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Das Fräulein als Kindermädchen.

Als Frau Aschmann wieder hereinkam, ging Ulli ihr entgegen und sagte: »Führen Sie mich zu der Frau von Schellhas – ich will Kindermädchen werden.«

»Die Dame ist von Adel,« dachte Ulli, die mit den österreichischen Sitten nicht vertraut war, »natürlich wird sie gebildet sein und ich kann ihr mein Schicksal anvertrauen; dann wird sie mich wie ein Fräulein halten oder mir eine passendere Stellung suchen.«

So wurde das Wörtchen ›von‹ der Hoffnungsanker, an dem Ulli ihr Lebensschifflein gesichert wähnte; und doch – kaum hatte sie ihren Entschluß der Greislerin mitgeteilt, war es ihr, als habe sie alle ihre Vorfahren, die in der Familiengruft zu Wolfshagen ruhten, beleidigt und sei ihrer Rache verfallen.

Frau Aschmann betrachtete diese ganze Angelegenheit offenbar von einem andern Standpunkte aus. Sie klopfte Ulli wie ein Kind, das endlich artig zu sein versprochen hat, freundlich auf die Schulter und sagte: »Schaun's, da sind Sie endlich doch noch zur Raison gekommen; und trifft sich auch gerade, daß mein Mann jetzt das Geschäft versorgen kann; deshalb wollen wir die Sache gleich ins richtige Gleis bringen. Aber das muß ich Ihnen doch anraten, gnä' Fräulein, daß es wohl das beste sein wird, Sie nehmen einen andern Namen an, und wie mir scheint, wäre es das klügste, Sie nennten sich Dobiash, Theres Dobiash; dafür will ich auch dem gnä' Fräulein meine Gründe anzuführen mir erlauben.

»Schaun's, es sind kaum vier Wochen her, kommt meines Mannes Bruderstochter, die Theres, aus Jung-Bunzlau – in Böhmen ist's gelegen – hier her und meint, sie wolle nach einem Dienst ausschauen. Jesus, sah das Mädel bleich und jammervoll aus, na 's steckte die Krankheit auch in ihr; kaum drei Tage hier, bekam's den Typhus, und ist nach acht Tagen im Hospital gestorben. Hab' aber halt ganz aufs Abmelden beim Herrn Polizeikommissär vergessen, obwohl sie schon angemeldet war; brauche also nur hinzugehen und zu sagen, daß meine Nichte zur Frau von Schellhas als Kindsmagd gezogen wäre und ist die Geschichte abgemacht. Nun schaun's, gnä' Fräulein, ich riskier' 'ne greuliche Geschichte, wann's herauskommt; meinem Alten darf ich beileibe so etwas nicht sagen – aber 's dauert mich – Jesus Maria, es dauert mich gar zu sehr, so ein feines junges Fräulein in so einer gefährlichen Lage zu sehen. Na, thun's nur recht brav bei der gnädigen Frau, und so wird sich's schon machen. Aber daß ich's nicht vergesse, gnä' Fräulein, so 'n Schnauzfezerl (Taschentuch) mit einer Krone paßt nicht für 'ne Kindsmagd; wollte darum gnä' Fräulein vorschlagen, für die erste Zeit sich mit der Wäsche von der Theres zu bedienen. Ich lasse halt den Schwager noch ein bissel warten, ehe ich ihm der Theres ihren Koffer zurückschicke; so ein Mann kümmert sich auch nicht viel ums Weiberzeug, ob's zwar halt seine einzige Tochter war.«

Die gutmütige Frau Aschmann glaubte sich bloß mit ihrem Gewissen abfinden zu müssen, das sie in dieser Angelegenheit vollständig straffrei erklärte. Freilich hatte sie eine unbestimmte Vorstellung, daß sie eine ungesetzliche Handlung begehe; für wirklich strafbar hielt sie diese aber nicht; nur meinte sie vor ihrem gesetzkundigern Manne Schweigen bewahren zu müssen.

Ulli aber war es vollständig unbewußt, daß sie sich eines Betrugs schuldig machte, und daß ihr, wenn ein Zufall zu dessen Entdeckung führte, eine schwere Strafe bevorstand. Sie wußte nur, daß sie als Baroneß de Watteville nicht gut Kindermädchen sein konnte, daß sie sich deshalb Theres Dobiash nennen müßte, und daß, da die wirkliche Theres Dobiash schon gestorben wäre, sie niemand dadurch schädige.

So ungefähr würde sie wenigstens überlegt haben, hätte sie überhaupt nachgedacht; aber sie verhielt sich völlig apathisch und ließ es widerstandlos geschehen, daß Frau Aschmann ihre Zöpfe in einen Knoten aufsteckte und ihre Toilette in die eines einfachen Bürgermädchens veränderte.

Während die Frau abermals abberufen wurde, stand Ulli an dem niedern Fenster, das durch jeden Vorübergehenden vollständig verdunkelt wurde. Vor Thränen konnte sie nicht einmal das schmale Streifchen des blauen Himmels erkennen, das den hohen dunkeln Häusern von Sommerluft und Sonnenschein erzählte.

Die Entscheidung, das erkannte selbst das thörichte Mädchen, lag jetzt noch in ihrer Hand; daß sie ohne die Erlaubnis von Fräulein Juliane an das Totenbett des Onkels geeilt, das würde ihr die Tante vergeben haben; wurde sie aber Kindermädchen der Frau von Schellhas, durfte sie nie mehr auf die Verzeihung der stolzen Frau rechnen. Und doch war es gerade der von ihrer Kindheit an genährte Stolz, der Ulli zu diesem Schritte trieb. Sie betrachtete es als eine furchtbare Demütigung, daß sie der Familie ihrer Tante lästig gefallen war; mit stolzer Genugthuung empfand sie, daß sie es dem Onkel dankte, dieser unwürdigen Lage – wie Ulli sie nannte – entrissen worden zu sein; um keinen Preis wollte sie dahin zurückkehren; lieber unter fremden Leuten selbstverdientes Brot essen. Welche Angst und Qualen sie ihrer unglücklichen Tante, ja der ganzen Familie bereitete, welchen Schlag sie dem Pensionat der Fräulein Flodin versetzte, daran dachte sie nicht. Mit dem Egoismus der Unwissenheit und des falschen Stolzes dachte sie nur an sich und es fiel ihr gar nicht ein, sich die Gefühle der andern Personen zu vergegenwärtigen.

Hätte Ulli im Hause ihrer Tante wirklich eine unwürdige Behandlung zu dulden gehabt – oder wäre sie mit den Kenntnissen ausgerüstet gewesen, um den Kampf des Lebens auf sich zu nehmen, so würde ihr Entschluß, selbst ihr Brot zu verdienen, nur zu billigen gewesen sein; Ulli aber handelte nur thöricht und kindisch, und die übeln Folgen konnten nicht ausbleiben.

Ehe Ulli diesen Dienst antrat, wollte sie ihr Versprechen erfüllen und an Fräulein Juliane schreiben; und dieser Brief war es, der der Ärmsten einen tödlichen Schrecken verursacht hatte. Ulli schrieb:

»Hochgeehrtes Fräulein! Ich bitte nachträglich noch vielmal um Entschuldigung, daß ich Sie belogen habe und heimlich fortgereist bin. Ach, ich bin doch zu spät gekommen; mein teurer Onkel war schon gestorben, und eine taube alte Frau hat mich nicht einmal ins Haus gelassen. Ich bin in furchtbarer Verzweiflung in Wien umhergeirrt; aber der liebe Gott hat mich zu einer guten Frau geführt, die mir eine Stellung verschafft hat; denn ich kann nicht mehr in Ihre Pension zurückkehren, weil mein Onkel nicht länger für mich bezahlt, und meiner Tante will ich nicht zur Last fallen. Ich wollte, ich hätte noch länger bei Ihnen bleiben und mir mehr Kenntnisse erwerben können, denn mein vornehmer Name nutzt mir nichts, um mir mein Brot zu verdienen. Doch will ich darüber nichts sagen; es könnte meiner Tante schaden, die sehr kränklich ist. Bitte sagen Sie ihr auch nichts darüber.«

Es folgte nun der Schluß mit Grüßen und einigen Dankesworten.

Gegen fünf Uhr machte sich Frau Aschmann mit Ulli auf, um sie ihrem neuen Bestimmungsorte zuzuführen; ein kleiner Umweg mußte zu dem nächsten Postamte gemacht werden, da Ulli darauf bestand, den Brief selbst in den Schalter zu werfen. Einen Augenblick zögerte sie noch, ehe sie ihn hinabgleiten ließ, und als es geschehen war und sie die Brücke gleichsam hinter sich abgebrochen hatte, verfiel sie in eine Art geistiger Betäubung und folgte mechanisch der Greislerin.

»Aber machen's nur keine bösen Blicke, wenn ich gnä' Fräulein mit Du anreden thue,« ermahnte diese, während sie die Treppen zu der neuen Mietsherrin emporstiegen. »Schaun's, wenn's vor meine Nichte gelten wollen, kann ich's halt nicht mit gnä' Baroneß anreden. Also nichts für ungut, wegen der Freiheit, die ich mir herausnehmen muß.«

Ulli entgegnete kein Wort; sie folgte der Frau mit gesenktem Blicke; sie fühlte sich tief gedemütigt; und als sie gar auf dem Thürschild las: Karl Schellhas, Agent der Kölner Feuerversicherung, würde sie sofort ausgerissen sein, hätte sie sich ohne die Greislerin auf der Straße zurechtfinden können; denn sie merkte, daß sie zu keiner Aristokratin käme und auf kein Verständnis hoffen dürfe.

Aber auch die Frau von Schellhas fühlte sich durch die Lage, in die sie durch schlechte Dienstboten versetzt worden war, sehr gedemütigt. Als Frau Aschmann jetzt an der Klingel ihrer Wohnung läutete, war sie genötigt, diese selbst zu öffnen.

Ein schreckliches Kindergeschrei schallte den Eintretenden entgegen, und es schien, daß soeben eine Exekution stattgefunden hätte, denn die Dame sah noch ganz erhitzt aus. »Habe große Not mit bösen Kindern,« klagte sie. »Wirft Franzel um Milchtopf – will ich strafen Franzel; biegt sich Maruscha aus offenen Fenster – fliege ich ans Fenster zu retten Maruscha – purzelt Stephan von Stuhl und fällt auf Kascha – habe ich doch müssen schlagen alle vier. – Jesus, hat wohl schon gehabt Frau je so große Not mit Dienstboten und Kindern!«

»Schaun's, gnä' Frau, da passiert ja meine Nichte ein zur richtigen Stunde,« versetzte tröstend Frau Aschmann. »Das ist die Theres, von der ich gnä' Frau schon erzählt habe.«

Die erregte Frau Schellhas betrachtete Ulli prüfend, soweit der schlecht erleuchtete Eingang eine Untersuchung gestattete; aber sie schüttelte etwas enttäuscht den Kopf. »Großes Ding – aber sieht aus, als hätte Lust große Dame zu spielen – kann aber nicht gebrauchen große Dame als Kindsmagd.«

»Wenn nur gnä' Frau ein bissel Geduld mit dem Mädel haben wollten. Ist halt beim Vetter, einem Wittmann, ein bissel verzogen worden – aber anständig und ehrlich – na darauf können sich gnä' Frau verlassen.«

Die geplagte Frau hatte nur mit einem Ohr auf diese Worte, mit dem andern auf den Lärm gehört, der noch immer aus der offenen Stubenthür herausdrang. Plötzlich stürzte sie hinein, denn sie hatte Franzels Stimme vernommen: »Mama, Stephan hat das Tintenfaß umgeworfen.«

Aber während sie den Übelthäter erfaßte und ihm die Backen rechts und links klopfte, ergoß sich die Tinte ungehindert auf die Rosen und Lilien des Teppichs.

Nun fiel der Ärmsten ein, daß es klüger gewesen wäre, zuerst den Schaden zu heilen und dann erst den Sünder zu strafen.

Atemlos stürzte sie deshalb nach Wasser und Lappen; aber als sie wiederkehrte, da saß auch schon Kascha in ihrem himmelblauen Kleidchen in der schwarzen Sauce und malte mit ihren Fingerchen Figuren auf den Teppich; Franzel und Maruscha sahen ganz vergnügt zu, und der geklopfte Stephan hatte sich hinter den Ofen geflüchtet und riß heulend die Tapete von der Wand.

Frau Aschmann war eine praktische Frau und begriff, daß es das beste wäre, hier selbst zu helfen; aber da sie doch das neue Kindermädchen in ein möglichst vorteilhaftes Licht stellen wollte, rief sie: »Greif zu, Theres, und hilf der gnä' Frau!«

Doch die vermeintliche Theres blieb steif wie ein Stock stehen und sagte nur vor sich hin: »Ich will hier nicht bleiben.«

Frau Aschmann that, als habe sie nichts gehört, und legte selbst Hand an, um, so weit es möglich war, den Schaden zu verbessern und weiteres Unheil zu verhüten.

Es gehörte grenzenloser Mut oder vollständige Verzweiflung dazu, Ulli als Kindermädchen zu mieten; aber die Lage der dienstbotenlosen Frau mit den vier Unheil brütenden Kindern war so entsetzlich, daß sie sich wirklich entschloß, das Mädchen mit der hochmütigen, trotzigen Miene da zu behalten.

Doch Ulli verriet nicht die geringste Neigung zum Bleiben; sie klammerte sich krampfhaft an den Rock der Frau Aschmann und brummte leise, daß sie fort wolle.

Diese kluge Frau aber schien ganz taub und unempfindlich; sie wußte geschickt die Eingangsthür zu gewinnen, die sie hinter sich zuschlug, und so wurde Ulli ganz gegen ihren Willen Kindermädchen im Dienst des Agenten Schellhas.

»Theres, du sollst befreien mich von Last der Kinder,« befahl ihre neue Gebieterin. »Unterhalte die lieben Kleinen.«

Ulli, die steif wie ein Grenadier dastand, rührte sich nicht und eine für das Wohl ihrer kleinen Schar ängstlich besorgte Mutter würde nicht gewagt haben, sie ihr anzuvertrauen, denn ihre finstere Miene war durchaus nicht Vertrauen erweckend.

Aber Frau Schellhas fühlte sich nach den Anstrengungen dieses Tages dem Kinderwärterinnenamte nicht mehr gewachsen und versuchte sich selbst zu überreden, daß die Nichte einer so braven Frau, wie die Greislerin, schon ihre vortrefflichen Eigenschaften entwickeln würde.

Ulli sah sich nun, ganz gegen ihren Willen, in das sogenannte Kinderzimmer versetzt, in dem einige kleine Betten standen und viel zerbrochenes Spielzeug auf Tischen, Stühlen und dem Fußboden zerstreut lag.

Ordnung und Reinlichkeit schienen wenigstens nicht zu den Tugenden ihrer neuen Herrin zu gehören.

Nachdem sich dann die vier jugendlichen Pflegebefohlenen um ihre Wärterin versammelt hatten, schloß Frau Schellhas die Thür und begab sich mit erleichtertem Herzen ins Wohnzimmer. Aus dem Büffett holte sie sich ein in ein Papier eingewickeltes Stückchen Torte hervor, goß sich ein Gläschen voll Likör ein, ergriff einen zerlesenen Band aus einer Leihbibliothek, und nachdem sie so für ihr leibliches und geistiges Wohlbefinden gesorgt hatte, legte sie sich aufs Sofa mit dem Bewußtsein, daß es an der Zeit sei, sich selbst die verdiente Ruhe zu gönnen, und daß nun die Kindsmagd sehen möge, wie sie mit den Rangen fertig werde.

Indes stand Ulli, wie eine Telegraphenstange unter Sperlingen, stumm und unbeweglich unter den sie neugierig anstarrenden Kindern, die nach Ullis ungewöhnlicher Größe offenbar auch Ungewöhnliches von ihr erwarteten.

Ulli war durchaus nicht geneigt, diese Erwartung zu erfüllen, und da sie nicht die geringsten Anstalten zu irgend einer Unterhaltung machte, zerrte sie Franzel, der älteste, endlich am Arme und sagte: »Du sollst doch mit uns spielen.«

»Dazu habe ich keine Lust,« entgegnete Ulli mürrisch, und um die erwartungsvollen Blicke der Kinder zu vermeiden, schaute sie auf die Wände, an denen Öldruckbilder hingen. Kascha zog indes ihr Puppenwägelchen herbei, zupfte Ulli am Kleide und sagte: »Neue Puppen im Wagen.«

Maruscha brachte ein zerrissenes Bilderbuch und hielt es Ulli aufgeschlagen hin: »Willst du nicht meine schönen Bilder ansehen?«

Stephan knallte mit der Peitsche und fragte, ob Ulli nicht sein Pferd sein wollte.

Die Kinder, wenn auch nicht sauber gehalten, waren alle hübsch, und ihre Bemühungen, sich mit Ulli bekannt zu machen, hatten etwas Anziehendes.

Ulli blieb davon nicht unberührt; aber da sie niemals mit kleinen Kindern verkehrt hatte, wußte sie nicht, was sie mit ihnen anfangen solle; denn sie war nicht nur traurig, sie war ihnen gegenüber auch schüchtern.

Nun hatte sie aber bei ihrer Umschau auf einem Schranke ein Buch entdeckt, und da Bücher stets eine überaus große Anziehungskraft auf sie ausgeübt hatten, wurde ihr Interesse auf das lebhafteste erregt und sie überlegte, daß, wenn sie die Kinder nur zweckmäßig beschäftigen könnte, sie dieses Buch ansehen, vielleicht gar lesen dürfte.

Sofort ersann sie ein, allerdings ganz ungewöhnliches Spiel, das in einem Fröbelschen Kindergarten wohl keine Billigung gefunden haben würde.

Sie hatte nämlich in der Pension auch eine griechische Mythologie in die Hand bekommen, und diese Götterlehre lieferte ihr den Stoff der Unterhaltung für die Kinder.

»Gebt einmal recht acht, Kinder,« rief sie ihnen zu. »Ich werde jetzt Götter aus euch machen; das ist nämlich eine sehr schöne Unterhaltung. – Franzel ist Gott Kronos. Setze dich auf das Stühlchen, Franzel. Nun bringt ihm alle eure Puppen; er wird thun, als verspeiste er sie, weil Kronos seine eignen Kinder auffraß. – Aber du darfst nicht wirklich zubeißen, Franzel, sonst ärgerst du die kleinen Mädchen. – Wie heißt der andre Junge?«

»Stephan.«

»Stephan, du stellst den mächtigsten der Götter vor; du bist Zeus. Setze dich dem Kronos gegenüber, wedle mit deinem Schnupftüchel und brumme dabei – das Tüchel stellt nämlich den Blitz vor; verstehst du auch was das heißt?«

Der neuernannte Gott Zeus, der ein wenig krummbeinig war, nickte ernsthaft und setzte sich.

»Brumme jetzt,« fuhr Ulli fort. »Brummen bedeutet den Donner, denn der Zeus konnte Blitz und Donner machen. – Wie heißt du?«

»Maruscha.«

»Du wirst den Gott Vulkan vorstellen. Vulkan war ein sehr geschickter Schmied. – Da liegt ein Kegel; nimm den Kegel, Maruscha; er kann dein Hammer sein, und poche damit auf den Baukasten, der den Amboß vorstellt; nun kannst du die herrlichsten Dinge schmieden, z. B. Pfeile für den Gott Amor. – Heißt die Kleine nicht Kascha?«

»Kascha bin,« rief das kleine Ding, das vergnügt war, daß es nun auch an die Reihe kam.

»Du darfst der Gott Amor sein, Kascha. Da wir aber weder Pfeil noch Bogen haben, mit denen du schießen kannst wie Amor, so läufst du umher und neckst die andern Götter. – Aber du darfst es nicht zu arg mit dem Necken treiben, sonst wird's Zank geben. – Also paßt auf: Kronos verspeist die Kinder, Zeus blitzt und donnert, Vulkan schmiedet und Amor neckt. Wenn ich in die Hände klatsche, kann's losgehen.«

Nachdem Ulli den Olymp versammelt hatte und jeder Gott nach seiner Art thätig war, langte sie sich das Buch vom Schranke herunter, las auf dem Titel, daß es ein Roman sei – sie hatte noch nie einen Roman in der Hand gehabt – und bald war sie so vollständig darein versenkt, daß sie der Unsterblichen gänzlich vergaß.

Aber vergeblich war es, von Göttern einen ewigen Frieden zu erwarten! Es entbrannte sehr bald ein unheilvoller Kampf im Olymp.

Das Donnern des Zeus war nach kurzer Zeit in eine Art Geheul ausgeartet, das dem Kronos nicht gefallen wollte. Kronos wußte offenbar nicht, daß er eigentlich durch Zeus vom Throne gestoßen worden sei und sich gar nicht mehr mausig machen dürfte, denn er erlaubte sich anzügliche Bemerkungen über das Geheul.

Zeus fühlte sich darob beleidigt und vergaß seinerseits, daß er ein schwächliches, schiefbeiniges Bürschchen wäre; er stürzte sich auf Kronos; dieser, nicht faul, raufte wieder und raufte stärker; denn entgegen der alten Götterlehre war er der kraftvollere Gott. Zeus lag bald unten und die Puppen gerieten in Gefahr.

Als Vulkan seine Puppen bedroht sah, stürzte er sich mit Eifer in den Kampf, sie zu retten; Amor flog auch herbei, gerade im richtigen Moment, um einen Puff aufzufangen, der dem Zeus zugedacht war. Das nahm Amorchen sehr übel und brach in ein ohrenzerreißendes Gebrüll aus.

Bei diesen Tönen erwachte die schlummernde Mutterliebe der ebenfalls in ihren Roman versunkenen Frau Schellhas; wie eine Furie stürzte sie hinüber zur Rettung ihrer bedrohten Lieblinge.

Auch Ulli war erwacht und stieg aus einem prachtvollen, märchenhaft ausgeschmückten maurischen Schlosse, in das sie soeben der Roman versetzt hatte, hernieder in die Kinderstube.

Aber schon stürzte die empörte Mutter zur Thür herein. »Boshafte Kreatur – Ungeheuer – macht meine süßen Herzen weinen!« schrie sie, und hätte sie nur die Aussicht auf ein andres Kindermädchen gehabt, so hätte Frau Aschmann noch an diesem selben Abend ihre »Nichte Theres« wieder gesehen; worüber diese gute Frau sich nicht sehr gewundert hätte, da sie einen ähnlichen Ausgang befürchtete.

Da aber die Reise vor der Thür und kein zweites Dienstmädchen hinter der Thür stand, gab sich Frau Schellhas nach einem Zornausbruche zufrieden.

Ulli ertrug ihr Schelten übrigens ohne Widerrede, da sie sich schuldig fühlte.

Den jungen Göttern wurde nun zwar nicht Nektar und Ambrosia, sondern ein Abendbrot vorgesetzt und sie darauf in ihre Betten gebracht. Frau Schellhas aber begab sich mit dem Gatten, der von einem Geschäftsgange zurückgekehrt war, auf einen Abendspaziergang und verzehrte in einem belebten Garten bei heiterer Musik vorzügliche Backhändl, während sie zugleich ihr Herz erleichterte und dem Gatten ihr Mißgeschick klagte: »Habe gemietet Kindsmagd – ist schreckliche Person; macht aus Kindern griechische Gottheiten und liest dabei in Roman.«

Ulli aber stand im Abenddunkel an dem Fenster, das hinaus auf die enge Gasse ging, durch die sie – noch nicht vierundzwanzig Stunden war es her – in tödlicher Angst geflohen war.

Der Wechsel ihres Schicksals war ein zu plötzlicher und gewaltsamer, als daß sie ihre Lage ganz zu fassen vermocht hätte.

Schon stand sie vor den Pforten eines geträumten Paradieses; aber die sollten sich niemals vor ihr aufthun, denn eine furchtbare Macht erfaßte sie und schleuderte sie von der Lebensbahn, die ihr durch die Geburt gleichsam gesichert schien, zur dienenden Klasse hinunter. Aus der Baroneß war ein Kindermädchen geworden, das für drei Gulden monatlich von Tagesanbruch bis Sonnenuntergang einer ungebildeten Herrin dienen und deren üble Launen ertragen mußte.

Nach welcher Seite sie auch blickte, nirgends zeigte sich ihr ein Ausweg. Mit dem Entschlusse zu dienen sagte sie sich von der Tante los. So war sie auf die eigne Kraft angewiesen, und nun zeigte sich's, daß ihre geringen Kenntnisse und Fähigkeiten sie nur zu einer der niedrigsten Stellungen auf der Sprossenleiter der menschlichen Gesellschaft befähigten.

Sie selber hatte die Pforte hinter sich zugeschlagen, und so irrte sie nun wie eine Ausgestoßene auf dem öden Pfade, der freudlos, ziellos vor ihr lag.

Sie umklammerte das Fensterkreuz, als sollte es sie vor dem Umsinken bewahren. Heiße Thränen tropften ihr aus den Augen und sie beneidete Silvia und den Onkel, die so sanft in ihrem Grabe ruhen durften.

»O mein Gott, wie hart ist das Leben!« stöhnte das arme Kind und preßte die Hände auf die pochenden Schläfen.

Plötzlich aber fielen ihr die Jammerspechte ein; sie meinte zu hören, wie sie verspottet wurde, weil sie sich selbst in eine so trostlose Lage gebracht hatte. Da warf Ulli den Kopf stolz zurück, als wolle sie Spott wie Mitleid zurückweisen und tapfer dem grausamen Schicksale trotzen.

An den lieben Gott aber wandte sie sich nicht; sie war wie ein trotziges Kind, das mit dem Geschick grollen zu dürfen meint; denn die Frömmigkeit, die sie nur in seltenen Momenten ihres Lebens empfunden, hatte ihr Wesen noch nicht durchdrungen, und sie war weit entfernt, sich in Demut in das Unabänderliche zu fügen.


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