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Stumme Zeugen

Je länger die Fahrt des »Pinguin« dauerte, desto mehr bewährten sich seine Turbinen, auch nach der Hawarie während des Seebebens, vor wenigen Tagen erst vor Mangaia mit Bordmitteln hatte behoben werden können.

Wohl brachte auch die Weiterfahrt zur östlichsten aller Südseeinseln – Raga-nui oder Osterinsel – des Fesselnden genug. So kreuzte »Pinguin« sehr bald südlich Pitkairn den Kurs eines Walfischfängers, der gerade dabei war, Beute zu bergen. Die Trosse des weit über Bord defierten Krahns wickelte die immer von neuem losgestoßene Fettschicht des sich durch sein Gewicht vor der Winde drehenden Wales ab. An Deck sofort zerschnitten, wanderte der Speck in die Trankessel, unter denen mächtige Feuer flammten. Bis zum »Pinguin« hin ließ sich unter dem Wind der Gestank des heißen Tranes ausmachen. Auch ein Gegensegler kam auf, dem – wie durch Funkspruch schon längst an alle in Reichweite befindlichen Schiffe und Stationen – durch Winkspruch und Flaggensignale Warnung zukam von der durch das Seebeben gehobenen Barre. Gerade in diesen Breiten zeigten sich viele Albatrosse, auch Fregattvögel waren öfters zu beobachten, wie sie den Möwen ihre Beute abjagten und sie geschickt fingen, ehe sie ins Meer stürzte. Vielerlei … Vielerlei

Aber in diesen Tagen nach Raga-iti band die noch unentzifferte Handschrift des namenlosen Toten Friedels Interesse ganz. Auch Horst half, wenn auch nicht mit gleichem Anteil, an der Arbeit mit. – Dr. Hell und Friedel konnten nach mühsamem Buchstabieren, Zusammensetzen und zum Teil Erraten nach einigen Tagen den größten Teil der aufgefundenen Blätter lesen. Ihr Inhalt erzählte eines der verwickeltsten Südseeschicksale, voller Sturm und Not, Hoffnung und Verzweiflung, Tatkraft und Leistung, Leiden und Dulden, Wagen und Gewinnen, Wollen und Zerrinnen und letztem, tiefstem, rettungslosem Einsambleiben: das Schicksal des verschollenen Steuermanns Enno Hart, der im Jahre 1889 zuletzt Hamburg mit dem Vollschiff »Hansa« verlassen.

Diese Entzifferung gab dem Bordgespräch reichen Stoff. Zumal da Pidder Karsten sich des Schiffes selbst erinnerte.

Aber noch klaffte eine Lücke. Noch fehlte gerade jede Enthüllung über das eigentliche »Geheimnis der Südsee«, von dem die Runen auf dem Pfeifenkopf geredet, obwohl sich der Hinweis fand, daß das Geheimnis so offen liege für den Leser der Blätter, daß auch ein Blinder es enthüllen könne. Dies gebliebene ungelöste Rätsel trübte natürlich die Genugtuung über die bis dahin geleistete Arbeit, spornte aber auch zu neuen Versuchen an. Wohl war ihnen von Anfang an aufgefallen, daß fast alle Blätter wie zersiebt schienen von feinen Nadelstichen, die wohl die Feuchtigkeit oft genug wieder ausgeglichen hatte, deren Spuren unter der Lupe aber jederzeit erkennbar blieben. Eine gewisse Anordnung der tausend Punkte ließ von vornherein vermuten, daß es sich um geheime Schriftzeichen handle, gewählt, um das eigentliche Geheimnis, das dem Entdecker die Macht geben und dem Vaterland zugute kommen solle – anders konnten doch die Worte auf dem Meerschaumkopf nicht gedeutet werden – so zu verbergen, selbst beim Offenbaren, daß es nicht jeder Unberufene einfach entdeckte. Aber wie sehr Dr. Hell und Friedel, auch sein Vater zuweilen und Horst sich mühten, sie fanden keine Möglichkeit, in das Gewirr der tausend Punkte einzudringen, geschweige denn hinter das Geheimnis selbst zu kommen. Der Entdecker war tot, die Worte, in denen er seine Entdeckung verborgen und zugleich geoffenbart hatte, damit sie Zeugnis gäben von ihr, redeten nicht. Diese Zeugen blieben beharrlich stumm.

Die Osterinsel und die dort vorzunehmenden wissenschaftlichen Feststellungen unterbrachen die Arbeit des Enträtselns. Sobald die Herren der Expedition es verantworten konnten, nahmen auch sie teil an den Streifen durch die feuergeborene Basaltinsel mit ihren bis zu dreihundert Metern aus dem Meer aufsteigenden erloschenen Kratern. Der Gouverneur, außer einigen Farmern der einzige Nicht-Kanake, ein Chilene, schien sehr erfreut durch den Besuch, der ihm wurde, und tat alles, um die Tage, die »Pinguin« in der Hangaroabucht ankerte, festlich zu gestalten. Friedel und Horst hielten die Augen offen. Tollten freilich auch von ganzem Herzen mit bei den Wettreiten, zu denen die Kanaken allem Anschein nach jederzeit aufgelegt waren. Wilde Pferde gab's in Menge. Auch des Gouverneurs Töchter zeigten ihre Künste im Reiten und waren stolz, als Dr. Hell ihnen den Abzug eines Lichtbildes überreichte, das sie und ihre Eltern samt den Herren der Expedition und den beiden Vettern vor der schmucklosen Türe ihrer »Residenz« wiedergab. – Auch den Matrosen des »Pinguin« merkte man es an, wie wohl es ihnen tat, sich einmal wieder ordentlich die Beine zu vertreten. Und erst gar Reiten! Feinste Sache! Selbst Pidder Karsten erkletterte im wahrsten Sinn des Wortes eines der gutartigeren Biester und gefiel sich in abgekürztem Tempo mit ihm, ein Bild, daß Friedel die Tränen kamen vor Lachen und Horst sich beinahe hätte verschlucken lassen.

Das gemäßigte Klima der Insel, die waldarm und wasserarm, jedoch ertragreich durch ihre Viehherden und wilden Hühnerscharen ist, gestattete aber auch ordentliche Märsche, ohne daß man, wie Horst und Friedel von Upolu her wußten, schnell ermüdete.

Was aber besonders Horst immer wieder hinaustrieb zu den seewärts gelegenen Hängen, war das Geheimnis, das diese einsam im weltweiten Pazifik gelegene Felseninsel umwob, war das Rätsel ihrer Geschichte, die ihre ausgeprägten Spuren unverwitterbar an einzelnen seewärts liegenden Hängen eingegraben aufwies.

Horst blieb unermüdlich im Entdecken, um seine Lösung zu suchen. Schon am ersten Tag waren ihm mächtige Säulen aufgefallen, die an der Seeseite des ostwärts liegenden Kraters Rana Roraka gen Himmel ragten. Die Freunde staunten, je näher sie kamen. Die Säulen trugen Menschenantlitz. Roh behauen, aber doch deutlich erkennbar; tief hingen die Ohren zuweilen herab auf die Steinschultern. Unzweifelhaft trog die Erinnerung nicht, die die Steinbilder mit denen auf der Bergzinne in Rapa-iti vergleichen ließ. Als sie mit Hilfe eines Halbblutchilenen von Hanga Piko und eines – allerdings nur selten auftauchenden und erheblich verkanakerten – Landsmanns die alten Insulaner nach ihrem Ursprung und ihrer Heimat fragen ließen, da erzählten sie sagenhafte Mären, die vom Verschlagensein von der Insel Rapa berichteten. Nannten sie doch eben ihre Insel Groß-Rapa, Rapa-Nui. Das Alter der Steinkolosse gaben sie auf viele hundert Jahre an.

Je öfter die Freunde hinaufwanderten zu den Kratern, desto mehr bot sich dem suchenden Auge. Da fand sich am inneren Kraterhang eine Mulde, in der ein fertiges Riesenbild lag; dicht daneben zwei halbvollendete, eben aus dem Stein gelöst. Eine Werkstätte der rätselhaften Idole! Sie schritten die liegende Säule ab und maßen nahe an achtzehn Meter. Wie hatte nur ein Volk vom Tiefstand der Hilfsmittel, wie er noch heute die Insulaner drückt, diese Säulen ausmeißeln und wie fortschaffen können über den Kraterrand an den seeseitigen Hang? Die Zeugen selbst blieben stumm. Welchen Gott stellten die Riesen dar, neben deren manchem ein großer Block braunroten Gesteins verwitterte, den andere wiederum noch als Kopfzier und Mütze auf sich trugen.

Ein andermal fanden sie am Oritoberg, zwischen Wahio und der Siedelung Mataveri in der Hanga-Piko-Bucht, ganze Felder scharfkantigen Lavaglases. Trockenes Gras stand braun dazwischen. Nur wo in Mulden Hunderte von Splittern, die einst bei dem Schlagen von Speerspitzen und Beilen abgesprungen waren, dunkelte das Grün des Obsidiangesteins.

Und am Stellhang des Ranokao: Steinhäuser mit Rötelmalereien von Gottheiten, Meerschiffen, Vögeln und Eiern. Rätsel der Geschichte! Stumme Zeugen!

Und drüben am Ostende, wo der Grat zwischen dem Seehang und dem kreisrunden Krater, dessen Boden Moor und Süßwasserpfützen füllten, so dünn war wie ein Mann lang ist, moderten noch heute, der Sitte der Ahnen gemäß, die Leichen aller, die auf der Insel starben, unbedeckt, nur zwischen geheiligte Steine gelegt und durch die kleinen »Tabu«-Pyramiden vor Störung geschützt, im stetig wehenden salzigen Seewind.

Wieder und wieder klopfte Horst in Denken und Grübeln an die verschlossene Frage: wo wohl der Schlüssel stecke zu der Gesamtheit dieser Geheimnisse der Südsee, von deren Inselgruppen als letztes Bollwerk, als feuergeborene, basalterstarrte Feste die Osterinsel sich weit in den Osten des Stillen Ozeans schiebt. Noch fand ihn niemand.

Wohl meinte auch hier Professor Allwiß mit einer Erklärung aufwarten zu können. Es sei fraglos, meinte er, daß diese wie die andern über die Südsee hin verstreuten rätselhaften Bauten nur von einem weißen Urvolk arischer Rasse herrühren könnten, das, im Steinzeitalter aus den Steppen Asiens auswandernd, über die Inselbrücke die ganze Weite des Stillen Ozeans überquert habe und wohl in den Überlieferungen der Inkas in Südamerika wieder auftauche und in dem Glauben an die »weißen Götter« bei den Mexikanern zur Zeit des Cortez. »Möglich, daß die Hauptstadt dieses Reiches einst das versinkende Naumatal auf Ponape war. Jedenfalls: welch ein eigenartig reizvoller Gedanke, hier auch auf der Osterinsel vor Urerzeugnissen arischer Kunst zu stehen, die uns nah verwandte Völker geschaffen!« rief er begeistert aus.

»Ein eigenartig reizvoller Gedanke, gewiß,« mußte er sich aber antworten lassen, »es fragt sich nur, ob ihm auch ein wahrer Sachverhalt zugrunde liegt. Das Ganze ist doch mehr eine Konstruktion, als ein sachlicher Schluß. Daß die Eingeborenen diese Werke nicht haben vollführen können, dürste höchstens aus ihrer mangelhaften Naturbeherrschung, d. h. dem Fehlen der dazu nötigen Werkzeuge gefolgert, nicht aber aus etwa mangelndem Kunstsinn abgeleitet werden, wie Sie es versuchten. Denn der ist keineswegs mangelhaft.«

Es war so und blieb so: Horsts nüchternem Überlegen, Lernen und Forschen erwuchs je länger desto mehr aus den kleinen Ausschnitten von Südseewirklichkeit, die er erschaut, immer deutlicher ein ernsthaftes Arbeitsziel, das alle seine Gedanken einzufangen begann und ihn nach Urgeschichte sowohl wie Geschichte, mit einem Wort nach dem Schicksal der Südsee fragen und forschen ließ. Feuergeboren? Durch wen besiedelt? Schicksal? – Und in Zukunft? Im Feuer versinkend? Wer mochte es wissen?! Die Erlebnisse der Fahrt spielten mit deutlichem Echo Fangball; »versaufen mit Dreck und Speck«, hatte Pidder Karsten der Südseeinselwelt, wenig poetisch zwar, prophezeit. Aber konnte nicht wirklich solch Eiland wie die Osterinsel, wie sie einst aus Feuer geboren, auch wieder vergehen? Urplötzlich eines Tages, wenn die Riesenfaust einmal wieder hier heraufgriff aus der Tiefe … Schicksale der Südsee!

Südseeschicksal aber war es, in dessen Bann Friedel stand. Was Menschen erlebten, in ihre Weiten verschlagen, oder entdeckten zwischen den Hunderten ihrer Inseln, übte auf ihn jenen tiefen Reiz, mit dem einst Hartmut Steins Märchen, den ganzen Zauber von Ferne und Fremde – Südseezauber – atmend, ihm den ersten Anstoß zur Fahrt gegeben. Es war, als sollte Friedel von einem Tag zum andern neu mit der Frage seines Herzens zusammenstoßen. Nicht nur beim Sinnen über Enno Harts rätselhaft gebliebenem Erbe. War es denn eine andere Frage, die ihm hätte kommen können, als »Pinguin«, kaum daß er die Osterinsel verlassen, ums Haar mit einem dunklen Etwas zusammenstieß, das nur noch eben über Wasser ragend, mit der Dünung trieb? Ein Wrack! Wo kam es her? Wo trieb es hin? Und die Menschen, die einst auf seinem Rumpf zukunftsfreudig dem Hafen entsegelt?! Auch hier wieder Südseeschicksale Dort auf den Wellen trieb der stumme Zeuge. Während fern im Morgendunst wie leise Schatten die Umrisse von Salas-y-Gomez langsam zergingen. Salas-y-Gomez Name und Schicksal. Friedel wußte es sehr genau.

Kapitän Winkler hatte erkannt; daß es nicht angehe, an das Wrack heranzurudern und eine Sprengpatrone zu legen, die das Schiffahrtshindernis beseitige und auf den Grund schicke. So konnte er nichts weiter tun, als es mit Angabe des Schiffsortes beim Insichtkommen an die nächste chilenische Funkstation zu melden. »Man weiß nie, was die Dinger anrichten. Denn der mir bekannte Fall, daß eine schiffbrüchige Mannschaft nach vierzehntägigem Treiben auf ein solches Wrack stößt und dort Wasser und Proviant findet, wodurch sie ihr Leben bis zur Rettung erhalten konnte, dürfte doch wohl dazu verführen, in den treibenden Holzrümpfen eine schätzenswerte Einrichtung zu sehen.« – »Ja, treiben denn die lange so?« fragte der unerfahrene Friedel. »Jahrzehntelang manchmal«, ward ihm zur Antwort. »Von einem Walfischfänger konnte man mal nachweisen, daß er fünfzig Jahre getrieben war. Und weit bringen sie's, man glaubt's kaum, zumal hier im Pazifik, wo wir stete Strömungen haben. 1882 wurde an der peruanischen Küste die brennende ›Oriflamme‹ von ihrer Mannschaft verlassen. Wißt ihr, wo der Rumpf des Schiffes antrieb? In den Paumotu! Dort wird heute noch auf einer Missionsstation die Glocke geläutet mit der Inschrift ›Oriflamme‹ 1865!«

Friedels Augen standen weit offen und schauten in die Ferne. Ob wohl auch die Zukunft noch solche Südseeschicksale bergen mochte? Horsts Denken, der wie Friedel sich tief vom Zauber der Südsee gebannt wußte, formte seine Frage umfassender, größer: Was wohl die Zukunft für ein Schicksal der Südsee heraufführen wird?

Freilich ahnte keiner der beiden, wie persönlich sein Leben sich einst mit dieser beiden Fragen Antwort verbinden werde.«


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