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Wie Ulli ein Unrecht sühnte.

Drei Jahre waren verflossen. Die Damen – Ulli konnte zuletzt auch eine Dame genannt werden – hatten den Winter in Italien zugebracht. Jetzt waren sie zurückgekehrt und hatten sich für den Sommer im Rokokoschlößchen niedergelassen.

Dr. Fritz Manhart, seit vier Monaten erster Assistenzarzt am Kinderhospitale in Wien, war hinausgefahren, um seine Tante zu begrüßen.

Es war einer jener wunderbaren Maitage, an denen selbst ein Hypochonder seiner schlechten Laune kaum standhalten kann; Dr.. Fritz, der nie zum Trübsinn neigte, freute sich rechtschaffen seines Lebens, als er unter dem Geläute von Kirchenglocken und dem Gesange der Vögel, zwischen dem durchleuchteten Grün junger Birken und dunkler Fichten, und vom weichen Wellenschlage der Luft umkost, dem Rokokoschlößchen zuschritt.

Tante Selma war entzückt, ihren Fritz so vervollkommnet wiederzusehen; er hatte sich während dieser drei Jahre wirklich sehr verändert; die Brust war breiter und die Stimme tiefer geworden; ein zartes Schnurrbärtchen wurde durch einen mächtigen blonden Vollbart verdrängt und neben dem forschenden Blicke des Arztes zeigte das Auge zuweilen ein Zwinkern, dahinter sich ein Schalk barg; was aber der Tante am meisten imponierte, das war der der Anzug.

»Bewunderungswürdig nobel, Fritz,« sagte sie. Du zeigtest früher eine barbarische Neigung für bequeme Stiefel und graue Tuche – jetzt von Kopf zu Fuß ein Gentleman.«

»Der Einfluß Wiens, Frau Professor,« erklärte Fritz.

»Du weißt, daß du eigentlich der Gast der Baroneß de Watteville bist,« sagte Tante Selma und führte ihn in den Salon, der im reinsten Rokoko eingerichtet war. Ueber den Thüren hielten Liebesgötter goldne Guirlanden von Blumen und Früchten in ihren dicken kleinen Händen; an der Decke sah man drei wohlgenährte Göttinnen mit etwas einfältigen Gesichtern, denen Paris in rotem Mantel und antiken Schnürstiefeln noch immer den Preis der Schönheit vorenthielt. Unter weißlackierten Möbeln mit vergoldeten Schnörkeln, Stühlen mit verblichenen Stickereien, venetianischen Kronleuchtern, Spiegeln und altem meissner Porzellan auf dem Kaminsims befand sich ein Blüthnerscher Flügel, der allein in den Geschmack des vergangenen Jahrhunderts nicht paßte.

Fräulein Kläre, die eine Beethovensche Sonate spielte, sprang auf; neue Umarmung und abermalige Bewunderung des elegant gewordnen Dr. Fritz folgte. Aber die Hauptfreude sollte erst kommen. Die Damen konnten kaum erwarten, ihm Ulli zu zeigen; sie führten ihn gleich auf den Vorplatz, der durch steinerne Balustraden mit Statuen abgeschlossen und durch eine breite Treppe mit dem Park verbunden war. Dort unten, in einem hellen Sommerkleide saß ein junges Mädchen und las.

Fräulein Kläre erwartete, daß der Doktor sofort in Bewunderung ausbrechen würde; da er schwieg, sagte sie: »Sie liest eben Hamlet – selbstverständlich englisch.« Und Tante Selma fügte erläuternd bei: »Sie lernt jetzt die bedeutendsten Dramatiker kennen,« worauf Fräulein Kläre wieder einfiel: »Aeschylos, Sophokles und Euripides, die wir mit ihr in diesem Winter durchnahmen, konnte sie leider nicht in der Ursprache lesen.«

»So,« machte der Doktor und weiter nichts; Fräulein Kläre fand, der medizinische Beruf müsse sein Gemüt verhärtet haben. Tante Selma aber konnte sich nicht enthalten zu bemerken: »Du wirst dich wundern, Fritz, Du wirst das Kindermädchen gar nicht mehr wiedererkennen.«

»Es scheint ihr wenigstens nichts geschadet zu haben.«

»Wie meinst du das, Fritz?« Tante Selma sah ihn etwas verblüfft an und Fräulein Kläre half sich mit Räuspern.

»Ich will nur sagen, Tante, daß das Fräulein gut genährt scheint und eine gesunde Farbe hat.«

»Manchmal hat sie aber doch Kopfschmerzen.«

»Darüber dürft ihr euch bei dem vielen Studieren nicht wundern. – Aha – sie hat uns bemerkt und kommt her.«

Ulli war wirklich eine prächtige Erscheinung. Es war ganz natürlich, daß, die Tanten stolz auf sie waren. Sie blickten bald nach ihr, bald nach dem Doktor, als wollten sie sagen: »Was sagst du nun?«

Er brach natürlich nicht in laute Bewunderung aus; das hätte sich nicht geschickt, und beide begrüßten sich so, wie es unter gebildeten Damen und Herren üblich ist. Ulli war sogar ein bißchen herzlicher als üblich; denn sie sah in Doktor Fritz ihren Lebensretter und meinte, daß sie ihm in Sieding nicht einmal gedankt habe, darum wolle sie es jetzt nachholen; sie war durchaus nicht mehr schüchtern. Der Doktor lehnte aber allen Dank ab. »Tante Selma hat Ihnen das Leben gerettet,« behauptete er.

Dann nahm man im Eßzimmer ein Gabelfrühstück ein.

Die Damen fühlten sich von dem Wesen des guten Doktors nicht ganz befriedigt. Sie hatten bestimmt erwartet, daß er durch eine Bemerkung sein Erstaunen über ›das Wunder‹ kundgeben würde; aber er ließ nichts merken, außer einen fabelhaften Appetit.

»Etwas stark realistisch,« dachte Fräulein Kläre; aber die Tante freute sich doch, daß es ihm so gut schmeckte.

Fräulein Kläre war entschlossen, da er von selbst Ullis Vorzüge nicht herausfinden konnte, ihr Gelegenheit zu geben, sie zu zeigen. Fräulein Kläre schlug diese Taktik ein und Tante Selma folgte. Die Unterhaltung wurde energisch auf die alten Griechen gebracht, wobei der Doktor merkwürdig wenig Kenntnisse zeigte; aber Ulli fiel hinein; sie wurde erregt und deklamierte sogar eine Stelle aus der Antigone von Sophokles.

»Ulli,« sagte Fräulein Kläre, »hole doch einmal deinen Aufsatz – du weißt schon welchen.«

»Für ein so junges Mädchen ist er wirklich sehr hübsch,« meinte Tante Selma.

»Vor dem Doktor brauchst du dich nicht zu genieren,« ermutigte Fräulein Kläre.

Tante Selma fühlte sich gedrungen, etwas Erklärendes zu sagen: »Ulli hat nämlich in einem Aufsatze den Aeschylos mit dem Euripides verglichen.«

»Und ein Pomadentopf,« sagte der Doktor, während sein linkes Auge zwinkerte.

Tante Selma zog die Augenbrauen in die Höhe: »Was willst du mit dem Pomadentopf sagen?«

Fräulein Kläre wurde rot; sie witterte eine Bosheit, aber Ulli lachte.

»Da habt ihr's,« rief sie, »der Doktor mokiert sich, weil ihr mich wie ein Paradepferd vorführt.«

»Aber Fräulein Ulli,« versetzte der Doktor mit bewunderungswertem Ernste, »ich habe ja den Aristophanes citiert; das müssen Sie doch wissen!«

»Ich hoffe, du spielst nicht auf etwas Unpassendes an, Fritz,« bemerkte Tante Selma, und Fräulein Kläre errötete noch tiefer: »Aristophanes ist kein Dichter, den Damen lesen.«

»Ich verstehe nicht, was ihr wollt?« sagte der Doktor und sah furchtbar unschuldig aus. »Wenn von einem Vergleich des Aeschylos und Euripides die Rede ist, fallen jedem Gebildeten doch die Frösche des Aristophanes – und der Pomadentopf ein.«

»Bitte erzählen Sie, das interessiert mich sehr,« bat Ulli und machte ihre lebhaften Schulmädchenaugen.

»Nun es ist ein Wettstreit zwischen diesen Dichtern entstanden, wer von ihnen der größte wäre; unter anderm behauptet Aeschylos, an jeden Prolog des Euripides könne man ›einen Pomadentopf‹ anhängen; Euripides deklamiert nun einen Prolog nach dem andern und Aeschylos fällt immer ein: ›Und ein Pomadentopf‹.«

»Das muß ich lesen,« rief Ulli eifrig.

»Unmöglich,« erklärte Fräulein Kläre empört und Tante Selma suchte die Unterhaltung abzulenken.

»Singe uns ein Lied von Schubert,« sagte sie.

»Und dann zeigt sie ihre Skizzenmappe,« rief Fräulein Kläre eifrig.

»Vielleicht wäre es am interessantesten, wenn Fräulein Ulli uns ihre Ansichten über den Hamlet mitteilte.«

»Natürlich spotten Sie über mich,« rief Ulli ein bißchen beschämt. »Aber meine Schuld ist es nicht, daß mich die Tanten als Aushängeschild ihrer guten Erziehung benützen.«

Und es war ihr recht lieb, daß sie den spöttischen Augen des Doktors entfliehen konnte. In der breiten Lindenallee zeigte sich die gebrechliche Gestalt des alten Andreas. Sogleich lief ihm Ulli entgegen, und konnte man auch die Worte nicht verstehen, die sie zu ihm sprach, war es doch ein rührendes Bild. Mit zärtlicher Sorge nahm sie den Arm des Alten, und während sie lustig mit ihm zu plaudern schien, führte sie ihn spazieren.

Fräulein Kläre brannte darauf, des Doktors Urteil zu vernehmen. »Fritz, wie findest du unsre Ulli?« fragte sie mit dem ganzen Stolze einer Erzieherin, deren Werk über Erwarten gelungen ist.

»Gott sei Dank,« sagte der Doktor so recht aus vollem Herzen.

»Warum Gott sei Dank?« fragte die Tante scharf.

»O, sehr nett,« sagte der Doktor jetzt mit höflicher Neigung.

»Sehr nett? – Nun, ich dächte doch ...«

»Kolossal gebildet,« fiel der Doktor ein.

»Ich kann nicht recht begreifen – wenn nicht einmal Ulli ein Mädchen ist, das das Lob eines jungen Mannes verdient ...« rief die Tante empört.

Fräulein Kläre war so entrüstet, daß sie keine Worte fand.

»Aber, liebe Tante, es ist wirklich großartig, was ihr erreicht habt,« versuchte der Doktor zu beruhigen, »nur drei Jahre ...«

»Nur drei Jahre!« fiel Fräulein Kläre verletzt ein, »und als Kindermädchen aus dem Wasser gezogen!«

»Vortreffliches Material,« sagte der Doktor.

»Ohne alle Bildung,« sagte die Tante.

»Aber mit einem großen Herzen! Ich werde nie vergessen, wie sie sich einbildete, das Kind getötet zu haben, und wie sie es dann an sich preßte« – der Doktor sprach mit bewegter Stimme – »das war unverfälschtes, starkes Gefühl! So etwas bekommt man selten zu sehen!« Er sprang auf.

»Daß sich Ulli in anderer Hinsicht vervollkommnet hat, solltest du aber doch nicht leugnen,« meinte die Tante.

»Männer können gebildete Frauen einmal nicht leiden,« fiel Fräulein Kläre ein wenig bitter ein.

»Es giebt verschiedene Ansichten über Erziehung.«

»Ich habe nun einmal die Ansicht, daß man alle geistigen Kräfte entwickeln muß,« bemerkte die Tante trocken; wenn sie sich ärgerte, sprach sie immer trocken.

»Wie's scheint, habt ihr ihr nicht den Magen verdorben.«

Das war zuviel; Fräulein Kläre warf ihm einen wütenden Blick zu; sie beschloß, die Liebe zu Fritz aus ihrem Herzen zu reißen – es war natürlich nur eine tantliche Liebe – und ihn zu verachten.

»Es scheint, daß sich Frauen nach deiner Ansicht nur in der Küche und mit dem Strickstrumpfe beschäftigen dürfen.«

Doktor Fritz küßte die Hand seiner beleidigten Tante. »Du thust mir Unrecht, Frau Professor. Ich liebe dich gerade so wie du bist; ich bin sogar stolz auf dich und« – hier zwinkerte er nach der andern Seite – »auf Kläre bin ich ganz besonders stolz.«

»Nun?« fragte die Tante ein wenig besänftigt.

Er sprang auf: »Ein andermal,« sagte er, »wollen wir über Prinzipien streiten, aber nicht heute, nicht gerade heute. Der Tag ist viel zu schön, ich will ihn genießen. Sechs Tage von früh bis abends – ja oft des Nachts, muß ich an Krankenbetten zubringen; du kannst nicht glauben, was für eine Erholung ein solcher Tag für mich ist.«

Die Tante war versöhnt und Fräulein Kläre rief: »Da kommt ja unser Streitobjekt.«

Wirklich nahte Ulli jetzt, an jeder Seite einen Gelehrten.

Professor Güchinger, Ägyptologe, und Doktor Flad, Privatdozent der Philosophie, waren mit den Damen in Rom zusammengewesen und kamen jetzt, sie in der Heimat zu begrüßen.

Doktor Fritz schien durch diese Besuche unangenehm überrascht und zeichnete sich im weitern Verlaufe des Tages durch schlechte Laune und sarkastische Bemerkungen aus; er zwinkerte gar nicht mehr mit dem linken Auge, und wenn er einen Witz machte, so war es ein ganz boshafter.

Die ältern Damen aber waren sehr animiert und Ulli schwamm in ihrem Fahrwasser; sie war mit diesen beiden Herren offenbar sehr vertraut und sie hatten gemeinschaftliche Beziehungen, die dem geärgerten Doktor ganz fremd waren.

Professor Güchinger brachte verschiedene Tafeln mit, um Ulli daran zu zeigen, wie sich die hieroglyphische Bilderschrift zu hieratischen und demotischen Schriftzeichen entwickelt habe. Mit der staunenswertesten Schnelligkeit fand sich Ulli unter diesen fremdartigen Zeichen zurecht und bewies für alles, was der Professor nebenbei über ägyptische Religion, Sitte und Kultur einflocht, das lebhafteste Interesse.

Sie lernte wirklich mit Eifer und Vergnügen, wie ein junger Student; Miß Kirk hatte richtig prophezeit, daß sie Bildung einmal in großen Löffeln verschlucken würde. Ebenso eifrig beteiligte sie sich dann an einem Gespräche über Philosophie. Was sie vorbrachte, schien wirklich sehr klug, und sobald sie den Mund aufthat, sahen sich die Tanten im Kreise um, als wollten sie sagen: »Hört! Hört! Ist sie nicht erstaunlich gebildet?«

Wer aber schärfer zuhörte, merkte, daß Ulli nur sagte, was sie von irgend einem gescheiten Manne aufgeschnappt hatte; originelle Gedanken waren es nicht mehr.

»Sie haben ihren geistigen Magen doch überladen,« dachte Doktor Fritz grimmig. »Der Geist bedarf eben Zeit, um zu reifen; künstlich gezeitigten Früchten fehlt der Geschmack.« Aber er hütete sich, seine Weisheit vor den beleidigten Tanten auszusprechen.

Als man am Abend die Herren nach der Station begleitete, wandelte Tante Selma mit dem Professor voraus; Fräulein Kläre hatte den Philosophen gekapert, um sich mit ihm über Schopenhauer zu streiten; Ulli blieb demzufolge für den Doktor übrig. Sie schwatzte noch eine Weile von allem möglichen, bis sie auf einmal merkte, daß er ganz in Gedanken versunken neben ihr herschritt. Das ärgerte sie und sie schwieg; stumm gingen sie nebeneinander und freuten sich nicht einmal über den wunderbaren Abend, den der Mond verklärte und der Nachtigallensang durchtönte.

»Ich habe noch eine Frage auf dem Herzen!« sagte der Doktor so wie einer, der ganz unerwartet einen Böller losschießt.

»An mich?« fragte Ulli zurück.

»Ja, an Sie. Was gedenken Sie einmal mit ihren vielen Kenntnissen anzufangen?«

»Aber das ist eine komische Frage. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Was sollte ich andres damit anfangen, als die Tanten? Es ist eben ein großes Vergnügen, zu lernen.«

»Und dann? Und dann?«

»Wirklich, ich verstehe nicht, was Sie wollen.«

Ulli war ärgerlich; in Gedanken wußte sie jetzt hundert Antworten; aber sie erwiderte kein Wort.

»Nächsten Sonntag kommst du doch wieder, Fritz?« fragte die Tante beim Abschied; sie konnte dem guten Jungen nicht ernstlich böse sein.

»Wenn du erlaubst, Tante Professor.«

Auf dem Heimwege merkten die drei Damen, daß sie verstimmt waren, und daran trug Doktor Fritz die Schuld; er schien wirklich in Ungnade gefallen.

»Ich finde, Fritz hat sich nicht zu seinem Vorteil verändert,« bemerkte Fräulein Kläre.

»Er geht eben ganz in seinem Berufe auf,« sagte die Professorin. Ulli schwieg; sie beantwortete in Gedanken noch immer seine Frage; aber keine Antwort wollte so recht passen. Am nächsten Sonntage stellte sich Doktor Fritz pünktlich wieder ein: er ertrug mit Geduld die Anspielungen Fräulein Kläres, daß gebildete Männer eine Abneigung gegen gebildete Frauen hätten; er nannte Ulli das civilisierte Kind civilisierter Tanten, fühlte sich offenbar sehr behaglich und so kehrte die alte Herzlichkeit Tante Selmas und Fräulein Kläres auch bald zurück.

Ein exklusiver Kreis fand sich sonntäglich im Rokokoschlößchen zusammen. Es war eine internationale Gesellschaft, moderne Sprachen schwirrten durcheinander und über die verschiedensten Gegenstände wurden die Meinungen ausgetauscht. Aber es wurden auch Spaziergänge unternommen, auf einem kleinen See gerudert, und manchmal gönnte man der Jugend das Recht, sich im Freien in muntern Spielen zu ergehen.

Doktor Fritz versäumte nicht, sich jeden Sonntag einzufinden. Mit Ullis Bildung zeigte er sich mehr ausgesöhnt, denn er fand sie, wenn auch manchmal in ihren Meinungsäußerungen vorlaut, doch immer herzlich und fröhlich, dankbar und zärtlich gegen die Tanten und Andreas. Sie war ein glückliches junges Menschenkind, und warum hätte sie es auch nicht sein sollen? Bewundert und geliebt, ja angebetet von zwei vorzüglichen Frauen, das ist schon viel; jung, gesund und unabhängig, das ist vielleicht noch mehr.

Auch an Verehrern fehlte es nicht. Ulli fand ein wenig Kurmachen gar nicht so übel, und es ärgerte sie sogar, daß Doktor Fritz nicht zu ihren Bewunderern zu gehören schien; aber sie bevorzugte keinen der Herren. Wurde sie von Tante Kläre geneckt, so lief sie ein bißchen rot an, nahm es aber nicht übel; ihr Herz hatte noch nicht gesprochen, und weil sie fast nie einen Roman las, beschäftigte sie ihre Phantasie auch weniger als andre junge Mädchen mit der Erwartung eines kommenden Glücks, was ohnedies ein nicht ungefährliches Vergnügen ist. Ulli kannte nur die Freude am Lernen und den Ehrgeiz, schnell ein gestecktes Ziel zu erreichen; träumerische Sehnsucht kannte sie nicht.

Es war ein großer Augenblick für Ulli, als eines Tages Frau von Holder mit ihren Töchtern anlangte und sie ihre Verwandten in ihrem eigenen Hause aufnehmen konnte. Frau von Holder staunte. War denn dieses schöne junge Mädchen, das mit soviel Anstand wie Liebenswürdigkeit die Wirtin spielte, dasselbe Wesen, das heulend vom Frühstückstische weggeführt wurde, im Garten Wutmelodien sang und sich aus Kummer die Zöpfe abschnitt?

»Gott sei Dank,« sagte Frau von Holder zur Frau Professor, »das Blut der Wattevilles hat sich endlich geltend gemacht; aber ich habe gewußt, daß es so kommen würde.«

»Wir sind bis jetzt so anmaßend gewesen, auch uns ein kleines Verdienst an Ullis Entwicklung beizumessen,« bemerkte die Frau Professor sehr trocken.

»Aber meine teure Frau Professor, Sie haben mich falsch verstanden,« rief Frau von Holder, die durchaus nicht die Absicht hatte, die Dame zu beleidigen. »Niemand weiß es besser als ich, was wir Ihnen alles verdanken.«

In ihrem Innersten blieb jedoch dem Wattevilleschen Blute das Hauptverdienst an dem glänzenden Resultate.

Die Cousinen betrachteten Ulli jetzt als gleichberechtigt. Gabriele war mit dem Herrn von Reiffenstein verlobt; die Hochzeit sollte im Herbst sein, doch schien sie die Ausstattung noch mehr zu interessieren als der Bräutigam. Als eine Braut beanspruchte sie aber die erste Rolle; sie gewann Leonie stets den Vortritt ab, machte öfter schnippische Bemerkungen und mengte sich in alles ein. Leonie war noch stiller geworden und hatte traurige Augen; sie schrieb in ihr Poesiebuch Gedichte von Lenau, Geibel und Heine, spielte auf dem Klavier »die letzte Stunde eines Unglücklichen« und suchte Vergißmeinnicht, die sie auf Briefbogen klebte.

Sobald sie Ulli allein sah, fragte sie: »Hast du schon eine Täuschung gehabt?«

Ulli wurde über und über rot und mußte zu ihrem Bedauern gestehen, daß sie eine Täuschung noch nicht erfahren habe. Worauf Leonie seufzte und sagte: »Man macht sehr schmerzliche Erfahrungen.« Mehr wollte sie nicht erzählen; aber Gabriele verriet, daß Leonie an einer unglücklichen Liebe leide, doch sei es verboten, davon zu reden, damit sie sie bald wieder überwinde.

Vetter Eduard erschien gleichfalls, um Mutter und Schwestern abzuholen; er war ein sehr stattlicher Mann geworden, ganz Dandy; er sprach im Offizierston, erzählte gern Anekdoten und rühmte sich höchst wunderbarer Reiterstückchen und Jagdabenteuer. Er machte geheimnisvolle Anspielungen auf ein Duell, sprach mit Gleichgültigkeit von Millionen und war durch nichts in Erstaunen zu setzen. Das erste aber was er that, war, daß er sich in seine schöne Cousine verschoß und zwar ganz ernsthaft.

Gabriele fand es furchtbar interessant, aber Leonie schüttelte den Kopf und sagte sehr weise: »Wenn es nur nicht mit einer Täuschung endet!«

Fräulein Kläre flatterte an diesem Sonntage Doktor Fritz entgegen; sie flatterte immer, wenn sie erregt war.

»Fritz, ich glaube, er wird ihr einen Antrag machen,« flüsterte sie.

»Wer?« donnerte Doktor Fritz, als habe er ein Recht, diesen unbefugten Antragsteller niederzuschlagen.

»Schreie doch nicht so furchtbar, Fritz! – Wenn Frau von Holder ...«

»Aber so antworte mir doch, Kläre, wer macht einen Antrag?«

»Nun, der Bankierssohn – der Vetter, das heißt nicht der richtige Vetter, sondern der Stiefvetter ...«

Doktor Fritz gab einen so grimmigen Laut von sich, daß die kleine Dame stockte. »Warum sagst du mir das alles?« brachte er dann hervor.

»Selma und ich, wir sind dagegen; wir wollen doch lieber, daß Ulli einmal einen sehr berühmten Professor heiratet.«

»Habt ihr schon einen in Vorrat?

»Ich bitte dich, Fritz, rede doch nicht in dieser Weise; das hat doch Zeit, Ulli ist noch wie ein Kind. Darum haben wir uns auch gar nichts dabei gedacht; aber heute früh war das Benehmen des Vetters Eduard doch etwas auffallend und ließ der Vermutung Raum ... Aber mein Gott, wie siehst du denn aus, Fritz? Ich glaube, das ewige Kinderpflegen bekommt dir nicht.«

»Mir fehlt nichts – mir fehlt gar nichts,« stieß Doktor Fritz hervor. Fräulein Kläre fand, daß seine Nerven überreizt sein müßten; er sah außerordentlich blaß aus.

»Vielleicht wäre es doch besser, daß du zuvor einen Imbiß einnähmest,« ermahnte sie.

»Zuvor? Was soll dann geschehen?« forschte er hastig.

»Nun, wenn du nicht auf dem Imbiß bestehst, könnten wir gleich in den Park gehen; sie sind beide eben hinaus spaziert, und ich fürchte, wie ich dir schon sagte, daß er ...«

»Aber wenn sie ihn nun lieb hat?«

»Unsinn! Ulli denkt noch gar nicht an Liebhaben; sie ist in diesem Punkte ganz kindlich – Gott erhalte sie noch recht lange so!«

Beide hatten schon den Weg nach dem Parke eingeschlagen. Doktor Fritz machte ungeheure Schritte; Fräulein Kläre wußte kaum, wie sie den Platz an seiner Seite behaupten sollte. »Ich denke,« keuchte sie atemlos, »wenn seine Erklärung unterbrochen würde und wenn man dann mit Ulli vernünftig reden könnte –«

»Und ihr den berühmten Professor verspräche,« brummte Doktor Fritz grimmig.

»Ich kann nicht weiter,« erklärte das kleine Fräulein und blieb atemlos stehen; sofort mäßigte Doktor Fritz seine Ungeduld. Auf einmal aber kniff ihn Fräulein Kläre in den Arm, denn hätte sie nicht gekniffen, würde sie aufgeschrieen haben; das gesuchte Paar stand bei einer Biegung des Weges vor ihnen, als sei es aus der Erde heraufgestiegen.

Ulli traf ein sehr forschender, ärztlicher Blick – derselbe Blick durchforschte darauf Eduard und nach diesen Forschungsreisen erlaubte sich das linke Auge des Doktors lustig zu zwinkern; ja er zeichnete sich später an diesem Tage sogar durch eine ganz vortreffliche Laune aus. Gabriele erklärte ihn für sehr amüsant, obgleich ein wenig plebejisch, und Leonie bemerkte: »Der Doktor scheint in seinem Leben noch keine Täuschung gehabt zu haben.« Eduard aber schien geradezu eine Abneigung gegen ihn zu fassen; er war auffallend still, und wenn er redete, war's nicht im Offizierston, sondern gerade so, wie andre Leute reden, was seine Schwestern als ein Zeichen von Niedergeschlagenheit deuteten.

»Ich glaube, Ulli hat ihm einen Korb gegeben,« sagte Gabriele; Leonie aber meinte: »Der arme Eduard! Er hat nicht an so schmerzliche Enttäuschungen glauben wollen; meinst du, daß er sich totschießen wird?«

»Du faßt alles so tragisch auf, Leonie; er wird einfach eine andre heiraten; ihm fehlt's doch nicht an Partien, er hat die Auswahl.«

Als Doktor Fritz acht Tage später auf dem Rokokoschlößchen erschien, waren die Verwandten wieder abgereist. Frau Professor und Fräulein Kläre fühlten sich von dem Besuche etwas erschöpft; nur Ulli merkte man keine Ermüdung an, sie war im Gegenteil zu einem tüchtigen Spaziergange aufgelegt; aber da es ganz gehörig regnete, hatte Fräulein Kläre keine Neigung, sie zu begleiten.

»Fürchten Sie sich auch vor dem Regen, Doktor?« fragte Ulli und stellte sich im Regenmantel, hochgeschürzt vor ihn hin. Doktor Fritz fürchtete sich nicht, und so wanderten die beiden hinaus in Regen und Sturm; aber das Wetter war ihnen ganz gleichgültig.

Ulli hatte sich längst gewünscht, einmal mit Doktor Fritz über allerhand Sachen, die ihr im Sinne lagen, zu reden. »Erinnern Sie sich noch, als wir am ersten Abend, den Sie bei uns zubrachten, nach der Station gingen, haben Sie mich etwas gefragt. Können Sie sich dieser Frage erinnern?«

»Ganz gut, Fräulein Ulli. Sie sind mir aber die Antwort schuldig geblieben. Sie fanden meine Frage nur komisch.«

»Ich habe über Ihre Frage öfters nachgedacht; aber meine Studien sind wirklich derart, daß ich kaum wüßte, sie anders als zu meinem eignen Vergnügen anzuwenden.«

»Ehrlich gesprochen, eine Bildung, die keinen andern Zweck hat, als sich selbst und einige geistreiche Besucher daran zu ergötzen, scheint mir geringern Wert zu haben, als ein beschränktes Wissen, das andern zugute kommt und zugleich die eigne Existenz sichert.«

»Ich glaube, die Tanten haben nur die Absicht gehabt, mich recht vielseitig zu bilden.«

»Wenn ein Mann in dieser Weise gebildet wäre, würde man sagen, daß er untauglich sei.«

»Also Sie meinen, ich sei untauglich, Doktor?«

»Ich habe von Männerbildung gesprochen, Fräulein Ulli. Wir Männer haben bei unsern Studien immer ein bestimmtes Ziel im Auge; wir streben alle nach einer Stellung, in der wir unsre Kenntnisse und Kräfte zum Nutzen des Staates und unsrer Mitmenschen verwerten und zugleich unser Brot verdienen können.«

»Darin liegt eben der Unterschied zwischen Männern und Frauen. Frauen haben das nicht nötig.«

»Sie meinen wohlhabende und reiche Frauen; denn arme und unbemittelte Frauen müssen sich, gerade wie die Männer, ihr Brot verdienen, und deshalb danach streben, sich in einer bestimmten Richtung auszubilden.«

»Tante Selma tritt aber doch immer für die Rechte der Frauen ein, Doktor.«

»Ja, das thut sie wohl; aber sie vergißt, daß, wer Rechte verlangt, Pflichten übernehmen muß, und diese Pflichten sind nicht immer leicht und bequem. Sehen Sie, ich habe so meine eignen Gedanken; aber Sie dürfen mich nicht auslachen, Fräulein Ulli.«

»Wie können Sie das nur denken, Doktor! Was Sie sagen, ist mir ganz neu und interessiert mich sehr.«

»Ich glaube, daß, wenn der liebe Gott – um mich Ihnen deutlich zu machen, will ich bildlich reden, so als ob der liebe Gott jedes Menschlein mit besondern Eigenschaften ausstaffierte – also ich glaube, daß mit den verschiedenen Gaben, die den Menschen verliehen werden, auch Verpflichtungen verknüpft sind, und daß diese Gaben erst beglücken und Segen bringen, wenn sich die Menschen den damit verknüpften Pflichten unterziehen. Haben Sie mich verstanden?«

»Ich hoffe. – Sie meinen, daß jemand, der z. B. reich ist, gar nicht das Recht habe, den Reichtum allein zu seinem Vergnügen zu verwenden.«

»Sie haben mich sehr gut verstanden, Fräulein Ulli. Denn sehen Sie, wenn der liebe Gott die einen reich, vornehm, klug und talentvoll machte, und die andern arm, gering, einfältig und ungeschickt, könnte man ja denken, er wäre ungerecht. Die Reichen aber sollen ihren Reichtum ja gar nicht für sich allein behalten, sondern sie sollen ihn benützen, um das Elend zu lindern, um Kunst und Industrie zu unterstützen; ja noch mehr, sie sollen Studien machen, die den Armen versagt sind, um dann wieder durch ihre Kenntnisse die Menschheit zu fördern.«

»Es scheint mir, daß Sie recht haben, Doktor.«

»Und Sie glauben gar nicht, Fräulein Ulli, wie viel Elend es in der Welt giebt. Ich denke, wenn jeder Mensch – natürlich je nach seinen Kräften und seinem Vermögen – daran arbeitete, das Elend zu lindern, so würde auch nicht so viel Unzufriedenheit, Neid und Mißgunst unter den Armen herrschen und die Menschen würden nicht gegenseitig so erbittert aufeinander sein. Aber sehen Sie sich nur um; die einen bilden sich wirklich ein, daß sie ein Recht hätten, allein zu genießen, und daß es in der Ordnung wäre, wenn andre ihr Leben lang in Not und harter Arbeit litten. Ist es dann nicht natürlich, daß diese Unglücklichen auch nur daran denken, wie sie sich das aneignen möchten, was die andern genießen? Aber wenn sie es – natürlich nicht auf rechtliche Weise – errungen hätten, würden sie nicht besser, sondern gerade so egoistisch handeln. Und doch thut Hilfe not. Niemand weiß das besser als ein Arzt; Sie glauben gar nicht, wie oft ich mir wünsche, reich zu sein, um besser helfen zu können. Sie sollten nur einmal diese schwächlichen, bleichen, kleinen Wesen sehen; Medizin macht sie nicht gesund, aber gute Nahrung, sonnige Wohnung und Reinlichkeit würden sie kräftigen; ja da steht man und kann nicht helfen, weil man die Mittel dazu nicht besitzt ...«

Ullis Hand legte sich auf seinen Arm, ihr Auge, mit Thränen gefüllt, blickte ihn an: »Trauen Sie mir zu, daß ich helfen könnte?«

Es überkam ihn selbst fast wie Rührung; das hatte er nicht von ihr erwartet; er meinte, sie würde es leicht nehmen; die Leute beklagen wohl, daß es soviel Elend giebt, aber ans Helfen denken nur wenige.

»Es freut mich, daß Sie mich verstanden haben, Fräulein Ulli,« sagte er herzlich und drückte ihre Hand.

»Ich will Ihnen etwas bekennen, über das ich mit den Tanten nie zu reden gewagt habe,« fuhr sie fort, als habe er sie durch seine Teilnahme ermutigt. »Ich habe nämlich noch immer ein schlechtes Gewissen wegen der kleinen Kascha, die durch meine Schuld ins Wasser gefallen ist, und wenn sie ertrunken wäre, so hätten Sie mich zehnmal retten können – ich wäre doch ins Wasser gelaufen.«

»Da hätten Sie sehr unrecht gethan, Fräulein Ulli; ein Unrecht büßt man nicht durch den Tod, sondern durch ein ganzes Leben.«

»So denke ich jetzt auch; ich erzähle Ihnen nur, wie elend mich der Tod des Kindes gemacht, und daß ich damals so gehandelt haben würde. Heute sage ich mir, daß ich noch diese Schuld abzubüßen habe, denn mein Leichtsinn und meine Nachlässigkeit waren nicht geringer, weil das Kind gerettet wurde. Nur wußte ich niemals, wie ich es anfangen sollte; aber nach Ihren Worten ist es mir klar geworden.«

»Was wollen Sie thun, Fräulein Ulli?« fragte er mit stockendem Atem.

»Es wird einen Kampf geben mit den guten Tanten; dabei dürfen Sie mich nicht verlassen. Was ich als Kindermädchen verschuldet habe, das kann ich auch nur an Kindern wieder gutmachen, nicht wahr? Wollen Sie mein Lehrer sein? Darf ich zu Ihnen ins Hospital kommen, damit Sie mich lehren, die kranken Kinder pflegen und unterhalten.«

Er nahm ihre beiden Hände, aber antworten konnte er nicht sogleich.

»Habe ich etwas Dummes verlangt?« fragte Ulli erschreckt.

Er nahm sich zusammen. »Nein, Fräulein Ulli; ich befürchte nur, Ihren Vorsatz hat der Augenblick geboren und Sie werden ihm nicht treu bleiben. Die Pflichten, die Sie übernehmen wollen, sind sehr schwer.«

»Ich bin noch nicht zu Ende, Doktor. Die Gegend ist hier ist sehr gesund, nicht wahr?«

»Die Gegend ist gesund; wo wollen Sie denn hinaus, Fräulein Ulli?«

»Ich will das Rokokoschlößchen als Kinderspital einrichten. – Sie sind der Arzt daran und ich helfe Ihnen pflegen. Wollen Sie meinen Plan unterstützen?«

Seine Stimme hatte einen sonderbaren, heisern Ton, als er sagte: »Ich hab's schon in Sieding gemerkt – Sie haben ein großes Herz, Fräulein Ulli. Ich habe mich nicht getäuscht – Gott segne Sie.«

Der Kampf mit den guten Tanten war durchaus nicht leicht; aber Ulli hatte darauf bestanden, ihn sogleich durchzufechten. Fräulein Kläre schwamm in Thränen: »Hast du deshalb die Klassiker aller civilisierten Länder gelesen, um jetzt kleinen Kindern Märchen zu erzählen und Medizin einzugeben?«

»Ulli,« warnte die Tante Selma, »du unternimmst etwas, das du gar nicht durchführen kannst; erinnere dich an deine Erfahrungen als Kindermädchen; du wirst mit lauter ungebildeten Personen verkehren müssen.«

»Daß eine gebildete Person darunter sein wird, dafür kann ich am Ende einstehen,« bemerkte der Doktor trocken.

»O Ulli,« rief Tante Kläre und flatterte vor ihr umher. »Du behandelst uns so schlecht wie die Kinder der Frau Schellhas; du kränkst uns so, daß du es ja in deinem ganzen Leben nicht wieder gutmachen kannst!«

Ulli nahm das jammernde kleine Fräulein auf den Arm und tanzte mit ihr herum, und dann malte sie aus, daß sie die Sonntage gemeinschaftlich verleben, und wie glücklich sie dann sein und wie viel sie sich dann zu erzählen haben würden.

»Ulli,« sagte Tante Selma, »mit Krankengeschichten verschone mich wenigstens; ich kann sie nicht vertragen.«

Aber sie merkten wohl, daß Ullis Wille nicht mehr zu erschüttern wäre, und daß Doktor Fritz den Sieg davongetragen habe.

Als sie sich an diesem Abend trennten und Ulli ihm die Hand gab, ruhte sie ein Weilchen in der seinen, und ohne Worte schlossen sie einen Bund gemeinsamen Strebens, vereint in hingebender Menschenliebe.

Anstatt die Griechen, studierte Ulli jetzt Fröbelsche Spiele; sie dachte sich Märchen aus und übte sich Kinderliedchen ein. Sobald die Tanten für die Winterszeit nach Wien zogen, begann Ullis Dienst im Hospital. Jeden Morgen ging sie im einfachen schwarzen Kleide hin, band sich eine weiße Schürze vor und trat an die Krankenbetten der Kleinen.

Doktor Fritz hatte nie eine gelehrigere Schülerin besessen; sie versäumte nie eine Anordnung und scheute auch nicht vor der unangenehmsten Beschäftigung zurück. Von den Kindern wurde sie »Tante Engel« genannt. Wenn Ulli verband, dann schmerzte es nicht, wo sie zuredete, da verstummte das Klagen, auch die bitterste Medizin wurde genommen, und wenn sie erzählte, da war alles Leid vergessen.

Der Winter war schon vergangen und Ulli hatte noch nicht einmal bereut, sich dem ernsten Berufe gewidmet zu haben; keine Beschäftigung, kein Vergnügen hatte ihr je eine gleiche Befriedigung gewährt. Am Sonntag, der ganz den Tanten gewidmet war, suchte sie dann diese durch Zärtlichkeit und gute Laune für die Zeit zu entschädigen, die sie fern von ihnen im Hospitale zubrachte.

Natürlich stellte sich auch Doktor Fritz an den Sonntagen ein. »Wir sind wie zwei gute Kameraden,« sagte er, »wir ziehen gemeinschaftlich an demselben Karren und wollen dann auch gemeinschaftlich die Muße genießen.«

»Ich glaube, er bildet sich ein, unsre Ulli gepachtet zu haben,« meinte Fräulein Kläre, und Tante Selma sagte: »Das ist der Welt Lauf.«

Der Ausspruch klang etwas orakelhaft, aber Fräulein Kläre schien ihn zu verstehen und sagte: »Ich hab's mir schon im Sommer gedacht, weißt du, als die Holders uns besuchten und Eduard den Antrag machte.«

* * *

Ulli war zuerst zu den leichtern kleinen Patienten gekommen und allmählich zu den schwereren aufgerückt. Nur die abgesonderte Baracke, in der die Diphteritiskranken lagen, hatte sie noch nicht betreten dürfen.

Nun brach im Frühjahr eine Epidemie dieser verderblichen Krankheit aus, und die Krankenwärterinnen wurden Tag und Nacht außerordentlich angestrengt. Die eine von ihnen, Frau Josephe, der Ulli besonders zugethan war, klagte ihre Not: »Ich kann mich kaum auf den Füßen halten,« sagte sie; »dazu habe ich heftige Kopfschmerzen, und doch muß ich in dieser Nacht wieder in der Baracke bleiben, weil niemand da ist, der mich vertreten kann.«

»Ich will Sie vertreten,« entgegnete Ulli; »denn ich denke doch, daß mir der Doktor auch einmal die schwereren Patienten während einer Nacht anvertrauen kann.«

»Das giebt der Doktor nicht zu,« meinte die Frau, »der läßt Sie um keinen Preis dahin.«

»Nun, das wollen wir doch sehen,« sagte Ulli und ging sogleich in das kleine Zimmer, in dem Doktor Fritz stets zu finden war.

»Ulli,« rief er erfreut, und kam ihr entgegen, »machen Sie mir auch einmal einen Besuch?«

»Ja, ich will Sie um eine Gunst bitten, Doktor. Frau Josephe ist unwohl und überangestrengt, darf ich für sie in dieser Nacht in der Baracke bleiben?«

Da brach der Sturm auch schon los. »So!« rief der Doktor. »Sie denken wohl, ich habe gar kein Gewissen?«

»Eben, weil ich glaube, daß Sie ein Gewissen haben, bin ich gekommen.«

»Wie sollte ich mich denn vor den Tanten rechtfertigen, wenn ich so etwas zugäbe. Da müssen Sie gar nicht wissen, was ich Tante Selma alles versprochen habe.« Er stellte sich ans Fenster und trommelte wild auf die Scheiben; dann, ohne sich umzuwenden, sagte er: »Wenn ich Sie bitte, davon abzulassen, werden Sie's dann aufgeben?«

»Doktor,« sagte Ulli, »wenn Ihre Mutter Sie gebeten hätte, nicht zu den Cholerakranken zu gehen, was hätten Sie gethan?«

»So etwas hätte mich meine Mutter gar nicht gebeten, denn sie wußte, daß es meine Pflicht war, zu den Cholerakranken zu gehen.«

Er hatte sich bei diesen Worten umgedreht und kam bleich und erregt auf Ulli zu.

»Ich denke auch, daß es meine Pflicht ist, diese Nacht in der Baracke zu wachen,« sagte Ulli; aber sie sagte es viel leiser und viel unsicherer, und dann wurde sie rot und senkte die Augen.

Doktor Fritz nahm ihre Hand. »Wenn Sie sich ansteckten« – seine Stimme brach – »ich könnt's nicht ertragen, Ulli. – Wenn Sie wüßten – wie ich Sie liebe – Sie würden das nicht von mir verlangen.«

Sie stand vor ihm in holder Verwirrung; ihre Augen füllten sich mit Thränen, sie wußte ja in diesem Augenblicke, daß auch sie ihn liebte. Aber sie wollte jetzt noch nicht an das berauschende Glück denken, von ihm geliebt zu sein. Eine Stimme rief in ihr: »Erst die Pflicht.« Die Stunde, in der sie um einer Neugierde willen das anvertraute Kind vernachlässigte, war ihr eine furchtbare Lehre gewesen.

»Ich weiß einen Ausweg,« sagte sie schüchtern. »Hätten Sie etwas dawider, wenn wir beide bei den Kindern wachten? – Ich werde auch jede Vorsicht gebrauchen, die Sie verlangen – ich will ja gern leben – ich – ich bin ja so unendlich glücklich.«

Da breitete er seine Arme aus; vor Bewegung konnte er kein Wort reden. Ulli aber flüchtete zu ihm, denn sie wußte ja, daß sie bei ihm sicher geborgen ruhte.

So kam's, daß Ulli wachte und Frau Josephe schlafen durfte. Es war eine schwere, sorgenvolle Nacht, und das glückliche Brautpaar fand keine Zeit zu zärtlichem Geplauder; das eine der Kinder war dem Tode nahe; mit Hilfe eines zweiten Assistenten mußte ein Einschnitt in den Hals gemacht werden, um es vor dem Ersticken zu schützen.

Was für eine Hilfe war Ulli in dieser Stunde! Jeden Blick verstand sie, jedes Winkes war sie gewärtig.

»Wünschen Sie mir nicht Glück?« fragte Doktor Fritz den zweiten Arzt gegen Morgen.

»Well Ihnen die Operation so gut gelungen ist?«

»Nein, weil Fräulein Ulli meine liebe Braut ist. Kann sich ein Arzt wohl eine bessere Gefährtin wünschen?«

Ja, da konnte ihm der junge Mann von Herzen gratulieren, obgleich er von diesem Ereignis nicht gerade so überrascht wurde, wie Doktor Fritz zu glauben schien.

»Nun wird's aber arg,« hatte Fräulein Kläre ausgerufen, als ihr am Abend eine kurze Note Ullis übergeben wurde, in der diese nur meldete, daß sie, um eine Wärterin zu vertreten, im Hospital bleiben würde.

Sehr mißgestimmt flatterte das kleine Fräulein von einem Zimmer ins andre; Frau Professor, die gerade die Kammerverhandlungen las, behauptete, sie könne wegen Kläres Unruhe nicht damit zu Ende kommen; aber es war Ullis Ausbleiben, das sie störte; sie konnten auch nicht schlafen in dieser Nacht, und als der Morgen kam, waren beide Damen wirklich auf dem Punkte, ihre gute Laune zu verlieren.

Da traten Ulli und Doktor Fritz ein, und von ihnen strahlte ein Glück aus, dessen Widerschein die Tanten verklärte. Wer hätte wohl an Vorwürfe denken können, als Ulli von einer zur andern flog, um sie zärtlich zu umarmen und zu küssen, bis Doktor Fritz endlich eifersüchtig wurde und rief: »Jetzt will ich auch einmal an die Reihe kommen.«

Da war das große Geheimnis enthüllt! Ulli war eine Braut.

»Ich bin zwar kein berühmter Professor,« meinte Doktor Fritz und zwinkerte mit dem linken Auge. »Aber was nicht ist, kann ja noch werden.«

* * *

Jahre sind vergangen; das Rokokoschlößchen ist zu einem Kinderhospitale eingerichtet worden, darin ›Professor‹ Doktor Fritz gemeinschaftlich mit seiner Ulli waltet. In einer reizenden kleinen Villa, etwas abseits im Parke, wohnen während der Sommermonate die Tanten; den alten Andreas aber deckt das Grab.

Von weit und breit kommen Eltern und bringen vertrauensvoll ihre kranken Lieblinge. Die höchste Kunst kann freilich nicht allen helfen; aber viele sind doch so glücklich, mit gesunden Kindern wieder in ihre Heimat zu ziehen.

Doktor Fritz ist wirklich ein berühmter Mann geworden und sein Ruf weit über Österreichs Grenzen gedrungen. Doch zugleich mit ihm wird seine junge Frau gepriesen. Sie ist es, die den kranken Kindern die Liebe der fernen Mutter ersetzt. Von früh bis spät weilt sie in den Sälen oder man trifft sie, ihr eignes kleines Büblein auf dem Arme, mit den Genesenden in den herrlichen Anlagen des Parks. Ulli ist der gute Engel des Hauses, und ihr Name wird nie ohne einen Segensspruch genannt.


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