Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.
Ein neues Jahr

Der Mond stand hell leuchtend in voller Pracht am Winterhimmel, und Glockenläuten klang von nah und fern durch die Luft. Es war der letzte Tag des Jahres.

Frau Hohenau und Tante Josephe kamen aus der Kirche. Sie waren in Trauerkleidung, und ihre Mienen verrieten Schmerz und Sorge. Leonore eilte ihnen schon an der Tür entgegen.

»Mama, ihr bleibt so lange,« sagte sie schmollend, »und ich habe mich hier gelangweilt und gefürchtet. Christel schläft immer ein, und Mariechen ist ganz krank und mochte gar nicht spielen. Es war viel hübscher, als Käte bei mir war.«

»Mariechen krank?« fragte erschreckt Frau Hohenau, warf den Pelz schnell ab und eilte in die Kinderstube.

»Du weißt es doch, Lorchen, daß die Mutter großen Kummer hat,« sagte vorwurfsvoll Tante Josephe, »und nun erschreckst du sie so unbedacht. Wie wäre es schön, wenn du dich bemühtest, sie zu erheitern, aber du denkst immer nur an dich und dein Behagen. Das ist unrecht, das darf eine gute Tochter nicht. Sieh einmal, Kind, ich habe es mir fest vorgenommen, der lieben Mutter, soviel ich es vermag, ihren Kummer zu erleichtern. Ich will gar nicht an mich denken, immer nur an sie. Möchtest du das nicht auch? Wollen wir uns das recht fest gegenseitig versprechen?«

Sie reichte Leonoren die Hand hin, und diese legte schnell ihre kleine Hand hinein und sagte lebhaft: »Ja, Tante, wir wollen es uns versprechen.«

Sie eilte der Mutter nach in die Kinderstube und war bestürzt, diese in Tränen zu finden und kniend vor Mariechens Bett.

Am nächsten Morgen hatte das heftige Fieber zwar nachgelassen, doch war der Zustand der Kleinen noch immer besorgniserregend.

»Ein neues Jahr beginnt heute,« sagte kummervoll Frau Hohenau, als Tante Josephe in ihr Zimmer trat und sie liebevoll begrüßte.

»Glück kann ich dir nicht wünschen, Tante, denn wo sollte es herkommen? Du und ich, die Kinder – wir alle sind nun unglücklich für immer. – – Mir ist immer noch, als träume ich nur und müsse bald aus dem entsetzlichen Traum erwachen. Ist es denn denkbar, ist es möglich, daß ein so großes Vermögen plötzlich dahin ist? Zerronnen wie Eis im Sonnenschein? Es muß Diebstahl, es muß Betrug dabei im Spiele sein. Wenn ich nur wüßte, wie ich zu meinem Rechte gelangen könnte, ich scheute weder Mühe noch Kosten!«

»Aber, liebes Kind,« sagte sanft Fräulein Josephe, »ich habe es dir schon mehrfach erzählt, daß dein Vater selbst mir die traurige Tatsache aussprach. Er hatte sich in große, gewagte Spekulationen eingelassen, hoffte dein dereinstiges Erbe um das doppelte zu erhöhen und – – es mißglückte; er verlor alles!«

»Großer Gott, wie konnte er – wie konnte er!« murmelte Frau Hohenau.

»O Kind, du weißt es nicht, wie er dich geliebt hat, wie er dich mit allem Glück und Glanz der Erde umgeben wollte. Er hat es nur gut gemeint, und der Schreck über diesen ungeahnten Ausgang war sein Tod. Laß ihn, den besten Vater, in Frieden ruhen!«

Frau Frieda rang die Hände. »Wie soll es werden mit uns? Wie soll ich es ertragen, plötzlich bettelarm zu sein. Ich kann den Gedanken nicht fassen. Ich bin zu unglücklich!«

Fräulein Josephe schwieg einige Augenblicke, übermannt von schmerzlichen Gefühlen. Dann sagte sie ernst:

»Ja, natürlich kannst du in der gewohnten Weise nicht fortleben, das unterliegt keinem Zweifel. Du mußt nach jeder Richtung hin Einschränkungen treffen, und zwar sobald als möglich. Glaube es mir, Frieda, es ist das gewiß kein Unglück. Du wirst dich nach und nach daran gewöhnen, wirst dich überzeugen, daß man auch in bescheidenen Verhältnissen heiter und zufrieden sein kann. Fasse nur Mut, liebes Kind!«

»Ich kann es nicht, Tante,« beharrte weinend Frau Hohenau. »Ich fühle mich gänzlich unfähig, irgendeinen Entschluß zu fassen, mich von allen meinen bisherigen Gewohnheiten zu trennen. Ich werde diesen furchtbaren Wechsel nicht überleben.« Sie schluchzte in leidenschaftlichem Schmerz.

»Wir wollen Gott bitten, daß unsere liebe Kleine bald wieder wohlauf ist. Das ist doch nun die Hauptsache. Alles übrige wird sich ja finden, Frieda, und ich bleibe bei dir und will dir helfen; fasse nur Mut.«

Sie selbst, die arme Tante Josephe, fühlte sich auch unbeschreiblich traurig und erschöpft von Gram und Mühen. Sie hatte ihren Bruder innig geliebt, lebte seit vielen Jahren in seinem Hause, und so unerwartet, so plötzlich war das Unglück hereingebrochen, daß es auch ihr oft schien, als müsse alles ein böser Traum sein. Ein Herzschlag hatte bald nach Empfang der Schreckensbotschaft, daß alle seine Pläne gescheitert seien, seinem Leben ein Ende gemacht, und seine letzten Worte waren: »Verlaß meine Tochter nicht.« Diese Bitte des Geschiedenen war ihr nun ein heiliges Vermächtnis. Sie bekämpfte gewaltsam den eigenen Schmerz, um tröstend und helfend der Nichte zu Seite zu stehen.

Mit glänzendem Schneegewand hatte das neue Jahr sich eingeführt, und das Frostwetter dauerte an. Schlitten mit klingendem Schellengeläut glitten durch die Straßen, der Strom zeigte eine spiegelglatte Eisfläche, und die fröhliche Jugend tummelte sich dort im Schlittschuhlauf mit frisch geröteten Wangen und strahlenden Augen. Aber Jean und die Jungfer der Frau Hohenau gaben dem gestrengen Winter verschiedene, wenig schmeichelhafte Beinamen, als sie eilig ihre Koffer und Schränke aus dem Hause schafften, sich in die erstarrten Hände hauchend und die Ohren reibend, die von der Kälte schmerzten.

Gestern hatte die Herrschaft das Haus verlassen, heute zog das Dienstpersonal hinaus, um sich eine neue Stellung zu suchen.

In derselben Vorstadt, in der Frau Hohenau bisher gewohnt, hatte Tante Josephe eine kleine Wohnung ermittelt, und so war der Umzug über Erwarten schnell ermöglicht. Drei freundliche Zimmer, hell und sauber, waren für Mutter und Tochter eingerichtet, ein einfenstriges Stübchen, das nach dem Hof die Aussicht hatte, für Tante Josephe.

Die kleine Marie hatte man zum lieben Großpapa gebettet, draußen auf dem stillen Friedhof, wo alle die unzähligen Schlummerstätten, verhüllt von der zarten, wundervollen Schneedecke, ein Bild tiefen Friedens, seliger Ruhe boten. Tag für Tag fuhr Frau Hohenau dorthin, um dem geliebten Kinde nahe zu sein, und für nichts anderes hatte sie nunmehr Empfindung, für nichts anderes mehr Tränen als für diesen neuen, bitteren Verlust.

Sie ließ alles willenlos geschehen, was Tante Josephe anordnete, und lag untätig, teilnahmlos für alles, stundenlang mit geschlossenen Augen auf dem Sofa. Pferde und Wagen waren schon verkauft worden, die prachtvollen Luxusmöbel verauktioniert und das für den Bedarf Notwendige in die Wohnung geschafft. An Stelle der vier anspruchsvollen Dienstboten wurde ein kräftiges Hausmädchen gemietet, und bald waren die bescheidenen Räume bequem und wohnlich eingerichtet, und man konnte sich überaus heimisch darin fühlen.

Leonore hatte längere Zeit die Schule versäumen müssen, aber wie sehr sehnte sie nun den Tag herbei, wo sie wieder in den Kreis ihrer Freundinnen treten konnte. Es war so still, so traurig zu Haus, daß sie oft aus Sehnsucht nach dem kleinen Schwesterchen und nach Großpapa, der ihr immer so viele schöne Dinge geschenkt, Tränen vergoß. Auch heute machte das Sonntagsläuten, das zur Kirche rief, sie ganz trübsinnig. Sie setzte sich still in ein Eckchen der Wohnstube, legte das Gesicht in die Hände und weinte.

Da klopfte es leise an die Tür, und das verlegene, hochgerötete Gesicht der kleinen Käte Maihold schaute herein.

Mit einem Freudenruf eilte Leonore ihr entgegen, und die Kinder lagen sich weinend in den Armen.

»Sei nicht böse, daß ich gekommen bin,« flüsterte Käte und blickte ängstlich nach dem Sofa, auf dem Frau Hohenau mit geschlossenen Augen ruhte. »Deine Mutter hat es mir verboten, aber es tut mir so schrecklich leid, daß euch der liebe Gott so viel Trübsal geschickt hat. Ich mußte immerfort an dich denken und von dir sprechen, und da sagte Tante Huber, ich solle nur hergehen, deine Mutter würde nicht schelten.«

»Kätchen, liebes Kätchen, wie bin ich froh, daß du da bist!« sagte Leonore lebhaft. »Setze dich her. Ach, ich habe eben geweint. Mama ist sehr traurig und krank. Sie spricht gar nicht mit uns, und Tante Josephe hat so viel Arbeit; da bin ich oft ganz allein und weiß nicht, was ich anfangen soll.«

»Ach!« flüsterte Kätchen ungläubig. »Das weißt du nicht? Darfst du der Tante Josephe nicht helfen? Sonntags, wo keine Schule ist, helfe ich immer meiner Tante. Ich kann schon ganz gut die Stube auskehren, Tassen und Teller waschen und Kartoffeln und Rüben schälen.«

»Ich werde es wohl auch lernen müssen, Kätchen,« flüsterte Leonore, »denn denk mal, der Großpapa hat all sein vieles Geld verloren, und Mama sagt, ich bin nun ganz arm – bettelarm.«

»Aber, Lorchen, das ist doch nicht wahr, das glaube nur nicht,« rief Käte in ihrer Lebhaftigkeit so laut, daß Frau Hohenau die Augen öffnete und zu den Kindern hinüberschaute. »Du bist nicht arm,« fuhr die Kleine erregt fort, »und ich bin nicht arm, und niemand ist arm, der helle Augen und gesunde Glieder hat. Ach, Lorchen, siehst du, das waren die letzten Worte, die mein liebes Mütterchen zu mir gesprochen hat. Und dann sagte sie noch: wer ein frommes und zufriedenes Herz hat, ist allezeit fröhlich. Sag's doch deiner lieben Mutter, und sie soll es nur glauben, dann wird sie bald wieder fröhlich werden. Willst du?«

»Ja, ich will es ihr sagen,« meinte Leonore traurig, »aber sie wird es doch wohl nicht glauben, und unser lieber Großpapa und Mariechen sind gestorben.«

»Sie sind nun beim lieben Gott,« sagte Käte tröstend. »Meinst du nicht auch, daß es sehr schön da sein muß? Meine lieben Eltern sind auch da, und immer, wenn ich zum Himmel aufblicke, an dem die Sonne strahlt und der Mond und die vielen Sterne, denke ich daran, daß sie wohl noch glücklicher sind als ich, und siehst du, ich bin doch sehr glücklich!«

»Du, Kätchen?« fragte verwundert und zweifelnd Leonore. »Worüber bist du denn glücklich?«

»Worüber?« lächelte Käte. »Das weiß ich doch nicht. Onkel und Tante sind auch glücklich und Hermann auch. Es gibt alle Tage so vieles, was einen freut. Heute waren wir schon in der Kirche, und nachmittag gehen wir auf die Promenade, und da blitzt und funkelt der Schnee, und alle Bäume und Gesträuche sind so wunderschön anzusehen, als wenn sie in einem verzauberten Garten stehen.«

»Ach, wie gern möchte ich mit dir gehen,« seufzte Leonore, »aber Mama würde es wohl nicht erlauben.«

»Sollen wir sie darum bitten?« fragte Käte und blickte nun plötzlich ängstlich nach dem Sofa, denn in ihrer Lebhaftigkeit hatte sie ganz vergessen, daß Frau Hohenau im Zimmer war.

Diese hatte sich aufgerichtet und winkte Kätchen näherzutreten. Sie umfaßte die Kleine und küßte ihre Stirn, und Käte zuckte zusammen, als auch eine Träne darauf fiel.

»O bitte,« sagte sie schnell und blickte mit den freundlichen, großen Augen die bleiche Frau mitleidig an. »Bitte – weinen Sie nicht. Der liebe Gott hilft doch allen Menschen.«

Über das Angesicht der bekümmerten Frau zog ein flüchtiges Rot.

»Geh jetzt, liebes Kind; aber komme bald wieder. Willst du?« fragte sie leise.

»O ja, sehr gern,« sagte freudig Kätchen und küßte in überströmender Herzenswärme die Hand der früher von ihr so gefürchteten Dame, für die sie jetzt nichts als tiefes Mitleid fühlte.


 << zurück weiter >>