderten abermals nach Rußland. Viel Ermutigendes hatte er in Peterhof über den Zaren nicht gehört. Aber er sah wieder den jungen, hilflosen und ganz unglücklichen Zarewitsch vor sich, dem er einen großen persönlichen Liebesdienst erwiesen hatte, entscheidend für des Zaren ganzes Leben. Er wollte sich ihm anvertrauen. Der Staatssekretär von Bülow verlangte, daß der Kaiser ihn wegen der englischen Sache überhaupt ins Vertrauen ziehe. Er forderte als Leiter von Deutschlands Politik, daß das Angebot unbedenklich bei Rußland ausgenutzt werde, weil der Zar unter dem Eindruck des britischen Vorschlages vielleicht doppelt soviel gab wie England. Da er gewohnt war, immerzu mit Anregungen und Entwürfen zu kommen, die Kaiser Wilhelm an den Zaren weitergeben sollte, schlug er auch diesmal für die Anfrage die Form eines Schreibens Kaiser Wilhelms an Nikolaus II. vor. Die Angelegenheit war von besonderer Wichtigkeit. Er setzte sich an einen Tisch mit dem Kaiser, und beide stilisierten diesen Brief vom 30. Mai 1898, darin es hieß:

»Was die Tendenz des Bündnisses ist, wirst Du gut verstehen, da ich unterrichtet bin, daß es sich um ein Bündnis mit der Tripelallianz und mit Einschluß von Japan und Amerika handelt, mit denen bereits Vorverhandlungen begonnen worden sind. Welche Chance in der Ablehnung oder Annahme für uns liegen, magst Du selber berechnen! Nun bitte ich Dich als meinen alten und vertrauten Freund, mir zu sagen, was Du mir bieten kannst und tun willst, wenn ich ablehne« – –

Der Kurier trug das Schreiben nach Petersburg. Der Kaiser wollte für Deutschland entweder das Zusammengehen mit Rußland oder die Freundschaft mit England: lieber den englischen Bund. Seine Unruhe konnte er beschwichtigen, wenn Rußland ihm ganz die Hand hinstreckte. Er mußte Englands Vorschläge annehmen, trotz seiner immer wacher warnenden Zweifel, wenn Rußland nicht auf sein eigenes Angebot einging. Der Staatssekretär von Bülow wollte dagegen im Grunde gar kein Abkommen mit Rußland. Deutschland sollte frei bleiben. Wenn es sich aber schon verbündete, dann lieber mit Rußland. Niemand konnte wissen, was der Zar antwortete. Es war seine staatsmännische Überzeugung, daß ein starker Trumpf auch auszuspielen war, wenn man schon über ihn verfügte; daß man mit größter Geschicklichkeit den einen gegen den andern auch richtig »vorschob« und mit der Anwendung solchen Verfahrens allmählich alle übrigen außer sich selbst verdächtigte und ihnen darum mißtraute. Ob der Zar übrigens absagte oder nicht: der Staatssekretär und Baron Holstein wollten in jedem Falle daran weiterarbeiten, das von Chamberlain aufgeworfene Problem jener Lösung zuzuführen, die sie als glücklichste für Deutschlands Vorteil ansahen.

 

Chamberlain schwebte das Ziel einer restlosen Verständigung mit Deutschland vor, einer großen Machtversicherung zweier tüchtiger, arbeitsamer und starker Völker gegenüber der ganzen Welt: selbstverständlich war, daß jeder der beiden Bundesgenossen dann dem anderen half, ihm Besitz, Reichtum und Entwicklung steigerte, wo er nur konnte. Der Staatssekretär von Bülow und Geheimrat von Holstein sahen die ausgezeichnete Gelegenheit des britischen Vorschlages völlig anders: solange England hoffte, das von ihm erstrebte Bündnis zu erlangen, waren sicherlich Kolonien, Kompensationen, Beutestücke von ihm zu erreichen – –

Chamberlain, der nüchterne Kaufmann und Rechner in der Staatskunst, erschien ihnen in der Tat als »der naive Anfänger«, für den ihn auch Graf Hatzfeldt hielt. In der Maimitte 1898 stellte sich der Kolonialsekretär in Birmingham wahrhaftig auf die offene Rednertribüne und verkündete aller Welt, daß Englands Vorteil in guten Beziehungen zu Amerika und vor allem in einem Bündnis mit Deutschland bestünde. Sowohl der Staatssekretär von Bülow, wie Baron Holstein faßten die Lage daraufhin so auf, daß der Augenblick günstig war, mit England zu einem Kolonialabkommen in Afrika zu gelangen.

Portugals afrikanischen Provinzen Angola und Mozambique ging es materiell schlecht seit geraumer Zeit. Es wollte seinen Besitz an England verpfänden, wenn ihm eine größere Anleihe gewährt würde. Schon einmal hatte Deutschland durch die Entsendung von Kriegsschiffen nach der Delagoabai der englischen Bewegungsfreiheit Schwierigkeiten bereitet. Seine Anteilnahme an den Schicksalen jener Gebiete hatte es so besonders betont: Lord Salisbury hielt es für nützlich, von der erbetenen Anleihe mit Graf Hatzfeldt zu sprechen. Sogleich meldete sich das Echo aus Berlin. Daß England den Portugiesen Geld gebe und damit seinen späteren Einfluß sichere, könne Deutschland nicht zulassen. England sollte sich mit Deutschland über den künftigen Besitz in Portugiesisch-Afrika einigen. Dann wolle es sich in Zukunft um die Dinge in der Delagoabai nicht mehr kümmern, die von der See her den Zugang zur Burenrepublik darstellte. Die Begeisterung für das kleine, unterdrückte Volk der Buren, die vor zwei Jahren noch Kaiser Wilhelms Depesche an den Präsidenten Krüger als unerläßlich gefordert hatte, war in der deutschen Staatskanzlei verflogen: Land war Land, wo immer man es bekam. Da sich England aber schon einmal um eine so große Sache wie ein Bündnis bemühte, so konnte man gleich mehr fordern. In dem Kriege, den Amerika mit Spanien in diesem Jahre wegen des Besitzes der Philippinen ausfocht, hatte der Staatssekretär von Bülow ein deutsches Geschwader unter Admiral Diederichs nach der Inselgruppe entsandt. Zwar verstanden die Amerikaner nicht, was deutsche Kriegsschiffe in einem Konflikt suchten, der nur sie und ihren Gegner anging. Argwöhnisch verfolgten sie die deutsche Haltung. Erreicht wurde nichts: vertrauliche Anfragen des Staatssekretärs in London, ob man die Philippinen, statt sie den Amerikanern zu lassen, nicht lieber neutralisieren wolle, wurden höflich abgelehnt. Daß Chamberlain in Birmingham ausdrücklich die Notwendigkeit guter Beziehungen Englands zu Amerika betont hatte, war von dem Staatssekretär von Bülow überhört oder vergessen worden. Die deutschen Schiffe dampften jedenfalls ohne Erfolg von den Philippinen wieder ab. Der Staatssekretär erwog, ob man den Spaniern, wenn schon die Philippinen verloren waren, nicht wenigstens die Reste ihrer Kolonien – die Marianen und Karolinen – abkaufen sollte. Die Verstimmung Amerikas gegen das immerhin ein wenig aufdringlich erscheinende Deutschland nahm er weiter nicht schwer. Aber wenn schon die Hoffnung auf Philippinenbesitz zerstob, so wollte sich der Staatssekretär wenigstens in den Verhandlungen schadlos halten, die er mit dem so freundschaftsbedürftigen England führte.

Ein ganzes Bündel von Wünschen legte er in London vor: über Togo und Sansibar, über Samoa und die Walfischbai. Lord Salisbury, weniger großzügig als Chamberlain, hatte erst wenige Wochen zuvor dem Botschafter Grafen Hatzfeldt erklärt:

»Sie verlangen zuviel für Ihre Freundschaft« – –

Diesmal war der Premierminister fast belustigt. Er wunderte sich, daß Deutschland »nicht ganz Afrika« beanspruchte. Er lehnte das Bündel von Wünschen ab. Der Kolonialsekretär sah über die Einzelfragen und ihre Bedeutung zunächst hinweg. Er ließ – nunmehr dem Kaiser durch den englischen Botschafter in Berlin – abermals das englische Bündnis anbieten. Er drückte sich noch klarer aus als bisher: der Bund sollte die Pflicht zur militärischen Hilfeleistung aussprechen, wenn einer der Bundesgenossen von zwei Gegnern angegriffen würde. Kaiser Wilhelm fand, daß es ein Vorschlag von größter Wichtigkeit war. Er verlangte, daß er mit Ernst und Genauigkeit geprüft werde, wenn England ihn amtlich wiederhole. Der Staatssekretär von Bülow war anderer Meinung. Vom Bündnis mit England hielt er überhaupt nichts. Wenn Rußland von solch einer Bindung erfuhr, war alles mit Rußland verdorben. Allzu großen Wert gab er übrigens auch einem Bündnis mit Rußland nicht. Dem Staatssekretär wurde allmählich klar, zu welcher Macht das neue, kaiserliche Deutschland emporgestiegen war, da der Zar sich von deutschen Ratschlägen in seiner Politik bestimmen ließ, da der Zar seine Wünsche in Ostasien gar nicht durchsetzen konnte ohne Deutschlands Hilfe, da Frankreich vor Shimonoseki gezwungen worden war, gemeinsam mit dem verhaßten Feinde Deutschland zu handeln, da schließlich das viel umworbene, noch vor kurzem von Deutschland vergeblich umworbene England an Deutschlands Türen klopfte.

Deutschlands Macht sah der Staatssekretär in Deutschlands Unabhängigkeit. Er wollte sich den Entschluß vorbehalten, für welchen Freund er sich bei Gelegenheit entschied. Nach der Ansicht des Geheimrats von Holstein hatte nur Deutschland die Möglichkeit der freien Entscheidung; wenn England die gleiche Möglichkeit für sich in Anspruch nahm, so war dies natürlich eine schwere Selbsttäuschung des armen Kolonialstaatssekretärs Chamberlain, der sich zwischen den rauhen Tatsachen der Welt offenbar nicht zurechtfand. Der Staatssekretär beschloß, den neuen englischen Antrag nach dem Befehle des Kaisers mit der Genauigkeit und dem Ernste zu prüfen, die der Sache zukamen und seinem eigenen Wesen entsprachen. Dem Kaiser riet er mit größter Eindringlichkeit, den Engländern kein Entgegenkommen zu zeigen, schon gar nicht irgend etwas zu tun, das Bindungen schaffen könnte. Deutschland war die Macht, die entweder Rußland oder England zum Übergewicht verhalf. Nichts sollte geschehen, um diese Macht zu verspielen. Wenn der Kaiser nächstens wieder nach England fuhr, um die Königin Victoria zu besuchen, so sollten die Engländer spüren, daß die Geschicke der Erde in Wahrheit von Kaiser Wilhelm II. abhingen. Der Staatssekretär sprach es offen vor dem Kaiser aus: »arbiter mundi« war sein »erlauchter Herrscher« geworden, der Schiedsrichter der Welt – –

All die großen, staatsmännischen Gedanken, die tiefen Erwägungen, warum Deutschland auf ein Bündnis mit England nicht eingehen konnte, auch die Ablehnung der Lord Salisbury vorgebrachten Wünsche hielten den Staatssekretär und Baron Holstein nicht ab, wegen der künftigen Aufteilung der portugiesischen Kolonien in Afrika weiterzuverhandeln. Endlich gab England nach. Die portugiesische Anleihe sollte zwischen Deutschland und England aufgeteilt, die Zölle aus Südangola und Nordmozambique an Deutschland, aus Südmozambique und Nordangola an England verpfändet werden. In diese Gebiete wollten die beiden Mächte sich als Besitzer teilen, wenn Portugal eines Tages – was zu erwarten war – seine Ländereien in Afrika überhaupt verkaufen wollte. Gegen jeden Einspruch anderer Staaten in die Dinge der beiden Kolonien, gegen jeden Angriff auf sie verpflichteten sich England und Deutschland zu gemeinsamem Vorgehen. Chamberlain sah das Abkommen als eine Art Abschlagszahlung an, dem nunmehr das Bündnis folgen sollte. Auf die Anregung des Staatssekretärs von Bülow, zunächst doch die früheren Verträge mit Österreich-Ungarn und Italien zu erneuern, hatte er nach Berlin mitteilen lassen, daß es vor allem Deutschland und jetzt nur Deutschland sei, mit dem England die enge Gemeinschaft wünsche. Aber der Staatssekretär von Bülow schwieg. Baron Holstein nannte Deutschlands Ostgrenzen bedroht, wenn Deutschland sich mit England verbrüderte. Er sah die Gelegenheiten für jeden deutschen Kolonialerwerb verschüttet, wenn Deutschland sich für Rußland entschied. Deutschland erklärte sich also weder für Rußland, noch für England. Der Staatssekretär hielt es für ratsam, dem englischen Staatsmann bloß die Hoffnung auf das Bündnis nicht zu nehmen, auf das er keinesfalls einzugehen entschlossen war. Er hatte den Vertrag über Angola und Mozambique erreicht. Sicherlich war auf solche Art noch mehr an Kolonialbesitz von England herauszulocken.

Vom Fortgang der Ereignisse hörte der Kaiser in großen Abständen immer nur die Hälfte. Entscheidende Wendungen hielt der Staatssekretär nicht für so wichtig, daß sie dem Herrscher mitgeteilt werden mußten. Auch fügte er den englischen Vorschlägen Dinge zu, von denen gar nicht gesprochen worden war. Im Juni 1893 hatte Zar Nikolaus auf Kaiser Wilhelms briefliche Anfrage über ein Zusammengehen Deutschlands und Rußlands geantwortet. Voll Überraschung las damals der Kaiser, daß England auch dem Zaren, genau so wie ihm ein Bündnis angeboten hätte. Natürlich hätte der Zar den Vorschlag abgelehnt. Zwar war ein Bündnisangebot von England an Rußland in Wahrheit gar nicht ergangen. Lord Salisbury hatte Sir N. O'Connor, den britischen Botschafter in Petersburg, mit unzweideutigen Worten lediglich beauftragt, mit den Russen über eine vorteilhafte Ordnung der Dinge in China zu sprechen. Der Botschafter hatte sich in allgemeinen Ausführungen erst über eine mögliche Besserung der Beziehungen zwischen England und Rußland mit dem Grafen Murawiew unterhalten. Der russische Außenminister hatte dann sogleich für die beiden Reiche eine »entente« vorgeschlagen und Sir N. O'Connor gebeten, Lord Salisbury zu ihrer »Formulierung« zu veranlassen. Aber selbst der Botschafter hatte die Möglichkeit dazu sofort bezweifelt und Lord Salisbury über den Vorschlag kein einziges Wort weiter verloren, sondern sich nur bereit erklärt, nach dem Zustandekommen eines Abkommens über China unter Umständen auch über türkische Fragen mit Rußland zu sprechen. Seine begrenzten Wünsche gab der britische Premierminister an Sir N. O'Connor in so deutlicher Form weiter, daß der Botschafter zu seiner Sicherung vorzog, sie genau in der Begrenzung durch den Lord dem Grafen Murawiew lieber schriftlich zu unterbreiten. Völlig gleichgültig war dann, ob wieder Graf Murawiew eine neue Probe seiner Erfindungskraft oder Verfärbungskunst dem Zaren vorbrachte oder ob ein anderer Minister Nikolaus II. falsch berichtete. Aber einen niederschmetternden Eindruck empfing von der ganzen Angelegenheit der Kaiser: England trieb also wieder doppelte, hinterhältige Politik. Die Armenier standen wieder auf, die man totschlagen ließ, um sie zu befreien – –

Zum erstenmal war es vielleicht nicht nur in dem allgemeinen Plan des Kaisers, daß er versuchte, Rußland und damit Frankreich gegen England in eine Linie zu bekommen. Im Sudan hatte General Kitchener die Truppen des Mahdi bei Omdurman geschlagen. Er zog ohne Aufenthalt nach Faschoda weiter, wo inzwischen Kapitän Marchand mit seinen Franzosen eingetroffen war. Marchand hatte das von ihm erreichte Gebiet für die französische Flagge in Besitz genommen. Der schwere Konflikt zwischen England und Frankreich war unvermeidlich. England verlangte den Abmarsch der Franzosen. Ihre Flagge sollte niedergeholt werden in Faschoda. Frankreich nahm schließlich die Demütigung an, aber der Krieg stand vor der Tür. Kaiser Wilhelm verbarg nicht, daß er das Zurückweichen der Franzosen für eine Erniedrigung hielt. Er schrieb dem Zaren darüber: vielleicht waren Rußland, Deutschland, Frankreich jetzt zu einigen. England mußte bescheidener werden oder ernster in seinen Vorschlägen an Deutschland. Zunächst gönnte ihm der Kaiser unruhige Stunden der Doppelzüngigkeit wegen, von der er abermals den Beweis zu haben glaubte. Aber ein Zusammengehen aus solchem Anlaß brachte doch vielleicht auch Frankreich endlich ein wenig näher an den Gegner von gestern. Viele Stimmen wurden laut in Frankreich, die das Vergessen von 1870 und die Aussöhnung mit dem Nachbar forderten. Indes sah der Kaiser selbst bald ein, daß er diesmal mit seinen Gedanken irrte. Denn der Zar überhörte die Anregung. England zog es vor, Frankreich wenigstens in der Form nicht weiter zu demütigen. Die Kriegsgefahr verflog. Unklar war die Lage für Deutschland. Mit den Nachbarn war der Kaiser nicht weiter gekommen. Und die Liebe zu England litt.

 

Der Kaiser ging auf Reisen. Das Grab Christi in Jerusalem sollte besucht werden, vorher der Sultan Abdul Hamid. In seiner Verstimmung gegen England war dem Kaiser gerade die Reise in die Türkei und in türkische Provinzen recht, deren Aufteilung ihm Lord Salisbury vor drei Jahren vorgeschlagen hatte. Der Sultan nahm ihn nicht nur mit großen, verschwenderischen Feierlichkeiten, sondern mit sichtbarer Herzlichkeit auf.

Trotz der geschickten Art, wie Abdul Hamid seine Gespräche führte, entrollte sich dem Kaiser doch in wenigen Unterhaltungen das ganze diplomatische Netz, das um den Großherrn die Mächte knüpften. Abdul Hamid wußte, wie vorsichtig er zwischen England, Rußland, Frankreich lavieren mußte und wie wenig willkommen ihnen Kaiser Wilhelms Freundschaft für die Türken war. Er warb um Kaiser Wilhelms Zuneigung, aber über seinen Dolmetsch Munir Pascha, der die französischen Antworten des Kaisers nicht immer so schnell verstand wie Abdul Hamid, horchte er seinen Gast nach allerlei Neuigkeiten und vertraulichen Mitteilungen aus. Er konnte sie den Großmächten nach London, Petersburg und Paris weitergeben, damit sie nach solchem Freundschaftsbeweis weniger verstimmt über seinen Gast wären, bei dem der Sultan nach Schutz eben wieder gegen die Großmächte suchte. Der Kaiser wußte von der sehr bequemen Einrichtung, daß jede fremde Botschaft ihren eigenen, vortrefflich bezahlten Kammerherren beim Sultan hatte, der die Unterlagen für alle Meldungen aus Yildiz lieferte, zugleich alle Mitteilungen übernahm, die dem Sultan zugeleitet werden sollten. Natürlich hatten die Botschafter Englands, Rußlands und Frankreichs alles getan, um Kaiser Wilhelms Besuch für Abdul Hamid nicht zu einer reinen Freude werden zu lassen. Der Kaiser hatte dem Sultan das neue deutsche Militärgewehr als Geschenk mitgebracht. Drei türkische Kammerherren liefen mit der entsetzten Mitteilung zu dem Padischah, daß Kaiser Wilhelm ihn erschießen wolle. Nur wer Abdul Hamids gespenstische Todesfurcht kannte, vermochte die Kindlichkeit dieses diplomatischen Schrittes zu verstehen. Das festliche Bankett, bei dem die Überreichung der Waffe geschehen sollte, wurde Tag um Tag verschoben. Neue Kammerherren kamen, um das Gewehr zu übernehmen, damit der Sultan sich mit ihm besser vertraut mache, noch bevor der Kaiser ihm die Einzelheiten erläutere. Endlich gestand der türkische Kammerherr der deutschen Botschaft den wahren Grund. Kaiser Wilhelm schickte ihn mit der Versicherung zurück, das Gastrecht sei ihm heilig wie den Ottomanen. Daß die Botschafter die Übergabe der Waffe auf jede Art vereiteln wollten, begriffe er: sie fürchteten zweifellos, daß Kaiser Wilhelm dem Sultan das beste Gewehr der Welt nur bringe, damit er seine eigene Armee damit bewaffne und sie unüberwindlich würde.

Am nächsten Tage wurde das Bankett gegeben. Ganz überzeugt schien der Großherr noch nicht, denn, umringt von seinen Würdenträgern und Generalen, steckte er so tief hinter einem eisernen Ofenschirm, daß ihn der eintretende Kaiser erst überhaupt nicht sah. Dann blinzelte er seinen Gast mit argwöhnischen Augen an, verschwand völlig hinter dem Schirm, als der Flügeladjutant dem Kaiser das Gewehr reichte, und kam erst hervor, als der Gast die Kammer aus dem Lauf geschlagen hatte. Dann atmete er auf, nahm mit erleichtertem Lächeln die Waffe und legte mit scherzhaftem Spiel der Reihe nach auf seine Großen an, die unter tiefem Salam erbleichten. Der ganze Vorgang hatte gewiß viel von orientalischer Kindlichkeit. Weniger kindlich war, daß der Sultan in glänzendste Laune geriet. Er ließ den deutschen Botschafter, den früheren Staatssekretär Freiherrn von Marschall wissen, daß er einen Geheimschlüssel wünsche, um in Chiffreschrift fortan mit Kaiser Wilhelm unmittelbar verkehren zu können. Natürlich blieb der Wunsch des Sultans schon in der Botschaft am Bosporus liegen. Kaiser Wilhelm erfuhr nichts davon. Aber weit wichtiger war, daß die glänzende Laune des Sultans ihn dazu brachte, mit ihm über die Bagdadbahn zu sprechen.

Die Vorgeschichte des beabsichtigten Bahnbaues, der Konstantinopel mit Bagdad verbinden und bis Kuweit am Persischen Golf weitergeführt werden sollte, reichte weit zurück. Ein kleiner, von dem Deutschen von Pressel 1870 vollendeter Schienenweg, der von Haidar Pascha am Bosporus nur bis Ismid auf kleinasiatischem Boden lief, war zehn Jahre später von den Engländern erworben worden. Um die gleiche Zeit hatte – 1880 – eine internationale Gesellschaft das Bahnsystem geschaffen, durch das Konstantinopel mit Europa verbunden wurde. Der Vertreter der deutschen Interessen in der Gesellschaft, der frühere Konsulent der bayerischen Ostbahn, Otto von Kühlmann, trat bald der »Anatolischen Eisenbahngesellschaft« bei, die ihre Aufmerksamkeit, getragen von den Kapitalien der »Deutschen Bank« und der »Dresdner Bank«, dem so oft schon erwogenen Plan der Bagdadbahn zuwandte. Bereits Disraeli hatte sich im Studium der ersten Entwürfe der Engländer Chesney und Cameron mit ihm beschäftigt, ohne daß das Projekt weiter gedieh, als bis zu der kleinen Bahnlinie von Haidar Pascha nach Ismid. Im Ausgang der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts sah der weitblickende, britische Botschafter Sir William White die Angelegenheit über ihre große wirtschaftliche Bedeutung hinaus auch noch politisch an. Die »Anatolische Eisenbahngesellschaft« bewog er, den Engländern den winzigen Bahnflügel abzukaufen, die Engländer veranlaßte er, in den Kauf zu willigen. Die »Anatolische Gesellschaft« beschloß, die Bahn über Erki Schehir sogleich bis Angora durchzubauen und der Sultan gewährte die Erlaubnis, die Strecke von Erki Schehir in südlicher Richtung bis Konia weiterzuführen. Sir William White gab all den Plänen und Beschlüssen seine Hilfe, – am Tage des Kaufabschlusses über den Ismidflügel erklärte er:

»Heute hat England einen starken Bundesgenossen im Orient gewonnen« – –

Der Botschafter dachte an eine gemeinsame Abwehr russischen Druckes im Orient, von Persien und vom Kaukasus her, durch England und Deutschland. Es war die Zeit, da England noch jede Stärkung der Türkei willkommen war. Mit der Übernahme der britischen Geschäfte durch Gladstone schlug die türkenfreundliche Stimmung Englands in das Gegenteil um. Die Anteilnahme an der Stärkung der Türkei verflog, das ganze Projekt der Bagdadbahn erhielt für England ein anderes Gesicht: militärische Einsprüche meldeten sich, die mögliche Gefahren bis an den Persischen Golf herangetragen sahen, bis an das Tor von Indien. Die Gunst der Türkei, von der die Erlaubnis zu dem Bahnbau abhing, hatte England für sich versäumt. Auch waren die Tage Sir William Whites vorbei, der Deutschland unterstützt hatte. Mit Deutschland lebte England in den neunziger Jahren meist in Verärgerung: England half nicht mehr, von der Türkei allein hing es ab, ob und wie das begonnene Werk weitergeführt werden sollte.

Deutschland hatte dem Sultan seit geraumer Zeit nur Freundlichkeit erwiesen. Der Abtretung Kretas hatte es nicht zugestimmt. Die Armenierfrage hatte es für eine innere Angelegenheit des Osmanischen Reiches erklärt. Bei den vielen Gesprächen der Mächte mit der Türkei über unerläßliche Reformen hatte Deutschland Zurückhaltung bewahrt. Zum Schlusse war der deutsche Kaiser nach Konstantinopel gekommen, um dem Sultan erneut seine Freundschaft zu bekunden. Er wollte, wenn er nach Jerusalem weiterzog, das Grab Saladins besuchen. Den ganzen Islam wollte er laut und feierlich seiner Freundesgefühle versichern. Vor dem Sultan gab sich Kaiser Wilhelm alle Mühe, die ganze bezaubernde Liebenswürdigkeit zu entfalten, über die er so leicht verfügte, wenn er wollte oder wenn man sie ihm nicht nahm. Abdul Hamid verhehlte auch gar nicht, daß er bezaubert war.

Wenigstens bewies er es: Kaiser Wilhelm reiste nach Jerusalem mit der klaren Abmachung weiter, daß Deutschland die ganze gewaltige Bahnstrecke bis nach Bagdad, von Konia bis nach Kuweit zu Ende bauen sollte.

 

Von England, von Chamberlains Bündnisplänen hatte der Kaiser weder auf seiner Orientreise, auf der ihn der Staatssekretär von Bülow begleitete, noch nach seiner Rückkehr wieder etwas gehört. Die britische Regierung hatte keinen »amtlichen« Vorschlag, wie der Kaiser dies gewünscht hatte, nach Berlin gelangen lassen. Undurchsichtig war, ob Chamberlain sich anders besonnen oder ob von Kaiser Wilhelms vertraulicher Anfrage bei dem Zaren über die Verwandten am Kopenhagener Hof oder auf anderem Wege etwas durchgedrungen war. Erst das Jahresende brachte die Gewißheit, daß der englische Kolonialstaatssekretär seine Absichten nicht aufgegeben hatte. Offen verlangte er in großer Rede in Wakefield für Englands Vorteil und Sicherheit noch einmal den Bund mit Deutschland. Ein ganzes Programm wurde aus der Rede sichtbar. Chamberlain sprach von der Einbeziehung Amerikas in den Bund. Es war der große Zusammenschluß der angelsächsischen und germanischen Rasse – –

Der Staatssekretär von Bülow und Geheimrat von Holstein begriffen den großen Gedanken auf ihre Art. Sogleich begannen sie eine lärmende Auseinandersetzung wegen der samoanischen Inseln.

 

Die Lage auf Samoa, die zu Unterhaltungen seit Jahresfrist Anlaß gegeben hatte, schien dem deutschen Kabinett plötzlich so bedrohlich geworden, daß kein Ton scharf genug war, um den britischen Kolonialminister in seinen Bündnisplänen wieder etwas abzukühlen.

Ursprünglich hatten Deutschland, England, Amerika über Samoa das Abkommen getroffen, daß sie eine vorläufig eingesetzte Regierung auf der unruhigen Insel anerkennen und sichern wollten. Die Unruhen hatten sich nicht niederhalten lassen, von den Amerikanern und Engländern waren Truppen gelandet worden, der deutsche Konsul hatte Einspruch erhoben und ein deutscher Pflanzer war im Getümmel umgekommen.

Der Staatssekretär von Bülow sprach von Vertragsbruch. Er forderte von England die Zustimmung zur Entsendung einer Kommission nach Samoa. Dem Kaiser schlug er vor, den deutschen Botschafter aus London abzuberufen, wenn England nicht zustimme. Der Botschafter selbst sollte die Ankündigung seiner Abberufung als Drohmittel verwenden. Der Kolonialstaatssekretär verständigte ihn von Lord Salisburys Zustimmung zur Entsendung der Samoakommission. Aber selbst der sonst so abwägende, trotz seines Schwankens meist ausgleichende Graf Hatzfeldt gab die Meldung davon mit dem ein wenig merkwürdigen Rate nach Berlin – denn die Drohmittel hatte er bereits angewandt –, »jetzt ruhig abzuwarten, ob England unsere Freundschaft zu würdigen wissen werde«. Den Kaiser steigerte der Staatssekretär in immer wachsende Erbitterung. Von Chamberlains besänftigendem Eingriff sprach er nicht. Endlich beschwerte sich der Kaiser bei der Königin Victoria. England verwechsle Deutschland mit Portugal und Patagonien. Er käme nicht wieder nach England, solange Lord Salisbury dort zu reden habe. Niemand war über die Beschwerde erstaunter als der Lord. Er schrieb für die Königin ein Memorandum nieder. Die Entschädigungsansprüche, die Deutschland wegen der Wirren auf Samoa zu stellen berechtigt war, sollten selbstverständlich berücksichtigt werden. Er schlug den König von Schweden als Schiedsrichter vor. Ohne Zweifel müßten sich alle Mißverständnisse zwischen dem Kaiser und ihm sogleich aufhellen, so wie der Premierminister den Kaiser in England erst wieder sprechen könne – –

Wieder griff der Kolonialstaatssekretär ein. Er wußte bereits, daß Entschädigungsansprüche in der Sprache des deutschen Kabinetts Landerwerb bedeuteten. Chamberlain war ungeduldig. Er wollte mit seinen großen Plänen vorwärtskommen: er bot also »Kompensationen« an. Die Festsetzung der Deutschen in der Südsee war ihm wegen der Rücksichten, die er auf das sehr selbständige Australien nehmen mußte, weniger angenehm als irgendeine andere Entschädigung, selbst wenn sie an Wert die Rechte übertraf, die Deutschland aus seinem Abkommen mit England und Amerika an den Südseeinseln hatte. Chamberlain bot Deutschland das Volta-Delta in Afrika an, wenn es auf Samoa verzichtete. Die deutsche Kolonie Togo wurde durch solchen Besitz erheblich wertvoller. Aber Admiral von Tirpitz meldete sich zum Wort. Nach seiner Meinung wog das Volta-Delta keinesfalls die Wichtigkeit von Samoa auf. Samoa mußte nicht nur ein Flottenstützpunkt von größter Bedeutung werden. Vor allem brauchte Deutschland eine Insel, auf der es den Mittelpunkt seines Weltkabelsystems einrichten könnte. An der Auffassung des Admirals änderte das Gutachten des Reichspostamtes nichts, das Samoa als ungeeignet für solche Pläne bezeichnete. Deutschland lehnte das Volta-Delta ab. Es beharrte auf Samoa. Chamberlain zog sich von den Verhandlungen verletzt zurück. Der deutsche Botschafter hatte durchblicken lassen, daß es eigentlich nur dieses unglückselige Samoa sei, weshalb man nicht zu dem angestrebten Bündnis käme. Doch hatte der Kolonialstaatssekretär im Augenblick ganz andere Sorgen: der Krieg gegen die Buren war ausgebrochen. Auch sollte Kaiser Wilhelm selbst in die ganzen Zerrungen um Samoa willen eingreifen. Er verständigte sich in einer Stunde mit Cecil Rhodes.

Cecil Rhodes kam zu Kaiser Wilhelm nicht nur mit Marc Aurels berühmten »Selbstbetrachtungen«, die er dem Monarchen als Aufmerksamkeit brachte und als Leitfaden empfahl. Er strebte Geschäfte für England mit Deutschland an und bot Gegengeschäfte. Seinen Traum, vom Kap nach Kairo eine Bahn und Telegraphenlinie zu legen, hatte er noch immer nicht verwirklichen können. Noch einmal hatte er versucht, von dem König der Belgier die Möglichkeit für das Durchleiten der Bahn durch den Kongo zu erhalten. Aber König Leopold, schon einmal in Unannehmlichkeiten wegen der gleichen Angelegenheit verwickelt, hatte nichts davon wissen wollen. Von Deutschland sollte Cecil Rhodes die Ermächtigung bekommen, die Bahn und Telegraphenlinie durch Deutsch-Ostafrika zu führen, wenn er gleichzeitig eine Stichbahn von der deutschen Küste an die englische Hauptstrecke anlegen und für den Gesamtbau auf deutschem Kolonialboden deutsche Schienen und Wagen sowie deutsche Arbeit, für die Telegraphenlinie deutsche Stahlrohrmasten verwenden wollte. Gleichzeitig hoffte der Staatssekretär von Bülow, ihn für eine Unterstützung der deutschen Wünsche in Bezug auf Samoa gewinnen zu können, wenn es dem Kaiser gelänge, Rhodes für Deutschland zu erwärmen. Graf Bülow hielt es für wichtig, daß Wilhelm II. ihn empfing. Einige Punkte, die der Kaiser für seine Unterhaltung vorher festgesetzt wünschte, verwandelten sich rasch in eine Denkschrift, die ihm der Staatssekretär mit umfangreichem Kartenmaterial überreichte. Die Verhandlungen über die Einzelfragen wies der Herrscher, der nur eine Audienz gewähren wollte, wenn Rhodes selbst sie erstrebte, erstaunt an das Auswärtige Amt zurück. Aber der Staatssekretär widersprach. Leider konnte das Auswärtige Amt die Unterhaltung mit Cecil Rhodes nicht durchführen. Rhodes spreche nur englisch. Dolmetscher müßten verwendet werden. Der Staatssekretär beherrschte die Sprache nicht und sowohl Cecil Rhodes wie auch das Auswärtige Amt lehnten Dolmetscher für eine Unterhaltung ab, die streng geheim bleiben sollte. In Brüssel habe man das nicht durchsetzen können. Da also englisch gesprochen werden müßte, so gäbe der Kaiser für die Genauigkeit der Ausdrücke und für die Geheimhaltung die sicherste Gewähr. Von der Aufgabe, mit der seine eigenen Ratgeber ihn betrauten, war der Kaiser nicht sehr erbaut. Wenn bei der nächsten Aussprache über Kolonialfragen seine Abmachungen den Beifall des Reichstages nicht hatten, so trieb er wiederum Personalpolitik. Aber der Staatssekretär wollte die Verantwortung auf sich nehmen. So willigte der Kaiser in die Audienz:

»Ich ließ mein Vorzimmer im Berliner Schloß – das Rheinsberger Zimmer nach der Sammlung der Porträts des jugendlichen Friedrich mit seinen Rheinsberger Freunden genannt – für die Audienz vorbereiten und erwartete den südafrikanischen Diktator mit dem festen Entschluß, dem jungen Friedrich als sein Nachfolger keine Schande machen zu wollen.

Die Tür öffnete sich und Rhodes trat ein. Vor mir stand ein Riese von sehr erheblichem Körperumfang, Kopf und Schultern größer als ich. Ein massiges Gesicht, aus dem ein paar helle, kluge Augen den stahlharten Blick forschend auf mich richteten, dem ein jovialer Ausdruck als Unterlage diente. Wohl eine halbe Minute lang maßen sich Kaiser und Diktator mit forschenden Blicken, jeder eine Karte Afrikas unter den Arm. Dann trat Entspannung ein durch einen kräftigen, die beiden Männer verbindenden Händedruck. Conversation Englisch.

EGO: »Sie kommen wegen der Cape-to-Cairo-Line?«

Er: »Ja, das soll mein großes Lebenswerk werden.«

EGO: »Sie wollen durch das Hinterland von Deutsch-Ostafrika?«

Er: »Ja! Da mich der König der Belgier nicht durch den Kongostaat lassen will!«

Ich breitete meine Karte auf dem Tisch aus. Es war eine vom Auswärtigen Amt eigens aus London besorgte englische Karte. Als Rhodes die sah, rief er aus:

»Werfen Sie das unnütze Ding fort, das taugt nichts. Hier meine Karte ist besser.« Dabei breitete er eine Karte aus, die mit seinen Einzeichnungen versehen war; es war die deutsche!

Er entwickelte seine Pläne über die Cape-Cairo-Line, die Ägypten mit dem Kaplande verbinden solle. Sie müsse durchgeführt werden. Ein jeder europäische Staat, der Kolonien in Afrika in ihrer Nähe oder auf ihrem Wege gelegen besitze, solle teilhaben an ihrem Verdienst. Er bitte daher um Erlaubnis, durch das auf der Bahntrasse gelegene Hinterland von Deutsch-Ostafrika dieselbe durchführen zu dürfen. Ich ging darauf die Bedingungen durch, welche meine Regierung und die Kolonial-Verwaltung als Gegenwert gegen die Erlaubnis aufgestellt hatten. Sie wurden alle restlos von Rhodes akzeptiert und bewilligt.

Nunmehr kam ich mit der Pièce de résistance Samoa heraus. Nachdem ich Rhodes den Verlauf der Angelegenheit geschildert und mitgeteilt, wie das Foreign Office in London nicht zu bewegen sei, zu definitivem Abschluß zu kommen, von diesem aber die ganze afrikanische Transaktion abhänge, da gab es eine Explosion der Empörung bei Rhodes, wie ich sie selten erlebte. Die britischen Behörden, das Foreign Office in Sonderheit, wurden mit einer ausgesuchten Sammlung von britischen Epitheta ornantia bedacht, die jedem, der Grund zu Verärgerung gegen die Engländer hatte, herzerfrischend anzuhören und aus der Seele gesprochen waren. Nachdem er sich gründlich ausgesprochen hatte, endete er seinen Monolog mit dem Satz:

»You shall get Samoa, I will see to that.«

Ich gab zurück:

»You shall get your permission for Telegraph and Railway-Line.«

Damit waren die Verhandlungen zu Ende. Dauer 25 Minuten. Es folgte eine Conversation über verschiedene Themata.

Ich fragte, wie der Besuch in Brüssel verlaufen sei? Rhodes sagte kurz:

»The King is a great financial genius, but he is the Devil in person!«

Als er beim Verlassen des Zimmers des Königs im Vorzimmer von einer Schar belgischer Kongointeressenten begeistert umwogt worden und der Minister Lambremont ihn in tiefer Bewegung gefragt: »Nicht wahr, Sie sind beeindruckt von dem Geist und der Weite des Blickes so wie der Ziele S. M. unseres Königs?« habe er ihm nur geantwortet: »I talked to Satan!« und sei dann grußlos durch die mit offenen Mäulern wie versteinert dastehenden Belgier davongegangen. Wenn er seine Verhandlungen in Brüssel mit den soeben abgeschlossenen vergleiche, so könne er nicht genug danken für das große Entgegenkommen und die einfache, sachliche Art der Behandlung der Angelegenheit. Er sei sehr beeindruckt von Berlin, den großen Industrie-Anlagen, besonders von der A. E. G. und dem regen Geschäftsleben, das einen vorzüglich organisierten Eindruck mache, wovon er bisher gar keine Ahnung gehabt habe.

Er habe vor ein paar Jahren die Absicht gehabt, von London aus nach Berlin zu kommen, habe sich aber leider die Reise von seiten der Regierung und des Foreign Office ausreden lassen. Das sei – wie er jetzt einsehe – eine arge Dummheit gewesen. Denn wenn er damals mit mir bereits ein Settlement über die Cape-Cairo-Line hätte zu Wege bringen können, dann hätte er meine Fürsprache beim Ohm Krüger erbeten, um die Buren zu bewegen, gleich uns, die Erlaubnis zur Durchführung der Eisenbahnlinie durch ihr Gebiet zu geben. Dann hätte es keinen Jameson-Raid und später keinen Burenkrieg gegeben, da die Buren den deutschen Ratschlägen ein williges Ohr geliehen hätten und die Linie durchgelassen haben würden, womit ein Hauptgrund für den Krieg hinfällig geworden sein würde. Dies hätten wohl die »People in London« befürchtet und daher ihm den Berliner Besuch ausgeredet, wodurch sie ihm einen üblen Streich gespielt hätten. Dann hätte es auch keine sogenannte »Krügerdepesche« gegeben. Übrigens sollte ich mir über das Toben in London deswegen keine grauen Haare wachsen lassen. Ich hätte von meinem Standpunkt aus ganz Recht gehabt. Er habe mir die Depesche gar nicht übelgenommen, da der Jameson-Raid eine enorme Dummheit gewesen, und ich nicht darüber orientiert gewesen sei. Das Grundproblem in Afrika für England seien nicht die Bereicherungswünsche Einzelner, sondern die Durchlegung der Cape-to-Cairo-Line. Dann kam er auf allgemeine Kulturaufgaben zu sprechen. Ein jeder europäischer Großstaat müsse sich ein anderes, noch nicht erschlossenes Gebiet im Ausland zum Erschließen aufsuchen, um Kulturträger und -verbreiter zu sein. Er sehe sich jeden Abend daraufhin den Weltatlas an. England werde Afrika »besorgen«. Die Aufgabe Deutschlands sei, Kleinasien bzw. die Türkei aufzuschließen. Ich solle eine Bahn Stambul-Bagdad bauen und zugleich einen Bewässerungsplan für Mesopotamien entwerfen lassen, damit Baumwolle dort gebaut werden könne. Die Spuren der Bewässerungskanäle Nebukadnezars habe er gesehen.

»Afrika den Briten, Vorderasien den Deutschen!«

Ich erwiderte, daß Pläne für eine solche Bahn in Erwägung seien, aber man besorge bei uns Widerstand in London, wo man alle deutschen Kulturbestrebungen stets mit Mißtrauen, Neid und Eifersucht betrachte. Er antwortete: England habe durch seine total verkehrte Politik in der Behandlung der Welt des Islam, dessen Vertrauen verscherzt und die Türkei zum Gegner: Deutschland habe richtig und klug operiert und die Türkei zum Freunde, das müsse nun zum Erschließen Mesopotamiens benutzt werden:

»Dort haben wir Briten nichts zu suchen oder gar Sie daran zu hindern, dort Kultur zu treiben. Wenn man in London Ihnen – wie in Samoa – Schwierigkeiten machen sollte, dann wenden Sie sich nur an mich, ich werde Ihre Wünsche schon durchsetzen, wie Sie das im Fall Samoa erleben werden.«

Damit schieden wir voneinander. Vor seiner Abreise schenkte mir Rhodes ein kleines Exemplar »Mark Aurel«, in dem er jeden Tag zu lesen pflegte und das zahlreiche angestrichene Stellen zeigte.

Per Signal konnte ich später der Flotte mitteilen, daß Samoa deutsch geworden sei. Rhodes hatte Wort gehalten.«

Cecil Rhodes strahlte, als er von Berlin abreiste, vor Vergnügen über das Erreichte. Groß war auch die Genugtuung des Kaisers. Noch größer die Bewunderung des Staatssekretärs von Bülow für seinen »erhabenen Herrscher«.

 

Von dem Augenblick an, da England in die Schwierigkeiten des Burenkrieges geriet, hatte Kaiser Wilhelm alles getan, um seine Unparteilichkeit und zugleich seine Ritterlichkeit zu beweisen. Der Zar hatte die ihm dargebotene Hand ausgeschlagen. Seine Ausflüchte wirkten in Kaiser Wilhelm trotz der freundlichen Tonart fort, in der Nikolaus' II. Antwort auf seinen Brief gehalten war. Daß ihm die Russen seine Orientreise, ihren großen Erfolg durch die Zusprechung des Baues der Bagdadbahn an Deutschland übelnahmen, daß sie dabei Deutschland als Rivalen am Bosporus und in Kleinasien bezeichneten, und ihm vorwarfen, eben jene Türkei dadurch zu stärken, die immer Rußlands Todfeind bleibe, daß Graf Murawiew gerade nur wieder über die Dardanellenfrage ein geheimes Abkommen vorgeschlagen hatte, ganz auf den Vorteil Rußlands berechnet, voll neuer Möglichkeiten der Verwirrung für Deutschland: all das vertiefte abermals die Abneigung des Kaisers gegen Rußland, die im Grund immer in ihm da war. Er wußte nicht, daß Frankreich und Rußland im Juli 1899 abermals ihren Bund erneuert hatten, fast unmittelbar nach der Ablehnung von Rußlands Wünschen über den Bosporus, daß die Vorbesprechungen dazu schon während der Verhandlungen über das gewollte Geheimabkommen mit Deutschland stattgefunden haben mußten. Aber er sah auch ohne solche Kenntnis, daß ein Näherkommen an Rußland so gut wie ohne Aussicht war. Jetzt hatte er durch seine eigenen Verhandlungen mit Cecil Rhodes einen großen Erfolg erzielt. Rhodes setzte in London, zumal der Kaiser das geringe englische Entgegenkommen als eine schwere, persönliche Verstimmung bezeichnet hatte, tatsächlich durch, daß Samoa an Deutschland kam. Der Ausbruch des Burenkrieges, die tapfere und zunächst erfolgreiche Gegenwehr der Angegriffenen, hatte in Deutschlands gefühlvollen Massen, die ihre Begeisterung, ihre Anteilnahme, ihren Standpunkt laut in alle Welt riefen, ohne von Hergang und Zusammenhängen auch nur eine leise Ahnung zu haben, den gleichen Rausch erzeugt, wie in den Tagen von Kaiser Wilhelms Depesche an den Präsidenten Krüger. England hatte Jamesons Überfall mißbilligt. Es hatte Jameson zur Verantwortung gezogen. Es war mit schweren Strafen gegen die Urheber und Teilnehmer an dem Überfalle vorgegangen. Die Buren waren damals die Sieger geblieben. Sie wehrten sich in der Zeit darauf nicht nur gegen jeden Versuch, englischen Unternehmungen wenigstens so weit Förderung angedeihen zu lassen, wie dies jetzt Kaiser Wilhelm zum Vorteil nach beiden Seiten getan. Der Erfolg stieg ihnen zu Kopfe. Sie wollten ihn ausnutzen. Sichtbar war gewesen, daß es für sie Schützer und Gönner in der Welt gab, die selbst dem allmächtigen England in den Arm fielen. Ihre Schwäche schien ihre Stärke zu sein. Sie machten den Engländern fortan Schwierigkeiten, wo sie konnten. Wo es keine solchen Schwierigkeiten gab, schufen sie sie selbst. Den ansässigen Engländern bereiteten sie Hemmnis und Erschwerung, wo es anging. Gegen das große England rund um ihr eigenes Land schlossen sie sich ab: sie wurden der schwere, große Stein für die Wege der Engländer zwischen ihren afrikanischen Gebieten. Endlich entlud sich das Gewitter. Brutal war der Krieg des Großen gegen den Kleinen in jedem Falle. Daß der Kleine den Großen bis auf das Äußerste reizte, daß der nicht allzu weite Horizont der niederländischen, schwerblütig vertrotzten Bauern lieber den Krieg statt geschäftsmäßige Ausgleichung annahm, sah aus so großer Ferne niemand. Die britischen Staatsmänner beschlossen den Krieg mit gemischtem Gefühl. Die Gewißheit, später den gezähmten Bauern britische Vorteile und britische Kultur zu bringen, war ihnen selbst keine hinreichende Entschuldigung. Aber da im Guten und auf friedlichem Wege nichts erreicht war, mußte die Operation unternommen werden. Die zuschauende Welt, vor allem die deutsche Öffentlichkeit überschüttete den Angreifer mit Versicherungen des Abscheus. Der Kaiser wollte abwehren. Auch er hatte das Gefühl, daß ein kleines Volk im fernen Afrika sein Schicksal nicht so wichtig machen durfte, daß es die Beziehungen von Vielmillionenvölkern verderben durfte. Er stellte sich bewußt in Gegensatz zur öffentlichen Meinung Deutschlands. Er fuhr nach England.

 

Königin Victoria und Englands öffentliche Meinung verstanden den Sinn der kaiserlichen Haltung. In London sah sich Kaiser Wilhelm geehrter als je. Gewiß hatten Lord Salisbury und Chamberlain in den in der Novembermitte abgeschlossenen Vertrag über Samoa vor allem auch deshalb gewilligt, weil ihnen gerade in den Tagen des Burenkrieges jeder andere Zank überflüssig schien. Aber Chamberlain spürte doch, daß die ganze Atmosphäre zwischen England und Deutschland sich irgendwie gewendet hatte. Cecil Rhodes hatte ihm von Kaiser Wilhelm und seiner Art gesprochen. Dies war damals die Entscheidung für den Vertrag über Samoa und die Gewährung des Vertrages sollte die Einleitung für Chamberlains Unterhaltungen mit dem Kaiser sein.

Chamberlain sprach mit dem Kaiser selbst über den Bündnisplan. Er sprach von Deutschland, von England, von Amerika als der Einheit, die Zustandekommen müßte. Der Kolonialstaatssekretär kannte schon Deutschlands Willen zur Entfaltung in der Welt. Er dachte billig genug, ihn zugleich als berechtigt anzuerkennen. Er selbst regte verschiedene Fragen an. Samoa hatte Deutschland soeben erhalten. Die Zustände in Marokko mußten in absehbarer Zeit eine Lösung finden. Zwar riet Sir Arthur Nicolson, der englische Gesandte in Tanger, unaufhörlich zu einer Politik in Marokko, die sich mehr auf die Herbeiführung menschenwürdiger Verhältnisse beschränkte. Auch schimmerte durch seine Haltung immer eine gewisse Anerkennung französischer Rechte in Marokko. Jedenfalls war es Sir Arthur Nicolsons bestgemeinter Rat an den marokkanischen Sultan, daß er, der von sich aus zu England strebte, hauptsächlich auf Rücksichten gegenüber den Franzosen achten müßte. Aber Chamberlain dachte über Marokkos Zukunft anders. England sollte sich in Tanger festsetzen. Deutschland sollte sich die Westküste am atlantischen Ozean sichern. In Kleinasien wollte er Deutschland keine Schwierigkeiten machen. Es sollte die Bagdadbahn bauen. Englisches Kapital sollte beigesteuert werden. Der Kaiser hörte den mit bestimmtem Tone sprechenden, in seiner Haltung sehr sicheren Staatsmann, der ihn beim Reden unverweilt scharf durch sein Monocle ansah, mit tiefem Eindruck an, wenngleich einen Augenblick der Verdacht in ihm aufstieg, daß Chamberlain ihn gerade Marokkos wegen in Zusammenstöße mit Frankreich treiben wollte. Auch Mr. Balfour sprach mit Kaiser Wilhelm. Lord Londonderry, der Vizekönig von Indien, richtete die Begegnung ein, bei der eben gesellschaftlicher Zufall die Aussprache erleichtern oder die Zustimmung fördern sollte. Balfour schien dem Kaiser ein Skeptiker voll Beweglichkeit, ein Denker mit heiterer Schätzung sachlicher, erstrebenswerter Vorteile, ein Philosoph und Realist zugleich. Sein Lächeln hatte Überlegenheit, die nicht verletzte, sondern Verbindlichkeit spiegelte. Seine Unterhaltung funkelte von Geist. Die Aufschläge seines stets offenen Überrockes in den Händen, dozierte er angenehm auch vor dem Kaiser. Er sprach über Religionsphilosophie. Er hatte ein glänzendes Buch darüber geschrieben. Er schenkte es dem Kaiser. Flüchtig erwähnte er auch die Bagdadbahn. Es war klar, daß er eines Sinnes mit Chamberlain war. Der Kaiser sollte es nur nochmals hören. Zwischen all den Themen, die Balfour anschlug, zwischen Religion und Philosophie, kam er dann auch ein wenig auf die Artillerie. Der Denker erläuterte scharfsinnig den Unterschied zwischen Kanonen und Haubitzen, der Glaubensdeuter wußte genau, was Langrohrgeschütze, was Positionsgeschütze waren. Er warf mit kleinen und großen Kalibern umher. Er sprach darüber mit witzigen Einfällen, mit unverkennbarer Sachkenntnis, bevor er endlich zu den Problemen des Fußgefechtes bei der Kavallerie überging. Der Kaiser lächelte, aber er gab die Aufklärungen, die Balfour wünschte. Das Erstaunlichste an dem Gespräch mit ihm schien dem Kaiser Geschicklichkeit und Takt, mit denen der Minister seine Erkundigungen anstellte. Er sprach mit der unbetonten, dennoch spürbaren, vertraulichen Offenheit des zweifellosen Bundesgenossen von morgen.

Beide Minister mußten den Eindruck gewinnen, daß Kaiser Wilhelm ihre Pläne stützte. Chamberlain hatte Einzelheiten vorgebracht, Mr. Balfour den Geist und Willen der Annäherung bestätigt. Chamberlain verließ den Kaiser mit der Zusage, daß alle Schritte auch mit den deutschen Staatsmännern vertraulich weiterbesprochen werden sollten. Der Staatssekretär von Bülow war mit Wilhelm II. nach London gekommen. Chamberlain setzte sich mit ihm in Verbindung – –

Mit der größten Lebhaftigkeit ging der Staatssekretär auf seine Anregungen ein. Chamberlain wiederholte, was er dem Kaiser gesagt hatte. Überrascht mußte der Staatssekretär sein, daß der Kolonialminister selbst in den deutschen Flottenbauplänen, die ihm Graf Bülow ankündigte, kein Hindernis für die Verständigung mit Deutschland sah. Wenigstens erhob Chamberlain keinen Einwand. Endlich wollte auch Graf Bülow eine Anregung geben, um die Freundschaft der beiden Völker zu festigen. Der Kolonialminister sollte seine Absichten, so wie er sie ihm selbst entwickelt hatte, der Öffentlichkeit unterbreiten. Das Echo müßte die Möglichkeit der Durchführung erweisen. Sofort sagte Chamberlain zu. Er nannte das nahe Datum, da er den Engländern alles in großer Rede in Leicester auseinandersetzen wollte. Aber Graf Bülow wünschte keine halbe Arbeit. Er schlug dem Kolonialminister vor, daß er in seiner eigenen Rede zum neuen, deutschen Flottengesetz um die Dezembermitte im Reichstage Chamberlain mit freundlicher Zustimmung antworten wolle. Sehr befriedigt von der getroffenen Vereinbarung verabschiedete sich der Kolonialstaatssekretär. Schon wenige Tage später rief er in Leicester dem englischen Volke zu:

 

»Noch etwas, glaube ich, muß jeder weitsehende, englische Staatsmann gewünscht haben: daß wir nicht dauernd auf dem europäischen Kontinent isoliert bleiben sollten, und ich glaube, in dem Moment, wo dieses Verlangen entstand, muß es jedem klar geworden sein, daß unser natürliches Bündnis jenes zwischen uns und dem großen deutschen Kaiserreiche sein müßte. Wir haben unsere Unstimmigkeiten mit Deutschland gehabt, wir haben unsere Streitigkeiten und Zusammenstöße, wir haben unsere Mißverständnisse gehabt. Ich verhehle mir nicht, daß das Volk dieses Landes beunruhigt und mit Recht beunruhigt gewesen ist durch Umstände, die wir selbst nur zu gern vergessen. Aber an der Wurzel der Dinge war immer eine Kraft, die uns mit Notwendigkeit zusammenbrachte. Was vereinigt denn Nationen? Interesse und Gefühl. Welches Interesse haben wir, das dem Interesse Deutschlands entgegengesetzt wäre?

Ich kann nicht einen einzigen Punkt erkennen, der in der unmittelbaren Zukunft auftauchen könnte, um uns und die Deutschen in einen Gegensatz der Interessen zu bringen. Im Gegenteil: ich kann vieles für die Zukunft voraussehen, das den Staatsmännern Europas Grund zur Beängstigung geben muß, worin aber unsere Interessen deutlich die gleichen sind, wie die Interessen Deutschlands, und bei denen die Verständigung, von der ich im Falle Amerikas sprach, auf Deutschland ausgedehnt, vielleicht mehr für die Erhaltung des Friedens der Welt zu tun vermag, als alle Waffenvereinigungen.

Ist die Verbindung zwischen England und Amerika in der Sache des Friedens ein mächtiger Faktor, so wird eine neue Triple-Alliance der teutonischen Rassen und der beiden Zweige der angelsächsischen Rasse von noch viel machtvollerem Einfluß auf die Zukunft der Welt sein. Ich habe das Wort ›Alliance‹ gebraucht …, aber noch einmal möchte ich klarlegen, daß es mir unwesentlich erscheint, ob Sie eine Alliance haben, die dem Papier anvertraut ist oder eine Übereinstimmung der Meinungen bei den Staatsmännern der betreffenden Länder. Eine Verständigung ist vielleicht besser als eine Alliance mit festgelegten Vereinbarungen, die im Hinblick auf die von Tag zu Tag wechselnden Umstände nicht als beständig betrachtet werden können.«

 

Die Vorbereitung der Engländer, soweit sie öffentlich überhaupt geschehen konnten, war durch Chamberlain erfolgt. Zwei Wochen später erhob sich im deutschen Reichstag, genau wie verabredet war, der Staatssekretär Graf Bülow. Schroff verwahrte er sich gegen Englands Annäherung. Chamberlain stand da als ein aussichtsloser Schwärmer. Besser schien dem Staatssekretär eine Politik, die den Augenblick ausnutzte, da England durch den Burenkrieg ohne Zweifel in Verlegenheit war. Was Deutschland allein im Anbruch der neuen Zeit brauchte, war die Flotte – –

»In dem neuen Jahrhundert muß Deutschland der Hammer oder der Amboß sein!«

Deutschlands junge, strahlende Macht verbürgte, daß es zum Hämmern bestimmt sei. Wiederum berauschte sich der Staatssekretär an seinen Machtgedanken vom Deutschen Reich. Der Botschafter Graf Hatzfeldt hatte nach seiner Ansicht völlig recht, wenn er aus London riet, daß der Kolonialstaatssekretär Englands Politik ruhig an feste Linien binden sollte, indes sich Deutschland jede Freiheit vorbehielt. Es lag in der immer abwägenden, aber ebenso oft schwankenden Art auch dieses klugen Diplomaten, daß er von einsichtiger Gerechtigkeit zu krassem Eigennutz und selbstsüchtigster Rücksichtslosigkeit überging, daß er als groß erkannte Ziele bisweilen nur mit Vorteilen des Augenblicks vertauschte. Hatte sich England in seiner Politik die Hände gebunden, war Deutschland dabei frei, so mußte England auch das geringste deutsche Entgegenkommen bei jedem Einzelschritt mit Kompensationen bezahlen. Hier war Geist von Baron Holsteins Geist. Dem Staatssekretär gab auch der Botschafter vollständig recht. Der Geheimrat aber war schon immer für Lektionen an England gewesen.

Graf Bülow fand freilich, daß er dem englischen Kolonialminister eine Aufklärung schuldig war. Die öffentliche Meinung Englands hatte Chamberlains Programm nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen. Die öffentliche Meinung in Deutschland hatte sich scharf gegen das Programm gestellt. Sowohl Chamberlain, wie Graf Bülow mußten solche Haltung voraussehen. Aber Chamberlain hatte sich gleichwohl zu seiner Rede entschlossen, weil endlich zur Bearbeitung, Umstellung und Besiegung der Öffentlichkeit der Anfang gemacht werden sollte. Der deutsche Staatssekretär vergaß, was er in England vereinbart hatte: die öffentliche Meinung wollte er nicht umstimmen, vielmehr lief er mit. Fürst Hohenlohe, schon längst der Schwere der Geschäfte müde, hatte dem Kaiser seinen Rücktritt für nahe Zeit angemeldet. Graf Bülow wußte, daß er vor der Reichskanzlerschaft stand. Einen Kanzler, der sich vor England neigte, nahm das deutsche Volk ungern oder gar nicht an. Keine Schroffheit war darum groß genug, um sich gegen die lächerlichen Annäherungsversuche dieser Engländer zu verwahren.

Vertraulich wies er Chamberlain auf den Zwang zu seiner äußeren Haltung durch die Volksstimmung hin. Worte und Erklärungen im Reichstag wären nicht das Gleiche, wie ein Gedankenaustausch zwischen zwei Staatsmännern. Er war überzeugt, daß Chamberlain seine Haltung begriff. Aber schon Graf Hatzfeldt war über fest getroffene Abmachungen offenbar anderer Meinung als Graf Bülow. Er hatte noch den Vater des Staatssekretärs gekannt, der in der Zeit des Fürsten Bismarck das gleiche Außenamt verwaltet hatte. An dem alten Staatssekretär von Bülow hatte ihn oft gestört, daß seine Angaben mit den Tatsachen nicht übereinstimmten. Jetzt wurde Graf Hatzfeldt von den Mitwissern der Vorgänge über den Zwischenfall viel befragt. Er sprach mit größerer Offenheit, als er eigentlich durfte. Den Vater des Staatssekretärs nannte er dabei mit einem pessimistischen Wort.

»Aber was der zustande bringen wird«, fuhr er über den Grafen Bernhard von Bülow fort, »davon werden wir Schreckliches erleben. Er lügt und ist faul« – –

Der Kolonialstaatssekretär hatte eine schwere Schlappe erlitten. Nicht nur in seinen geheimen Plänen. Er war in seinem eigenen Lande bloßgestellt. Graf Bülows vertrauliche Aufklärungen nahm er zur Kenntnis.

»Mit diesem Kerl«, sprach er sich zu seinen Freunden aus, »will ich nie wieder etwas zu tun haben« – –

Das zweite englische Bündnisangebot war begraben.

 

Bernhard von Bülow hatte in seinen Anfängen noch unter dem Fürsten Bismarck gearbeitet. Seine Geschicklichkeit und Verwendbarkeit war schon dem Fürsten aufgefallen. Es war natürlich, daß Bernhard von Bülow eine Laufbahn gewählt hatte, in der sein Vater zu hohem Range emporgestiegen war. Seine gesellschaftlichen Beziehungen waren vielfältig. Dem Grafen Philipp Eulenburg war er befreundet, von ihm als wahlverwandt in schöner Geistigkeit empfunden. Sein Aufstieg war leicht.

Aus dem Berliner Auswärtigen Amte kam er als frisch ernannter Legationsrat nach Wien. Allerlei Störungen gab es dort, die in dem Dasein eines nicht immer vorsichtigen Kavaliers häufig sein können. Doch Bernhard von Bülow begründete sein Eheglück. Er ging als Botschaftsrat nach Petersburg. Störungen gab es allerdings auch hier: die Botschafterin von Schweinitz lehnte den Empfang der jungen Diplomatengattin ab. Von Berlin meldete sich jetzt der Geheimrat von Holstein. Sündige Menschen schätzte der Geheimrat mehr als Unanfechtbare. Der Salon des Botschafters hatte sich zu öffnen. Die Generalin von Schweinitz gab nach. Baron von Holstein wurde immer aufmerksamer auf den jungen Diplomaten. Er legte den geordneten Fall zu seinen Akten und forschte und sammelte von da ab verwendbare Notizen für den möglichen Anlaß eines späteren Vorgehens gegen den Schützling von jetzt. Die gesellschaftlichen Zwischenspiele wurden vergessen. Sie standen nur mehr in Baron Holsteins Register. Bernhard von Bülow wurde Gesandter in Bukarest. Hier begann er seine eigentliche Ausbildung.

Alles an ihm bestach und bestrickte. Gleich groß war sein Wissen, seine Gepflegtheit, seine Liebenswürdigkeit. Er war von stattlicher Gestalt, nicht gerade schlank, nicht eben schwer, sein Gesicht hatte eine polierte, rosige Weichheit, in der keine einzige Linie mit der Ankündigung auch nur irgendeines besonderen Zuges hervortrat. Alles in diesem Gesichte fügte sich zu einem angenehmen, gefälligen Eindruck: jeder las in ihm sofort, auch wenn der Staatsmann schwieg, was selten vorkam, daß er ein Mann von nie aussetzender Verbindlichkeit war. Er achtete sorgsam auf seine Kleidung, seine Eleganz war unbetont, wie er selbst, ein wenig erinnerte er an die Bonvivants, die die Bühne seiner Zeit in den Gesellschaftsstücken auftreten ließ, auch ein Stich von den Vorbildern war an ihm, die von den Modeblättern empfohlen wurden. Er hatte lebendige, weit ausholende Gesten, seine Arme, seine Hände, selbst seine Schultern sprachen mit, wenn er redete. Nie ging er aus ohne Handschuhe und Stock. Seine Hüte waren abgestuft auf Farbe und Form. Er hatte nicht die unauffällige, herrenmäßige Eleganz des Engländers. Er zog den harmonischen Eindruck vor. Er liebte Gefühlstöne im Wesen und im Anzug. Er strebte einer Vollkommenheit der Harmonie zu, die ihm Laufbahn und Macht, Ruhm und die Herzen der ganzen Welt gewinnen sollte.

Seine Gespräche hatten eine leichte, schwebende, mit warmer Werbung bezaubernde Art. Immer stand er in Wortwolken und Satzkaskaden, denen selbst ein nüchterner Kopf sich schwer entzog. In Bukarest erkannte der Gesandte freilich, daß liebenswürdige, gepflegte Dialoge und die Reden zweierlei waren, die er einmal vor großem Reichstagsforum zu halten bestimmt schien. Noch war seine Redekraft nicht ganz entfaltet, die Mittel der Steigerung, der Überraschung, des Witzes nicht voll beherrscht. Er war klug genug, um zu wissen, daß selbst Demosthenes kein Meister von Anbeginn war. Behaglicher und nüchterner, als der Grieche, reiste er nicht erst nach Konstanza an das Meer, um den Donner der Wogen mit seinen Worten zu übertönen. Er sprach seine Reden und Worte und Sätze in das Brausen seines Badezimmers in Bukarest. Er tat dies Tag um Tag. Grotesk mochte es anderen erscheinen: die Redekraft des Gesandten vervollkommnete sich wirklich vor dem Wasserhahn.

In der unverwöhnten, von Geist und Kunst, von Kultur und Anmut nicht übermäßig verfeinerten, norddeutsch schwerfälligen Gesellschaft seiner Zeit, die von Kaiser Wilhelms I. sparsamen Soldatenhof heraufgekommen war, unter den bescheidenen Genießern gesellschaftlicher Höhen, auf denen nur Liebesmäler mit Landadelsfesten, Paraden mit Provinziallandtagen wechselten, fiel Bernhard von Bülows Lebenskünstlerschaft und Überlegenheit auf: vom ersten Augenblick an. Er sprach nicht von Pferden, von Landwirtschaftsausstellungen, vom Dünger auf den Gütern. Kein Kraftausdruck und keine Derbheit, selbst in Fürst Bismarcks hohem Kreis oft gehört, entschlüpfte ihm je. Er sprach von Kunst und Wissenschaft. Es schien, daß er alles gelesen, an allen Dichtern sich begeistert hatte. Er lebte mit ihnen. Aus ihm riefen sie noch einmal die Menschheit an. Er kam mit ihnen wie der Schauspieler, der mit seinem Couplet auftritt. Die Dichterworte folgten und gehorchten ihm, ob er vertrauliche Besprechungen führte, vor dem hohen Haus der Abgeordneten, bei launigen Festen. Morgens stand er mit Versen auf. Nachts, wenn er heimfuhr, gab er dem Scheidenden noch ein Wort aus Deutschlands Dichterschätzen mit. Neu war in dieser harten, reizlosen, kargen norddeutschen Gesellschaft, daß ein Staatsmann mit Goethe und mit Dante lebte. Daß er, ein Meister irdischer Abklärung, die Dinge des Alltags auf ewige Höhen hob. Bismarck war ein eiserner Riese gewesen. In Friedrichsruh war Goethes und Dantes Heimstätte nicht. Caprivi war ein bescheidener, stiller, preußischer General. Hohenlohe war aus dem deutschen Süden gekommen. Er zählte nicht: in Kunstdingen, in den Fragen gesellschaftlicher Feinheit war der Süden schon immer verderbter als der Norden. Aber inmitten der preußischen, märkischen, ostelbischen Gesellschaft war Bernhard von Bülow mit seinem Wissen, seinen Formen, mit seiner ständig wachen, ständig ausgespielten, an seinen Dichtern und Philosophen sogleich belegten Geistigkeit ein vollkommenes Wunder.

Auch mit den Dichtern und Philosophen hatte er sich voll eiserner Energie zur liebevollsten Vertrautheit gezwungen. In der geringen, amtlichen Belastung in Bukarest nahm er, sowie der Wasserhahn abgedreht war, seine vergötterten Klassiker vor. Er studierte sie in den wertvollsten Auslesen. Er bevorzugte die handlichsten Formate. Er sagte sich die Verse und Aussprüche Seite um Seite auf. Er lernte sie vollständig auswendig. Sie waren in seinem Gedächtnis endlich widerspruchslos und in jeder Sekunde da, wenn passende Gelegenheit oder nur irgendein Anklang ihn an sie erinnerte. Aber er wußte, daß Zitate allein, selbst der beherrschte Strom der Rede noch nicht die ganze Wirkung auf die Hörerschaft ausmachte. Er hatte die Lässigkeit studiert, die im Salon von Eindruck war. Mit seinem Vertrauten im Auswärtigen Amte, mit dem Geheimrat Hammann, erwog und prüfte er, als der Staatssekretär dann in der Tat vor dem Reichstag stand, auch jede Pose, die seine Rede zu begleiten hatte. Der Vertraute empfahl, bei bestimmter Stelle etwa Balfours Haltung einzunehmen.

»Dann schlagen Sie den offenen Rock auf, lehnen sich zurück und fassen die beiden Rockaufschläge mit beiden Händen!«

Der Staatssekretär versuchte es. Dem Geheimrat war die Pose nicht betont genug.

»Nicht so«, verbesserte er. Er machte es dem Staatssekretär ein paarmal vor. »Aber so, wie ich es jetzt mache« – –

Seine viele Mühe mit dem Staatsmann hatte der Geheimrat dem Fürsten Hatzfeldt geklagt. Der Staatssekretär machte es aber schließlich fast so gut, wie der englische Minister.

»Passen Sie auf«, wandte sich am nächsten Tage Fürst Hatzfeldt zu seinem Nachbarn im Reichstage, »gleich wird das kommen mit dem Rock« – –

Der Staatssekretär zeigte am Rednerpult in der nächsten Sekunde emphatisch seine Pose. Sie wirkte spontan, wie seine Einfälle wirkten. Die Übungen im Badezimmer, das Memorieren klassischer Aussprüche in abenteuerlichen Massen, das mühsame Studium wirksamer Rednergesten einte sich schließlich zu einem Register, das der Staatsmann als Virtuose übte.

Virtuose war er im Reichstag, der durch ein Jahrzehnt seine Staatskunst trug und billigte. Virtuose war er im Verkehr mit vielen Männern der Zeitung, die er durch eine Vertraulichkeit und Freundschaftlichkeit ohne Herabsetzung ehrte. Virtuose war er vor dem Kaiser und bei Hofe. So groß war überall seine Herzlichkeit, sein Eifer, die Menschen zu gewinnen, daß schließlich niemand wußte, was dieser glänzende Meister der Formen und Redekünstler eigentlich mit ihm gesprochen hatte. Schmeichelei und Freundlichkeiten fügte er sinnlos aneinander, ohne die Sätze zu vollenden. Sein Sprachklang war das sonore, wohltuende Summen eines Cellos, mit dem er den durch die Anrede Ausgezeichneten gleich umwob:

»Wie Sie soeben sehr richtig bemerkten! Verehrter Freund! Aber nein! Es ist mir ja eine so außerordentliche Freude! Wir beide, die wir so viel mit einander gearbeitet haben! Also, wie Sie soeben so richtig sagten« – –

Noch hatte der Angesprochene kein einziges Wort hervorbringen können. Aber der Künstler sprudelte weiter. Er hatte für jeden Einzelnen nur Entzückendes. Was andere taten, unbewußt und gleichgültig in ihres Alltags selbstverständlicher Gewohnheit, dies sah er stets mit Tiefsinn und innerer Bedeutung und rief es strahlend aus:

»Mein lieber Freund! Schon am frühen Morgen mit einer so dicken Zigarre am Strand! Nein, welche Kunst, dabei gleichzeitig diese herrliche Morgenluft einzuatmen« – –

Er war die Güte selbst. Er hatte die Kindlichkeit der großen Menschen. Wenn jemand ihm hinterbrachte, daß irgendwer sein bitterer Feind sei, so lud er ihn sofort zu Tisch. Und das Cello spielte. Die Wortwolken schwebten auf, bis der Raum undeutlich wurde. Er war der erste deutsche Staatsmann, der »charmant« war. Der erste, der modern war. Seine Gefolgschaft war fast unbedingt.

Wenn er neben dem Kaiser ging, so schritt er in einem Winkel von nahezu fünfundvierzig Graden, dem Monarchen ehrerbietig zugeneigt. Kein Wort aus dem Munde eines solchen Monarchen wollte er verlieren. Denn er war ihm nicht nur der »erhabene Herrscher«, der »erlauchte Souverain«. Kaiser Wilhelm war ihm das Genie an sich. Immer hatte der Herrscher die glänzendsten Einfälle. Den Kern aller Dinge sah niemand wie er. Von ihm allein kam die Lösung, die stets die beste war.

»Welch eine neue Idee, uns aus dieser Schwierigkeit nun wieder hinauszuführen!«

»Welch genialer Einfall Euerer Majestät!« – –

Oft blieb der Kaiser stehen und sah Graf Bülow skeptisch an:

»Na, na« – –

So groß war die Bewunderung des Staatssekretärs und schon des neuen Kanzlers für seinen Herrn, daß ihn bisweilen sogar die ehrliche Sorge packte, ob er den Kaiser durch das viele, ihm allzu rückhaltlos gespendete Lob im Selbstgefühl nicht allzu sehr bestärke. Aber das Staunen über die Fähigkeiten Wilhelms II. übermannten ihn stets aufs neue: beim Vortrag, auf Spaziergängen, auf Hoffesten. Für die Anbetung des Kaisers hatte er die stärksten Farben. Um sie auszudrücken, bewies er den tollsten Mut der Erniedrigung. Den in eine Tür zwischen drängenden Massen auf einem Hofball festgeklemmten Fürsten Max Egon Fürstenberg, der nicht sah, daß der Kaiser im Gespräch mit einem andern so nahe an ihn herangekommen war, daß er ihn fast schon körperlich streifte, klopfte Graf Bülow im gleichen Augenblicke auf die Schulter:

»Wie Sie soeben so richtig sagten, mein Fürst: diese gestrige Rede nein, war die aber prächtig – wieder so ganz ungewöhnlich prächtig« – –

Fürst Fürstenberg hatte mit dem Grafen Bülow bis dahin überhaupt kein Wort gewechselt. Er war ihm gegenüber eben erst aufgetaucht. Dem Kaiser, der langsam rückwärts schritt, konnte der Fürst nicht ausweichen, denn erstens sah er ihn nicht, außerdem verstellte ihm eben der Graf seitlich und breit den Weg. Laut rief er sein Entzücken über die Rede dem Fürsten zu. Aber ganz erschreckt schlug er sich gleich darauf mit der Hand auf den Mund:

»Um Gottes willen, da ist ja Seine Majestät« – –

Natürlich hatte Graf Bülow sein Entzücken und sein Erschrecken, so ganz vom Augenblick hingerissen, so klangvoll lebhaft von sich gegeben, daß vor allem der Kaiser die Worte hören mußte, für den sie bestimmt waren – –

An dem Kaiser bewunderte Graf Bülow zunächst die Anständigkeit und Ritterlichkeit. Dann sein blitzschnelles Erfassen. Seine Hilfsbereitschaft, wenn es um die Herstellung einer Verbindung, selbst um Arbeit ging. Oft hatte er Wünsche, die der Zar etwa erfahren sollte. Mit vieler Mühe hatte er sich, wenn der Kaiser nicht selbst den Text ausarbeitete, den Entwurf von einem seiner jungen Legationsräte arbeiten lassen. Dann saß er in achtungsvollem Schweigen da, indes der Kaiser die Texte englisch faßte.

»Was machen Sie denn eigentlich mit den Entwürfen?« fragte der Kaiser einmal. »Wo haben Sie sie denn?«

Die Entwürfe waren natürlich eine Kostbarkeit:

»In einem besonderen Schrank in meinem Arbeitszimmer!«

Es war eine Schwäche des Kaisers, daß er erledigte politische Dokumente überschätzte. Die Würde des Monarchen verbot dem Grafen das Bekenntnis, daß solch ein Schrank gar nicht bestand und daß der Graf die Manuskripte der Einfachheit halber mit Familienbriefen und allerlei Zeug kunterbunt, zerflattert und, nur in halber Vollständigkeit zusammengehalten, vorläufig in irgendein Schubfach geworfen hatte. Wichtig waren nur die Ereignisse und die Beschlüsse des Augenblicks. In ihnen lebte sich die hohe, dem deutschen Volk so gnadenreiche Sendung und Begabung des Kaisers, in ihnen allein seine eigene Erfüllung aus.

»Wenn ich etwas tief bedauere und schmerzlich empfinde«, eröffnete er sich bisweilen dem Kaiser, »so ist es das, Euere Majestät, daß ich so wenig Zeit habe, um der Welt besser die Gedanken Euerer Majestät erläutern zu können. Aber einmal werde ich frei sein. Dann will ich ein Buch über Euere Majestät schreiben« – –

Der Kaiser sah ihn skeptisch an: »Mein Lieber« – –

»Nein wirklich, Majestät, ein Buch, wie es noch nie geschrieben wurde« – –

Kaiser Wilhelm II. war ihm schon längst Inhalt, Beruf und Lebenssinn. Der Botschafter Anton Graf Monts fragte ihn um diese Zeit, da er die Kanzlerschaft antrat, wie er sein Amt sich dächte.

»Ich hoffe«, war Graf Bülows Antwort, »das Reich über die Zwischenspanne von Wilhelm I. bis zum Nachfolger Kaiser Wilhelms II. durchzuführen. Dann wird es wieder gehen« – –

Zum Schlusse setzte sich in Bernhard von Bülow bei allen Dingen doch immer wieder der Staatsmann durch.

 

Der Staatsmann Graf Bülow haßte die Kleinarbeit beladenen und beschwerten Amtes. Akten las er selten. Randbemerkungen schrieb er häufig nieder: von jeder einzelnen wußten die Eingearbeiteten seiner Staatskanzlei, woher, aus welchem Briefe, aus welchem Schriftstück sie stammten. Abhängig von dem Geheimrat von Holstein, völlig an ihn gebunden durch die Vertrautheit des Barons mit jedem Stoff, mit allen Personen, mit Graf Bülows eigensten, persönlichen Dingen, tat er keinen Schritt, den der Geheimrat vorher nicht gebilligt hätte. So reich die Blumenfülle seiner Worte war, so arm war dieser weichliche Kopf an Gedanken.

Er kannte Rußland flüchtig. Italien glaubte er zu kennen: von Crispi meldete er, damals noch Botschafter in Rom, wie er ihn ganz von der Notwendigkeit überzeugt hätte, in Afrika »das Recht wiederherzustellen«. Der Ministerpräsident Crispi schloß im gleichen Augenblick einen Geheimvertrag mit England. Daß Italien von England abhängig war, verstand er nicht. Graf Monts setzte ihm die Kontrolle auseinander, die England über die italienischen Häfen übte. Der Kanzler begriff nicht, was dies war, noch weniger verstand er, was der Botschafter wollte.

Österreich-Ungarn mochte er nicht. England kannte er nicht. Weder die Sprache, noch das Land, noch die Menschen. Staatskunst war ihm kein Aufbau, kein Wägen und Ausgleichen der Kräfte, – Staatskunst war Technik der Übertölpelung, das Ausspielen aller gegen alle, die Überlistung durch scheinbares Zugeständnis, bis der erste, nächstbeste Vorteil erreicht war.

»Wenn Sie mit England und Engländern zu tun haben«, hatte der Kaiser dem neuen Staatssekretär geraten, »so seien Sie offen und ehrlich bis zum Äußersten! Wer seine Interessen mit derselben Offenheit und Selbstverständlichkeit, ja selbst Rücksichtslosigkeit vertritt wie der Engländer, den versteht er und respektiert ihn. Dann kommt man mit ihm vorwärts. Aber hüten Sie sich, zu lavieren, zu diplomatisieren oder gar zu finassieren! Das nimmt der Brite übel und denkt, Sie seien unaufrichtig« – –

Die Feinheit der Diplomatie verstand der Kaiser eben doch nicht ganz. Graf Bülow ließ bei den Engländern »durchfließen«, was ihm die Russen anvertraut. In den Kaiser drang er, die Russen wissen zu lassen, daß England ein Bündnis vorschlug. Was dem Kaiser seelischer Kampf war, blieb ihm der Genuß an der »Finesse«. Er übte eine Staatskunst voll Geist und sinniger Worte: der »Walfisch« könne sich niemals mit dem »Bären« vertragen. Bündnissysteme mußten »elastisch ausgeweitet« sein. Es war die Zeit der schönen Bilder, die Mode der allegorischen Worte unter den Diplomaten, die ihre Armut an Gedanken in albernem Geschwätz verbargen. Manches davon war, mißverstanden und sinnlos nachgesprochen, von Bismarcks Vermächtnis herübergenommen. Viele Gleichnisse stammten von Baron Holstein. Vor allem Graf Bülow übernahm sie und warf sie durcheinander. Er wußte von europäischen Zusammenhängen nichts, von Kontinenten noch weniger. Gedanken übernahm er wie Zitate, stets von Fremden, er spielte mit ihnen, sprach sie aus, ohne sie zu begreifen. Nie hat ein Staatsmann die erschreckende Leere seines Gehirns besser mit Worten und Versen zu bekleiden gewußt, als Bernhard von Bülow. Die Welt nannte ihn geistvoll, indes er in Wahrheit beschränkt war. Nie erkannte er ein Merkzeichen, nie eine Veränderung des Horizonts. Jede Lüge zog er ernsthaften Auseinandersetzungen vor. Von jedem Gegner, von jedem Partner glaubte er, daß er log, wie er selbst. Er wußte nicht, daß längst diese Gegner erkannt hatten, daß zu seiner Unaufrichtigkeit ein verwegenes Maß von Dummheit und Verkennung aller Dinge kam. Er arbeitete ungern und plagte sich selten. Selbst dem Kaiser hörte er nie zu. War die Angelegenheit vorbei, die ihm der große Souverain selbst ausführlich berichtet hatte, so bat er den Flügeladjutanten gleich darauf um Wiederholung des Themas. Er hatte es nicht begriffen oder das Wesentliche vergessen. Hatte der Flügeladjutant die Angelegenheit wiederholt, bat er zwei Stunden später nochmals um Vortrag. Er war nicht nur zerstreut, er war nachlässig. Was er an politischer Übersicht nicht hatte, fehlte ihm an wirtschaftlicher Kenntnis.

»Was sind das eigentlich: Prioritäten?« fragte der Kanzler einen der Botschafter. Er verstand die Darlegung allerdings auch nach einer Stunde nicht.

Zweifellos hatte er ein einziges, großes und geniales Können: all dies hinter äußerem Wesen und den vielen schön gesetzten Worten völlig zu verstecken. Kein führender Staatsmann der Welt hatte je die Armut des vierten deutschen Kanzlers. Kaiser Wilhelm ließ sich durch die Anregung blenden, die von dem Geistvollen auszustrahlen schien. Auch seine Schmeichlerworte warben, für die kein besserer Meister kommen wird. Daß auch Deutschlands ganzes Volk in ihm den wahren Führer sah, endlich wieder einen Staatsmann nach Fürst Bismarck, daß Reichstag und Presse sich von ihm betören ließen, bedeutet zweifellos Mitschuld und Entschuldigung – –

Das deutsche Mißgeschick in der Welt rückte darum nicht ferner durch die Staatskunst des Reichskanzlers Grafen Bülow. Er »finassierte« weiter.

 

Deutsche Dampfer wurden von den Engländern – wenige Wochen nach Graf Bülows Rede im Reichstage zum neuen Flottengesetz – in den südafrikanischen Gewässern angehalten. Sie wurden nach Waffen durchsucht und beschlagnahmt. Das deutsche Kabinett legte schärfste Verwahrung gegen das englische Vorgehen durch eine Reihe von Noten ein. Der Zwischenfall, der die Engländer zweifellos im Unrecht zeigte, war dem Reichskanzler in der Fortwirkung seiner Rede nicht unwillkommen, die sich der deutschen Volksstimmung gegen England so völlig angeschlossen hatte. In der Tat verschärfte sich die Volksstimmung noch erheblich. Nicht nur der Kanzler, auch der Staatssekretär des Marineamtes, Admiral von Tirpitz, gedachte die allgemeine Erbitterung der Öffentlichkeit gründlich auszunützen. Über den Zwischenfall triumphierte er. Das Flottengesetz nannte er bereits gesichert. Er trank ein Glas Sekt auf die Beschlagnahme der deutschen Schiffe.

Bis jetzt hatte niemand eigentlich von einer wirklichen Seemacht Deutschlands sprechen können: selbst Italien und Rußland waren stärker zur See als das Deutsche Reich. Erst General von Caprivi hatte sich als Chef der Admiralität mit der Organisation der Marine ernsthaft zu beschäftigen begonnen, hauptsächlich dem Torpedowesen und den strategischen Aufgaben der Flotte zugewandt. Erst zehn Jahre war es her, daß General von Caprivis Nachfolger bei der Marine, der Vizeadmiral Graf Monts, die Vermehrung der Kampfschiffe verlangt hatte: vier große Hochseeschlachtschiffe hatte er damals 1890 gefordert. Als erster hatte er damit, indem er über die Frage deutscher Küstenverteidigung hinausgriff, auf die Möglichkeit kommender Entscheidungen auch in freier See hingewiesen. Kaiser Wilhelm selbst hatte sich dem Problem einer starken, deutschen Flotte, dem endlichen Entschluß, alle Opfer für ihre Schaffung zu bringen, schon im Herbste 1895 zugewandt, als die Reibungen mit England nach Präsident Krügers Trinkspruch, nach der Entsendung deutscher Schiffe in die Delagobai, in den Unterhaltungen des britischen Botschafters Malet mit Kaiser Wilhelm und Freiherrn von Marschall immer schärfere Aussprache gefunden hatten. Die unruhigen Tage von Jamesons Überfall auf die Buren hatten die Erkenntnis vertiefen müssen, daß jeder Schutz von Deutschen in überseeischem Lande von der Bereitschaft und Kraft einer Flotte abhängig war. Im Sommer 1897 hatte der Kaiser den Vizeadmiral von Tirpitz an die Spitze des Marineamts gestellt. Mit dem Ostasiengeschwader war der Vizeadmiral dann ausgefahren, hatte wertvolle Erkundungsdienste erwiesen und zu dem Erwerb von Kiautschou geraten. In den Settlements studierte er die Engländer. Sein Eindruck war, daß sie die Deutschen nicht nur bedrängten, wo sie es vermochten, daß sie in den Settlements die Deutschen vielmehr haßten, um des unleugbaren Aufschwunges willen, den die deutschen Geschäfte in der Welt nahmen. Der Vizeadmiral studierte die englische Geschichte. Seine Überzeugung war, daß sich England von den Überlieferungen nicht lossagen könne, die durch dreihundert Jahre ihre Haltung in den Meeren und wegen der Meere bestimmt hatten. Die Macht Hollands sah er durch einen englischen Admiral gebrochen, der nach keinem Kriegsgrund fragte, wenn er sich bei den Holländern nehmen konnte, was England noch gefiel. Der Kampf mit den Holländern war dem Admiral das Symbol: einmal würde Deutschland den Engländern genau so viel oder genau so wenig wie Holland sein. Was an ihm lag, wollte er tun, um es zu verhüten.

Wenn die Engländer in den Settlements die Deutschen haßten, wenn der Vizeadmiral den Haß auf Schritt und Tritt gespürt hatte, wenn er ihn in jeder englischen Zeitung fand, die er zur Hand nahm, so war der eigene Haß nicht geringer, den er gegen England hegte. Daß er ein Organisator war, hatte er unter General von Caprivi schon im Torpedobau bewiesen. Jetzt aber, da er der Staatssekretär des Marineamtes geworden war, wollte er ganz richtig die deutsche Flotte schaffen. Im Herbst 1897 brachte er im Reichstage die erste Flottenvorlage ein; der Reichstag beschloß 1898, in sechs Jahren siebzehn Schlachtschiffe fertigstellen zu lassen. Auch dem Admiral von Tirpitz schien die Verteidigung der deutschen Küsten im Augenblick gesichert genug, um an die Vorbereitung großer Entscheidungen in der Hochsee schreiten zu können. Um das Verständnis des deutschen Volkes für das ihm noch neue fremde Problem warb er so eifrig, wie der Kaiser selbst: der Kaiser lud Abgeordnete zu sich, um ihnen an Statistiken und Vergleichen mit den Flotten anderer Völker die Notwendigkeit zum Bau deutscher Kriegsschiffe zu beweisen, der Staatssekretär von Tirpitz begeisterte den 1898 geschaffenen »Flottenverein«, begeisterte Universitätsprofessoren, Industrielle, Schriftsteller für den Flottengedanken. Mit dem Grafen Bülow war der Vizeadmiral eines Sinnes. Eher wollte Graf Bülow noch mehr durchgesetzt wissen, als der Staatssekretär der Marine, der ein gewisses Gleichmaß im Bauen anstrebte, dabei den Fortgang der Technik mit einrechnete, während Graf Bülow die kommende große Flotte schon als politisches Kampfmittel sah. Lediglich darüber gab es zwischen beiden gelegentlich leichte Meinungsverschiedenheit. Da sie beide das Gleiche wollten, da sie sich beide in ihrem Wollen stützten, da Graf Bülow die mächtige Persönlichkeit, die der Staatssekretär von Tirpitz in jedem Falle war, zugleich heimlich fürchtete, der Staatssekretär aber wußte, wie sehr Graf Bülow seine Pläne fördern konnte – bei Kaiser Wilhelm, im Reichstage, im Volke selbst, – um dieser wirklichen Ergänzung willen vertrugen sie sich. Graf Bülow sprach im Reichstage, vierzehn Tage nach seiner Abrede mit dem englischen Kolonialminister, von der entwürdigenden Art, mit der auf Deutschland von seinen Nachbarn herabgesehen würde:

»Diese Zeiten sollen nicht wiederkehren! Wir wollen nicht wieder, um mit Friedrich List zu sprechen, Knechte der Menschheit werden« – –

In Danzig hatte der Kaiser im September 1898 das Wort gesprochen:

»Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser« – –

Im Oktober 1899 in Hamburg:

»Bitter not ist uns eine Flotte« – –

Schon im Jahre 1900, getragen von der deutschen Volksentrüstung über das Anhalten der deutschen Dampfer durch die Engländer, verlangte der Staatssekretär von Tirpitz die Bewilligung einer neuen, gewaltigen Flottenvorlage. Nicht siebzehn neue Schlachtschiffe sollten in sechs Jahren, sondern vierunddreißig Hochseeschlachtschiffe in siebzehn Jahren gebaut werden. Über sein Programm sprach er im Februar 1900 selbst im Reichstage:

»Wir sind der Ansicht, daß die Flotte, wie sie in der Vorlage gewünscht wird, so stark ist, daß sie die Nordsee frei hält. Unsere Seegefechte sollen in die Nordsee verlegt werden« – –

Der Staatssekretär wollte die Sicherung Deutschlands gegen jede Blockade. Keine Macht sollte in Zukunft so stark sein, daß sie allein die See beherrschte. Der Staatssekretär entwickelte einen »Risikogedanken«: so mächtig wollte er die deutsche Flotte haben, daß auch die gewaltigste Seemacht der Welt einen zweifelhaften Kampf auf Leben und Tod in dem Augenblicke aufnahm, da sie Deutschland zur See angriff. War dies erreicht, so verzichtete jede Seemacht auf den Angriff. Hier war die Attacke auf England und seine bis zu diesem Zeitpunkt unangetastete, unbeschränkte Gewalt auf dem Meere. Es sollte nicht mehr machen dürfen, was es wollte, es sollte auf Ererbtes verzichten müssen, das es bis dahin besaß. Nahm England den »Risikogedanken« an, so dankte seine Herrschaft ab auf den Fahrstraßen der Welt. Dann war England geschlagen ohne Schlacht. Nicht das Bauen der Flotte: erst der laut verkündete »Risikogedanke« war die Ansage, die englische Herrschaft stürzen zu wollen. Erst die Herausforderung durch den »Risikogedanken« war die Herausforderung zum Gegenkampf.

Nur der Admiral von Tirpitz und der neue Reichskanzler Graf Bülow glaubten, daß sie ihr eigentliches Wollen so geschickt hinter einem Wort und einer Spiegelfechterei verkleidet hätten, daß England den versteckten Sinn nicht begriff. England konnte nach ihrer Meinung darin nur Deutschlands unveräußerliches Recht erkennen, sich zu schützen, nicht aber die Tatsache, daß seiner eigenen Flotte die Willensfreiheit genommen war. Der Reichskanzler und der Staatssekretär »finassierten«: beide weit klüger, weit pfiffiger und viel verschlagener als »der gute Chamberlain« – –

Der Kaiser hoffte im Innersten immer noch auf den Bund mit England. Wurde er eines Tages doch geschlossen, so waren beide Flotten eine einzige Macht. Dem englischen Kolonialminister waren die Flottenpläne bei den Londoner Verhandlungen bekannt gewesen. Er hatte sie nicht einen Augenblick lang als eine Störung seiner Bündnispläne empfunden. Er hatte sich mit keinem einzigen Worte gegen sie gewehrt. Denn innerhalb des Bündnisses, an das er nach den ganzen Verhandlungen glauben mußte, erhöhte sie den Wert des Bundesgenossen, mit ihr war er um so willkommener. Gelang freilich das Bündnis zum Schlusse nicht, so blieb der durchgeführte »Risikogedanke« ein dauerndes Pfand der Unversöhnlichkeit. Dann war nach den Gedanken des Kaisers nur mehr der Weg nach Rußland offen. Dem ihm weit weniger zuverlässig erscheinenden Rußland mußte sich Deutschland dann nähern, – aber wenigstens begehrenswerter als bisher: mit seinen vierunddreißig Hochseeschlachtschiffen, mit seinen sechzehn neuen Panzerkreuzern, mit den zweiunddreißig neuen kleinen Kreuzern, mit seinen sechzehn Torpedobootdivisionen, mit seiner ganzen, neuen, starken Flotte.

 

England gab die beschlagnahmten Schiffe zurück. Überdies versprach es Entschädigung. Lord Salisbury, der trotzdem bei seiner Auffassung blieb, daß England die Dampfer mit Berechtigung hatte anhalten dürfen, versteckte seine Verdrossenheit gegenüber Deutschland nicht. Das deutsche Kabinett hätte den Zwischenfall zu scharfen Noten in einem Zeitpunkte benutzt, da England sich in den Schwierigkeiten eines nicht gerade glücklichen Krieges befand. Bei den fortgesetzten Bemühungen um ein Bündnis mit Deutschland wirkte die Sprache des deutschen Kabinetts nicht ritterlich. Den Grafen Bülow hatte der alte, mißtrauische Lord längst durchschaut: Deutschland tat so, als wollte es England den Bund gewähren, aber in Wahrheit wolle es Kolonien und alle möglichen anderen Vorteile ohne Bundesgenossenschaft. Lord Salisbury sprach seine Gedanken auch offen aus, ohne daß der Staatssekretär das Durchschauen seiner wahren Haltung wichtig nahm. Nur der Kaiser tat alles, um die Folgen des neuen Zusammenstoßes zu verwischen.

Königin Victoria war während des Londoner Aufenthaltes des Kaisers immer wieder auf die englischen Niederlagen in Südafrika zurückgekommen. Sie litt in ihrem Stolze, aber auch die Verluste vieler naher Bekannter trafen sie schwer. Immer wieder kam sie auf militärische Dinge zu sprechen, schließlich erbat sie, da die englische Armee die Einrichtung des Generalstabs noch nicht kannte, vielmehr den Feldzug nach den Weisungen des Kriegsministeriums führte, die Auffassungen des Enkels. Kaiser Wilhelm gab den Wunsch der Königin als Befehl an den Chef des Generalstabes, den Grafen Schlieffen weiter. Seine Richtlinien schickte er an die Königin. Ob Graf Schlieffens Ratschläge von dem Feldmarschall Lord Roberts verwendet wurden oder nicht: Königin Victoria dankte dem Enkel in warmen Worten. Wenige Wochen darauf kam ein verkappter Vorschlag Rußlands und Frankreichs an den Kaiser, ob nicht der Zeitpunkt zu gemeinsamem Einspruch gegen den Burenkrieg günstig wäre. Erst waren ihm Andeutungen über ein solches Vorgehen durch den russischen Botschafter Graf Osten-Sacken gemacht worden. Jetzt hatten Rußland und Frankreich ihre Anfrage bei Deutschland klar gestellt. Der Staatssekretär meldete das Angebot dem Kaiser, der in Helgoland an den Übungen eines Geschwaders teilnahm. Wilhelm II. glaubte ein bedenkliches Manöver zu spüren, das Rußland und Frankreich zum Schaden Deutschlands ausgedacht hatten. Der Staatssekretär Freiherr von Marschall hatte selbst die Anregung und Möglichkeit dazu gegeben, da er um die Jahreswende zu 1896 dem französischen Botschafter einen gemeinsamen Widerstand der Kontinentalmächte gegen England in Südafrika vorgeschlagen hatte. Obgleich der Vortrag des Grafen Bülow eher für ein Mitgehen, als für die Ablehnung sprach, entschloß sich der Kaiser zur Absage. Seine Überzeugung war, daß die beiden anregenden Mächte Deutschland, wenn es zusagte, sogleich wieder fallen lassen und dann ihn selbst als Urheber des ganzen Planes bei England verdächtigen würden. Noch von Helgoland depeschierte er an die Königin Victoria. Den Vorschlag der beiden Verbündeten Rußland und Frankreich, in Südafrika dem kriegführenden England in den Arm zu fallen, hätte er eindeutig abweisen lassen. Obwohl der Prinz von Wales an den britischen Staatsgeschäften verantwortlich nicht teilnahm, verständigte der Kaiser auch ihn.

Bestürzt nahm der Staatssekretär Graf Bülow von den beiden Depeschen Kenntnis. Sein Widerspruch hatte die Form der großen Besorgnis, daß nur kein Unglück aus dem schnellen Schritt »des allerhöchsten Herrn« sich ergebe. Nie wäre Rußland »solcher Infamie fähig«, daß es lediglich ein Komplott aussann, um dann den Kaiser damit zu belasten.

»Solche wichtigen Dinge«, meinte der Staatssekretär, »müssen erst ergründet und auf ihre Wahrheit geprüft, dann aber durch fein gefeilte Noten behandelt werden. Telegramme in kurzem Stil könnten unter Umständen Unheil verursachen, besonders in einem so scharf konstitutionellen Reiche wie England. Hoffentlich werde nichts Schlimmes daraus entstehen. Aber er sei sehr besorgt« – –

Die Antwort des Prinzen of Wales drückten Zweifel und Erstaunen über Kaiser Wilhelms Mitteilung aus. Königin Victoria dankte mit warmen Worten zunächst durch eine Depesche. Wenige Tage darauf schrieb sie dem Enkel. Kurz nach dem Eintreffen der Helgoländer Botschaft wäre ihr von amtlicher Stelle Mitteilung »über einen ganz unerhörten, feindlichen Schritt« zugegangen, den die deutsche Regierung in Petersburg und Paris durch den Antrag unternommen hätte, »zu Dreien England in den Arm zu fallen, das durch den Burenkrieg gefesselt sei.« Dem Kaiser abträgliche Vermutungen hätte der Überbringer an seine Nachricht geknüpft. Die Königin selbst hätte alles ruhig angehört, dann dem Vortragenden, als er zu Ende gesprochen, das kaiserliche Telegramm überreicht. Sein Erstaunen wäre groß gewesen, seine Vermutungen sogleich verstummt. Der Kaiser hätte seine Gegner völlig richtig eingeschätzt. Rechtzeitiger hätte die Depesche gar nicht kommen können. Für den der Königin und ihrem Lande erwiesenen Freundschaftsdienst könne sie ihm nur Dank wissen – –

Die Besorgtheit des Staatssekretärs hatte bis dahin angehalten. Der Kaiser gab ihm den eingetroffenen Brief. Eine Weile schwieg Graf Bülow in Verlegenheit. Dann war er freudig überrascht. Auch kannte die Bewunderung keine Grenzen, die er für die Staatskunst Wilhelms II. hatte.

 

Der Staatssekretär mußte den Vorschlag Rußlands und Frankreichs, da der Kaiser bereits eine Entscheidung herbeigeführt hatte, in Petersburg ablehnen. Dort wies er auf die Notwendigkeit hin, jeder Verwicklung aus dem Wege zu gehen. In einheitlicher Front mit beiden Mächten zu stehen, setze für Deutschland die Versicherung voraus, daß alle drei Völker sich den Besitzstand ihrer Gebiete verbürgten. Nie gab Frankreich dies zu; 1870 war noch nicht gerächt. Graf Bülow ließ die Engländer wissen, daß er eben durch das Stellen nicht erfüllbarer Forderungen sich seine Freiheit gewahrt hätte. Rußland mußte es noch anders versuchen, wenn es Deutschland gegen England ausspielen wollte.

Ohne Zweifel spürte das russische Kabinett, daß abermals Freundschaftsverhandlungen im abgelaufenen Jahr zwischen England und Deutschland geführt worden waren oder noch schwebten. Seine Vermittlung im Burenkrieg war mißglückt. Die Buren selbst erfuhren kurz darauf, als auch sie in Berlin Vermittlung anstrebten, kaum verhüllte Ablehnung. Den Burenpräsidenten, der nach Europa gekommen war, um für sein Land zu werben, empfing Kaiser Wilhelm nicht. Die deutsche Schwenkung zu England schien Rußland immer deutlicher. Andere Versuche mußten unternommen werden, um die neuen Beziehungen zu lockern.

 

China stand in Flammen. Vielleicht führte der Weg über Ostasien nach Berlin. Die Chinesensekte der »Boxer« hatte sich im Aufstand erhoben. Aufgestachelte Massen bedrohten die Niederlassungen der Europäer. Kriegsschiffe der Mächte, die in den ostasiatischen Gewässern kreuzten, wurden von den Takuforts bei Peking beschossen. Ihre Seesoldaten bestürmten die Forts, aber die Unruhen wuchsen. Der Aufruhr zog sich durch das Yangtsebecken. Peking war der Hauptherd. Gering an Zahl, knapp an Munition und Proviant, konnten die Truppen der Europäer den Marsch auf Peking nicht wagen. Aber in Tokio bat der Außenminister Vicomte Aoki die Botschafter Englands und Deutschlands, Rußlands, Frankreichs und Amerikas zu sich. Japan sei bereit, seine eigenen Truppen zum Schutze der Gesandtschaften und Fremden nach Peking zu schicken. Es wolle der Mandatar der Mächte in China sein. Die Botschafter sollten Japans Bereitschaft ihren Kabinetten melden.

England stimmte dem Vorschlag zu. Rußland und Frankreich lehnten ab. Deutschland wich aus. Amerikas Stimme brachte keine Entscheidung. Aber die Unruhen gingen weiter. Am 18. Juni 1900 verließ der deutsche Gesandte Freiherr von Ketteler in Peking seine Gesandtschaft trotz der Warnung, ihren Umkreis nicht zu überschreiten. Er unterschätzte die Gefahr:

»Mir kann als deutschem Gesandten nichts geschehen« – –

Aber die Chinesen rissen ihn aus der Sänfte. Sie töteten ihn. Jetzt war der höchste Alarm für ein militärisches Eingreifen der Mächte gegeben. Der chinesische Aufruhr hatte Deutschland am schwersten getroffen. Nicht nur deutsche Ansiedler waren ermordet worden: das Ansehen aller Deutschen war schwer beleidigt. Aber wieder unternahm Japan, an allen Vorfällen und Maßnahmen durch Chinas Nähe unmittelbar berührt, die ersten Schritte in einer so verfänglichen Angelegenheit, wie es das nunmehr beschlossene, gemeinsame Eingreifen von Truppen verschiedenster Mächte war. Vicomte Aoki, der japanische Außenminister, sprach mit dem deutschen Geschäftsträger. Er hätte von dem »Emperor«, wie er gleich allen Japanern seinen Herrscher nannte, die Weitergabe der Anregung an das deutsche Kabinett erwirkt, daß ein deutscher Oberbefehlshaber über alle für China bestimmten Truppen eingesetzt werde. Der deutsche Geschäftsträger Graf Wedel fand den Vorschlag heikel. Er deutete die Eifersucht der Mächte an. Aber er wollte die Mitteilung des Vicomte nach Berlin melden.

Graf Bülow antwortete sofort, daß man Verstimmungen unter den Mächten vermeiden müßte. Auch dürften die »sieggewohnten Generale Seiner Majestät« keinem Mißerfolg ausgesetzt werden. Aber nur auf die Sorge vor Mißhelligkeiten wies Graf Wedel vor dem japanischen Außenminister hin. Die »sieggewohnten Generale« ließ er aus dem Spiel. Deutschland hatte seit drei Jahrzehnten überhaupt keinen Krieg geführt. Die Manöversiege der Generale konnten nicht gut angeführt werden.

Dennoch wurde der Vorschlag des japanischen Außenministers verwirklicht. Die Anregung, »dem deutschen Kaiser eine Freude zu machen«, hatte auch ein Vertrauter des Geheimrats von Holstein einem einflußreichen Freund nach London weitergegeben. Lord Salisbury war weder begeistert, noch hatte er Einwände. Vor allem aber hatte sich Kaiser Wilhelm mit dem Zaren unmittelbar verständigt. Russen, Deutsche und Japaner stellten die größten Truppenkörper für Peking. Nur ein russischer General – vielleicht der ehrgeizige Kriegsminister Kuropatkin – oder ein deutscher General kam für die Führung der weißen Soldaten in die Wahl. Der Kaiser hatte bei dem Zaren Nikolaus angefragt, ob er selbst einen Heerführer bezeichnen oder der Ernennung des Generals Grafen Waldersee zustimmen wolle. Der Zar wußte, daß die chinesischen Unruhen abermals ostasiatische Fragen aufwerfen mußten. Deutschland konnte bei der Lösung nützlich sein. Deutschland sollte ja auch ein wenig von England fortgebracht werden: der Zar stimmte der Ernennung des Generals Grafen Waldersee also zu. In solchem Einverständnis schlug Wilhelm II. auch den anderen Souveränen, darunter dem Kaiser von Japan, den deutschen Heerführer vor. Zwar hatte Vicomte Aoki als erster Graf Waldersees Namen dem deutschen Geschäftsträger genannt. Aber Kaiser Wilhelms Depesche enthielt keinerlei Andeutung. Graf Wedel, ein wenig verwundert über den Mangel an sonst nicht vermißter Höflichkeit des Kaisers, sah die Angelegenheit als erledigt an. Nur ein Verweis, den ihm der Geheimrat von Holstein bald darauf erteilte, machte ihn doch recht nachdenklich über die Führung der Geschäfte durch den neuen Reichskanzler Grafen Bülow und das Auswärtige Amt. Denn Baron Holstein beschwerte sich darüber, daß der Geschäftsträger ihm nichts vom Eintreffen einer kaiserlichen Depesche in Tokio gemeldet hatte. Entweder hatte der Geheimrat also dem Reichskanzler die Anregung des Vicomte Aoki vorenthalten oder Graf Bülow hatte sie dem Kaiser verschwiegen. Keinesfalls wußte Kaiser Wilhelm von ihr. Außerdem hatte Graf Bülow dem Geheimrat Kaiser Wilhelms Telegramm verheimlicht. Sichtbar für den Kaiser von Japan war nur die Unhöflichkeit Kaiser Wilhelms, der von dem Zwischenspiel nichts wußte.

 

General Graf Waldersee wurde der Generalfeldmarschall für alle Chinatruppen. Kaiser Wilhelm verabschiedete ihn bei seiner Ausfahrt mit einer unglückseligen Ansprache, die auf die Grausamkeiten der aufständischen, chinesischen Sektierer hinwies und Vergeltung forderte:

»Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch in einer Weise betätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen« – –

Den Wortlaut monarchischer Reden hatte Graf Bülow zu überwachen. Jede Wendung strich Kaiser Wilhelm sofort, wenn sie ihm als Entgleisung nachgewiesen wurde und wenn nur irgendwer in seinem Gefolge den Mut hatte, ihm die Wendungen vorzulegen. Die Hanseaten hatte er einmal durch eine bedenkliche Wendung verletzt. Niemand vom Zivilkabinett, niemand von der Reichskanzlei wagte es, den einmal ausgesprochenen Satz vor dem Hinausflattern in die Welt dem Kaiser nochmals vorzulegen. Endlich nahm sich ein Verwegener, dem Hofe nicht zugehörig, die große Kühnheit heraus.

»Streichen Sie den Satz«, entschied der Kaiser. »Sie haben ganz recht« – –

Aber Graf Bülow hatte schon deshalb keinen Grund, kaiserliche Reden zu beanstanden, da er stets mit ihnen einverstanden war. Gerade die Kraft, die geniale Meisterung von Form und Inhalt bewunderte und beglückwünschte er.

So sprach Kaiser Wilhelm II. beim Abschiede des Grafen Waldersee von der schweren Geißel, die die Aufständischen in China mit der gleichen Härte zu spüren bekommen sollten, wie sie einst Attilas Hunnen geübt. Der Kaiser war im Rechte, wenn er schwere Sühne befahl. Die Chinesen hatten mit den Weißen unmenschlich gehaust. Auch wollte er nicht nur die Deutschen dadurch in aller Zukunft geschützt wissen. Für die ganze weiße, christliche Rasse sprach er. Wieder stieg die Gefahr »der Gelben« vor ihm auf. Dennoch war das Wort von den Hunnen schweres Unheil: fest hämmerte es sich in das Gedächtnis der Zeit – –

 

Generalfeldmarschall Graf Waldersee führte sein Amt in Ostasien so, daß er mehr seine diplomatische Begabung als die Befehlsgewalt ausspielte. Die Wahl war auf ihn gefallen, weil der Kaiser seine militärischen Fähigkeiten hochschätzte, aber auch seine geschmeidige Art kannte. Graf Waldersee selbst hatte den Eindruck, daß das Auswärtige Amt seine Wahl unterstützt hätte, damit er »nicht mehr intrigieren könne«. Die japanischen Truppen gehorchten ihm ohne Widerrede. Die Engländer haßte der Generalfeldmarschall mit Vorsicht. Wo er konnte, ließ er sie aus seinen Anordnungen fort. Mit den Russen und mit den Franzosen, die fast nur Kolonialoffiziere mit ihren Truppen nach China geschickt hatten, vertrug sich der General ausgezeichnet. Der Oberstleutnant Marchand, der das Niederholen der Trikolore im Sudan so wenig vergessen hatte, wie seine Offiziere, schilderte ihm die Erbitterung von Faschoda. Die Kameradschaftlichkeit, durch die der Generalissimus alle bestrickte, wurde bald so groß, daß neue Gedanken einer Verbrüderung aufkamen. In Zukunft wollten die russischen und französischen Offiziere mit den Deutschen am liebsten gegen England gehen. Sie pflegten in Ostasien die Stimmungen und selbstgeschaffenen Visionen eines waffenbrüderlichen Augenblicks.

Viel Siegerlorbeeren auf den Schlachtfeldern von China gediehen freilich für den deutschen Generalissimus nicht mehr. Der Aufstand der Boxer war fast niedergeschlagen. Eigentlich blieb bloß Strafgericht und Sicherung der Ordnung. Unmittelbar nach japanischen Abteilungen, die durch einen nur ihnen bekannten Wasserdurchlaß in die Stadt schon eingedrungen waren, hatten die Russen Peking erstürmt. Die Hauptstadt war noch vor dem Eintreffen des Grafen gefallen. Jetzt wollten die Russen ihre Soldaten aus China überhaupt zurückziehen. Mit dem Vizekönig Li-Hung-Tschang standen sie in heimlicher Verbindung. Ihre Absicht war, ihn zur Preisgabe der Mandschurei an Rußland zu bewegen. Er stimmte leichter zu, wenn die Russen aus der Hauptstadt, aus dem Gebiete des Yangtse Kiang, aus der ganzen Provinz Tschili abzogen. Auch die anderen Mächte mußten dann erwägen, ob sie ihre Truppen nicht heimrufen sollten. Die Mandschurei erstrebten die Russen für sich: in den angrenzenden chinesischen Provinzen, eben in diesen Gebieten der Unruhe, wollten sie überhaupt keine fremde Macht wissen. Vor allem England nicht. Aber gerade England dachte nicht daran, die von ihm gebauten Bahnen und Anlagen, den großen Handel seiner Kaufleute dort fallen zu lassen. Seine Truppen blieben in China. Bei besonderen Unternehmungen verstärkten die Engländer sogar die aus Indien herangeholten Streitkräfte noch durch Truppen von Weihaiwei her. So sahen sich auch die Russen wieder gezwungen, den vollen Abmarsch ihres Aufgebotes zu vertagen. Auch dem Oberbefehlshaber Grafen Waldersee wurde es sehr bald klar, daß es in China gar nicht mehr um Boxerkämpfe und Aufstände, sondern um die Einflußgebiete ging, die von den Mächten erstrebt wurden. Er hatte noch eine erfolgreiche Unternehmung nach Paotingfu durchgeführt, wohin die fremdenfeindliche, chinesische Kaiserin mit ihrem Hof geflüchtet war, dann hatte er die Ufergebiete des Peiho von den Boxern gesäubert. Was er durch militärische Macht noch erzwingen sollte, war die Auslieferung und Verurteilung der Mörder des Gesandten von Ketteler, die Züchtigung der Anstifter, die Bestrafung der Kaiserin und des Prinzen Tuan, die den Aufstand angezettelt oder geduldet und ermuntert hatten. Aber für die Mächte war der Schauplatz in China längst nur mehr das Problem neuer, gewinnverheißender Aufteilung.

Über den General Prinzen Engalitschew versuchten die Russen, den deutschen Befehlshaber gegen England aufzustacheln. Zwar wies Graf Waldersee dem General Linewitsch die wichtige Bahnlinie von Schankhaikwan nach Peking zu, nachdem der russische Kommandant den Verkehr für die militärischen Zwecke aller Streitkräfte verbürgt hatte. Graf Waldersee bezeichnete die Angelegenheit als eine rein militärische Notwendigkeit. Aber das Londoner Kabinett verdroß die Auslieferung des Verkehrsstranges nach Peking an die Russen. Um die dadurch geschaffene, neue deutsche Spannung gegen England noch zu vertiefen, kam das russische Kabinett auf seinen schon im Hochsommer gemachten Vorschlag nochmals zurück, das ganze Becken des Yangtse Kiang zu neutralisieren.

Deutschland hatte auf die russische Anregung mit der Auffassung erwidert, daß die chinesische Kriegsflotte, die an der Yangtse-Mündung lag, ebenso der Fremdenschutz als eine Frage aller Mächte angesehen werden sollte. In London hatte bei den sich anspinnenden Verhandlungen Lord Salisbury erst nicht widersprochen, aber der Prinz von Wales hatte Kaiser Wilhelm gegenüber im August 1900 das geringe Entzücken der Engländer über eine solche Ordnung durchblicken lassen. Graf Waldersees Berichte bestätigten, wie tief Englands Unternehmungen im Yangtsebecken schon verwurzelt waren. Der Kaiser hatte dem Oheim dann die zwei Möglichkeiten über Englands Stellung zu den Dingen in dem bezeichneten Gebiete auseinandergesetzt. Entweder wollte England dort eine Sonderstellung. Dann mußte es diese Stellung aus eigener Kraft schaffen und behaupten. Es war dann der Versuch eines Dammes gegen den vordringenden russischen Einfluß. Oder man schuf eine Politik »der offenen Tür« für alle. Jedenfalls hatte Rußland erreicht, daß Deutschlands Standpunkt zur Entwicklung im Becken des Yangtse Kiang von größter Bedeutung für seine Beziehung zu England überhaupt wurde.

Der Prinz von Wales entschied sich für die Politik der »offenen Tür« im Yangtsebecken. Er wollte Lord Salisbury für sie gewinnen. Der Kaiser versprach, Englands Auffassung zu stützen. Nach vielem Hin und Her, bei dem Lord Salisbury erst eine ganze Weile über die Festsetzung der Grenzen des künftig neutralen chinesischen Gebietes im Zweifel war, kam endlich ein förmliches Abkommen über China zwischen England und Deutschland zustande: »der Yangtse-Vertrag«.

Dem allgemeinen, ungestörten Völkerhandel sollten das ganze Stromgebiet des Yangtse Kiang und alle Seehäfen Chinas freigehalten werden. In der Mandschurei konnte sich Rußlands Wirtschaft frei entfalten. Am Amur konnte Rußland, wenn es wollte, auch noch den einen oder anderen Hafen für sich haben. Aber weder England, noch Deutschland, noch irgendwer sollte chinesisches Gebiet erwerben. England und Deutschland hatten für einander einzutreten, wenn ihre in China bereits bestehenden Rechte angetastet würden. Lord Salisbury hatte das Abkommen der beiden Mächte zuletzt für das gesamte chinesische Gebiet vorgeschlagen, »in dem sie Einfluß besitzen«. Aber der Reichskanzler liebte feste, genau formulierte Bindungen nur, wenn er auf eigene, große, von ihm selbst erstrebte Vorteile ausging. In dem Vertragsstück setzte er die allgemeinere Fassung durch, daß das Eintreten für einander eine Pflicht beider Mächte nur für jenes chinesische Gebiet bedeuten sollte, »soweit sie einen Einfluß ausüben können«. Den ganzen Vertrag konnte Graf Bülow dann dehnen und auslegen, wie er es für richtig fand.

Aber das britische Kabinett stellte trotz des Schachzuges fest, daß es zu einem Abkommen mit Deutschland über die Chinafrage tatsächlich gekommen war. Der Eindruck war stark und günstig: vielleicht ging es wenigstens jetzt auch mit der großen Frage des Bündnisses glücklich vorwärts. Selbst der Kolonialminister Chamberlain wollte noch einmal vergessen, was der Staatssekretär Graf Bülow ihm angetan. Unmittelbar nach dem Tode der vielbetrauerten Königin Victoria – die Entschlummernde hatte Kaiser Wilhelm bis zum letzten Atemzuge im Arm gehalten –, in der herzlichen Stimmung des englischen Volkes, das dem deutschen Kaiser seine Anteilnahme und Ritterlichkeit, seine eigene, große Trauer hoch anrechnete, im Januar 1901 versuchte Chamberlain zum drittenmal, Deutschland zu einem Bund zu gewinnen. Er war dabei entschlossen, daß der Versuch, wenn er mißlang, nicht mehr wiederholt werden sollte.

Chamberlain schwebte ein gewaltiges System verbündeter Kräfte vor. Zwischen all den mühevollen, an Enttäuschungen so reichen Verhandlungen mit Deutschland hatte er seit zwei Jahren die Vorbedingungen noch eines anderen Bündnisses geschaffen, das England und Japan verbinden sollte. Als Marquis Ito, der japanische Botschafter in London, zu Anfang des Jahres 1901 nach Tokio zurückkehrte, um dort das Kabinett des Marquis Yamagata abzulösen, trug er die Grundzüge des Abkommens bereits mit nach Japan. In unausgesprochenem, dennoch spürbaren Zusammenhange laufen die Versuche Englands und Japans, endlich die Freundschaft Deutschlands zu gewinnen, durch Monate nebeneinander. Was England von Deutschland wollte, wußte Japan. Was Japan von Deutschland wollte, mußte England wissen, wenn es den Bund mit Japan beschlossen hatte. Nur Deutschland wußte nicht, was beide von ihm wollten. In der großen Einkreisung angebotener Freundschaftsbündnisse von Ost und West machten sich der Reichskanzler Graf Bülow und der Geheimrat von Holstein daran, den Friedensring gänzlich zu zerschlagen.

Empfindlichkeiten waren in Chamberlains Haltung trotz der Selbstüberwindung zurückgeblieben, mit der er seine Erlebnisse mit dem Grafen Bülow abgetan hatte. Der Botschafter Graf Hatzfeldt hatte sie vor Jahresfrist schon gespürt, als der Kolonialstaatssekretär sich über den Ton beschwerte, mit dem der Zwischenfall wegen der angehaltenen Schiffe von den Deutschen behandelt worden war. Bei den neuen Anregungen und Tastversuchen hielt sich Chamberlain weit mehr im Hintergrund als in den Bemühungen der Jahre vorher. Die neue Anknüpfung über den Botschaftsrat von Eckardstein, der die Geschäfte für den ans Bett gefesselten Grafen Hatzfeldt führte, spann erst der Herzog von Devonshire, bald darauf Lord Lansdowne weiter, der von dem überlasteten, auch schon ein wenig müden Premierminister Lord Salisbury die Angelegenheiten der äußeren Politik übernommen hatte. Chamberlain und der Herzog von Devonshire hatten mit dem der englischen Gesellschaft und englischem Leben nahen Botschaftsrat, der seinen guten Willen und sein Verständnis für Linienführung in der Politik schon bei den Verhandlungen vor drei Jahren bewiesen hatte, auch diesmal vertraulich, offen und mit großer Klarheit gesprochen. England wollte den Bund mit Deutschland. Ferner sollte mit der Ordnung der Dinge in Marokko begonnen werden. England wollte nicht länger allein stehen in der Welt. Deutschland konnte natürlich ablehnen. Dann war die Stunde des englischen Anschlusses an Rußland und Frankreich gekommen – –

»Ich bin gegen den jetzigen Freundschaftssturm von Chamberlain und Genossen deshalb besonders mißtrauisch«, schrieb als erste Antwort der Vortragende Rat von Holstein an den Gesandten Grafen Metternich, der in London im Gefolge des Kaisers sich aufhielt, »weil die angedrohte Verständigung mit Rußland und Frankreich ein so vollständiger Schwindel ist« …

Unruhig war der Kaiser. Er spürte die warme Welle, die ihm in England entgegenschlug. Wieder war er für das Bündnis. Rußland bedeutete ihm nach wie vor einen Albdruck. Rußland war das letzte Auskunftsmittel, wenn es mit England gar nicht ging. Aber er frohlockte, da er dem Staatssekretär depeschierte:

»Also sie kommen, scheint's, worauf wir gewartet haben!«

Graf Bülow dachte über die neuen Anträge, wie der Geheimrat von Holstein dachte. Für ihn war keine Spur von Ernst darin. Er sah nur Unaufrichtigkeit. Den Kaiser warnte er. Verdrossen erklärte der Kaiser:

»Ich will mich nicht zwischen zwei Stühle setzen!«

Reichskanzler und Geheimrat betrieben in der Folge auf ihre Art das Verständigungswerk. Da England im Frühjahr den Anlaß gekommen glaubte, daß Deutschland und England sich gegen einen Vertrag Rußlands mit dem chinesischen Vizekönig Li-Hung-Tschang über russische Herrschaftsrechte in der Mandschurei verwahren müßten, ließ der Graf Bülow zunächst England im Stich. Eben mit Rücksicht auf die allgemeine Fassung, die der Reichskanzler für den Yangtsevertrag mit so vieler Geschicklichkeit ausgeklügelt hatte, war von Lord Lansdowne die Einlösung der deutschen Verpflichtung verlangt worden. Der Kanzler hatte sich in seiner eigenen List gefangen. Aber kühl begann er jetzt im deutschen Reichstage die Künste seiner Auslegung spielen zu lassen, kühl entzog er sich durch sie der getroffenen Abmachung. Der britische Kolonialstaatssekretär war diesmal nicht enttäuscht. Ähnliches hatte er bereits erlebt. Nur seine Zurückhaltung wurde noch größer. Vorläufig verhandelte Lord Lansdowne weiter. Vielleicht hatte er mehr Glück.

England wünschte den Bund mit Deutschland. Kanzler und Geheimrat von Holstein verlangten Englands Anschluß an den Dreibund. Der Geheimrat wollte keine »Hintertür«, durch die England sich aus dem Staub machen konnte, wenn er in Europa aufwirbelte. Graf Hatzfeldt riet, zunächst das Bündnis zwischen England und Deutschland abzuschließen. Der Dreibund gliederte sich dann von selbst ein. Die Möglichkeit, daß England zu Rußland und Frankreich hinüberschwenken könne, schien ihm bedenkliche Gefahr. Der Gesandte Graf Metternich, zum Nachfolger des schwerkranken Botschafters Grafen Hatzfeldt bestimmt, sprach sich in besonderem Gutachten für die Erfüllung der englischen Wünsche aus. Kanzler und Geheimrat verharrten bei ihrer Auffassung. Obgleich ihnen auch die merkwürdigen Nachrichten zu denken geben mußten, die der auf Urlaub heimkehrende deutsche Geschäftsträger in Tokio, der Botschaftsrat Graf Wedel, mitgebracht hatte.

 

Vor seiner Abreise nach Europa hatte sich Vicomte Aoki noch einmal ausführlich mit dem Grafen Wedel unterhalten. Vicomte Aoki war ein Freund Deutschlands, wo er lange gelebt hatte. Die Vicomtesse war eine Deutsche. Er selbst beherrschte die deutsche Sprache vollkommen. Die Russen haßte er weder, noch liebte er sie. Aber er erkannte klarer als alle Japaner die russischen Absichten, Korea für Rußland zu beanspruchen. Versuchte der Zar einmal, die Absichten in die Tat umzusetzen, so war dies der Krieg mit Japan. Alle japanischen Vorbereitungen galten dem russischen Kriege. Japan war entschlossen, ihn zu führen. Nicht zur Verteidigung seiner Inseln brauchte es seine große, mit vielen Opfern aufgebaute und ausgerüstete Armee. Auf den Inseln griff niemand die Japaner an. War aber Korea in russischen Händen, so war der Kontinent verloren, der dicht vor ihnen lag. Sie hatten dann nicht einmal eine Brücke zu ihm. Sie waren blockiert: kein Machtzuwachs war dann für die Inseln möglich, die verschollen, weltabgekehrt im Großen Ozean lagen, durch eine schwere, weite Mauer von dem Lande getrennt, in dem Japans Entwicklung lag. Die Armee, die den Japanern die Festlandszukunft verbürgen sollte, konnten sie bei solcher Entwicklung heimschicken. Jahrzehnte waren verschwendet – –

»Die Armee ist dann zwecklos«, führte der Vicomte Aoki aus, »die Kanonen können wir in den Ozean werfen!«

Für Japan war das Ergebnis gleich, ob es in einem Kriege um Korea geschlagen wurde oder Korea ohne Krieg verloren gab. Darum war der Krieg beschlossen: als einzige Möglichkeit, Korea nicht russisch werden zu lassen. Vicomte Aoki wollte wissen, welche Haltung Deutschland in einem Krieg zwischen Rußland und Japan bewahren wolle. Die Freundschaft zwischen Rußland und Preußen sei alte Überlieferung: sie beunruhige ihn. Den japanischen Botschafter in Berlin wolle er mit so heikler Ausforschung nicht betrauen. Vielleicht könnte Graf Wedel ihm Gewißheit schaffen.

Der Geschäftsträger berichtete nach Berlin. Der Kanzler Graf Bülow dankte für Vicomte Aokis Vertrauen. Ausdrücklich sollte Graf Wedel dem Außenminister erklären, daß Deutschland in einem Kriege zwischen Rußland und Japan sich neutral verhalten würde. Jetzt ging der japanische Außenminister weiter. Japan war so stark, daß es mit Rußland allein fertig würde. Auch wenn Rußland ein Riese schien. So beispiellos hatte Japan gerüstet und sein Heer erzogen. Dennoch bedurfte Japan eines Verbündeten. Frankreichs Haltung war ungewiß. Frankreich war Rußlands Bundesgenosse. Mit England würde Japan zu einem Einverständnis und zu einem Vertrage kommen: das wisse Japan schon … Aber niemand konnte Frankreich besser in Ruhe halten, als das ihm benachbarte, so starke Deutschland. Der Ministerpräsident Marquis Yamagata und er selbst und ganz Japan, dessen Söhne so viel in Deutschland gelernt hatten, seien für ein Bündnis mit Deutschland. Wie Deutschland im Rücken Frankreichs stand, wenn es am Kriege gegen Japan teilnahm, so stand Japan im Rücken Rußlands, wenn es einmal gegen Deutschland losschlüge. Japan wollte das Bündnis mit Deutschland. Japan wollte auch das Bündnis mit England. Japan wollte, daß Deutschland und England und Japan durch ein großes Band, das sie alle fest umschloß, völlig gesichert seien.

Der deutsche Geschäftsträger Graf Wedel reiste bald nach der so denkwürdigen Unterhaltung nach Europa ab. Unmittelbar vor der Abreise hatte das japanische Kabinett gewechselt. Marquis Yamagata gab die Geschäfte an den aus London heimgekehrten Botschafter, an Marquis Ito. Auch Marquis Aoki trat zurück. Indes bestimmt den Ablauf und die Richtung der Staatsgeschäfte in Japan andere Ordnung, als in den meisten Staaten. Die führenden Minister kommen und gehen, wie anderwärts auch, aber im Rate der »alten Staatsmänner« sprechen sie weiter. Der »Rat der alten Staatsmänner« hat in allen Fragen, in allen Entscheidungen das Schlußwort. Ihm hat das Kabinett sich zu fügen. Das Kabinett muß vom Schauplatz abtreten, wenn »die alten Staatsmänner« es nicht decken. Dem Rate gehörte Vicomte Aoki nicht an. Aber Marquis Yamagata zog mit den Ideen und Richtlinien Vicomte Aokis in ihn ein. Dem abreisenden Geschäftsträger legte der Vicomte die ganze Angelegenheit noch einmal ans Herz. Deutschland sei sie angedeutet worden. Aber Deutschland schweige und die Zeit dränge. Japan müsse sonst den Vertrag mit England abschließen, obwohl es den Vertrag mit Deutschland gern vor der englischen Unterschrift in Ordnung gebracht sähe. Mit Deutschland wäre auch Japans Stellung vor England stärker. Von Deutschland galt das Gleiche. Der japanische Staatsmann hatte alle seine Darlegungen mit großer Überlegenheit geführt: alle Karten hatte er ausgespielt – nichts an dem Spiele hatte er verwirrt – alle Spieler hatte er zu verbinden versucht – alle hatte er gegeneinander gewertet – keinen hatte er festgelegt – alle sollten alle Karten und ihre große Bedeutung für das Weltspiel sehen – niemand hatte er bloßgestellt. Die Entscheidung lag in Berlin.

Graf Wedel reiste in großer Aufregung nach Deutschland. Die Tragweite der Eröffnungen entging ihm nicht. In Berlin mißlang es ihm, den Kanzler wegen des japanischen Angebots zu sprechen. Der Reichstag hielt Graf Bülow im Bann: die »Fraktionen« beschäftigten ihn und das »Plenum«. Der neue Staatssekretär war verreist. Endlich stand Graf Wedel vor dem Geheimrat von Holstein. Seinem Scharfblick waren die japanischen Annäherungswünsche nicht entgangen. Aber sein Bedauern war groß, daß er auf sie nicht eingehen konnte. Manchmal liebte es der Geheimrat von Holstein, den jüngeren Mitgliedern der deutschen Diplomatie einen Privatkursus über die Grundlagen und Notwendigkeiten seiner Außenpolitik zu halten. Auch dem Grafen Wedel setzte er seine Ansichten auseinander. Nie würde Rußland die deutsche Annäherung an Japan verzeihen. Frankreich müsse man von Rußland trennen. Ging Deutschland mit Japan, so würde nur der Zweibund fester. Graf Wedel warf ein, daß Japan, wenn Deutschland sein Angebot ablehne, sein Bündnis mit England allein abschließen wollte. Nichts war ein geringeres Unglück in den Augen des Geheimrats. Der Walfisch konnte ruhig mit den Gelben gehen. Nie würde Japan wagen, sich am russischen Bären zu vergreifen. Der Geheimrat übte seine alten Multiplikationen und Divisionen mit Gleichnissen, Säugetieren und Kombinationen.

»Alles Bluff und Prahlerei« – –

Der Botschaftsrat blieb bei seiner Auffassung: das nächste Jahrzehnt brachte den Krieg zwischen Japan und Rußland. Da lachte ihn Baron Holstein einfach aus. Vom unvermeidlichen Zusammenstoß zwischen den beiden Gegnern in Ostasien sprach an einem der nächsten Tage nur Kaiser Wilhelm bei der Hoftafel zu Ehren des österreichisch-ungarischen Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand. Graf Wedel war der Tafel zugezogen: ohne die Möglichkeit, das Thema aufzunehmen – –

Kanzler und Geheimrat sahen die Zukunft nicht. Sie sahen auch nicht, was sie unmittelbar erlebten. Selbst die nahe Erwägung, ob zwischen den Anträgen Englands und Japans, beide in einem Atemzug getan, nicht doch ein Zusammenhang bestünde, versank in dem geistvollen Spiele mit »Walfisch« und »Bär«.

 

Lord Lansdowne hatte dem Botschaftsrat Freiherrn von Eckardstein noch nach der Märzmitte 1901 die klare Frage gestellt, ob Deutschland jetzt zu einem Verteidigungsbund bereit sei. Der Botschaftsrat hatte Meldung und abermals Warnung nach Berlin gegeben: England steuere Rußland und Frankreich zu, wenn Deutschland es abweise. Lord Lansdowne wollte den Ernst seiner Anfrage nachweisen. Er stellte die entscheidenden Punkte für die Grundlagen endlich schriftlich auf. Lord Salisburys und Balfours Einverständnis zur Niederschrift hatte er eingeholt. Wenn England schriftlich solche Vorschläge aus der Hand gab, mußte Deutschland endlich begreifen.

Kanzler und Geheimrat verharrten bei ihrem Verlangen, daß Deutschlands Dreibundfreunde in das Abkommen miteinbezogen würden. Auch sollte der Vertrag mit England kein Geheimvertrag, sondern vom britischen Parlament bestätigt sein. Was Lord Lansdownes Wunsch betraf, daß auch Japan in das Abkommen miteingeschlossen würde, so hatte der Kanzler kein Bedenken:

»Japan neigt zur Erwerbspolitik und wird daher in einem Defensivbündnis vielleicht keinen unmittelbaren Vorteil erblicken. Vorteile würde es aber immerhin auch dabei insofern haben, als es dadurch in gute politische Gesellschaft kommt« –

Da der Reichskanzler und Baron Holstein »Chamberlain und Genossen« als »die Männer eines vollständigen Schwindels« ansahen, konnten sie die gute, politische Gesellschaft nur auf sich beziehen. Aber die Engländer hatten genug. Eine Weile noch gingen die diplomatischen Gefechte weiter. Aber schon im Mai gewinnen sie auch auf der britischen Seite mehr den Anschein von Rückzugsgefechten. Von seiner Auffassung, daß England nur das Abkommen mit Deutschland, nicht aber mit Österreich-Ungarn und Italien abschließen könne, ging Lord Lansdowne nicht mehr ab, auch wenn er anregte, den ganzen Vertragsentwurf niederzuschreiben. Gegen die ausdrückliche Bestätigung durch das britische Parlament hatte er größere Einwände, als sie ursprünglich der Kolonialminister Chamberlain gehabt hatte. Lord Lansdowne wußte so gut wie Chamberlain, daß kein britisches Kabinett einen Vertrag – öffentlich oder geheim – mit einer fremden Macht abschließen konnte, ohne sich vorher der Zustimmung des Führers von »Seiner Majestät getreuester Opposition« im Parlamente ganz zuverlässig zu versichern. Der Führer der parlamentarischen Oppositionsparteien in England war dazu da, die Handlungen der Regierung zu kontrollieren. Er bezog von eben dieser Regierung ein fürstliches Gehalt in aller Form, das die Bezüge des deutschen Reichskanzlers weit überstieg. Er hatte sofort die Geschäfte der Regierung zu führen, die er stürzte. Durch Verfassung und Gesetz war er verpflichtet, die Verantwortung selbst zu übernehmen, wenn er im Parlament erklärt hatte, die Dinge besser zu verstehen, als die herrschenden Männer im Amt. Keine Regierung in England vertrat oder beabsichtigte Staatsakte, ohne vorher mit dem Führer der Opposition zu beraten. Keine Opposition, die die Regierung übernahm, konnte nach solchen Voraussetzungen in Wahrheit Dinge umstürzen, denen sie vorher vertraulich zugestimmt hatte. Ob ein Staatsakt im Parlament öffentlich bekanntgegeben wurde, ob er geheim blieb: der Führer der Oppositionsparteien war vorher unterrichtet – kein britisches Kabinett konnte einen Staatsakt wagen, gegen den der Oppositionsführer sich von Anbeginn gestellt hatte. Hatte er dies aber nicht getan, so konnte er gegen das Beschlossene auch nicht aufstehen, wenn er selbst an die Macht kam. Das Kabinett von morgen war so in langer Entwicklung, in kaum je unterbrochener Stetigkeit gewohnt, die Verpflichtungen des Kabinetts von gestern auf sich zu nehmen, in die es schon eingeweiht war als Oppositionspartei. Darum hatte Chamberlain die Zustimmung des Parlaments in Aussicht stellen können, wenn er das Abkommen überhaupt durchsetzte. Nur der Reichskanzler Graf Bülow und der Geheimrat von Holstein wußten in ihrer völligen Unkenntnis englischen Wesens und englischer Einrichtungen davon nichts. So hatten sie auch den an sich berechtigten Einwand des Kaisers weder abschätzen, noch prüfen, noch auf seine wirkliche Bedeutung einengen können. Lord Lansdowne kannte genau das Maß der Bedeutung, das der Forderung nach der formalen Bestätigung durch das Parlament zukam. Aber er nahm den Einwand gern auf und erklärte, Schwierigkeiten zu sehen. Denn er war im Rückzuge.

»Wenn sie so kurzsichtig sind«, meinte der Kolonialminister Chamberlain schon im Monate Juni über die deutschen Staatsmänner, »und nicht sehen können, daß eine ganz neue Weltkonstellation davon abhängt, so ist den Leuten nicht zu helfen« – –

Die Erkenntnis der »ganz neuen Weltkonstellation« bestand bei den deutschen Staatsmännern darin, daß sie während der Gunst der Bündnisverhandlungen auf englische Mithilfe bei der Erhöhung der chinesischen Seezölle, bei der Festsetzung der Kriegskosten für den Chinafeldzug, auf englische Zugeständnisse zur möglichst hohen Entschädigung der Deutschen drängten, die vom Burenkriege betroffen waren. Den Engländern schien das große, immer bedrohlichere Problem einer neuen Ordnung in Marokko wichtiger. Die Franzosen hatten dort die Oase Tuat besetzt. Sie bereiteten einen Vorstoß auf Yuman vor. Vor einem Jahr hatte der Reichskanzler selbst wieder Lord Salisbury auf die große Wichtigkeit hinweisen lassen, die Marokko, »der Nervenknoten unseres Erdkörpers«, auch für Deutschland besaß. Chamberlain hatte damals um Vorschläge über die Gedanken gebeten, die der Kanzler sich über die Zukunft des Sultanats machte. Reichskanzler Graf Bülow hatte dem Kolonialminister zwar überhaupt keine Vorschläge gemacht, aber die Russen zur Warnung der Franzosen aufgefordert, in Marokko nicht weiter vorzudringen.

»In dieser Angelegenheit«, war im Augenblick seine Auffassung, »müssen wir bis auf weiteres uns ganz reserviert und als Sphinx verhalten!«

Alle englischen Staatsmänner riefen nach dem Rückzug vor der Sphinx. Lord Salisbury gestand im Juli dem Außenminister Lord Lansdowne, daß er »etwas die Lust verloren« hätte. Chamberlain bestätigte, daß »es schwer sei, mit Berlin Geschäfte zu machen«. Verbindlich hörten König Eduard VII. und sein Botschafter Lascelles noch im August in Homburg die Gedankengänge des Kaisers über Englands Beitritt zum Dreibund an. Sie stimmten scheinbar sogar zu. Auch die Frage der Vertragsbestätigung durch das Parlament schien ihnen nicht unlösbar. Sie versicherten, daß keiner so fleißig an dem Zustandekommen des Bündnisses arbeite, wie Lord Lansdowne. Allerdings war Lord Lansdowne, wenn der deutsche Botschafter ihn aufsuchen wollte, von da ab immer verreist. Der Kaiser hörte all das ein wenig unbehaglich. Er witterte Unheil in so unerwarteter, widerspruchsloser Zustimmung in sämtlichen Punkten. Auch König Eduard war nicht mehr für Streit.

Aber der Kolonialminister Joseph Chamberlain stieg, wie einst vor drei Jahren, wieder in Birmingham, auf die offene Rednertribüne. Nichts wären die Grausamkeiten, die man den Briten in ihrem Afrikafeldzug vorwerfe, gegen die Haltung anderer Völker in gleichem Falle. Er wies auf die Taten der Deutschen im Feldzug von 1870 hin. Plötzlich war der Ton geändert. Plötzlich stand ein anderer Chamberlain auf der Tribüne. Reichskanzler Graf Bülow wollte ihm im deutschen Reichstage schon die richtige Antwort geben. Vorher ließ er freilich den Kolonialminister im Vertrauen unter Verschwiegenheit bitten, ob er in nächster Rede seine Angriffe nicht zurücknehmen oder doch abschwächen wollte. Nein: dies wollte der Kolonialminister nicht. Aber dem österreich-ungarischen Botschafter in London versicherte er, daß er an einer Freundschaft mit Deutschland verzweifle. Außerdem bekam der britische Botschafter am Berliner Hofe Befehl, von den Bedenken zu sprechen, denen ein Bündnisvertrag mit Deutschland im englischen Parlament begegnen müßte – –

Blitzschnell war die Erkenntnis, groß die Bestürzung und Trauer Kaiser Wilhelms über solchen Ausgang vieljähriger Verhandlung und Bemühung. Vieles war ihm dunkel an dem ganzen Verlauf, da ganze Zusammenhänge, fast alle entscheidenden Einzelheiten ihm von dem Reichskanzler vorenthalten worden waren. Da er als Hauptziel stets das Zustandekommen des Bündnisses angegeben und befohlen hatte, da Kanzler und Auswärtiges Amt der Versicherungen nie müde wurden, wie leidenschaftlich sie dem von dem Herrscher angegebenen Ziele zustrebten, da er der Verfassung gemäß immer den Rat des Kanzlers gehört, seine Schritte nie gehindert, selbst aber die von dem Grafen Bülow gewollten Schärfen – die lieber der Kaiser aussprechen sollte – stets abgeglättet hatte, so glaubte er die Schuld des Scheiterns nur bei England. Freilich sah auch Kaiser Wilhelm eine »ganz neue Weltkonstellation«: bedrückt und schwer in Sorgen. Sein Traum war ausgeträumt. England war verloren. Alles Werben war umsonst gewesen. Auch die Politik des Umwegs über Rußland hatte versagt. Er mußte den Umweg jetzt zur offenen Straße nach Rußland machen: ein Versuch voll dunkler Dinge und Gefahren. Noch sah er nicht, daß hier von einem deutschen Kanzler und seinem Berater mit nie erlebter Gewissenlosigkeit, aber mit ebenso großer Anmaßung, mit bodenloser Falschheit, mit den Werkzeugen angeblicher List und wirklicher Lügen, vor allem aber mit einer Beschränktheit – ohne jedes Beispiel in der Geschichte – die Verständigung zweier großer Völker und die Ruhe der Welt zerstört waren. Der Kaiser sah nur schwer aufziehendes Gewitter.

 

Kein Freundschaftswort kam mehr von England. Dreimal hatte es die Hand zum Bunde geboten. Drei Demütigungen der Abweisung waren die Antwort der deutschen Staatsmänner gewesen. Um neue Wegrichtung sahen die Engländer sich nicht verlegen: sie hatten die Annäherung an Rußland und Frankreich vorhergesagt. Sofort stellten sie das Steuer um. Für England gab es in Zukunft nur einen Feind. Er hatte seine Gesinnungen bewiesen. Auf jeden Versuch ernsthafter, gütlicher Verständigung hatte er mit Drohung und Erpressung geantwortet. Fortan wollte England vor ihm auf der Hut sein. Alle Mittel wollte England vorbereiten, Kanonen und Schiffe, Bündnisse und Kriegsbereitschaften, um den endlich klar erkannten Feind vollständig niederzuschlagen, wenn er sich einmal erhob – –

 

Jede Sekunde wollte England in Zukunft bereit sein. Der Feind war Deutschland.


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