Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunter Abschnitt.
Ethik oder Philosophie der Moral.

Für Logik und Erkenntnistheorie war der Ausgangspunkt der Spekulation die schlichte, durch das Erleben immer wieder bestätigte Tatsache, daß überall der Anspruch sich uns aufdrängt, es müsse und solle Erkenntnisurteile und Wahrheitsbehauptungen geben, die von allgemeiner, sich über alle Erkennenden erstreckender Gültigkeit sind. Von dieser durch das Erleben erhärteten Tatsache steigt die logische Spekulation aufwärts zu den Rechtsgründen, die diesen Anspruch stützen, den Gründen der Einheit, aus denen dieser Anspruch stammen kann, aus denen das Erkennen als allgemeingültiges Erfassen, Gestalten, Ausdrücken von Etwas seinen Ursprung nehmen muß. Für die Ethik oder Moralphilosophie ist die allgemeine am Anfang stehende Tatsache die, daß überall und zu jeder Zeit Beurteilungen fremder oder eigener Handlungen gefällt werden, die allgemeine Anerkennung unbedingt finden wollen. Jeder, der eine Handlung nach sittlichen Prinzipien zu beurteilen behauptet, sie als moralisch wertet oder als unmoralisch verwirft, macht für dieses Urteil den Anspruch, daß nicht nur ihm das subjektive Recht einer solchen Beurteilung zugebilligt wird, daß die in dieser Beurteilung zur Geltung kommenden Gründe als subjektiv berechtigt unbestritten gelassen werden, sondern daß jeder, der sittlich zu urteilen vermag, unter gleichen Umständen ebenso urteilen müßte. Ein moralisches Urteil, auf welchen besonderen Beurteilungsgründen es auch beruhen mag, ist als eines zu bezeichnen und aus allen anderen denkbaren Urteils- und Beurteilungsarten hervorzuheben, das mit dem Anspruch auf unbedingt allgemeine Anerkennung der geltend gemachten Prinzipien, Handlungen oder Handlungsgründe beurteilt. Also für jedes eigentlich moralische Urteil wird die Forderung gestellt – dies ist die Definition des moralischen Urteils –, daß der Grund der Beurteilung allgemein gilt, d. h. daß das Prinzip der Beurteilung ein über allen bestimmten, individuellen, subjektiven Beurteilungsprinzipien liegendes überindividuelles, schlechthin allgemeines sei. Ein ethisches Urteil im eigentlichsten Sinne des Wortes ist daran zu erkennen, daß es vermöge des zur Geltung gebrachten Beurteilungsprinzipes mit dem subjektiven Gefühle absoluter, notwendiger Gültigkeit begleitet wird. Ob dieses subjektiv als unbedingt gültig empfundene Urteil sich auch vor dem Maßstab der Kritik als objektiv notwendig erweist, ist eine andere, den sittlichen Wert des Urteilsaktes nicht berührende Frage. Ein ethisches Urteil seiner subjektiven Tendenz nach ist ein Urteil über Handlungen und deren Bestimmungsgründe, das mit dem subjektiven Gefühle notwendiger allgemeiner Geltung ausgestattet ist; es wird zum objektiv moralischen Urteil, wenn in ihm kein Prinzip bewußt oder unbewußt auftritt, das nur für einen bestimmten Umkreis, für eine bestimmte Zeit, für eine bestimmte Lage, unter bestimmten Einschränkungen gilt.

Machen wir uns diese allgemeine Tendenz des moralischen Urteils an einer Reihe ähnlicher, oftmals mit ihm verwechselter und häufig im Leben mit ihm konkurrierender Beurteilungen klar! Sehen wir uns nach bestimmter Seite hin determinierte Urteile mit scheinbar sittlicher Tendenz an, um ihren Gegensatz und vielleicht auch ihr Verhältnis zum moralischen Urteil zu verstehen. So wird sich am ehesten das Substantielle des ethischen Urteiles einsehen lassen, ohne bestimmten ethischen Ansichten vorauszugreifen. Aus dem Gegensatz zwischen eigentlich moralischem Urteil und den nach bestimmten Prinzipien geformten Beurteilungen wird deutlich werden, was die Ethik als philosophische Disziplin in bezug auf das mit der subjektiven Behauptung von Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit auftretende Urteil zu leisten hat.

Da steht an erster Stelle unter den Urteilen, die von einem bestimmten, zeitlich und örtlich festlegbaren Beurteilungsprinzip ausgehen, das Rechtsurteil, das Geltung nicht nur behauptet und fordert, sondern erzwingt. Das Rechtsurteil ist im eigentlichen Sinne des Wortes eine Beurteilung. Es stellt die zu beurteilenden Handlungen ihrer äußeren Form, nicht ihrem inneren Prinzip nach unter einen Kodex als geltend deklarierter Gesetze, die als Maßstab für Wert und Unwert der Handlungen gebraucht werden. Jeder Richter ist sich bewußt, daß über dem Kodex geltender bürgerlicher Gesetze hinaus, nach dem er einzig und allein die Handlungen zu bewerten hat, Beurteilungsgründe und lebendige Werte liegen, von denen wenigstens erwartet wird, daß sie allgemeiner, daß sie trotz der bürgerlichen Gesetze als Normen des sittlichen Handelns gelten sollen. Ja die ständige Reform der bürgerlichen Gesetze, denen während der Dauer ihrer Geltung gehorcht werden muß, vollzieht sich sichtbar in Hinblick auf eine allgemeinere Geltungssphäre. So finden wir in den modernen Rechtsinstitutionen das juristisch gebundene und eingerichtete Bewußtsein des bürgerlichen Richters ergänzt, gleichsam nach der menschlichen Seite hin erweitert durch die Hinzuziehung sogenannter Laien; sie haben die ausschließliche Beurteilung der Tat nach dem zeitlich geltenden Recht zu durchbrechen und die Tat unter freiere, zeitlosere Normen zu rücken. Man spricht dabei von einem rein menschlichen Rechtsempfinden, d. h. einem Empfinden für das wahrhaft Rechte. So steht die zur Beurteilung vor den bürgerlichen Richter gezogene Handlung offenbar unter zwei völlig verschiedenen Beurteilungsprinzipien, einem zeitlich geltenden, klar ausgedrückten und festgelegten bürgerlichen Kodex, unter dessen Paragraphen die Tat zu subsummieren und zu schematisieren ist, und einem jenseits davon liegenden allgemeineren menschlichen Prinzip. Über den sittlichen Wert einer Handlung soll und kann im öffentlich-rechtlichen Verfahren nicht entschieden werden. Was an sittlichen Beurteilungsgründen in einem juristischen Urteil sich geltend macht, ist aus nicht juristischen Erwägungen hineingekommen. Es ist eine allgemeine und kaum je bestrittene Tatsache, daß diejenigen, die vor dem die Gesetze handhabenden Richter als Verbrecher dastehen, oftmals von einem zu gleicher Zeit lebendigen oder später erwachenden moralischen Bewußtsein aus als im höchsten Maße moralisch wertvoll beurteilt werden. So ist der Mörder nach unseren Rechtsbegriffen, wenigstens nach den im Frieden geltenden Gesetzen, ein mit dem Tode zu bestrafender Verbrecher, während es Beispiele genug gegeben hat, wo der Mord als eine moralisch vollendete Tat zu bezeichnen ist. Ja es soll Kodexe geltender Gesetze geben, die ganz und gar unsittlich sind, die Unmoralisches fordern und Moralisches als strafbar bezeichnen. Die bürgerlichen Gesetze, überhaupt die Kodices zeitlich geltender Gesetze sind auf besonderen Grundsätzen aufgebaut, nicht auf den Postulaten einer zeitlos geltenden, unaufhebbaren Sittlichkeit.

Die bürgerlich-rechtliche Ordnung ist das Resultat einer relativ allgemeinen Bewertung, die Lebendigwerdung eines relativ allgemeinen Willens, diktiert durch Zwecke, die sich dieser Wille setzt. Eben die Relativität der Allgemeinheit, die in der bürgerlichen Gesetzgebung dadurch zutage tritt, daß sie nur für ein unter bestimmten Bedingungen stehendes Volk für unbestimmte Zeiten gelten soll, nimmt ihr das Anrecht, ein Kodex moralischer Bewertungen zu sein. Wohl ist zu vermuten, daß ein Kodex von Bewertungsnormen für alle möglichen Handlungen, wie es der Kodex der bürgerlichen Gesetze ist, als Ausdruck eines Allgemeinwillens in einem Verhältnis steht zu der Stufe moralischer Klarheit, die von dem gleichen Allgemeinbewußtsein erreicht ist. Dieses Verhältnis aber wird erst aus anderen Dokumentationen des gleichen Gesamtwillens und aus der in den Taten niedergelegten Entwicklung und Struktur dieses Allgemeinbewußtseins deutlich. Dies festzustellen ist eine der mannigfachen Aufgaben, die eine geschichts- und rechtsphilosophische Wertung der gegebenen Tatsachen zu liefern hat. An dieser Stelle ist es nur notwendig, deutlich einzusehen, wie über so relativ allgemeinen Bewertungsgrundsätzen für Handlungen, wie sie die staatlich mit Macht umkleideten Gesetze abgeben, die moralischen Grundsätze bestehen bleiben als immer wieder geforderte und zu fordernde allgemeinste, d. h. absolut allgemeine Grundsätze der Beurteilung, die zeitlos gelten sollen. –

Eine zweite Bewertungsart von Handlungen, die oftmals irrtümlicherweise für moralische Bewertung gehalten wurde, obwohl sie nichts anderes ist, als eine Beurteilung nach bestimmten ausdrücklich in ihrer Geltungssphäre begrenzten und eingeschränkten Grundsätzen, ist die nach Gesetzen der herrschenden Sitte. Darunter sind natürlich nicht diejenigen Urteile zu verstehen, in denen sich das subjektive Bewußtsein ganz und gar mit der durch die allgemeine Sitte umschriebenen Gesetzmäßigkeit identifiziert und die dort aufgestellten Gesetze als Gesetze seiner eigenen Subjektivität empfindet. Urteile aus einem solchen Bewußtsein der absolut zu fordernden Bedingtheit der Handlungen durch die herrschende Sitte wären in der Tat rein moralische Urteile; sie behaupten ja für die Handlungen die absolute Allgemeinheit geltender Wertprinzipien. – Die von der herrschenden Sitte ausgehenden Urteile, die oft mit moralischen Urteilen verwechselt werden, sind vielmehr Beurteilungen, die bewußt die herrschende Sitte neben eine höhere, allgemeine Wertung stellen. – Sittenurteile fällt beispielsweise der Historiker, der vom vorgefundenen Zustande einer zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Volke herrschenden Sitte aus bewußte historische Verhältnisse zu werten unternimmt.

Die Einrichtung der Handlungen, vornehmlich ihrer äußeren Form nach, gemäß der herrschenden Sitte ist dasjenige, was man allgemein mit einer gewissen berechtigten Verächtlichkeit die Moral des Spießbürgers zu nennen pflegt, der mangels subjektiv allgemeiner, notwendiger, objektiver Grundsätze nach einer äußeren Form der Handlungen strebt, die ihm sekundäre Zwecke zu erfüllen verspricht, also nicht aus Moral, sondern aus Berechnung oder Kraftlosigkeit handelt. – Die herrschende Sitte ist ebensowenig ein ungeschriebener Kodex sittlicher Beurteilungen, wie dies die geschriebenen Gesetze der bürgerlichen Ordnung sind. Sitte und Recht sind Schematisierungen von Handlungsprinzipien, die ausdrücklich zeitlich bedingt sind, nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen gelten und gelten wollen; sie dürfen keine unbedingte zeitlose Geltung beanspruchen, wie dies moralische Wertungen ihrem Begriffe nach tun müssen. –

Zu den oft mit moralischen Bestimmungsgründen verwechselten Handlungsprinzipien gehören ferner die aus einer feststehenden Standessitte und Standesehre genommenen Grundsätze. Dem Offizier ist es geboten, mit allen seinen Handlungen innerhalb der Grenze einer feststehenden Standesgepflogenheit zu bleiben, seine Tapferkeit, die aus ihm selbst kommenden Bewertungen und Ansichten über Pflicht und Vaterlandsliebe mit den Geboten der Standesehre in Einklang zu bringen, wenn er nicht mit denen in Konflikt geraten will, die sich als berufene Wächter dieser Standessitte fühlen und zu fühlen berechtigt sind. Der Universitätslehrer, der in der Wissenschaft die Wahrheit zu suchen hat, ist bei der Verkündigung dieser Wahrheit durch eine Standessitte bestimmt und an sie gebunden. Form und Inhalt seiner Lehre werden ihm in gewissem Maße durch diese Sitte vorgeschrieben, deren Geboten er in seiner Eigenschaft als Universitätslehrer unterstellt ist: sie beschränken seine Freiheit. Aber sowohl der Offizier, wie der Universitätslehrer fordern eine ständige Revision der Standesschranken, Erweiterung der gezogenen Grenzen zur Verwirklichung höherer und allgemeinerer Werte; sie beurteilen bei dieser Forderung die nun einmal geltende Sitte nach Grundsätzen einer von ihnen ständig geforderten allgemeineren Beurteilungsmöglichkeit. – In den Geboten der Standessitte sind keine moralischen Urteile begründet, sondern Normen gesetzt, die von bestimmter Zweckmäßigkeit und für bestimmte zeitliche Verhältnisse geltend gemacht werden.

So ließen sich noch mancherlei Bereiche abgrenzen, in denen bestimmte Gründe zur Beurteilung und zur Einrichtung von Handlungen liegen und aufgestellt werden. Sie alle weisen über sich selbst hinaus zu immer wieder geforderten Beurteilungsgründen von allgemeinster Geltung, d. h. zu Gründen, die für alle Handlungen und alle Handelnden gelten. –

Aus diesen Gegensätzen zu eigentlich moralischen Bestimmungsgründen des Handelns – im Leben von großer Bedeutung –, die wir bei näherer Bedeutung als eine Art vorläufiger Abstufung der eigentlich sittlichen Forderungen erkennen würden, wird die spezifische Aufgabe der Ethik sichtbar. Sie ist dreifacher Natur: Die Ethik wird erstens die Möglichkeit eines gerechtfertigten Anspruches auf allgemeine Gültigkeit und Notwendigkeit von Beurteilungsprinzipien überhaupt zu untersuchen haben; sie wird die Frage erörtern, ob es überhaupt denkbar ist, dem Anspruche auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit von Bestimmungsgründen des Handelns ein Recht zuzuerkennen; sie wird die Bedingungen dieses Rechtsanspruches völlig gesondert von den Bedingungen der Möglichkeit sie zu erfüllen, feststellen. Die Ethik wird zweitens zu einem letzten allgemeinen Bestimmungsgrunde moralischen Handelns aufzusteigen den Versuch machen müssen. Sie wird anstreben, den möglichen allgemeinen Bestimmungsgrund des Handelns als Norm für alles sittliche Handeln zu erfassen. Die Ethik wird drittens die in der unmittelbar erlebten Mannigfaltigkeit geltend werdenden, mit dem Anspruch auf Geltung auftretenden Bestimmungsgründe des Handelns in ihrem Verhältnis zu dem gefundenen oder geforderten allgemeinsten Bestimmungsgrunde erwägen. Sie wird auf dieser dritten Stufe die für alles Handeln geltenden moralischen Bestimmungsgründe unter den besonderen Bestimmungen wiederzuerkennen versuchen müssen, unter denen die Handelnden stehen.

Im ersteren Sinne ist die Ethik Logik des moralischen Urteiles, im zweiten Metaphysik der Moral oder Metaphysik der Sittlichkeit, im dritten eigentliche Morallehre, Gesellschaftsphilosophie und Soziologie. In ersterer Beziehung ist die Ethik wie die Logik des erkenntnistheoretischen Urteiles beschreibende Wissenschaft. Im zweiten und dritten Sinne wird sie, weil sie nach geforderten Bestimmungsgründen des Handelns zu suchen hat, normative Wissenschaft, d. h. eine Wissenschaft sein, die einen als Richtschnur für das Handeln geltenden Bestimmungsgrund verfolgt. Dieser letzte oberste Bestimmungsgrund hat Geltung nur dann, wenn er den im ersten Teil der Ethik aufgestellten Bedingungen des moralischen Urteils überhaupt entspricht.

Das große Gebiet der ethischen Forschung, seit Jahrtausenden gewaltsamer durch die Lebensverhältnisse zu Resultaten gedrängt als die Logik, unmittelbar vom Leben berührt, ist naturgemäß das Feld mannigfacher und gegensätzlicher Ansichten, hinter denen sich neben aller Wissenschaftlichkeit auch der Widerstreit von weltanschaulichen Bedürfnissen birgt. Wir haben hier zu keinem der verschiedenen Ergebnisse Stellung zu nehmen, sondern nur, wie bei der Logik, die allgemeine Einteilung zu beleben und zu illustrieren. Für das Gebiet der Ethik ist es weit schwieriger wie für die Logik, Literatur namhaft zu machen, die, ohne einen bestimmten Standpunkt zu betonen, in das Gebiet der Ethik überhaupt einführt. Es genüge deshalb darauf hinzuweisen, daß in der Sammlung von »Katechismen der Philosophie« der »Katechismus der Ethik« von Friedrich Kirchner bearbeitet ist.

a) Die Logik des ethischen Urteiles oder die formale Morallehre.

Die uralte Einteilung der menschlichen Seelenvermögen in Denk-, Willens- und Gefühlsvermögen beruht auf keinem Prinzip, sondern geht unmittelbar vom Leben und seinen sichtbaren Erscheinungen aus; ihr Rechtsgrund wäre erst durch eine philosophische Erwägung zu finden. Die Lehre vom Denken beginnt bei der Tatsache empfangener oder geschaffener Vorstellungen; die Lehre vom Wollen handelt von dem, wohin die Tendenzen der Gesamtpsyche streben, die Lehre von den Gefühlen von Zuständen, die im letzten Sinne ebenso wie Vorstellungen und Wollen nach einer allgemeinen, allen Fühlenden gemeinsamen Form hinstreben. – Das durch das Denken und Erkennen zu erreichende höchste Ziel ist die Wahrheit, das letzte Ziel des Willens ist das Gute, das vom Gefühl erstrebte Ideal wird als das Schöne bezeichnet. – Der Wille, das Vermögen, durch welches die Seele, der Geist, bewußt hinstrebt nach einem vorgestellten Ziele, wird als der Grund bewußter Handlungen gedacht. Auch der Wille als unbewußter Trieb, als instinktives Begehren ist Grund von Handlungen, aber nicht Grund von solchen Handlungen, in denen das letzte Ziel des Willens als Bestimmungsgrund gedacht werden kann.

Schon an der Formulierung dessen, was der Wille als Grundvermögen der Seele bedeutet, gehen die Auffassungen, die zu einer Morallehre hinstreben, auseinander. Denkbar ist es und vielfach als wohlbegründete Ansicht innerhalb der Geschichte der Ethik hervorgetreten, daß die Handlungen, als deren Grund der Wille gedacht wird, ihrem Werte nach an ihrer äußeren Form, nicht an ihrem inneren Prinzip gemessen werden. Dort, wo das Maß der Wertung an die äußere Form gelegt wird, um in den Handlungen ein allgemeines, allen Handelnden anzusinnendes Ziel repräsentiert zu sehen, muß dieses Ziel als ein durch den Willen erreichbares erkannt und ausgedrückt sein. Der Wille, das die Handlung schaffende Grundvermögen der Seele, muß als fähig gedacht werden, sich dem gesetzten Ziele bewußt oder unbewußt zu nähern. Das gesetzte Ziel muß als möglicher Bestimmungsgrund des die Handlungen formenden Prinzipes, des Willens, geltend gemacht werden können. – Dort, wo nicht die äußere Form gewertet wird, sondern der innere Grund der Handlungen als bewußter und die allgemeinen Ziele des Handelns repräsentierender Grund erwogen wird, ist die Frage von Bedeutung: Wie kann ein bewußter Wille Grund von Handlungen sein, in denen sich ein allgemeines und notwendiges Ziel, ein allgemein gültiger, allgemein zu fordernder Sinn ausdrückt? – In beiden Fällen also haben wir die unumgängliche Vorfrage aller ethischen Spekulation wohl zu erörtern: Wie ist ein auf ein allgemeines Ziel gerichteter Wille als Grund von Handlungen möglich, die, sei es ihrer äußeren Form oder ihrem inneren Sein nach, in sich eben dieses allgemeine Ziel, sei es vollkommen oder unvollkommen repräsentieren? Ist es die Aufgabe der Ethik, dem immerdar erlebten Postulate nach einer allgemeinen Formung und Wertprägung der Handlungen nachzugehen, dann bleibt die erste Stufe der Aufgabenlösung immer die: Wie ist ein allgemeiner Wille möglich, der bewußtes Prinzip ihrer inneren Tendenz oder unbewußtes (metaphysisches) Prinzip ihrer äußeren Form nach allgemeingültiger Handlungen ist? Dabei tritt die Frage nach dem Wesen, dem Inhalte, dem Sinn des als allgemeingültig gedachten Prinzipes selbst vollkommen in den Hintergrund und es löst sich vor aller Entscheidung über ein bestimmtes allgemeines Ziel des Handelns eine Untersuchung über das Wesen des Willens selbst als formgebendes Prinzip ab. Diesen Teil der Ethik aber nennen wir die »Logik des Willens«. Bevor ein bestimmtes allgemeines Ziel gewollt werden kann, muß das Wollen eines allgemeinen Zieles überhaupt als im Wesen und im Bereich des Willens liegend erkannt worden sein.

Die Ethik vergangener Zeiten hat oftmals diese Forderung eines ersten Teiles der Ethik außer acht gelassen und ist zum zweiten Teile übergegangen ohne vorhergehende kritische Besinnung auf die im Willen liegenden Bestimmungsgründe und Beziehungsmöglichkeiten. Auch seitdem durch Kant die Notwendigkeit einer solchen Logik des Wollens in Erinnerung gebracht worden, sind die Wege der Untersuchung über die Bedingungen des Willens, zu einem allgemeingültigen Ziele zu gelangen, weit auseinander gegangen. So hat beispielsweise Kant selbst die Bestimmungsgründe des reinen Willens durch eine Ablösung des reinen Begriffes »Wollen« aus dem psychologischen Begriffe des Willens zu erlangen gesucht, um nach dieser Scheidung mit seiner Logik des Willensurteiles zu beginnen. Dem gegenüber ist Schopenhauer, der mehr zu der Ansicht einer äußeren Formung der Handlungen neigt, von einer rein metaphysischen Begriffsbestimmung ausgegangen. Kant fand in der logischen Analyse des Willens auch den materialen Bestimmungsgrund des sittlichen Wollens; er glaubte einzusehen, daß die zu einer allgemeinen Formung gelangenden Handlungen nur durch ein formales Prinzip Allgemeingültigkeit erlangen. Damit schrumpfen bei Kant die beiden von uns gesonderten Teile einer »Logik des Wollens« und einer »Metaphysik der Moral« in einen Teil zusammen. Aber wie sich auch im einzelnen die Ethiker entscheiden mögen, der Idee nach müssen beide Teile voneinander getrennt untersucht werden. Denn erst muß das Wesen des Wollens und die logische Möglichkeit allgemeiner Bestimmungsgründe feststehen, ehe die besonderen Bestimmungsgründe eines möglichen allgemeinen Wollens Gegenstand der Untersuchung werden können.

b) Die Metaphysik der Moral oder die Metaphysik der Sittlichkeit.

Während sich Erkenntnistheorie und auch formale Logik unter Hinweis auf Mathematik und Naturwissenschaft und die anderen Einzelwissenschaften darauf berufen können, daß in der Tat Erkenntnissätze aufzuweisen sind, denen allgemein Gültigkeit und Notwendigkeit zuerkannt wird, ist die Ethik dazu noch keineswegs in der Lage. Über die Erkenntnistheorie kann man im Zweifel sein, ob sie die Bedingungen der Geltung nur beschreibt oder ob sie Gründe der Geltung fordert, die im wirklichen Erkennen erfüllt sein sollen, wenn es zur Allgemeingültigkeit gelangen will. Bei der Ethik ist dieser Zweifel keineswegs am Platze, sie bleibt, wenn überhaupt der Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu Recht erhoben wird, stets eine normative Wissenschaft, die über allen subjektiv notwendigen Wertmaßstäben objektiv notwendige erst zu erkennen, sichtbar und damit erstrebbar zu machen hat.

Schon allein aber im Begriffe einer Moralphilosophie ist es gelegen, daß die von ihr gesuchten allgemeinen Bestimmungsgründe des Handelns nicht physischer Natur sein können. Eben die physischen Gründe sind ja die Gründe, die die Sphäre der zufälligen Konstellationen ausmachen. Die physischen Bestimmungsgründe, die in jedem Handeln zur Geltung kommen, sind die Gründe, denen gegenüber Bestimmungsgründe geltend gemacht werden sollen. Die physischen Bestimmungsgründe gelten ihrer Natur nach schlechthin, die moralischen Bestimmungsgründe sollen demgegenüber schlechthin gelten.

Man muß sich den fundamentalen Unterschied von dem, was allgemein gilt und dem, was als allgemein gelten sollend gefordert wird, klargemacht haben, um zu verstehen, daß jede Ethik, die nach dem Grunde allgemeingültiger moralischer Handlungen sucht, notgedrungen im eigentlichen Sinne des Wortes Metaphysik ist. – Daß alle Handlungen kausal bedingt sind, daß es für jede einzelne Handlung Ursachen gibt, die an der Hand eines überall gültigen Kausalgesetzes festgestellt werden können, ist eine unabänderliche Notwendigkeit, die soweit und solange bestehen bleibt, wie das Kausalgesetz selbst als eine unentfliehbare Form feststeht, unter der wir die Welt zu erkennen gezwungen sind. Das aber, was wir mit dem Kausalgesetz umklammern, die jenseits unseres Ich erlebte Welt, ist eben die Physis, von der die naturwissenschaftliche Begriffsbildung ausgeht und anhebt. Wie der Mathematiker notgedrungen alles mit seinen Raum- und Zeitgrößen durchmißt, so erblickt der Naturwissenschaftler alles unter dem Gesichtspunkte dessen, was wir früher (im ersten Teil dieser Einführung) seinen besonderen Erkenntnisgrund nannten. Soweit sich unser Bewußtsein in bezug auf die erlebbare Wirklichkeit erkennend, theoretisch, naturwissenschaftlich verhält, muß es alles Erlebbare unter den Gesetzeskodex der naturwissenschaftlichen Begriffsbildungen stellen. Jede Handlung naturwissenschaftlich betrachtet zeigt sich als physische Wirkung einer gleichartigen, d. h. physischen oder psychischen Ursache. Die physische Bedingtheit ist eine allgemeine Gesetzmäßigkeit, d. h. allgemein, soweit die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise reicht. Wir haben früher gesehen, daß diese naturwissenschaftliche Betrachtungsweise vom Standpunkte der zur letzten Einheit hinstrebenden Vernunft eine bedingte, eine bestimmte, keineswegs eine unbedingte und absolute Betrachtungsart ist. Was wir naturwissenschaftlich erwägen steht unbedingt unter den Gesetzen naturwissenschaftlicher Betrachtungen. Verlassen wir aber den Standpunkt naturwissenschaftlicher Betrachtung, dann fallen auch die Gesetze fort, die nur von diesem Standpunkte aus gelten.

So verläßt der Richter den naturwissenschaftlichen Standpunkt in dem Momente, wo er die Handlung ihrer äußeren Form nach unter die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft zu stellen versucht. Ihn interessiert dann lediglich die Frage, wie sich diese Handlungen als einmalige Tatsachen zu dem feststehenden Kodex der Gesetze verhalten. Ihm ist es an sich vollständig gleichgültig, ob die Handlungen, wie der Naturwissenschaftler sagt, »normal« oder »abnormal« verursacht sind. Er wertet die Handlungen vom Standpunkte der geltenden, als Norm nun einmal vorgeschriebenen Gesetze aus. Der oftmals in die moderne Rechtsprechung fälschlich und sinnwidrig hineingebrachte naturwissenschaftliche Gesichtspunkt, der nach dem genetischen Charakter der Handlung fragt, ist höchstens dazu geeignet, den Sinn der Rechtsprechung zu verwirren. Die Notwendigkeit, die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise neben die normative der Rechtsprechung zu stellen, beruht auf anderen Gründen, als darin, das Rechte zu fordern und zu erkennen. – Von dem Beispiel der Rechtsprechung aus, die in ihrer Reinheit ein Verfahren darstellt, Handlungen völlig gleichgültig dagegen, wie sie zustande gekommen sind, unter Rechtsnormen zu stellen, wird der Unterschied zwischen physischer und absoluter Allgemeinheit deutlicher. Die absolute Allgemeinheit der Handlungsgründe, die von der moralischen Handlung erfordert wird, ist die Einheit der fordernden Vernunft selbst, des Geistes, der sich zu sich selbst, zu seinem Einheitsgrunde hinwendet, zu den Bedingungen, die ihn selbst bedingen, die für ihn selbst unbedingt gelten und von ihm als schlechthin geltend gefordert werden. Gegenüber dieser absoluten Einheit erscheint jede andere Wertung der erlebbaren Mannigfaltigkeit jede Beziehung der Mannigfaltigkeit auf Einheitsgründe als bedingt durch besondere Erkenntnis- oder Lebenszwecke. Absolute Allgemeinheit im Gegensatz zur physischen Allgemeinheit nennen wir die, die in sich die Gründe unbedingter Einheit der Vernunft birgt. Die Vernunft, der zur Einheit tendierende Geist strebt in der Forderung nach absoluter Allgemeinheit der Handlungen nach der letzten, unbedingten Einheit, während der physisch gerichtete Verstand stets nur die Geltung kausaler Beziehungen als letzten Grund der Einheit im Auge haben kann. Die physische Allgemeinheit ist die allgemeine Gesetzmäßigkeit, die überall dort gilt, wo der kausale Zusammenhang interessiert im ganzen Umkreise der naturwissenschaftlich betrachteten physischen Welt. Die absolute Allgemeinheit, ein Postulat der zum letzten Grunde der Mannigfaltigkeit hinstrebenden Vernunft soll gelten, obgleich sie nicht gilt. Ein von der Vernunft gesetzter Wert soll allgemein und notwendig für alle Vernunftwesen gelten.

In diesem Sinne schiebt die Vernunft, indem sie die Handlungen nach ihrem moralischen Werte abschätzt, diese unter eine ganz andere Gesetzmäßigkeit, als sie durch die naturwissenschaftliche Betrachtung der Dinge geschaffen wird. Sie tut dasselbe, was jeder Richter tut, wenn er die Handlungen unter den Gesichtspunkt der bürgerlichen Gesetzgebung stellt, nur daß die Normen keine durch bestimmte Zwecke diktierte, sondern letzte unbedingte Normen sind, Werte, die selbst die Bedingungen aller Wertsetzung zu sein den Anspruch erheben müssen.

In der Formulierung dieses obersten, letzten Wertes, von dem aus alle Handlungen ihren moralischen Gehalt bekommen, gehen die ethischen Systeme aller Zeiten weit auseinander. Die Fülle der für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Umkreis von Handelnden geltenden Normalwerte, wie sie durch Sitte, Recht und Standesehre ausgedrückt werden und die Fülle subjektiver Prinzipien der Wertung sind von jeher Gegenstand der ethischen Untersuchung gewesen und haben bis an die Grenze eines jegliche moralische Wertung verneinenden Skeptizismus geführt. Natürlich hört die Moral als Wissenschaft selbst auf, wenn gegenüber der Fülle sonst geltender Normen für das Handeln allgemeingültige und notwendige Werte als Grund schlechthin moralischer Handlungen negiert werden.

Es kann an dieser Stelle keine Überschau über die in der Geschichte der Philosophie aufgetauchten Wertprinzipien gegeben werden, die als Gründe moralischer Handlungen erkannt worden sind. Eine solche Aufzählung, die zur Kritik der für jedes System geltenden Voraussetzungen schreiten müßte, würde weit den Rahmen einer Einführung in die Philosophie verlassen. Es muß genügen, rein schematisch die Möglichkeiten ins Auge zu fassen, diese allgemeinen Prinzipien moralischer Wertung festzustellen.

Also: Gegenüber den rein subjektiven Bestimmungsgründen und gegenüber den unter bestimmten Zeitverhältnissen geltenden relativ allgemeinen Normen sollen in Handlungen objektive, schlechthin allgemeine Bestimmungsgründe geltend werden, um ihnen Moralität zu verleihen. Diese Bestimmungsgründe können erstens bewußt oder unbewußt zur Geltung kommend gedacht werden. Sie können zweitens innerhalb oder außerhalb, diesseits oder jenseits der subjektiven Wertsphäre gelegen, angenommen werden. Drittens: diese Bestimmungsgründe werden als Maß für die wirklichen Handlungen verwandt, indem die äußere Form der Handlungen danach geprüft wird, ob sie vollkommen in ihnen zum Ausdruck kommen, oder indem nur das innere Prinzip der Handlungen ins Auge gefaßt wird. Das sind die Differenzpunkte aller moralphilosophischen Entscheidungen, soweit sie auf eine Metaphysik der Moral gerichtet sind.

Machen wir uns diese Unterscheidungen deutlich, um einzusehen, wie weit das Feld moralphilosophischer Spekulationen reicht und wie wichtig die Untersuchungen sind, die in den Handlungen ihr Prinzip zu entdecken suchen und es nach dem Maße seiner Allgemeinheit zu prüfen unternehmen:

Erstens: Die Bestimmungsgründe des Handelns können als bewußt oder unbewußt zur Geltung gelangend gedacht werden. Die Verantwortung für das Geltendwerden allgemeiner Bestimmungsgründe kann in das handelnde Subjekt oder über dieses hinaus verlegt werden. Dem handelnden Subjekt müssen die Folgen der in seinen Handlungen geltend werdenden Bestimmungsgründe zur Last gelegt oder sie können, falls die Bestimmungsgründe seines Handelns unbewußt geltend werden, von ihm abgelöst werden. Dort, wo die moralphilosophischen Untersuchungen zu dem Resultate kommen, daß die moralischen Bestimmungsgründe im Bewußtsein des handelnden Subjekts liegen, entrollt sich die ganze Fülle von Problemen, die seit Jahrhunderten an die Begriffe der Freiheit und der Verantwortung geknüpft worden sind. Dort, wo die Bewußtheit der Bestimmungsgründe als Bedingung für moralisches Handeln gilt, wird der oberste Grundsatz moralischer Forderung, das eigentliche Sittengesetz, lauten: »Handle bewußt nach moralischen Bestimmungsgründen.« – Ganz anders hat die Moralphilosophie zu beschließen, die den moralischen Bestimmungsgrund unbewußt zur Geltung kommen läßt, die in der äußeren Form der Handlung einen Grund moralischer Wertung erblickt: Das handelnde Subjekt ist nur das zufällige Agens und trägt nicht die Verantwortung für seine Handlungen in dem Sinne, daß ihm die Folgen, als durch sein Handeln bedingt, zugeschoben werden. Die vom handelnden Subjekt ausgehende Handlung sieht nach ihrer Vollendung moralisch oder unmoralisch aus. Aller Anspruch auf allgemeingültiges Handeln ist dann nur an die Handlung selbst, nicht an den Handelnden gerichtet. Und dort, wo der Handelnde gleichwohl für seine Handlungen verantwortlich gemacht wird, geschieht es nur in der Absicht, den unbewußten Grund der Handlung durch direkte Einwirkung auf ihn zu modifizieren. Diese moralische Anschauung hat ihre Parallele aus anderen, dem allgemeinen Denken näherliegenden Lebensgebieten. So ist die Ansicht wohl begründet, daß wir durch die Ehrungen großer Schöpfer nicht eigentlich die Schaffenden, sondern das Geleistete ehren und uns an die Träger der Leistung nur deshalb wenden, weil sie die zufälligen Repräsentanten des tätigen Geistes sind. In einem Denkmal beispielsweise, das wir Goethe setzen, ehren wir von diesem Standpunkte aus nicht die zufällige Lebenserscheinung »Goethe«, als hätte er all das von ihm Geschaffene schaffen wollen, sondern die Leistung, die unbegreiflicherweise in Goethe zum sichtbaren Ausdruck gelangt ist. – Auf der Ansicht von der unbewußten Geltung moralischer Bestimmungsgründe beruht die Lehre von der Prädestination des Willens, der Seele und alles dessen, was zum Ausdruck zu kommen vermag. Die Lehre von der Prädestination schiebt die Bestimmungsgründe des Handelns über das Bewußtsein des Handelnden hinaus in eine Sphäre, von der der Handelnde ohne sein eigenes Zutun abhängt. Auch vom Standpunkte der unbewußten Geltung moralischer Bestimmungsgründe verschwindet der Sinn der allgemeinen moralischen Forderung keineswegs: »Handle nach allgemeinen für alles Handeln geltenden Bestimmungsgründen.« Die Forderung bleibt bestehen als Maßstab für die Handlungen, wenn sie auch dem handelnden Individuum aus eigener Kraft zu erfüllen unmöglich ist.

Zweitens: Die Bestimmungsgründe können innerhalb oder außerhalb, diesseits oder jenseits der subjektiven Machtsphäre liegend gedacht werden. Den Bestimmungsgründen nach wird von einer immanenten und einer transgredienten oder transzendenten Moral gesprochen. Transgredient sind z. B. alle die Werte, nach denen in einem Rechts-, Sitten- oder Standesurteil die Handlung gemessen wird, weil die geltenden Werte dem subjektiven Bewußtsein, unabhängig von seiner Zustimmung, als Normen vorgeschrieben werden. Wir wissen, daß eben diese zur Erläuterung angeführten, aus dem Recht, der Sitte usw. genommenen Bestimmungsgründe nicht moralische, sondern nur legale Handlungen bewirken können. Transgrediente oder transzendente Bestimmungsgründe für moralische Handlungen wären solche, die über allen subjektiven zeitlichen Bedingungen liegen, dem subjektiven Bewußtsein nicht durch dieses selbst aufgegeben, sondern ihm von außen gesetzt worden sind. Immanente Bestimmungsgründe sind dagegen solche, die über alle im einzelnen Subjekt zutage tretenden Bestimmungen im Wesen des subjektiven Wertens gelegen sind. Immanente Bestimmungsgründe moralischer Handlungen sind also solche, die das Allgemeine eines jeden sonstwie bestimmten Willens ausmachen konnten.

Transgrediente Bestimmungsgründe des Willens sind z. B. alle von der Religion vorgeschriebenen Gesetze des Handelns. Sie binden das wertende subjektive menschliche Bewußtsein an göttliche Gebote, die ihrem Begriffe nach als unabhängig vom Willen und vom Werten des handelnden Subjekts angenommen werden. Nach diesen göttlichen Geboten hat sich das moralisch handelnde Bewußtsein zu richten, ob es willig oder unwillig die göttlichen Gebote anerkennt, ob es sie begreift oder ob sie ihm unverständlich sind. Transgredient sind alle moralischen Bestimmungsgründe, die durch äußere Autorität eines Einzelnen gesetzt sind, dessen Einzelwille als Norm für alles Handeln behauptet wird.

Viel schwieriger ist es, die immanente Moral durch wenige Hinweise verständlich zu machen. Es kommt darauf an, die Bestimmungsgründe moralischen Handelns vom subjektiven Bewußtsein gesetzt und doch für alles subjektive Werten geltend erscheinen zu lassen. Unter den Begriff einer immanenten Moral gehört z. B. die Ethik Kants, die ausdrücklich gegen alle transzendenten Bestimmungsgründe polemisiert und im Wesen, im Begriffe des Wollens nach den allgemeinen, für alles Wollen geltenden Bestimmungsgründen sucht. Zur immanenten Moralphilosophie sind alle Versuche zu rechnen, die das allgemeine Prinzip der Moral in dem Drange nach Glückseligkeit zu finden glauben, wie auch immer sie den Begriff der Glückseligkeit näher bestimmen mögen. So sind Stoiker und Epikureer, die beiden großen sich bekämpfenden ethischen Schulen am Ausgange des griechischen Altertums, Systeme der immanenten Moral. Sie unterscheiden sich nur in der Art und Weise, wie sie den Begriff der Glückseligkeit zu fassen versuchten. Zur immanenten Morallehre gehören weiterhin alle ethischen Systeme, die in der Idee der Vollkommenheit den letzten Grund moralischer Bestimmungen sehen. Die Forderung an die Handlungen, die Idee der Vollkommenheit zu repräsentieren, sieht natürlich je nach dem Begriffe von Vollkommenheit anders aus. An einem dieser besonderen Begriffe der Vollkommenheit läßt sich deutlich machen, wie fruchtbar der immanente Gesichtspunkt der Ethik ist, selbst wenn er dem äußeren Anschein nach zur Leugnung einer allgemeinen moralischen Form zu gelangen glaubt. Dieser Begriff der Vollkommenheit ist der der subjektiven oder individuellen Vollkommenheit. Obwohl mit der Forderung: Handle so, daß durch deine Handlungen eine subjektive Vollkommenheit gestaltet wird, jede schematische Gleichstellung von Handlungen ihrer äußeren Form nach ausgeschaltet wird, bleibt für jedes einzelne Subjekt, die in individuellster Form zu erfüllende allgemeine Forderung, die Gesamtheit seiner Handlungen nach der Idee der Vollkommenheit bewußt einzurichten oder die unbewußt gestalteten Handlungen nach ihrer Vereinbarkeit in einem vollkommenen System der Handlungen zu werten und zu prüfen.

Drittens: Die allgemeinen Bestimmungsgründe des Handelns können als Wertungsprinzipien für die äußere Form der Handlungen verwandt oder an die inneren Gründe der Handlung als Maßstäbe angelegt werden. Die Handlung gilt im ersteren Sinne als moralisch, wenn in ihr der allgemein geforderte Bestimmungsgrund zum vollkommenen Ausdruck kommt. Die Handlung gilt im letzteren Sinne als moralisch, wenn die subjektiven Bestimmungsgründe des Handelns nach objektiven moralischen Werten gerichtet sind. Dies sind zwei völlig verschiedene, ja feindliche Standpunkte der Ethik. Der eine wertet und mißt, »was vor Augen ist«, der andere aber »siehet das Herz an«. Von dem einen Standpunkte aus werden die Handlungen, ähnlich wie in der bürgerlichen Rechtsprechung, vermöge eines Kanons moralischer Sätze gemessen, die andere Art der Kritik ist ausschließlich auf die inneren Bestimmungsgründe des Handelns gerichtet. Als Beispiel für den ersteren Standpunkt hat die eigentliche katholische Morallehre zu gelten, die aus den göttlichen Dogmen einen Maßstab für die äußere Form der Handlungen hernimmt. Als Beispiel für die Bewertung lediglich des Prinzips der Handlungen kann dagegen die Kantische Morallehre angeführt werden. Kants Morallehre führte konsequent zu der Ansicht, daß Handlungen, bei denen es auf das innere Prinzip ankommt, nur vom handelnden Subjekt selbst, niemals aber von außen gemessen werden können.

Alle diese Standpunkte einer metaphysischen Morallehre, um welche sich die in der Geschichte der Philosophie aufgetauchten ethischen Versuche gruppieren ließen, gehen hie und da ineinander über und verbinden sich eigenartig zu ethischen Gesamtauffassungen. Sie geben uns in ihrer abstrakten Loslösung nur die allgemeinen Richtlinien, die innerhalb der Metaphysik der Moral aufkamen.

c) Die angewandte Moral.

Während die formale Moralphilosophie, die Logik des Wollens überhaupt, in abstracto die Möglichkeiten einer allgemeingültigen Beziehung von Bestimmungsgründen auf das Vermögen zu wollen darzutun hat, die metaphysische Morallehre die allgemeinen Bestimmungsgründe des moralischen Willens festzustellen versucht, hat die angewandte Morallehre die besonderen Bedingungen zu erkennen, unter denen die Tendenz, zum allgemeingültigen Handeln zu gelangen, innerhalb der erlebbaren Wirklichkeit auftritt. Schon die Betrachtung der durch das spezifisch menschliche Wollen bedingten Handlungen ist ein Schritt zur angewandten Moral. Nur dann, wenn sich die moralische Spekulation überhaupt nur auf menschliches Handeln bezieht, wenn wir überhaupt von keinem anderen Wollen als dem menschlichen etwas aussagen können, ist die Analyse des menschlichen Wollens im eigentlichen Sinne zur formalen Moralphilosophie zu rechnen. Es wäre aber völlig irrig, zu behaupten, daß die Moralphilosophie, wie sie in vielfachen Versuchen vorliegt, immer nur vom menschlichen Willen als demjenigen Willen gehandelt habe, durch den Moral möglich ist. Selbst der eigenartigste Versuch der modernen Moralphilosophie, die Kantische Ethik, handelt zunächst in abstracto vom Willen überhaupt, also auch dem göttlichen oder rein vernünftigen und dem tierischen oder an sich unvernünftigen Willen. Auch an dem Punkte, wo die Kantische Analyse des Willens umbiegt zu den spezifischen Gründen eines auf Moralität gerichteten Willens, handelt sie zunächst nur von einem vernünftigen und zugleich unvernünftigen Willen, dem erst auf dritter Stufe der menschliche Wille als besondere Art unterstellt ist.

Es ist also begreiflich, daß sich schon allein an die Tatsache des menschlichen Willens zwei ganz verschiedene Richtungen innerhalb der Ethik anbauen. Die eine Richtung sieht im menschlichen Willen die einzige Art von Willen, für den Moralität Sinn hat. Die andere Richtung dagegen hält den menschlichen Willen für eine besondere Art von Willen, an die ebensogut, wie an andere Willensarten (beispielsweise den göttlichen und den tierischen Willen) das Sittengesetz als Forderung zu stellen ist. Dort, wo der menschliche Wille der einzige ist, für den Moralität Sinn behält, da sind die festgesetzten allgemeinen Bestimmungsgründe moralische Bestimmungsgründe schlechthin. Dort dagegen, wo der menschliche Wille als besondere Art eines Willens betrachtet wird, für den neben anderen Arten die Forderung der Moral Sinn hat, verlieren die moralischen Forderungen an Allgemeinheit. So beschränkt sich beispielsweise in der Kantischen Morallehre die Bedeutung der moralischen Begriffe »Pflicht« und »Sittengesetz« auf den menschlichen Willen, der der einzige feststellbare vernünftig und zugleich unvernünftig bedingte Wille ist. Sie haben keinen Sinn für einen göttlichen Willen, der dem Begriffe nach vernünftig ist, und keinen für den tierischen Willen, der dem Begriffe nach unvernünftig ist. Die Moralgesetze gelten also bei Kant nur für den menschlichen Willen; sie erhalten die Bedeutung von Moralgesetzen schlechthin, weil eben nach Kant nur der menschliche Wille für die Forderung der Moral in Betracht kommt.

Um sich das weite Gebiet der Probleme einer angewandten Moral deutlich zu machen, genügt es für alle Fälle, sich an den menschlichen Willen zu richten, für den die moralischen Bestimmungsgründe neben allen anderen Bestimmungsgründen gelten sollen. Dieser menschliche Wille erscheint unserem Erleben nach unter den mannigfachen Formen und Bedingungen, niemals unbedingt und unbestimmt oder nur bestimmt durch sich selbst. Die angewandte Morallehre hat den durch besondere Bestimmungsgründe bestimmten Willen im Verhältnis zu den moralischen Bestimmungsgründen in Erwägung zu ziehen.

Es sind zwei voneinander ganz verschiedene Richtungen, von denen aus die Bestimmtheit des Willens als ein Vermögen, Vorstellungen zu verwirklichen, zu verstehen ist. Die eine Richtung verläuft im Wesen des Willens selbst, die andere Richtung betrachtet die Einschränkungen des Willens. Unter die Bestimmungen des Willens, die im Willen selbst liegen, gehören alle diejenigen Momente, die man unter dem allgemeinen Begriff des Interesses zusammenfassen kann. In die andere Art von Bestimmungsgründen gehören diejenigen, die deutlich werden, wenn man sich gegenwärtig hält, daß der Wille nur ein Vermögen ist innerhalb der Totalität der menschlichen Vermögen, ein Vermögen, das bedingt ist durch diese Totalität. Der Wille wird also durch sich selbst mannigfach bestimmt und durch äußere (d. h. außer ihm selbst liegende) Gründe bedingt. Die ethische Betrachtung des menschlichen Willens im Sinne der angewandten Morallehre ist dahin gerichtet, den Willen auf all seinen erlebbaren Stufen und in all seinen feststellbaren Handlungen im Verhältnis zu der geforderten Moralität zu sehen. Dabei wird die Moralphilosophie auf die Resultate wohl zu achten haben, welche die Analyse des Willens durch die psychologische Betrachtung zeitigt.

Angewandte Morallehre im eigentlichsten Sinne des Wortes ist die Pädagogik, soweit sie sich bemüht, Wissenschaft und nicht nur praktische Betätigung zu sein, soweit sie die Wahrnehmungen und Erfahrungen durch die Theorie zu ergänzen bestrebt ist. Die Forderung der Ethik, daß der Wille nach moralischen Bestimmungsgründen strebe, ist für die Pädagogik ebenso ein Axiom von unerschütterlicher Festigkeit, wie die Tatsache, daß der Wille unter den mannigfachsten Bedingungen steht. Auf der Suche nach den allgemeinen Bestimmungsgründen des Willens, die der Pädagoge aus der Ethik entnehmen muß, geht die Pädagogik zu ihrem Nachteile oft noch weiter als die Ethik selbst. Sie greift in Verzweiflung, irgendwo den ethischen Grund ihrer Lehren zu finden, im gegenwärtig noch ganz chaotischen Zustande zu den mannigfachsten für die praktische Erziehungslehre verwertbaren Bestimmungsgründen, die den Stempel nur relativer Allgemeinheit tragen. Die Pädagogik als angewandte Morallehre ist auf der einen Seite normative Wissenschaft und hängt von den Resultaten der metaphysischen Morallehre ab, auf der anderen Seite ist sie Psychologie oder Naturwissenschaft, weil sie auch die kausalen Beziehungen des Willens zu allgemeinen Bestimmungsgründen zu erwägen hat. Wie der Begriff »Pädagogik« ausdrückt, beschränkt sie sich im eigentlichen Sinne des Wortes darauf, das Lebendig werden sittlicher Normen im Kinde zu beobachten, die Gründe dieser Lebendigwerdung und die der Unmoralität festzustellen. Wir reden aber heutzutage auch von einer Sozialpädagogik u. dgl. als Sonderdisziplinen der eigentlichen Pädagogik, die das Auftreten ethischer Normen unter besonderen Zuständen und auf besonderen Entwicklungsstufen der Menschheit zu erwägen haben. Daß die Forderungen der metaphysischen Morallehre durch den menschlichen Willen erfüllt werden können, ist eine unentfliehbare Voraussetzung aller Pädagogik. Sie mag zu dem Resultate gelangen, daß die Verwirklichung sittlicher Normen durch Evolution oder durch Revolution, durch freie, unbeeinflußte Entfaltung des Willens oder durch bewußte und bestimmte Einwirkung sich vollziehe. Die Ethik als solche reine und nicht angewandte Wissenschaft wird sich je nach der Verschiedenheit ihrer Prinzipien skeptisch zu diesem Postulate aller Pädagogik verhalten, aber, wie keine Wissenschaft als solche hinfällig wird, wenn ihr durch kritische philosophische Besinnung der Erkenntnisgrund entzogen wird, auf dem sie steht, so bleibt auch Pädagogik als Einzelwissenschaft bestehen, wenn auch die Ethik vom moralischen Wollen Entwicklungstendenzen und Entwicklungsmöglichkeiten ausschließt. – Die Pädagogik als Wissenschaft hat nach zwei Richtungen hin den Willen und das im Willen begründete Handeln zu beobachten: erstens nach den im Willen selbst liegenden, vom Willen selbst gewollten Willenszielen, und zweitens nach den jenseits des Willens liegenden physischen, psychischen, sozialen, zufälligen oder notwendigen Bestimmungsgründen. Sie betrachtet den Willen in seinen bestimmten Interessen im Verhältnis zum moralischen Willen, unter seinen besonderen Bedingungen im Verhältnis zum unbedingten, unbestimmten, reinen Willen.

Die psychologische Betrachtung des Willens dagegen allein kann niemals weder die Aufgaben der Ethik noch die der Pädagogik zu lösen den Anspruch erheben. Auf den Willen und dessen Funktionen gerichtet betrachtet die Psychologie den Willen als ein jenseits des Ich, durch die Kategorien des Seins bestimmtes und bestimmbares Daseiendes. Sie geht an dem Seile von Ursache und Wirkung entlang und kann deshalb niemals zur Idee eines auf eine unbedingte Einheit gerichteten Willens kommen, um diese Einheit als letzte Norm des Willens im Verhältnis zum besonderen Willen zu erkennen. Diesen Anspruch auf eine letzte im moralischen Willen geltend werdende Einheit gewährt eben nur die Moralphilosophie, mit der sich die Psychologie in der Pädagogik zu einer besonderen Wissenschaft verbindet. Wohl kann die Psychologie die psychische Genesis gewisser Sittenanschauungen, gefestigter allgemein gewordener historischer Sittlichkeitsnormen untersuchen, aber diese sind etwas ganz anderes, als die Normen, die den Willen zum moralischen Willen prägen. Alle Völkerpsychologie, z. B. die sittliche Anschauungen gewisser Völker auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung beschreibt, tastet nur nach Wirklichkeiten, die mit den naturwissenschaftlichen Kategorien zu umspannen, niemals aber aus dem Prinzip der unbedingten Geltung oder unbedingten Einheit eines moralischen Prinzipes deduzierbar sind.

In das große Gebiet der angewandten Moralphilosophie ist neben der Pädagogik in gewissem Sinne die Rechtsphilosophie zu rechnen, und zwar soweit sie das durch die Rechtsformen normierte Handeln und Wollen mit den Forderungen der Moralphilosophie zu konfrontieren versucht. Wie wir gesehen haben, gehören die Gebote und Verbote des geltenden Rechtes nicht unter die Bestimmungsgründe, die das Wollen zum moralischen, sondern nur zum legalen Wollen machen, weil an ihnen zeitliche Geltung hängt und sie selbst dem Wollen und Handeln Grenzen setzen, die nur für eine bestimmte Sphäre und unter bestimmten, jederzeit wandelbaren Bedingungen gelten sollen. Das Recht, ein Kanon geltender Normen von relativ allgemeiner Geltung, steht aber notwendigerweise in einem Verhältnis zu den absoluten Regeln des Handelns und Wollens. Es bedarf der rechtsphilosophischen Untersuchungen, dieses Verhältnis festzustellen, d. h. zu fragen, wie sich das Postulat moralischen Handelns zu den zeitlich geltenden Gesetzen und Bestimmungen legalen Handelns verhält. Das Handeln und Wollen steht vom Rechte aus gesehen unter festen Regeln, die doch in einem Verhältnis sein müssen zu den Normen des Wollens überhaupt. Im geltenden Rechte werden die Handlungen nach bestimmten Gründen geregelt. Es birgt sich darin eine Auffassung vom Wesen des Wollens sowohl wie von den erlaubten Bestimmungsgründen des Wollens. Dort besonders, wo die Rechtsphilosophie in dem Kanon des geltenden Rechtes und in der historischen Entwicklung der Gesetzgebung nach einer bestimmten nationalen Weltanschauung sucht, steht sie in unmittelbarer Beziehung zu den Postulaten der Ethik. Denn die Weltanschauung der gesetzten Allgemeinheit wird als allgemeine Normen des Handelns aufstellend gedacht und bekommt damit den Sinn eines letzten einheitlichen Grundes der Willensbestimmung. – Das geltende Recht, weit verzweigt und in allen Einzelheiten den gegensätzlichsten Lebenslagen angepaßt, will selbst jederzeit ein System von gesetzmäßigen Bestimmungen und nicht nur ein zufälliges Konglomerat von Regeln bilden. Es muß also doch einen Grund der systematischen Einheit geben, durch den jede einzelne Rechtsbestimmung ihre Stellung im Systeme bekommt, vermöge deren eben der Widerspruch mit anderen Bestimmungen und die Disharmonie des Ganzen aufgehoben wird. Wohl werden zu jeder Zeit Widersprüche innerhalb der wirklich geltenden Gesetze vorhanden sein, aber überall muß die Forderung auftreten, diese Widersprüche zu beseitigen und die systematische Einheit des Ganzen zu fördern. In welchem Verhältnis diese Einheit zum allgemeinen Einheitsgrunde des Handelns und Wollens überhaupt steht, ist eine Frage, deren Lösung die Rechtsphilosophie als Spezialgebiet der Moralphilosophie erscheinen läßt. Handlungen werden durch die Rechtsnormen geformt, der Grund der Handlung ist der Wille, das Vermögen nach vorgestellten Zielen zu handeln, darum ist Rechtsphilosophie praktische Philosophie und gehört als Spezialgebiet in die normative Wissenschaft vom Wesen des Wollens überhaupt. – Das Recht als erlebbare Tatsache kann auch von anderen Gesichtspunkten aus betrachtet werden, und Rechtsphilosophie wird dann bald als Kultur-, bald als Geschichts- und Sozialphilosophie auftreten, aber sobald der normative Charakter der geltenden Rechtsbestimmungen in seiner Bedeutung als relativ allgemeine Norm des Handelns betrachtet wird, sind die letzte Instanz für alle rechtsphilosophische Entscheidung die Resultate einer formalen und metaphysischen Moralphilosophie. –

Viel schwieriger ist die Erklärung, wie weit Sozial- oder Gesellschaftsphilosophie in das Gebiet der angewandten Moralphilosophie einzubeziehen ist. Gesellschaft, objektive gesellschaftliche Lebensbedingungen, vor allem in der staatlichen Form, bilden ein reiches Gebiet von Bestimmungsgründen für das Handeln, sie gehören als solche in eine Wissenschaft über die möglichen Bestimmungsgründe des Handelns überhaupt. Staat und Gesellschaft, woher auch immer sie ihren Rechtsgrund nehmen mögen, engen den Willen zu handeln nach mannigfachen Richtungen ein, erzwingen und ertrotzen Bestimmungsgründe für den Willen, deren Recht und Verhältnis zu den moralischen Bestimmungsgründen des Handelns zu erkennen eine wichtige Aufgabe ist. In den durch die Gemeinschaft der Menschen gegründeten inneren oder äußeren Beziehungsformen, die als unentfliehbare Grundbedingungen der Gemeinschaft gefordert werden, liegen Wertprägungen von Handlungen, die einen Gegensatz von moralischem Wesen und vergesellschaftlichtem Wesen sichtbar machen. Sie drängen zu der Frage nach der Art und dem Grade des Wertes, der den Normen der Gesellschaft zukommt. – Gemeinsam haben Staat, Gesellschaft und Moralität als Bestimmungsgründe des Handelns, daß sie zu einer Verallgemeinerung der Handlungen in Hinsicht auf eine der Idee nach vorhandene Gemeinschaft der Wollenden auffordern. Die Gesellschaft und der Staat stellen die einzelnen Handlungen in ihre zufällige historische Machtsphäre, messen und werten sie am Zwecke, am Interesse, an den Lebensbedingungen einer festgeformten Gemeinschaft, die Ethik dagegen sucht den Maßstab für alles Handeln und Wollen überhaupt unter der Idee der Gemeinschaft aller Wollenden. Vom Standpunkte der Ethik aus sind die vom Staate und der Gesellschaft festgesetzten Normen des Handelns bestimmte, bedingte, besondere Normen besonderen Handelns. So steht alle Soziologie, Staats- und Gesellschaftsphilosophie, soweit sie die Gesetze und Bestimmungsgründe des Handelns der zur Gemeinschaft Verbundenen wertet, im Bannkreise der Ethik. Die Aufklärung des Verhältnisses von Staat, Gesellschaft, Recht zu den Postulaten der Moral, bleibt eine ewige Aufgabe aller Sozialphilosophie. Oftmals allerdings bescheidet sich die Sozialphilosophie zu ihrem Nachteile damit, die auf einem historischen Zustand geltenden Gesetze und Lebensbedingungen der Allgemeinheit aufzuzählen und zu beschreiben, ohne sie in Beziehung zu setzen zu den Prinzipien der Moral. Dann bleibt die Sozialphilosophie, teils als Nationalökonomie, teils als Wirtschaftsgeschichte auf einer bestimmten Stufe ihrer Problemstellungen stehen, von der aus allerdings auch weite und unerschöpfliche Blicke in das Getriebe menschlichen Zusammenlebens zu tun sind. – Die Gesellschaft als solche ist ein mächtiges Gebiet äußerer Bestimmungsgründe des Wollens und Handelns insofern, als sie zwangsweise zum Teil auch ungeschriebene Lebensnormen für die in einer bestimmten Gemeinschaft lebenden Menschen setzt, deren Übertretung die Aufhebung der Gemeinschaft oder des die Gesetze der Gemeinschaft verletzenden Wesens zur unablässigen Folge hat. Die Gesellschaft, oder besser gesagt, die Idee der Gemeinschaft und des auf moralischen Bestimmungsgründen erwachsenen Staates, bietet aber auch die mannigfachsten inneren Bestimmungsgründe möglicher Willensziele und -interessen des auf Einheit gerichteten Willens. Die Idee der Gesellschaft tritt als rein individueller und subjektiver Bestimmungsgrund des Handelns auf: sie wird der Grund, Gesellschaftsgebote zu erfüllen, um persönliche Zwecke aus der Gesellschaft zu erlangen; sie verallgemeinert sich in dem Maße, wie die Einsicht in die unentfliehbare Notwendigkeit der Vergesellschaftlichung als eine im Wesen der Menschen angelegte, zunimmt; der Wille, diese Notwendigkeit mit dem Postulate moralischen Handelns in Einklang zu bringen, ist die Tendenz, die die Gesellschaft selbst zur moralischen Gemeinschaft macht. – Das Gebanntsein unter die Formen der Gesellschaft und des Staates wird aber auch als eine den subjektiven Bestrebungen hinderliche Lebenstatsache empfunden, durch welche der Wille, zur Moralität zu gelangen, von seinen Zielen abgezogen wird. Die Gesellschaft und den Staat als eine äußere Gemeinschaft mit legalen Formen auch zu einer inneren Gemeinschaft nach moralischen Gesetzen zu gestalten, sind Bestimmungsgründe des Willens, die die Tatsache der Gesellschaft und das Postulat der Moral vereinigen. Sie heißen innere Bestimmungsgründe des Willens, weil sie vom Willen selbst gesetzt werden und ihm nicht zur Erfüllung eines besonderen Zweckes aufgedrungen werden, ein Zwang der mit allen Rechtssätzen und gesellschaftlichen Verpflichtungen notwendigerweise verbunden ist. –

In ganz bestimmter Beziehung gehört zur angewandten Moralphilosophie auch die Geschichtsphilosophie. Sie setzt bei der Tatsache ein, daß die Ereignisse in einer zeitlichen Reihe verlaufen erlebt werden. Die bestimmte Beziehung, nach welcher Geschichtsphilosophie angewandte Moral ist, ist die, daß die Geschichte für eine Handlung, eine Tat oder eine Reihe von Taten der Gesamtmenschheit genommen wird. Diese Handlungen der Menschheit werden gedacht unter der Idee eines allgemeinen, unabhängig von der Zeit sich betätigenden lebendigen Willens. Von der Idee eines sich in der Zeit durch Handlungen entfaltenden Gesamtwillens der Menschheit aus, über deren Taten im einzelnen die Geschichtsschreibung berichtet, werden diese entweder als Formen und Formationen des Allgemeinwillens der unter besonderen Bedingungen, unter gewissen Lebensverhältnissen erscheinenden Menschheit oder als Stufen eines allmählich zum allgemeinen Bestimmungsgrunde sich entwickelnden Gesamtwillens gedacht. – In letzterem Sinne hat beispielsweise Kant die Menschheit in eine geschichtsphilosophische Reihe eingestellt. Die Prinzipien seiner Moral mußten für diese Gesamtmenschheit als Ziel ihrer Entwicklung die geforderte Allgemeinheit des Willens in jedem einzelnen Individuum als Bestimmungsgrund seiner Handlungen annehmen. Von diesem Standpunkte geschichtsphilosophischer Deutung aus gesehen, wird das zurzeit geltende Recht zu einem Kanon vorläufig geltender Normen für handelnde und wollende Menschen, die noch nicht auf der höchsten Stufe der Entfaltung stehen. Bürgerliche Gesetzgebung und moralische Ordnung fallen am Endpunkte der Entwicklung in eins zusammen, in dem die moralische Bestimmtheit des Willens zugleich das alleinige Gesetz wird, das vernünftige Menschen in ihrem Handeln bestimmt. Von diesem Standpunkte geschichtsphilosophischer Deutung des historischen Geschehens, als der sichtbaren Handlung eines vorhandenen Gesamtwillens der Menschheit aus, bekommt jede Zeit und jedes Ereignis seine besondere Stellung in der Entwicklung zur Moralität hin. In jeder Zeit und an jedem Ereignis, an dem der Allgemeinwille einer besonderen Gemeinschaft zu erkennen ist, wird die Tendenz zur Moralität in besonderer Form auftretend beobachtet; jede Normierung der Handlungen in Gesetzen des Staates oder der Gesellschaft sind vorläufige Formungen des absoluten Geistes durch einen auf einer besonderen Stufe der Entwicklung angekommenen Gemeinschaftswillen, einer bestimmten Menschheitsgruppe, der sich erst zum allgemeinsten Willen, zum moralischen Willen entfalten wird. Dieser Standpunkt der Geschichtsphilosophie ist ein besonderer, von dem aus es berechtigt erscheint, die Geschichtsphilosophie in den Bereich der angewandten Moralphilosophie hineinzubeziehen. Den Geschichtsphilosophen interessiert auf diesem Standpunkte die ganze unübersehbare Fülle besonderer, im historischen Geschehen auftretender Bestimmungsgründe und jedes historische Ereignis nur in Hinsicht auf die postulierten letzten allgemeinen moralischen Bestimmungsgründe. – Die Geschichtsphilosophie hat diesen Standpunkt der Wertung und Betrachtung historischer Ereignisse, vor allen Dingen belehrt durch das immer reichere historische Material, auf das sich ihre Spekulation bezieht, mannigfach verlassen und auf völlig anderen Wegen den Aufstieg von der unübersehbaren Mannigfaltigkeit des überlieferten zum Grunde der Einheit des Geschehens versucht. In der geschichtsphilosophischen Spekulation der Gegenwart liegen fruchtbare Ausgangspunkte zu systematischen Gründen einer Gesamtbehandlung philosophischer Fragen, von denen die Zeiten unhistorischer Spekulationen keine Idee zeitigen konnten. –

An diesen Beispielen dürfte der Begriff und das Wesen der angewandten Moralphilosophie deutlich geworden sein: Die Resultate der formalen und metaphysischen Moralphilosophie spezifizieren sich in der angewandten Morallehre. Sie erscheinen unter bestimmten Bedingungen; sie unter diesen wiederzuerkennen ist ihr Sinn und ihre Aufgabe.


 << zurück weiter >>