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VI. Menschenrechte, Handelsbilanz und Cythere

Mit der Überführung der königlichen Familie in die Tuillerien begann die Emigration. Die erste, die sich empfahl, war die Intimissima der Königin, die Gräfin Polignac, und kaum weniger eilig entfernte sich Graf Artois, der nach seiner Auffassung nichts mehr in Frankreich zu tun hatte und dem ein Schweif Adeliger folgte, um an kleinen deutschen Höfen für die gerechte Sache der Monarchie zu werben. Es gab unter ihnen viele aufrichtige Getreue des alten Systems, aber auch viele, die den Ratten eines sinkenden Schiffes glichen …

Versailles verödete; denn auch die Nationalversammlung übersiedelte nach Paris, wo sie in der Salle du Manège, der königlichen Reitschule, tagte. Robespierre mietete sich in zwei sehr einfachen Zimmern in der Rue Saintonge ein, die er sogar eine Weile mit einem jungen Manne teilte, der ihm zeitweise als Sekretär diente oder seine Reden abschrieb; denn Robespierres Augen waren schwach und bedurften immer wieder großer Schonung. Noch ein dritter Zimmergenosse war da: die dänische Dogge Brount. Der Rechtsanwalt aus Arras war seiner Tierliebe treu geblieben, und da man in einem Mietszimmer nicht gut Tauben züchten kann, hielt er sich eben einen Hund. Wie in Arras war auch hier seine Lebenshaltung die denkbar einfachste. Jean Jacques' Reich, die Nationalversammlung, der Jakobinerklub, das war der Kreis, in dem sich seine Tage bewegten. Mehr hatte er nicht und mehr brauchte er nicht, um sein Leben als ausgefüllt und befriedigend zu betrachten.

Gleich Pilzen schössen in jenen bewegten Tagen politische Männer- und auch Frauenklubs aus der Erde, die im Lauf der Jahre ihre Meinungen zwar nicht änderten, aber doch, wie man heute sagen würde, »ausbauten«, nämlich, jeder in seiner Art, immer versteifter und unduldsamer wurden. Sie alle überragte mit immer wachsender Macht der Jakobinerklub, der mit Robespierres Namen unlöslich verknüpft bleibt. Aus ihm ging der Klub der Cordeliers hervor, den die ganz wilden »Enragés« als Tummelplatz des wüstesten Radikalismus gegründet hatten. An Bedeutung wesentlich geringer war der Klub der Feuillants, der die sogenannten »Gemäßigten«, nämlich die Muß-Republikaner und die heimlichen Royalisten, umschloß.

Zunächst freilich, da noch die Parteiinteressen im Hintergrunde standen und ein großer Gedanke alle umfing, fanden sich im Jakobinerklub Elemente zusammen, die späterhin weit auseinander gehen und sich buchstäblich bis aufs Blut bekämpfen sollten. Da ist Camille Desmoulins, der stotternde Schulfreund Robespierres, gleich ihm Jurist und ein politischer Draufgänger, dessen Witz ebenso flink ist wie seine Zunge ungelenk. Da ist noch ein anderer Jurist, der über und über verschuldete, verlotterte Advokat Danton mit dem vulkanischen Temperament und der Donnerstimme, die alle mit fortreißt. Da ist Chaumette, dessen subalternem Hirn später die Idee entspringen wird, die Kirche Notre-Dame in einen »Tempel der Vernunft« umzuwandeln. Und Pétion ist da, der eitle Tyrannenhasser, der sich am Tage von Varennes einbilden wird, daß des Königs Schwester, Madame Elisabeth, ihm schöne Augen mache. Und Graf Mirabeau ist da, der adlige Volkstribun, mit dem feisten pockennarbigen Schlemmergesicht, der die Nöte des Landes mit seiner Assignatenflut zu kurieren meint und der vielleicht die Monarchie hätte retten können, wenn ihm ein längeres Leben beschieden gewesen wäre, († 2. April 1791.) Und die Abgeordneten der Gironde sind hier, die nicht ahnen, daß eben von diesem Klub aus dereinst ihr Untergang beschlossen werden wird. Ihnen gesellt sich ein wenig später Roland de la Piatière, der langweilige, ältliche Inspektor aus Lyon, der über ein Weilchen und für ein Weilchen Minister spielen darf und der trotz seines wechselvollen und tragischen Geschicks nur durch seine ebenso verstiegene wie heroische Frau berühmt werden wird. Auch der Baron Cloots ist da, der steinreiche närrische deutsche Baron, der zu gleicher Zeit die Revolution und Friedrich den Großen anbetet und eine der vielen deutschen Motten ist, die trunken in das große Licht flogen, das im Westen aufgegangen war, und die elend in ihm verbrannten. Auch Marat wäre hier zu sehen, wenn er sich nicht just wegen eines anhängigen Verfahrens – Aufreizung zum Aufruhr – versteckt hielte, Marat, der ehemalige Stallarzt des Herzogs von Orléans, der blutröteste aller Kommunisten, und bald der Abgott der Straße, der er das Recht auf Plünderung und Mord zuspricht. Auch Hébert ist da, der frühere Bediente und Theaterbilletteur, der gemeinen Diebstahl hinter sich hat, bald aber sein berüchtigtes Blatt » Père Duchêsne« herausgeben wird. Und noch viele andere sind da, deren Namen zur Revolution gehören, teils sehr, teils weniger ehrenwerte Erscheinungen (Revolutionäre können nicht gar so wählerisch sein!), und die Aufnahme in den Klub, der in dem alten Kloster der Jakobiner seine Sitzungen hält, ist nicht so einfach, wie man denken sollte. Wer aufgenommen werden will, muß zwei Paten haben, und am Eingang des Klublokals wird strenge Kontrolle geübt. Als Kontrolleur steht dort neben einem kleinen Schauspieler der Herzog von Orléans! Da sage noch einer, daß dieser Königsvetter nicht ein echter Volksfreund ist!

Niagarafälle von Reden brausen jetzt über Paris hin. In den Klubs wird geredet, in den Cafés wird geredet, auf öffentlichen Plätzen wird geredet, ganz zu schweigen von der Nationalversammlung, die bald zu einem geredeten Ozean anschwillt. Und da Druckerschwärze und Papier geeignet sind, Zungengeläufigkeit wirksam zu unterstützen, stürzen Kaskaden von neu gegründeten Zeitungen auf die nach innerpolitischen Nachrichten gierige Bevölkerung herab. Marats » Ami du Peuple« gesellt sich Desmoulins » Revolutions de France et de Brabant«, Brissots » Patriote français«, Barères » Point du jour«, Corsas » Courrier de Versailles«, Carra und Merciers » Annales patriotiques«. Ihnen stehen natürlich ebenso viele oder beinahe ebenso viele reaktionäre Blätter gegenüber, und diese wie jene verstehen es meisterhaft, die Bevölkerung immer aufs neue zu beunruhigen, ihr immer wieder einen wirklich oder angeblich aufgedeckten Putsch der Gegenpartei zu servieren. Verständigung und Frieden kommen auf diese Art natürlich nicht zustande, wohl aber fressen Hader und Haß sich immer tiefer ein, – aber was liegt daran? Jeder sagt zwar, daß das Land, das Allgemeinwohl seine größte Sorge sei und sein müsse, in Wahrheit aber wird sehr bald die Partei, die Parteimeinung über alles andere gestellt. Mag das Land zugrunde gehen, wenn nur die Partei erhalten bleibt!

Robespierres Partei ist die der »Bedrückten«, und Bedrückung ist in seinen Augen alles, was von rechts vorgeschlagen oder vertreten wird. Er redet viel für und noch mehr gegen, besonders gegen Mirabeau, der wohl ein Fortschrittler, aber keineswegs ein Umstürzler ist und den er in seinem Herzen verachtet, »weil sein Charakter unlauter ist«. Dieser gewiß nicht unrichtigen Behauptung stellte Mirabeau das anerkennende Wort gegenüber, das ebensoviel Menschenkenntnis wie Zynismus verrät: »Dieser Mensch wird viel erreichen, denn er glaubt, was er sagt.« Ja, dies unterschied den Advokaten aus Arras wesentlich von sehr vielen der Männer, die sich in jenen Tagen mit den Geschicken Frankreichs befaßten. Er glaubte durchaus, was er sagte. Nie gab es für ihn Konjunktur, Schwenkung. Er fühlte sich berufen, nicht nur Frankreich sondern die ganze Welt von Sklaverei und Elend zu befreien, – wie hätte er da zaudern oder an seinen eigenen Worten zweifeln können? »Oh, wer von uns fühlte nicht all seine Kräfte wachsen, sich nicht über die Menschen hinausgehoben bei dem Gedanken, daß er nicht nur für ein einzelnes Volk kämpft sondern für die ganze Welt.«

Er kämpft ununterbrochen und unverdrossen. Er kämpft gegen das Gesetz über den Belagerungszustand, er kämpft für das allgemeine, an keine steuerliche Leistung gebundene Wahlrecht, er kämpft für die Priesterehe (»Man muß Mittel suchen, um die Interessen der geistlichen Beamten fester mit den Interessen der Allgemeinheit zu verbinden. Darum ist es notwendig, sie durch jegliches Band an die Gesellschaft zu fesseln …«) und gegen die Todesstrafe, er kämpft gegen das Recht des Königs und für das Recht der Nation, über Krieg oder Frieden zu entscheiden. Bei dieser Gelegenheit entfährt ihm der Lapsus: »Der König ist nichts weiter als der Beauftragte der Nation!« Da aber erhob sich ein Sturm der Entrüstung, und der Redner mußte das böse Wort zurücknehmen und sich verbessern: er habe nur ausdrücken wollen, »dem Monarchen fällt die erhabene Aufgabe zu, den Volkswillen zu erfüllen«. Schön umschrieben, aber es kommt doch auf den »Beauftragten« hinaus.

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Graf Mirabeau.
Gezeichnet von J. Guerin, gestochen von Fiesinger.
Wien, Porträtsammlung der Nationalbibliothek

Selbstverständlich kämpfte er auch für Pressefreiheit, erst recht für die Gleichstellung der Farbigen mit den Weißen (für Frankreichs Kolonien eine sehr wichtige Frage!) und für Abschaffung des Sklavenhandels. Man kann sich denken, daß die Plantagenbesitzer von Domingo für solche Neuerungen nicht zu haben waren, und als Grégoire mit kräftigen Worten für die Gleichberechtigung der Farbigen mit den Weißen eintrat, rief ihm der Kreole Moreau de Saint-Méri zu: »Wenn ihr bei uns die Menschenrechte einführen wollt, ists mit Frankreichs Kolonien zu Ende!« Da aber begann Robespierre zu donnern, ja, er donnerte wahrhaftig, ob seine Stimme auch schrill klang und sich in Momenten großer Erregung überschlug: »Es handelt sich gar nicht darum, den Farbigen die Gleichberechtigung zu geben, sondern vielmehr darum, sie ihnen zu erhalten, da sie sich ihrer schon durch die Bestimmungen der Nationalversammlung erfreuten, die sie jedem Bürger ohne Ansehen der Hautfarbe zugesprochen haben.« Und weiter: »Ich werfe die Frage auf, ob es sich mit der Würde einer gesetzgebenden Körperschaft verträgt, sich in Verhandlungen mit den Interessen, dem Geiz und dem Hochmut einer bestimmten Gesellschaftsklasse einzulassen? Ich werfe die Frage auf, ob es diplomatisch ist, sich durch Drohungen einschüchtern und zu Verhandlungen über Menschenrecht, Gesetz und Menschlichkeit bringen zu lassen?« Übrigens betonte er ganz richtig, daß man ja in Hinsicht der Kolonien auch die Lesart anders anwenden könne. Man könne z. B. sagen, daß die Kolonien durch Aufstände der Farbigen verlorengehen könnten, weil diese auf ihrer Gleichberechtigung bestünden. Hatte San Domingo nicht schon, und zwar in jüngster Zeit, solch schreckliche Aufstände erlebt? Auch Barnaves Befürchtung, daß die große Meerspinne England sich (vielleicht im Namen der Menschlichkeit?) auf die Kolonien stürzen könnte, sobald dort Farbige gleiche Rechte mit Weißen besäßen, machte auf Robespierre keinen Eindruck. Er meinte, daß man auch hier die umgekehrte Lesart anwenden könne und sagen: Die Engländer werden sich auf die Kolonien stürzen, sobald es dort Meuterei und damit Wehrlosigkeit gibt! Wie in manch anderem Punkt kam man schließlich (sicher zum Mißvergnügen Robespierres) zu einem Kompromiß: die Kinder freier Farbiger erhielten die Gleichberechtigung mit den Weißen, dagegen verpflichtete sich die Nationalversammlung, niemals eigenmächtig in die Kolonialverwaltung einzugreifen, sofern es sich um unfreie Farbige handeln würde.

Völlig entmutigend aber mußte es für den Anwalt der Bedrückten und den inbrünstigen Bekenner der Menschenrechte sein, daß die Nationalversammlung sich dem Sklavenhandel gegenüber so gleichgültig verhielt. Man hätte ja auch in der Tat denken sollen, daß eine Körperschaft, die unablässig die Worte »Freiheit«, »Menschenrechte«, »Gleichheit« im Munde führte, mit einem einzigen Atemzug der Entrüstung den Menschenschacher aus Frankreichs Handelsbilanz hinweggeblasen hätte. Aber ach! in jeder Volksvertretung finden sich Köpfe, die nicht nur an das Ethos, sondern auch an besagte Handelsbilanz denken, und die französische stand in diesen Tagen sehr schlecht! Herzbewegend klagte eine an die Nationalversammlung gesandte Deputation aus Bordeaux, daß daselbst im glorreichen Jahre 1789 vierzehnhundertneunzehn Schiffe weniger ausgelaufen seien als im Vorjahr, und mit ihr klagten andere, daß der Sklavenhandel unmöglich aufgehoben werden dürfe, da sonst der Handel nach den Kolonien vernichtet würde, Frankreich 140 Millionen an Einkünften verlieren müsse und England den ganzen Negerhandel an sich reißen könne, ohne irgendwelchen Konkurrenten fürchten zu müssen.

Menschenrechte, Gleichheit und Freiheit sind schöne Dinge, aber vor dem Worte »Handelsbilanz« knicken sie etwas zusammen, und vor dem Gespenst »England macht allein das große Geschäft« kapitulieren sie. Da man aber in Frankreich nichts ohne eine schöne Geste tut, versprach der Präsident, daß er versuchen wolle, »die Interessen des Handels und die Gesetze der Freiheit in Einklang zu bringen«. Worauf der Sklavenhandel bestehen blieb …

Am 14. Juli 1790, dem Jahrestag des Bastillensturms, wurde auf dem Marsfeld das große Verbrüderungsfest der Nation gefeiert. Gemeinsam mit bezahlten Arbeitern hatte ganz Paris, den König nicht ausgenommen, um die Wette geschaufelt, geharkt, gegraben, um das gewaltige Amphitheater herzustellen, das Hunderttausende von Personen fassen mußte. Hand in Hand mit der Hauptstadt sollten ja alle Départements auf dem von zweihundert Priestern geweihten Altar die neue Freiheit, die neue Verfassung beschwören. Hatten vor einem Jahr Zehntausende aus Furcht Paris verlassen, so strömten ihm in diesen Tagen Tausende und aber Tausende zu. Jeder öffnete den Brüdern von auswärts gastlich seine Wohnung, jeder Pariser, der sich sonst über den Provinzialen lustig gemacht hatte, hielt es für Bürgerpflicht, einen Provinzler zu beherbergen.

Das Fest verlief, trotz immer wiederkehrender Regengüsse, ganz programmäßig. Getreu den veränderten Verhältnissen, die dem König nur den zweiten Platz im Reiche anwiesen, schwur zuerst die Nationalversammlung den Bundeseid, den Lafayette laut vorlas. Dann schwur der König, »die Verfassung zu ehren und all seine Macht für den Vollzug der Gesetze einzusetzen«, war bis zu Tränen gerührt, und dann gab es ein allgemeines Freiheits- und Freudengeschrei, das während des ganzen folgenden Te Deums anhielt … Viel echte und falsche Ergriffenheit … sehr viel Spektakel … daneben auch eine ergötzliche Episode, deren Verfasser der närrische steinreiche Baron Cloots war.

Schon vor etlichen Wochen war er an der Spitze einer phantastischen »Deputation« in der Nationalversammlung erschienen, hatte sich ihr als »Sprecher des Menschengeschlechts« vorgestellt. Hinter ihm marschierte »das Menschengeschlecht«, nämlich kunterbunt Vertreter von allerlei Nationen: ein Chinese, ein Österreicher, ein Preuße, ein Spanier, ein Engländer und – man lache nicht! – auch ein Chaldäer mit der traditionellen spitzen Chaldäermütze. All diese Nationen hätten, so sagte Cloots, die Wundermäre von Frankreichs Freiheit vernommen, hätten sich auf den Weg gemacht, um dies Glück mit Augen zu sehen, und hegten nun den heißen Wunsch, dem Verbrüderungsfest anwohnen zu dürfen.

Der Präsident der Nationalversammlung war offenbar weniger geschichtskundig als gefaßt. Ihn störte der Repräsentant der ausgestorbenen Chaldäer nicht im geringsten und darum willfahrte er, wiederum mit schöner Geste, dem Wunsch des Menschengeschlechts und seines Sprechers und lud die absonderliche Deputation ein, an dem Feste teilzunehmen und bei der Heimkehr zu berichten, wie herrlich sichs nunmehr in Frankreich lebe. (Er verstand offenbar schon einiges von Auslandspropaganda!)

So erschien Cloots mit seinen fremdsprachigen Schützlingen auf dem Marsfelde und kümmerte sich blutwenig darum, daß etliche journalistische Spötter behaupten wollten, die ganze Sache sei nur eine Farce, denn die Ausländer, die er da mitführte, seien kostümierte Theaterstatisten und Tagediebe. Bedauerlicherweise scheint einer seiner Ausländer, vielleicht der Chaldäer, sehr kurzsichtig gewesen zu sein; denn nach Beendigung des Festes trat dieser Kurzsichtige, einen ganz fremden Herrn für Cloots haltend, auf diesen fremden Herrn zu und – bat um die fällige Bezahlung!! Die journalistischen Spötter hatten also Recht behalten, und Cloots sowie der Herr Präsident waren einigermaßen lächerlich.

Was fingen nun die braven Provinzialen mit ihrem Abend an, als das Fest zu Ende war? Gingen sie bieder in ihr Mietszimmer oder zu ihren Gastfreunden, zogen die Nachtmütze über die Ohren, die gewiß noch surrten vom Geschrei des Marsfeldes, und sagten sie vor dem Einschlafen: O wie sanft ruht sichs im Schoße der Freiheit? Solche Vorstellung wäre sicher im Sinne Robespierres gewesen, und vermutlich stellte er sich den Ausklang des großen Tages ungefähr unter diesem Bilde vor. Aber ein eigens für diese Festzeit erschienener »Fremdenführer« wußte besser Bescheid um die Herzen und Sehnsüchte der Provinz. Darum jammerte dieser ausgezeichnete Mentor, daß nicht nur die Hotels garnis ihre Preisein Anbetracht des Fremdenstroms bedenklich in die Höhe geschraubt, sondern daß leider auch die Damen, mit denen man gerne nach Cythere segelt, die Fahrpreise merklich erhöht hätten. Um aber die Sehnsüchte des Provinzlers zu stillen und ihn dennoch vor Ausbeutung zu bewahren, verriet er Namen, Wohnung und Tarif von zweiundsiebzig gastlichen Seglerinnen, deren Jollen im Palais Royal (das Palais Royal war ein Freihafen Cytheres) oder dessen Nähe vor Anker zu gehen pflegten … Und dieser »Fremdenführer« wurde in den Straßen von kleinen Mädchen, die etwa sieben oder acht Jahre zählten, kolportiert! »Ich weiß nicht«, so berichtet ein Augenzeuge dieser ungeheuerlichen Art von Kolportage, »wie es bei den Bacchanalien im alten Rom zuging; denn niemand hat uns eine Schilderung davon hinterlassen. Aber keine Stadt der antiken Welt, kein einziges Volk, von dem ich weiß, hat eine derartige Verderbtheit zur Schau geboten.« (Goncourts.)

Von all solchen Dingen des Alltags wußte Robespierre nichts. Hätte er geahnt, daß Paris an diesem Festtag Kinder zu Ausrufern des Lasters machte, so wäre gewiß heiliger Zorn über ihn gekommen, und vielleicht hätte er doch einige Zweifel gehegt, ob der Mensch von Natur aus wirklich so rein und gut sei, wie sein Abgott Rousseau behauptet. Er aber wußte nichts von diesen kleinen Mädchen, die nicht für »Bedrücker«, sondern für »Brüder« einen Preiskurant des Lasters ausriefen. Er, der Ideologe und Träumer, war zweifelsohne von diesem Fest und den Früchten, die der Freiheitsbaum gezeitigt hatte, hochbefriedigt. Der großen Verbrüderung zuliebe hatte man ja alle Geburtstitel, Wappen und Livreen abgeschafft; nur das Königspaar behielt seinen Titel, alle anderen Franzosen, ob Fürst oder Bettler, hießen fürderhin einfach »Bürger«. Welch ein Schritt vorwärts zum Paradies auf Erden! Doch noch ist es fern, noch muß eifrig geackert, geharkt, geschaufelt und geredet werden, bis der Zukunftsstaat erscheinen kann, von dem Jean Jacques spricht und Maximilien Robespierre träumt. Indes die »Brüder« aus der Provinz sich auf Cythere vergnügen, wacht Robespierre über Frankreich, das heute schon auf sein Wort hört und das ihm morgen gehören wird.


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