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Die Nixe des Wildsees

Rudi hieß der blonde Hirtenknabe mit den feinen, nachdenklichen Zügen und den blauen, träumerischen Augen, der am Rande des Wildsees seines Vaters Herde hütete.

Wohl jeder, der die Gauen des badischen Landes kennt, weiß, daß dieser See die südliche Seite des Kniebis belebt. Wie die helle Stahlplatte auf der ernsten Rüstung des Ritters, so schimmert er inmitten der mit Heidekraut und Moos bedeckten Hochebene und trägt seine Wellen der klaren, lebensfrohen Murg entgegen, welche, dankbar für den geleisteten Dienst, mit um so frischerem Mute das reizende, wechselvolle Bild ihrer Ufer in ihrem Laufe widerspiegelt. Der Wildsee darf nicht, wie es zuweilen geschieht, mit dem Mummelsee verwechselt werden. Weniger hoch gelegen und von geringerem Umfange als dieser, bietet er durch den Charakter der ihn umgebenden Landschaft ein durchaus verschiedenes Naturgemälde. Seine Gestade rufen nicht den Eindruck des Schauerlichen hervor, sondern den einer schwermütigen Ruhe; und wenn man ihm den Namen des wilden Sees beilegte, so wollte man damit wohl seine einsame, gleichsam verlassene Lage bezeichnen.

Rudi war in diesen Gegenden aufgewachsen und sein ganzes Wesen hatte von ihnen ein eigentümliches Gepräge empfangen. Während die anderen Hirtenkinder gleichgültig und mechanisch vollbrachten, was ihre Eltern sie hießen, und nach getaner Arbeit sich zum Spiel, das oft in Rauferei ausartete, zusammenscharten, hielt er sich still und abgeschlossen und bedurfte nie der Mahnung, um seiner Pflicht zu genügen. Er führte seine Herde am liebsten an das Ufer des Sees und seine Feierstunden brachte er immer daselbst zu. Er war vertraut mit den Sternen des Himmels, die er im Auf- und Niedergang beobachtet; er lauschte dem Gezwitscher der Vögel, bis er meinte, ihre Sprache zu verstehen; und er wußte genau, wann die blaßroten Blüten der Heide sich erschließen und wann sie sterben mußten. Des Knaben sonderbare Art gab zu allerlei oft abergläubischen Vermutungen unter dem Landvolke Anlaß. Einige behaupteten, er sei ein Kind vornehmer Abkunft, welches ehrgeizigen Gelüsten im Wege gestanden und welches man dem armen Hirtenpaare, das er Vater und Mutter nannte, zur verborgenen Erziehung übergeben; andere, daß das rechte Kind desselben gleich nach der Geburt von einer Fee gegen ein Geschöpf übernatürlicher Art vertauscht worden sei. Gewiß war indes nur, daß, wenn hier eine Fee tätig gewesen, sie ihm die Gabe seltener Schönheit und poetischen Gefühls verliehen; auch sah der gute Mönch, der zuweilen in den Hütten der Gegend vorsprach, in dem Knaben nur ein Wesen feinerer Organisation, das er liebgewann und dessen Geist er zu bilden sich bemühte. Als Rudi heranwuchs, pflegte er liebliche Weisen zu erfinden und sie mit seiner weichen, schwermütigen Stimme in der Einsamkeit des Uferrandes zu singen, während die Wellen die Begleitung dazu plätscherten und der Windhauch leiser durch die vereinzelten Tannen strich, die Harmonie des Liedes nicht zu stören.

Die schöne Nixe, die im Wildsee ihre Wohnung hatte, vernahm den Gesang und es gelüstete sie, den Sänger zu sehen. Sie rauschte deshalb zur Wasserfläche empor, tauchte jedoch nicht völlig auf, da sie erst unbemerkt beurteilen wollte, ob es der Mühe wert sei, ihre Schönheit sterblichen Augen zu enthüllen. Sobald sie Rudi erblickte, war es bei ihr beschlossen, daß sie ihn sich zu eigen machen wolle. Sie sah auch sogleich, daß sie es hier mit keiner alltäglichen Eroberung zu tun hatte und daß sie außerordentliche Künste zur Anwendung bringen müsse. Sie war kalten Herzens und eitlen Sinnes; manches Opfer hatte sie schon umgarnt und dadurch die Umgebung des Sees menschenöde gemacht, da selten jemand sich ohne Not in ihre gefährliche Nähe wagte. Die, welche sie mit ihren Liebesnetzen umstrickt, wurden entweder nie mehr gesehen, oder erst nach Jahren fanden sie sich wieder bei ihren Angehörigen ein, aber gebrochenen Herzens und umdüsterten Sinnes, des Grabes schnelle Beute. Als Rudi, die Gefahr nicht kennend oder sie geringschätzend, sich der Nixe durch seinen Gesang bemerklich machte, war der letzteren schon mancher Monat in träger Langeweile dahingeschlichen; um so eifriger erfaßte sie jetzt die Gelegenheit, sich neuen Zeitvertreib zu verschaffen.

Rudi's inneres Leben, bisher so ungestört in seinem Frieden, erlitt jetzt eine gänzliche Umwandlung. Allnächtlich führte ihm der Traum ein reizendes Frauenbild vor, das, in lichte, rosige Schleier gehüllt, mit einer Perlenkrone auf dem Haupte und von einem schneeweißen Reh gefolgt, mit freundlichem Gruß an ihm vorüberschwebte. Tagüber fühlte er sich ruhelos umhergetrieben und wünschte die Nacht herbei, das holde Wesen wiederzusehen, nach welchem sein Herz sich mit immer brennenderem Schmerze sehnte. Wenn er mit trübem Blick in den See hinabsah und sein Lied immer klagender und verlangender ertönte, glaubte er den Silberlaut einer weiblichen Stimme zu vernehmen, die aus den Wellen ihm zuflüsterte: »Komm! komm! – ich liebe dich!« – War es ein Spiel seiner Phantasie oder hatte die unsichtbare Geliebte Mitleid mit seiner Trauer? –

Die Vögel in den Zweigen zwitscherten von Liebe; die Gräser der Heide neigten sich traulich einander zu; das Schmetterlingspaar koste in den Lüften; Wolke und Sonnenstrahl begegneten sich in verschmelzendem Kusse, – immer vereinsamter und unglücklicher fühlte sich Rudi. Vergebens zeigten sich die Hirtenmädchen in ihrem schmucksten Sonntagsputz mit ihren heitersten Mienen, – der Knabe hatte kein Auge für sie. Vergebens baten Vater und Mutter, daß er ihnen den Kummer, der ihn sichtlich verzehrte, anvertrauen möge, – der Knabe blieb stumm.

Da dachte die Nixe, daß es Zeit sei, den Armen zu trösten; und als er einst später wie gewöhnlich am See verweilte, fuhr es wie unirdischer Lichtschein über die Gegend und sanftrieselnd trugen die Wellen ihre holde Bewohnerin ans Ufer und an des jungen Hirten Seite; und dieselbe Stimme, die ihm aus dem Wasser die Worte: »Ich liebe dich!« verlockend zugerufen, flüsterte schmeichelnd und berauschend in sein Ohr. Fast besinnungslos vor Entzücken warf sich Rudi vor der verkörperten Erscheinung seines Traumbildes nieder und blickte anbetend zu ihr auf; sie aber zog ihn zu sich heran und sprach:

»Wie lange mußte ich dieses Augenblicks harren, – wie lange einsam trauern in der kühlen Tiefe meines Reichs! Du bliebst achtlos auf die Mahnung, die ich dir sandte und hörtest nicht auf meine Stimme, und doch dachte ich nur immer dein, du erste Liebe meines Herzens!«

»Du tust mir unrecht,« entgegnete traurig Rudi, »mit meiner ganzen Seele war ich stets nur bei dir, aber nirgends noch konnte ich dich erblicken.«

»Ja,« erwiderte die Nixe lächelnd, »so seid ihr Bewohner der Oberwelt; ihr schmachtet wohl nach überirdischer Seligkeit, allein ihr wollt sie leicht und mühelos erhaschen. Du hättest erraten sollen, wo ich zu finden war.«

Dabei deutete sie mit der weißen Hand abwärts in den See. Rudi überlief es kalt. Ihm ahnte, an welches Wesen er sich unrettbar verloren und daß seiner Seele Verderben drohe. Er gedachte seiner Eltern und der Lehren des Mönchs; sein guter Engel mahnte ihn zu fliehen, weil es noch Zeit sei. Die Nixe aber sah den Kampf seines Innern und während sie ihn in ihren glühenden Blick einhüllte und seiner Leidenschaft neue Nahrung gab, sprach sie schmeichelnd:

»Glaube nicht, daß ich von dir verlange, du sollst mit mir gehen. Ich liebe dich genug, um deinem Willen zu gehorchen. Von nun an wirst du mich allabendlich beim Glühen des Sonnenuntergangs auf dieser Stelle finden.«

»Und wie soll ich dich nennen, meine bezaubernde Geliebte?« fragte Rudi, augenblicklich alles vergessend, nur nicht das Glück, das ihm die Fee verhieß.

»Zu Hause heiße ich Seeröslein,« girrte sie, »aber hüte dich, meinen Namen hier oben auszusprechen. Wenn du es tust, bekommen die Wassergeister Gewalt über dich und du mußt mir dann in die Tiefe folgen.«

Rudi gelobte, die Warnung zu beherzigen; die Nixe aber frohlockte heimlich, da sie wußte, wie leicht er hingerissen werden könne, dieselbe zu mißachten.

Von nun an brachte jeder Abend dem jungen Hirten Stunden voll unaussprechlicher Wonne. Immer fester umschlang ihn die Wasserfee mit ihrem Zauber und jeder ihrer Küsse mehrte sein Verlangen nach neuem Glück, nach endloser Dauer der verborgenen Liebesseligkeit. Er empfand es daher wie die furchtbarste Pein, als die Nixe einmal an drei aufeinander folgenden Abenden nicht am Ufer erschien. Verzweifelnd irrte er umher, raufte sich das Haar und warf sich jammernd auf die Erde nieder. Der sanfte Hirtenknabe war in einen tobenden Wahnwitzigen verwandelt. Nachdem der dritte Abend auf diese Weise vergangen, übermannte ihn die Unerträglichkeit des Schmerzes und er rief mit herzzerreißender Klage:

»Seeröslein, Seeröslein – warum hast du mich verlassen?«

Dann wandte er sich ermattet und hoffnungslos zur Heimkehr.

Da vernahm er plötzlich wunderbare Klänge und in der Richtung, von welcher sie kamen, hinblickend, gewahrte er die Ersehnte, wie sie am Uferrande sitzend, vom letzten Abendglühen umstrahlt, mit der einen Hand durch die goldenen Saiten einer Harfe fuhr und mit der anderen ein weißes Reh liebkoste. Lächelnd und lockend blickte sie halb zu ihm auf; er aber, von der düstersten Trostlosigkeit zu seligem Entzücken emporgerissen, breitete die Arme aus, sie zu umfangen. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, es war die des Mönchs, der suchend nach ihm ausgegangen; – Rudi stieß die Hand zurück; Warnungsworte schlugen an sein Ohr, – er achtete ihrer nicht. Er sah nicht die Schlange, die sich zu den Füßen des arglistigen Weibes wand, er sah nur den unbeschreiblichen Liebreiz desselben und jubelnd lag er in der nächsten Sekunde an ihrem Herzen.

Da hob sich eine dunkle Woge aus dem Schoße des Wildsees, sie stieg höher und höher, sie wälzte sich gegen das Ufer mit rasender Schnelle; – und als die schäumende Brandung sich von demselben zurückzog, waren Rudi und die Nixe verschwunden und schrill erklang aus der Tiefe das Hohngelächter der Wassergeister.


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