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Die Sache macht sich

Der englische Dampfer »Wairuna« hatte, die Samoa-Inseln ansteuernd, die Ostspitze von Upolu gepeilt und quälte sich in wenigen Seemeilen Abstand vom Land der Nordküste entlang auf den Hafen von Apia zu. Eine Regenbö nach der andern peitschte über ihn hin und nahm die Sicht. Steif kam der Wind aus Nordwest, als wolle er das Schiff vom Land abdrücken. Von einem Land, das kaum zu sehen war. Tiefhängende Wolken dünsteten um die Küste, Blitze zuckten hier und dort aus dem dunklen Wettermantel der Berge. Eines der zumal ausgangs der Regenzeit häufigen Unwetter ging über Upolu nieder und warf sein Ungestüm bis weit auf die See. »Wairuna« ächzte und stampfte und hielt mühsam gegen die quer kommenden Seen den Kurs. Erst als sie den Bug auf den Eingang von Apia zu drehte, kam die Sonne durch, vor der das Wetter längs der Inselberge abzog. Schon trat fern im Westen der regelmäßige Kraterkegel des Tofua deutlich hervor. Der Rücken mit dem Lanutoo folgte. Mehr und mehr bot sich die ganze Kette der Inselberge unverschleiert dem Auge. Gegen die dampfenden Urwälder hob sich der spitze Apiaberg im Vordergrund. Längs der Küste säumten die weißen Häuser des Hafenplatzes im Halbkreis den Strand. Um Kap Matautu herum bog der Dampfer in die Durchfahrt zwischen Ost- und Westriff.

Seitdem der Regen nicht mehr in Strömen kam, hatten die zwei jugendlichen Beobachter unter der Kommandobrücke der »Wairuna« die in der Schwüle der Tropenluft unerträglichen wasserdichten Mäntel abgeworfen und tauschten mit suchenden Augen ihre Eindrücke aus, während der Dampfer in ganz langsamer Fahrt zwischen den Rissen hindurchging.

»Dort weht die Flagge.« Der Schlankere der beiden wies nach Westen, wo vor dem Hintergrund spärlicher Palmen das Schwarz-Weiß-Rot weit im Winde auswehte.

»Muß die Station sein mit dem Haus des Gouverneurs dahinter, und der lange Strand die Halbinsel Mulinu'u,« ergänzte der Gedrungenere, Stämmige an seiner Seite. »Glaube ich auch, Horst! Und die deutschen Farben als erster Gruß! Das tut gut nach all den Sternenbannern, die wir hinter uns haben.«

»Na, und ob, Friedel! Das ist aber auch vorerst der einzige Lichtblick. Denn wo wir da eben nu mittenmang gehen, das ist doch sozusagen höchst bescheiden. Das nennt sich Hafen? Da scheint mir unser Wattenmeer daheim doch bedeutend herrschaftlicher. Aber hier? Rechts sind Steine, links sind Steine – Spur von Hafen siehste keine! Ein trostloses Gemüse ist das!«

Friedel Körner mußte seinem Vetter recht geben, der mit wegwerfender Handbewegung auf die Trümmerfelder zu beiden Seiten zeigte, zwischen denen sich eine schmale Fahrrinne strandwärts verlor. Es lief Hohlebbe, und die Schuttflächen der Korallenriffe lagen grau und trocken da. Ein wirklich nicht sehr verlockender Anblick, über den ihn freilich seine Einbildungskraft, die schon in den dampfenden Urwäldern streifte, hinweghob, während der Reederssohn die Insel gerade nach ihren Hafenverhältnissen maß.

Des Niedrigwassers wegen mußte »Wairuna« nun auch noch besonders weit draußen liegen bleiben und dennoch mit dem Ausbooten beginnen, da ihr Aufenthalt nur nach Stunden bemessen war. Friedel verfolgte die Anstalten zum Ausbooten, als ihm Horst plötzlich unauffällige Zeichen gab. Er ging zu ihm hinüber nach der Backbordreling, sah von Matautu herüber mehrere Eingeborenenboote kommen; aber noch ehe er Muße hatte, die Boote und ihre braunen Insassen näher in Augenschein zu nehmen, fesselte ihn dieselbe Beobachtung, die Horst zum Winken veranlaßt hatte. Ein schon nahe der Schiffswand gelangtes Boot ließ sich langsam mit dem Ebbestrom an den Bordplatten entlang gleiten. Den vorsichtig lugenden Blicken der zwei braunen Eingeborenen war deutlich anzumerken, daß die Herrschaften etwas Besonderes vorhatten. Horst entdeckte sehr bald einen Chinesen im Boot, der sich hinter dem ziemlich unbegründet angebrachten Segel zu verbergen bemüht war. Auch Friedel hatte ihn schon wahrgenommen mit seiner quer über die Stirn laufenden roten Narbe. Unbemerkt vom Boot waren die beiden ihm an Deck entlang bis zum Heck gefolgt und wurden gewahr, wie es hier plötzlich mit einem Bootshaken festgehalten und ganz dicht unter das Heck an die Bordwand herangezogen wurde. Über ihm aber öffnet sich eins der Bullaugen, einige Worte wurden aus dem Schiff heraus vorsichtig zum Boot gerufen. Der Chinese stand dort bereit, fing ein ihm durch das Bullauge gereichtes Paket auf und verbarg es schnell. Ein zweites länglicheres folgte. Und noch eins. Dabei lag das Boot so hart unter dem Heck der »Wairuna« nach See zu, daß niemand den Vorgang Verfolgen konnte, der sich nicht wie die beiden Vettern, zufällig aufmerksam geworden, über die Reling vorbeugte. Friedel machte sich gleich einen Reim auf die Geschichte; Schmuggel ging da zweifellos vor sich. Aber womit? »Gewehrläufe am Ende!« flüsterte er. »Vielleicht, Vielleicht auch nicht«, gab Horst zurück und bemühte sich in aller Umsicht, das Gesicht dessen zu sehen, der die blitzschnell verstauten Pakete herausreichte. Und erkannte Koo, den einen der chinesischen Heizer. Rasch entschlossen lief er zur Brücke und teilte seine Beobachtung mit. Doch der sonst freundliche Kapitän der »Wairuna« schien schlechter Laune. »Ach was, da hätte ich viel zu tun, jetzt hinter meinen Heizern herzulaufen. Gibt mir niemand einen andern, wenn wirklich Koo etwas ausgefressen hat. Glaube deshalb, junger Mann, Sie haben Gespenster gesehen – gucken als vollendetes Greenhorn zum erstenmal in die Welt – wette, Sie können kaum einen Chinesen von einem Polynesier unterscheiden – und wollen gleich hier den Detektiv spielen?! – Lassen Sie sich mal lieber ausbooten; Gepäck wird schon drunten sein. Good bye! Wird nichts so heiß gegessen, wie's gekocht wird.«

Inzwischen hatte das rätselhafte Schmugglerboot schon abgelegt und ruderte längs der Kante des Ostriffs auf Matautu zu. Auch Friedel kam das Verhalten des Kapitäns fast ebenso verdächtig vor wie das des Bootes. »Jeder deutsche Kapitän hätte sofort zugegriffen!« – »Dann hatte unserer ein Interesse daran, es nicht zu tun …«

So ward der Abschied von der »Wairuna« wenig erhebend. Aber das Erlebnis schwand bald aus dem Bewußtsein, als sie nun dem Neuen und Unbekannten entgegenfuhren, am rostenden Wrack des vor fünfzehn Jahren hier vom Sturm und Strom auf die Riffe geworfenen Kriegsschiffs »Adler« vorbei, zum Landungssteg von Apia. Neugierige umlagerten ihn wie immer, wenn ein Schiff einlief. Aber kaum hatten sie den Fuß an Land gesetzt, als ein kleiner quecksilbriger Herr auf sie losschoß, sich als ein Herr Baumann Vorstellte und sie im Auftrag Herrn Krügers von Mulifanua herzlich willkommen hieß. Baumann war Angestellter der Deutschen Südsee-Handels- und Plantagengesellschaft in Apia und brachte sie auch zunächst in der »Firma« unter, wie die Gesellschaft mit ihrem langen Namen dort unten in abgekürztem Verfahren genannt wird, mit einem Anklang von Erinnerung an ihre Vorgängerin, die alte Firma Goodefroy, einst die beherrschende der ganzen Südsee.

Es wurde Spätnachmittag, bis die beiden Vettern die »Firma« wieder verließen, um mal ein bißchen die Nase ins Neue ringsum hineinzustecken. Herr Baumann ließ es sich nicht nehmen, seine Schutzbefohlenen zu begleiten und führte sie auf der einzigen eigentlichen Straße Apias an der Post vorbei hinaus nach der schmalen Landzunge Mulinuu. Dabei offenbarte Herr Baumann die große Kunst, nur da zu reden, wo es nötig war, und im übrigen zu schweigen.

Die Dämmerung ging so plötzlich wie sie eingefallen in Nacht über. Aber der Mond machte dem Dunkel die Herrschaft streitig. Nachdem sie die Eingeborenenhäuser des Stadtteils Sogi hinter sich gelassen, bekamen sie freien Blick auf den Hafen hinaus und blieben überrascht stehen, liefen den schmalen Strand hinab und staunten: Wo sich des Mittags Schuttflächen gedehnt, glänzte der glatte Spiegel der Lagune, wo sich die Riffkante hoch aus dem Wasser gehoben, brandete jetzt die See, gischteten weiße Brecher im Mondschein. Sie schritten weiter am Haus des letzten samoanischen Großhäuplings Mata'afa vorbei über den schmalsten Teil der Halbinsel bis zur Flaggenstation, die sie vom Schiff aus mittags schon ausgemacht. Es hatte wieder stärker aufgebrist und zugleich drängte die steigende Flut mächtige Seen zwischen die Riffe des Hafens. Rings im Kranz donnerte die Brandung, stiebte der Gischt, rollte die Flut tönend durch die Nacht. Leer lag der Hafen schon wieder. Nur ganz vereinzelte Lichter glänzten in weitem, rechts geschwungenem Bogen den Strand entlang.

Stumm standen die Vettern neben Herrn Baumann. Die Gedanken schwangen verschwiegen über die brandende See in Weite und Ferne, suchten das Vaterhaus an der Elbe, suchten den Vater im fernen Inselarchipel auf seinem Forschungsschiff, umgriffen wie im Fluge alles Erleben der heute geendeten Fahrt, die über das hastende, laute, von »Geschäft« hallende Nordamerika bis hierher in den stillen Südseehafen geführt. »Nun ist der Boden, auf dem wir stehen, doch ein Stück Vaterland, denn er ist deutsch.« Die Worte Friedels bewiesen, daß seine Gedanken dieselben Wege gegangen. Sie sprachen von dieser fernsten deutschen Kolonie und der Heimat. Auch Herr Baumann fand Worte für diese Werte. Dann schritten sie zur Stadt zurück, noch lang umtönt vom Rauschen der Brandung am Riffgestade. Zwischen den Kronen der Palmen auf der Landzunge flatterten mit plumpem Fluge große Fledermäuse, die »fliegenden Hunde« der Samoaner. Leuchtkäfer und Zikaden schrieben ihre schimmernden Spuren zwischen Mondschein und windzitternde Palmenwedel. Silberumflossen ragte der Kegel des Apiaberges ins Dunkel. Dahinter blieb nichts denn Urwald und Ahnung.

Der eigene Zauber warmer Südseenacht ließ die Arm in Arm dahinschlendernden Freunde immer wieder verstummen. Was mochten die Tage und Wochen bringen, deren Anfang solch Südseemärchen Verheißend begann mit Palmenrauschen, Brandungsdonnern und stillem Mondessilberglanz?

Wüstes Gegröhle zerschnitt das Schweigen, als sie kaum wieder die ersten Europahäuser erreicht. Mit liederlichen, aufgetakelten Halbblutmädchen Arm in Arm sperrte ein Betrunkener die Straße. Angewidert machte Horst eine hörbare Bemerkung. Da hatte er schon den Salat: Schimpfen, Höhnen. Aber er sagte seine Meinung. »Wat da?« begehrte der Trunkene auf, »ich werde doch hier machen können, was – ich will! Und – jupp! – überhaupt – so ein Kükükü – kücken da – Mamakindchen – he, willste noch nich ins Bett gehn, Kleiner?«

»Nee – Sie?« fragte Horst so komisch betont zurück, daß der Ludrian ihn im Augenblick ganz verdutzt anglotzte. Dann aber brüllte er auf und setzte zu einer Flut unflätigen Schimpfens an.

Da unterbrach ihn die scharfe Stimme eines ihnen in der Dunkelheit unbemerkt entgegengekommenen Mannes:

»Machen Sie, daß Sie weiterkommen, Larsen! Sie sind wieder betrunken. Schämen Sie sich! Keinen Ton mehr. Sie haben lautlos zu Verschwinden. Und zwar auf der Stelle! Oder soll ich Sie mal ›lithographieren‹? Ich kann das auch!«

Der Angeredete unterdrückte ernüchtert einen Fluch und trollte sich schweigend. Der andere verschwand im Schatten eines der Europäerhäuser

»Wer war das?« fragten Friedel und Horst wie aus einem Munde. »Von Egidy, einer unsrer tüchtigsten Herren in Apia. Der Betrunkene ist ein haltloses Subjekt. Einst auch ein fähiger Kerl, sogar auf Steuermannsschule gewesen und lang auf großer Fahrt. Gert Larsen heißt er. Die Tropen haben ihn zerfetzt und zermürbt.« In Herrn Baumanns Stimme klang eine offenbare Trauer, als er fortfuhr:

»Sie haben sicher vorhin unter dem Zauber der Südsee gestanden, wohl zum erstenmal. Nun hat sie Ihnen auch gleich ihre andre Seite gezeigt: den weißen Mann, der hier versumpft und verkommt. ›Buschlümmel‹ nennen wir die Sorte hier in Apia. Und sie ist nicht selten.«

»Was meinte denn Herr von Egidy mit dem Wort ›lithographieren‹? Ich komme da einfach nicht dahinter. Und er sprach es doch so betont«, erkundigte sich Horst.

»Das ist auch kein Wunder«, lachte Herr Baumann vor sich hin. »Der Ausdruck hat bei uns eine Bedeutung für sich und eine richtige Geschichte.« – Die wollten nun natürlich beide hören, schien sie doch nicht ohne Humor zu sein, dem Spiel von Baumanns Mundwinkeln nach zu schließen. –

»Einer unsrer Pflanzer hat Larsen einmal gezüchtigt und dabei so unter Druck gesetzt, daß er's sein Lebtag nicht vergißt. Der Mann hieß Stein. Es war also ein richtiger ›Steindruck‹, unter dem sich Larsen wand, und schon damals höhnte der Spott: ›Larsen ist lithographiert‹!«

Stein, Stein? Die Jungen wechselten einen vielsagenden Blick. Nun mußten sie selbstredend erst recht auch die näheren Umstände wissen. Herr Baumann ward redselig dabei:

»Im Westen, noch hinter Mulifanua, wo Sie hin wollen, lebt ein Pflanzer namens Stein. Wird im ganzen Land, zumal aber hier bei den Herren von der Verwaltung ungemein geschätzt. Ich habe ihn nur selten gesehen, denn er liebt die hier übliche Kasinogeselligkeit nicht, war aber doch gelegentlich mal mit seinem Freund Egidy in größerem Kreis mit uns zusammen. Als ein paar jüngere Herren, darunter in erster Linie Gert Larsen, der damals noch kasinofähig war, anfingen, unanständige Witze zu reißen, verbat sich Stein das in seiner Gegenwart. Worauf Larsen sich aufbegehrend für Schuljungenbehandlung bedankte und Stein schließlich wegen seiner Abstinenz als Schwächling verhöhnte. Als wir schon glaubten, es ginge tragisch aus und Nichtbeteiligte erregt von »Forderung« sprachen, antwortete Stein mit überlegener Ruhe nur: »Bringen Sie sich doch nicht durch Ihr unbeherrschtes Benehmen selbst in Schuljungenruf!« und kehrte ihm den Rücken. Da warf ihm Larsen wütend nach: »Sie geschaßter Offizier!«

Mit lohendem Blick fährt Stein herum: »Sie nehmen das Wort sofort zurück!« – »Wüßte nicht, warum!« trotzt Larsen ihm frech ins Gesicht. »Weil es eine Lüge ist!« Gert Larsen lacht lauthals und will sich drücken. Stein stellt ihn an der Tür, nachdem er die ihn umdrängenden Herren ernst abgewehrt hat: »Fordern? Was hätte das Schießen mit meiner Ehre zu tun? Einen Verleumder fordert man nicht, den züchtigt man!«

Mit zwei schnellen Griffen packt er des Verleumders abwehrend sich vorstreckende Arme, zwingt ihn in die Mitte des Raumes zurück und drückt den plötzlich nüchternen Kerl einfach in die Kniee. »Wird's bald?« Ganz beherrscht kommt die Frage. Noch schweigt Gert Larsen. Aber plötzlich läuft jäher Schmerz durch sein Gesicht. Seine Kiefer knirschen. Tiefe Glut überflammt seine Züge. Ein stummes Ringen. Unüberwindlich nimmt der Druck Steins zu. Bis Gert Larsen, an den Boden gekrümmt und am Ende seiner Kraft, hervorstößt: »Ich revoziere.«

Da läßt Steins Druck so plötzlich nach, daß er vollends zu Boden schlägt, während der Pflanzer stumm durch unsere Reihen schritt. Ohne sich noch einmal umzusehen. Ein Mann, ja.

»Aber solche Leute wie Gert Larsen sind eine Schande für uns … Seien Sie froh,« setzte Herr Baumann gleich darauf noch hinzu, »daß Sie landeinwärts dürfen und nicht hier zu bleiben brauchen in der Hafenstadt. In Häfen sammelt sich viel Hefe. Darum haben Hafenstädte ihren eigenen Geruch; er fehlt Apia keineswegs!«

Die drei waren wieder vor der »Firma« angelangt und trennten sich.

»Ob es wirklich die Tropen sind, die die Menschen so zerrütten?« überlegte Friedel schließlich, als sich die beiden Vettern hinter mit Moskitogaze verblendeten Fenstern auf ihre Betten streckten, unter dem Eindruck des bezeichnenden Erlebens mit dem Buschlümmel vorher, »oder ob nicht doch eben der Haltlose in den Tropen nur anfälliger ist als der Starke! Sonst müßten doch alle so sein wie der eine.« »Wir werden ja sehen!« war Horsts Antwort, »Hartmuts Vater scheint schon das Gegenbeispiel zu sein. Heidensalat, der ›Steindruck‹ hat mir imponiert. Zu dem Mann müssen wir hin. Morgen früh jedenfalls reiten wir nach Mulifanua, hier möcht« ich nicht länger bleiben als nötig.«

Von Schlaf war in dieser ersten Nacht auf samoanischem Boden nicht viel die Rede. Gedanken und Worte griffen hinaus ins »Morgen« mit seiner neuen Ferne und seinen neuen Farben.

*

Herr Krüger, der Leiter der großen, von Mulifanua weit ins Hinterland reichenden Pflanzung Le utu sao voa, nahm die beiden jungen Landsleute voller Herzlichkeit auf. Sie waren müde angekommen, voll verwirrender Eindrücke aus den vielerlei Dörfern, die sie auf dem langen Weg längs der Nordküste berührt. Ein nie geschautes Leben in der Vielfarbigkeit der so ganz formneuen Landschaft und der strahlenden Behendigkeit und Anmut der schlanken Eingeborenen hatte sie so volltönend umbrandet, daß sich die tausenderlei Einzeleindrücke vorerst gegenseitig verwischten. Die Natur forderte ihr Recht, indem sie zur Kraftspeicherung zwang durch langen, gesunden, jugendtiefen Schlaf; dem seelisch feiner gegliederten Friedel doppelt willkommen, nachdem ihn ein schon einige Tage vorliegender Brief des Vaters aus Padang über sein Ergehen und nächste Reiseziele unterrichtet. Darin stand aber auch der Satz, der ihrer Insel»aufgabe« galt: »Auf einige der Aufgaben, die ich euch stellen wollte, Jungens, weist das beiliegende Blatt hin. Ich setze kein Wort hinzu. Entziffert es selbst, dann wißt ihr, was ihr beobachten sollt.« Das Entziffern aber gelang nicht auf Anhieb. Aus den Linien und Zeichen des Blattes, das ohne jeden erläuternden Namen war, hatten sie noch nicht klug werden können. Kommt Zeit, kommt Rat, trösteten sie sich mal erst in übermütiger Unbesorgtheit. Zudem hörten sie zu ihrer großen und freudigen Überraschung, daß schon jemand aus der Nachbarschaft nach ihnen gefragt und hinterlassen habe, er hoffe die kecken »Südseebummler« sehr bald in seinem Hause »Neuland« zu begrüßen.

»Das kann doch nur Hartmut Steins Vater gewesen sein«, bedrängten sie den überraschten Herrn Krüger; und suchten, nachdem sie ihm den Zusammenhang und ihre Verbindung mit Hartmut Stein erklärt hatten, von Herrn Krüger allerhand über den benachbarten Pflanzer zu erfahren. – Ob Herr Stein denn wirklich Offizier gewesen sei?

»Und was für einer!« begeisterte sich der Verwalter von Mulifanua. Man merkte an seinen Worten sehr deutlich, welche freundschaftliche Hochachtung er dem Nachbar entgegenbrachte. »Da hättet ihr mal Oberst Märker hören sollen, was für Erinnerungen an Stein der auskramte, als er – ist noch gar nicht lange her! – auf einer kolonialen Dienstreise unter uns im Kasino zu Apia saß und gerade vom Besuch bei Herrn Stein zurückkam, dessen früherer Vorgesetzter er gewesen war. Sie haben zusammen in Ostafrika gefochten. Herr Stein damals als jüngster Leutnant. Und habe doch durch seine Tatkraft und fürsorgende Gerechtigkeit das Herz aller Askari besessen. Zumal von der Stunde an, wo er bei Bagamoyo im schwersten Feuer einige seiner schwerverwundeten Schwarzen eigenhändig aus der Gefahrenzone rettete! Jeder sah, daß Leutnant Stein keinen seiner Leute in irgendeiner Patsche stecken lasse, weder in wasserloser Steppe auf Fernpatrouille noch im Gefecht mit einem Gegner, der keine Gnade kannte mit Gefangenen und Verwundeten.

»Ich weiß noch, wie Märker sagte: ›Solche Offiziere können wir gar nicht genug haben, die wie Stein Führer und Vater der Truppe zugleich sind!‹«

»Aber warum ist er denn dann nicht Offizier geblieben?« fragte Horst gespannt, in Erinnerung an die Geschichte, die ihnen Herr Baumann Von Gert Larsens Beleidigung erzählt.

»Weil ihm die Freiheit seiner Überzeugung höher stand, als sogenannte Ehre«, antwortete Herr Krüger und fuhr, als er die mit dieser Antwort keineswegs zufriedenen Mienen der beiden Jungen sah, fort: »Er hatte in allen Dingen eine eigene Meinung und beugte sich nicht, wie vielzuviele, einfach unter das, was die Leute sagen! Kein Wunder, daß man sich in der kleinen Garnison daheim, in die er nach dem Kolonialfeldzug zurückkehrte, um seiner Selbständigkeit willen oft an ihm rieb. Ja sogar gerade mit ihm Händel suchte, weil man wußte, er stehe drüber. Kurzum, in jener Garnison – wo's war, weiß ich nicht mehr; Herr Stein hat's mir selbst nur ein einziges Mal und nur auf mein Befragen erzählt – hat sich sogar einer einmal erfrecht, seine junge Frau tätlich zu beleidigen, mit dem Erfolg, daß Herr Stein ihn vor Zeugen züchtigte wie einen Hund. Als der saubere Herr ihm dann mit Pistolenforderung kam, hat er sie glatt abgelehnt, da er jeden Zweikampf für unsittlich hält und der Meinung ist, ein Beleidiger verdiene nur körperliche Züchtigung. Damit verstieß er gegen die üblichen Ansichten in den Kreisen seiner Kameraden und stand vor der Wahl: entweder gegen seine Überzeugung zu handeln oder den Dienst als Offizier aufzugeben. Er blieb sich selber aber treu und verließ den Offiziersstand, trotzdem er mit Leib und Seele an ihm hing. So ist er halt noch. Unbeugsam, wo ihm etwas gegen das Gewissen geht.«

Friedel staunte, daß so etwas vorkäme. Horst, der schon besser im Bilde war, hatte nur ein kurzes, verächtliches Lachen herausgestoßen und meinte nun: »Und womöglich war das noch manchem grade lieb, daß er ging. Denn solche eigenwilligen Köpfe sind doch gewöhnlich vielen unbequem.«

»Das soll wohl sein!« bestätigte Herr Krüger, »und unbequem ist mein lieber Freund und Nachbar auch jetzt noch grade manchem hier draußen, bei uns und in Apia. Seine Kritik ist auch wirklich nicht immer lieblich. Unerbittlich kann er sein. Aber wir hier draußen« – seine Augen leuchteten in Dank und Stolz – »wissen, was wir an ihm haben. Er ist für uns das unbeugsame Gewissen, das wir wie alle Europäer in den Tropen in jeder Beziehung so bitter nötig haben. Gewissen! Deutsches Gewissen im tiefsten Sinn. Ja, ja, Märker hatte schon recht: Führer und Vater! – Und ihr könnt von Glück sagen, daß er euch einlädt nach Haus Neuland. Der kennt Samoa wie kaum einer von uns allen.«

Aber trotz all ihrer Spannung, den Vater Hartmuts kennen zu lernen, den Mann, von dem scheinbar jeder hier etwas zu erzählen wußte, lockte draußen im klaren Morgen das Meer dennoch stärker zunächst als Haus Neuland.

Hungrige Mägen brachten sie vom Strande mit; sie zu füllen, war eigentlich der einzige Zweck der Heimkehr, denn qua re bene gesta schweiften sie sofort wieder zum Strand, den der bei der Ebbe sinkende Spiegel der Lagune immer weiter hinaus trocken legte. Ganze Ketten samoanischer Frauen und Kinder trafen sie an, die über die trocknende Lagune schwärmten und Kleintiere sammelten, die in Lachen und Tümpeln zurückgeblieben: »figota«, zeitweilig ihre Hauptnahrung, die die Lagune bereitwillig bei jeder Gezeit neu und reichlich lieferte. Keiner der von der Flut hereingetragenen oder verlagerten Brocken Korallenkalk blieb unberührt. Jeden durchsuchten die braunen Sammler auf Weichtiere, griffen sie mit den Fingern oder spießten sie mit Stöcken und ließen sie in ihre Umhängtaschen verschwinden. Horst stellte fest, daß diese einfach aus einem Palmblattwedel bestanden, dessen Mittelrippe geschlitzt und zum Oval auseinandergebogen die obere Öffnung der Tasche bildete, während ihre Seiten aus den miteinander ziemlich engmaschig verflochtenen langen Fiederblättern des Wedels bestanden. Grinsend zeigte eines der braunen Weiber, was sie bereits alles erbeutet. Da erhob sich seitab großes Geschrei. Zwei Jungen liefen nach der nahen Dorfschaft. Männer rannten von dort herzu, kurze vielspitzige Speere tragend. Neugierig traten Horst und Friedel näher an die Gruppe, die laut gestikulierend auf einige Löcher im Boden zeigten, denen eigentlich nichts Besonderes anzumerken war. Der schwirrenden Namen verstanden die beiden keinen. Also mal sehen, was das werden will. Schon trieben die Männer immer näher an das erste Loch heran Stäbe in den Boden. Immer näher. Da ward es plötzlich dort lebendig, ein Heuschreckenkrebs von erheblicher Größe suchte, durch die nähergetriebenen Pfähle unangenehm berührt, das Weite. Aber schon war er geschickt vom nächsten Samoaner gespeert. Im nächsten Loch barg sich eine Muräne, bissiges Zeug, aber auch ein Leckerbissen. Kaum kam sie heraus, traf sie der Speer. Ein niedlicher, schlanker Bengel fand Gefallen an den zwei jungen »Fa'avesi« und trottete unentwegt mit. Dank ihrer Vorstudien für die Reise, die auch auf ein Weniges der samoanischen Sprache ausgedehnt worden waren, wurde sogar, wenn auch in lange suchenden Pausen, ein Spiel von Frage und Antwort möglich zwischen ihnen und dem braunen Knirps. Treuherzig schnell angefreundet führte er die beiden, ungeachtet der scharfkantigen Korallenblöcke, mit denen der Boden mehr und mehr bedeckt war, weiter hinaus aufs Riff zu. Sein Blick war geübt, und so lachte ihnen ein Fund nach dem andern. Große Krabben, Seewalzen, bunte Schlangensterne, merkwürdige Würmer. Immer neue Formen fanden sich vor ihren Augen. Unermüdlich war der kleine braune Kerl im Suchen und Entdecken. Spät erst kehrten sie heim. Aber: »Morgen ist auch noch ein Tag.« Morgen!

Als sie jedoch am andern Morgen – auch der Schlaf ward noch einmal ausgiebig – zwischen den Brotfruchtbäumen am Strande anlangten, lag »das Watt«, wie Horst die Lagune nannte, nach seiner norddeutschen Erfahrung, schon halb unter Wasser. Neue Flut vereitelte das Hinauspirschen zum Riff. So machten sie sich am Strande der steigenden Flut entlang auf die Wanderung nach Westen. Am Tag vorher hatte sie der braune Bursche mehr und mehr nach Osten zu geführt, wo sein Heimatdorf lag. Darum standen ihnen erst heute plötzlich eindringlich und klar in der sichtigen Luft die Inseln vor Augen, die kleineren Inseln drüben im Meere. »Westnordwest« zeigte Horsts Kompaß. Wie eine Schildkröte gebuckelt hockte die eine, grünbewaldete, ziemlich nah überm klaren Spiegel der Lagune. Steil und schroff stand die zweite weit draußen, eine jäh aufsteigende Felsenfeste. »Da hat auch Samoa sein Helgoland«, beutete Horst hinüber. »Apolima, denk' ich,« vergewisserte sich Friedel auf seiner Karte, »stimmt, und das Grüne dort nennt sich Manono, ist der Stammsitz der vornehmsten Häuptlingsgeschlechter der Inseln.« – »Da müssen wir auch bald hinüber!« Die Möglichkeiten der nächsten Wochen gaben ihnen reichlich Stoff zu kühnem Planen und Überlegen. Wenn sie bloß gewußt hätten, was des Vaters Rätselblatt wollte!

Wieder einmal nahm es Friedel heraus während des Wanderns, als sie einmal rasteten und am Strande in spärlichem Schatten saßen, nachdem sie dem sanften Bogen der Küste auf Fualalo zu ein Stück nach Süden gefolgt waren. Augenscheinlich bedeutete das Blatt, über dem sie die Köpfe zusammensteckten, einen Kartenausschnitt. Aber was mochte Norden, was Süden sein, und wo der Fleck Erde liegen, der der Karte entsprach?

Eine geschlängelte Linie zog sich mitten hindurch; in einiger Entfernung davon eine zweite, viel krauser, zackiger, zweimal auf die erste zu unterbrochen und weiter draußen eine unregelmäßige Figur umschließend, während außerhalb eine fast kreisähnliche – »Halt, Friedel! Heureka!« – »Na, und?« – »Nimm mal an, der Kreis sei Apolima, dann müßte das Unregelmäßige hier –« – » Manono sein!« – »Und die zackige Linie das Riff!« – »Und die geschweifte die Küste!« – »Mensch, aber hier, wo die zackige aussetzt, der Stern, was mag der bedeuten?« Horst stutzte und gab zu: » Hic haeret aqua – ›da liegt der Hund begraben‹!« – »Wenn die Ebbe kommt, müssen wir hin, dann werden wir's wissen«, war Friedel überzeugt.

»Gib nochmal her,« bat Horst, »ob's auch wirklich stimmt; es kam mir vorhin nur grad so angeflogen … Aber ja, das stimmt! Doch hier an Land – das Geviert! Da, siehst du's? Landeinwärts, unweit der angenommenen Küste!« – »Das ist doch einfach,« frohlockte Friedel, »das prüfen wir nach! Finden wir nichts, dann ist mir fraglich, ob Vater wirklich unsere Umgebung meerwärts von Mulifanua da aufgezeichnet hat. Finden wir aber etwas, das dem hier Eingetragenen unverkennbar entspricht, dann wird uns das Geviert zum Schlüssel des Ganzen, denn es ist der Richtungspunkt. Siehst du, wie hier das Geviert in Linien ausstrahlt? Verlängere sie mal! Die eine weist »ach Manono, die andere … auf den Rätselstern mitten überm Riff, die dritte … nach Mulifanua; das müßte hier da liegen.« – »Stimmt.« – »Und die vierte zeigt – zieh sie mal aus – zeigt auf die kleine Bucht da drüben!« – »Also auf, Friedel, nun kommt's drauf an, ob wir die Schlüsselstelle finden

Sie streiften am Strand entlang, maßen ihren Weg – zunächst unter Voraussetzung ihrer Richtigkeit – an der vermuteten Karte und bogen dann landeinwärts, versuchten vergebens weglos durch niederes Dickicht vorzudringen, kehrten wieder auf den Strandweg zurück. Etwas entmutigt, mußten sie sich gestehen. Da nahm Friedel eine Gruppe hochschäftiger Palmen wahr über dem verlassenen Gestrüpp, mehr nach der Bucht zu, und ahnte sofort: da muß es sein. Horst war der erste, der das immerhin auch hier dichte Geschling und Gerank jenseits des Weges überwand. Ein lauter Ruf: Heureka! Zum zweitenmal. Da war schon Friedel an seiner Seite.

Zwischen den Palmen ragte mit schmaler Sicht aufs Meer ein Steinmal, Quader auf Quader getürmt, machtvoll und wuchtig. Still standen beide, tief atmend. Leis flüsterten die Palmen zu Häupten. fern sang die Brandung ihr Lied. Da war es Friedel, als müsse er fernhin lauschen und höre wieder eine Zungenstimme, wie schon einmal, geheimnisvoll, verhalten: »… ragt unter Palmen ein Königsgrab … Wenn der Wind die Donner der Brandung aufs Meer zu treibt, flüstern die Palmkronen emsig und ewig, raunen vom größten und edelsten der braunen Söhne der Insel …«

»Matandua!« kam es über Friedels Lippen. Horst nickte schweigend. Wußte er doch aus Friedels Mund um das Märchen, das einst der »Samoaner« erzählt.

»Aber dann müßte doch auch Hartmuts Vaterhaus –«, setzte Friedel in plötzlicher Gedankenverbindung lebhaft an. Da sahen sie einen Reiter von Westen den Strandweg herkommen. Sie sprangen auf den Weg zurück, eilend, als müßten sie. Da sah sie der Reiter, winkte lachend und sprang vom Pferd.

Und Friedel ging ihm ohne Zögern entgegen; wußte sofort: Diese gebräunten, festen, klaren Züge konnten nur einem gehören – dem Vater von Hartmut Stein.


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