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VII. Wo ist der König?

Am Morgen des 21. Juni 1791 erfuhr Paris eine Nachricht, die es betäubte: die Königsfamilie war entflohen. Ungeachtet alles Argwohns und der strengen Bewachung durch Lafayettes Nationalgarden war es dem König gelungen, samt seiner Frau, seinen beiden Kindern, seiner Schwester Elisabeth, Madame de Tourzel (Erzieherin der Königskinder) und einer kleinen getreuen Dienerschaft zu entkommen. Nächtens hatte eine eigens für diesen Zweck gebaute Reisekutsche sie aufgenommen, und da Paris die betäubende Nachricht empfing, rollte besagte Kutsche schon der belgischen Grenze zu.

Unverzüglich trat die Nationalversammlung zusammen. Ihre Entrüstung war groß, kaum minder groß aber die Verlegenheit, was nun eigentlich zu beginnen sei. Denn immer noch war der König König, Herr seiner Handlungen, und verfassungsgemäß war die Nationalversammlung zunächst gar nicht berechtigt, Maßregeln gegen ihn zu ergreifen. Doch Verfassungen sind, wie Grundsätze, dazu da, um verletzt zu werden, und so verübte die Nationalversammlung eilig einen kleinen Staatsstreich und nahm die Gewalt des abwesenden Monarchen an sich. Sandte Botschaft an die Bürgerschaft von Paris, daß sie sich ruhig verhalten, aber dennoch bereit sein solle, nötigenfalls das Vaterland zu verteidigen. Sandte nach allen Richtungen Eilkuriere, die Weisung gaben, jedermann aufzuhalten, der die Grenze überschreiten wollte. Ermächtigte die Minister, der Nationalversammlung anzuwohnen, Staatsratssitzungen abzuhalten und die Anordnungen der Nationalversammlung ohne Aufschub und weitere Formalität zu vollziehen. Auch wurde der Brief verlesen, den der König für die Nationalversammlung hinterlassen hatte und in dem er die Gründe seiner jähen Entweichung angab: der Wunsch, mit den Seinen einen sichereren Wohnort als Paris und bessere Wohngelegenheit aufzusuchen als die Tuilerien. Denn die Tuilerien waren viele Jahrzehnte lang nur noch von kleinen Hofpensionären bewohnt worden und daher in ganz verwahrlostem Zustande.

Man konnte diese beiden Königswünsche je nachdem berechtigt oder verräterisch finden – zur Zeit blieb nichts übrig als den Lauf der Dinge abzuwarten. Es würde zu weit führen, alle Einzelheiten dieser Flucht, deren klägliches Ende ja allbekannt ist, zu erzählen, – sie scheiterte weit weniger an der Rührigkeit der Nationalversammlung oder an tückischen Zufällen, als an der naiven Sorglosigkeit, mit der Graf Fersen sie inszeniert und mit der die Königsfamilie sich da und dort verzögert hatte.

Endlich, nach zwei bangen Tagen, kam aus Varennes die Nachricht, daß der Postmeister Drouet, ein strammer Demokrat, die Königsfamilie, die unter falschem Namen reiste, erkannt habe und den Befehlen der Nationalversammlung entgegensehe. Unverzüglich wurden drei Kommissare, darunter Pétion und Barnave, abgesandt, um die Flüchtlinge heimzuholen.

Gleich dem Weiberzug vom 6. Oktober 1789 glich auch diese Heimfahrt einem Höllenbreughel. Wie aus Abgründen, Gossen und Kloaken ausgespien strömte Gesindel von allen Seiten herbei, überflutete die Straße, umdrängte die Kutsche, johlte, schrie Hohnworte in die erblassenden Gesichter der Flüchtlinge, sprang auf die Trittbretter der Kutsche, warf sich so wild und frech gegen die Königin, daß ihr das Kleid in Fetzen vom Leibe hing. Die Kommissare, von denen sich Barnave im Gegensatz zu Pétion sehr ritterlich erwies, glaubten in ihrem Innern nicht, daß es ihnen gelingen würde, die königliche Familie lebend heimzubringen.

In Paris empfing sie dumpfes, grollendes Schweigen, das fast noch unheimlicher war als der Abschaum der Landstraße. Gleichviel, ob man annahm, daß die Flucht aus eigener Initiative des Königs hervorgegangen oder ob er (wenig glaubhaft!) von fremden revolutionsfeindlichen Mächten entführt worden sei, – die Sympathien, die er bislang immer noch besessen hatte, schrumpften zusammen. Von Ladenschildern wurden die Namen des Königs und der Königin – sonst eine so wirksame Reklame! – entfernt, ihre Bilder in die Seine geworfen. Immer lauter und empörter schrie die verhetzte Stadt: Verrat!

Alsbald begannen auch in der Nationalversammlung die Verhandlungen über die Folgen dieser unseligen Flucht. Die Meinungen über diesen Punkt waren scharf geteilt. Die Rechte betonte die durch die Verfassung verbürgte Unverletzlichkeit der königlichen Person, aber die Linke, besonders Robespierre, wollte davon nichts wissen. Dem Radikalismus Pétions, der im Jakobinerklub den Antrag gestellt hatte, Ludwig abzusetzen, widersprach Robespierre jedoch ebenso nachdrücklich, wie der Klub getan hatte. Nicht Mitleid mit dem armseligen Flüchtling trieb ihn zur Schonung, wohl aber die Befürchtung, daß dieser Antrag, sofern er die Majorität der Versammlung nicht fände, vielleicht willkommenen Anlaß böte, den Klub aufzuheben. Doch mit aller Energie sträubte er sich gegen die Absicht der Rechten, die auf beiden Achseln zu tragen, das heißt, den König zu schonen und zugleich der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen gedachte, indem sie scheinbar strenges Gericht halten und Frau von Tourzel und die treuen Diener, die bei der Flucht behilflich gewesen, aburteilen lassen wollte! Aber Robespierre ließ sich durch solche Spiegelfechterei nicht irre machen. »Wenn der König nicht schuldig ist, gibt es auch keine Mitschuldigen. Wenn es ein Beweis von Schwäche ist, einen mächtigen Schuldigen laufen zu lassen, so ist es eine Feigheit, einen schwachen Schuldigen aufzuopfern. Entweder strenge Bestrafung oder völligen Freispruch!«

Frau von Tourzel und die Dienerschaft will er entlasten, aber dafür den Grafen von Provence, der, glücklicher als sein Bruder, in eben derselben Schicksalsnacht über die Grenze entkommen war, in contumaciam in Anklagezustand versetzen, denn es war anzunehmen, wenn auch nicht erwiesen, daß er um die Flucht des Königs gewußt und sie begünstigt hatte. Diese Forderung rief heftige Bewegung hervor, und es erging an Robespierre die Frage, ob er denn Beweise für seine Anklage hätte. Vor knapp einem Jahr hatte sein schmaler Mund die milden Worte gesprochen: »Niemand darf ohne Beweis angeklagt werden!« Heute aber gibt derselbe schmale Mund eine Antwort, die Murren hervorruft und wie ein erstes Signal künftiger Schrecknisse ist: »Wenn ich Beweise hätte, brauchte man diese Angelegenheit nicht erst zu erörtern!«

Der Antrag Laclos, daß Ludwig der Krone verlustig erklärt werden sollte, ging zwar ebensowenig durch wie der andere, der eine Volksabstimmung über das Schicksal des Königs forderte, aber Robespierres Triumph in diesen Sturmtagen ward darum nicht geringer. Als er in einer der vielen Reden, die er damals hielt, die Worte sprach: »Angesichts der Schrecknisse, die ich als unvermeidlich voraussehe, wäre mir der Tod eine Erlösung; denn dann brauchte ich nicht Zeuge der kommenden Ereignisse zu sein«, rief Camille Desmoulins: »Wir alle sind bereit, mit dir zu sterben«, und achthundert Mitglieder der Versammlung schwuren, sich um Robespierre zu sammeln, »und boten durch ihre feurigen Worte und Gebärden sowie durch das Unerwartete dieses ganzen Auftritts ein hinreißendes Bild.«

Wie war der kleine Advokat aus Arras doch gewachsen seit dem Tage, da er zum ersten Male, zitternd vor Lampenfieber, die Tribüne der Nationalversammlung bestiegen hatte! Eben war er zum Staatsanwalt des Departements Paris-Versailles ernannt worden, Danjou schlug ihn als Erzieher für den Dauphin vor, und wenn der Sonnenkönig einst von sich gesagt hatte: »Der Staat, das bin ich!« so rief Camille Desmoulins begeistert aus: »Wo Robespierre ist, da ist die Nationalversammlung!«

Schon erzählt man im Jakobinerklub, daß die Eltern eines Täuflings ihrem Kinde den Namen »Robespierre« gegeben haben. Über ein Weilchen wird der Bischof von Burges, Torné, der für die nächste Legislaturperiode kandidiert, an ihn schreiben: »Wie glücklich würde ich mich schätzen, könnte ich mir den Namen »Der kleine Robespierre« erringen, und im Salon von 1791 sind schon zwei Porträts von ihm zu sehen und in den Auslagen der Papierläden prangt sein Bild.

Woher stammt nun diese große und stetig wachsende Popularität? Hat er sie wirklich nur seinen Reden zu danken, die für unsere modernen Begriffe allzu schwulstig, allzu reich mit Zitaten und Zitierungen antiker Persönlichkeiten gespickt sind? Und werden solche und ähnliche Reden nicht auch von anderen Mitgliedern der Nationalversammlung gehalten, die über bestechendere äußere Mittel verfügen als der schmächtige Mann mit der schrillen Stimme? Gewiß besaß Frankreich, das Land der guten Redner, damals viele, die wirksamer sprachen als er, und auch die Ansichten, die er vertrat, waren so ziemlich Allgemeingut. Worin lag also der starke Eindruck begründet, den er hervorrief?

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Robespierre im Jahre 1791
Nach einem Gemälde von Danloux.
Kopie von Vigneron im Museum zu Versailles

Es ist interessant genug, diesem Problem nachzuspüren. Es ist ja selbstverständlich, daß in Revolutionszeiten leicht populär wird, wer sich immer und überall gegen die Besitzenden und für die Entrechteten stellt. Zweifelsohne bildete diese Stellungnahme das Fundament für Robespierres Beliebtheit beim Volk, aber andererseits konnte man sich wundern, daß eben dies außer Rand und Band geratene Volk sich für diesen korrekten Mann mit dem blütenweißen Jabot, dem zierlich aufgerollten Haar und der etwas modrigen Würde begeisterte. Aber es war etwas um ihn, das immer bannt und überall Ehrfurcht erzwingt: die Reinheit. Nicht nur jene Reinheit, die einst in Arras die Frauen lüstern gemacht hatte, sondern eine Reinheit höherer Art. »Der Unbestechliche« hatte Madame Guyard sein von ihr gemaltes Porträt benannt, das sie im »Salon« ausstellte, und unbestechlich in jedem Sinne ist er gewesen. Diesen jungen Mann besticht kein Weib, nicht der schäumende Becher der Tafelfreuden, nicht die Lust, in Reichtümern zu wühlen, zu genießen und zu verschwenden. Mirabeau bewohnt, als wäre er ein Grandseigneur alten Stils, ein herrliches Palais, festiviert so toll, daß nach seinem Tode eine bekannte Tänzerin es für nötig hält, sich in der Öffentlichkeit dahin zu rechtfertigen, daß der Volkstribun nicht an ihrer vergifteten Umarmung gestorben sei. Danton wird, sobald er zur Macht gelangt ist, das Schwelgerleben fortsetzen, das seine Finanzverhältnisse so desolat gemacht hatte. Hunderte, Tausende haben sich schamlos bereichert und werden sich schamlos bereichern, wie es bei jedem großen Zusammenbruch geschieht, – der Advokat aus Arras aber hält seine Hände, sein Leben so rein wie sein blütenweißes Jabot. Nichts kann ihn bestechen, auch keine Phrase! Unbeirrbar an der Idee hängend, für die er bereit ist zu sterben, sieht er mit seinem durch das Mißtrauen geschärften Blick in die Herzen der Menschen und weiß zu unterscheiden zwischen Überzeugung und Lippendienst. Er sieht, wie um ihn her die Korruption steigt, wie so viele, ach! so viele, die zuerst »Patrioten« gewesen, jetzt Ausbeuter des Staates, Konjunkturjäger geworden und auf nichts bedacht sind als auf den eigenen Vorteil. Er sieht so viele, ach! so viele, die »Das Vaterland« sagen und nur die eigene Partei meinen, er aber, »der Unbestechliche«, sieht mit der Kraft der eigenen Reinheit und des geschärften Mißtrauens ihre unreinen Herzen und ihre unreinen Hände. Unbestechlich durch Geld wie durch Laster oder Phrasen, schreitet er, den kurzsichtigen Blick starr auf seine Idee gerichtet, den Weg, den Jean Jacques gewiesen hat und dem er noch eine letzte Krönung geben will. Aber noch steht er erst am Anfang dieses Wegs, noch denkt er vielleicht nicht an das allerletzte Ziel, oder nur in mehr gefühlten denn fest umrissenen Vorstellungen. Klar im Sonnenlicht liegend wird ihm dieser letzte Anstieg erst erscheinen, wenn Marats Wahnwitz die Kirchen schließt, statt der Himmelsmutter nackte Weiber auf Altäre stellt und verkündet, daß Vernunft der Menschheit Göttin und Glückseligkeit sei …

Am 17. Juli 1791 ereignete sich auf dem Marsfeld das, was französische Geschichtschreiber je nach ihrer politischen Einstellung »das unselige Mißverständnis« oder »die Metzelei« nennen. Es war eine der Nachwehen von der Flucht des Königs; denn das aufgeregte und von wilden Demagogen aufgepeitschte Volk begehrte (wie die Drahtzieher ihm einbliesen), auf dem Marsfeld wieder einmal den Schwur auf das Vaterland zu leisten und zugleich auf dem Altar des Vaterlandes ein Gesuch zu unterzeichnen, das die Absetzung Ludwigs forderte. Tausende von Bürgern samt Weibern und Kindern (denn auch Kinder sollten das Gesuch unterzeichnen!) hatten sich eingefunden, als »das unselige Mißverständnis« seinen Lauf anhub. Ob die umherschwirrenden Gerüchte von einem Aristokratenputsch recht hatten, läßt sich heute wohl ebenso schwer feststellen, wie sich bei allen ähnlichen Gelegenheiten feststellen läßt, von welcher Seite der erste Schuß gefallen ist. Genug, daß er fiel. Die Nationalgarde gab, getreu dem soeben verkündeten Gesetz über den Belagerungszustand, Feuer, und alsbald bedeckten Leichen das Feld mit dem Altar des Vaterlandes.

Man kann sich die allgemeine Erregung vorstellen, die dies grausame Ereignis hervorrief, ganz besonders bei radikalen Abgeordneten, die, wohl nicht mit Unrecht, fürchten mochten, daß nun der nicht abgesetzte König und seine Anhänger an ihnen das Absetzungsgesuch rächen würden. Mehr denn einer floh oder verbarg sich geschickt, und Frau Roland, die damals noch Beziehungen zu Robespierre unterhielt, schien in großer Sorge um ihn zu sein. Danton, Fréron, Camille Desmoulins und der Metzger Legendre zogen es vor, in dieser Julinacht, und wohl auch in folgenden, nicht in ihrer Wohnung zu schlafen. Robespierre dachte wohl an solche Vorsicht nicht, aber als er vom Marsfeld heimging und die aufgeregte Menge ihm, dem »Unbestechlichen«, dem Anwalt der Bedrückten und Entrechteten, eine Ovation darbringen wollte, schien ihm der Vorgang doch peinlich, und mit dem hilflosen Blick der Kurzsichtigkeit suchte er nach einem Wagen oder einer offenen Haustüre, um sich dieser gefährlichen Huldigung zu entziehen. Da trat aus einem bescheidenen Haus der Rue St. Honoré (heute 398) der Schreinermeister Duplay, der Robespierre schon vom Jakobinerklub her kannte, und bot ihm eine Zuflucht vor der ihn umdrängenden Menge an. Gerne betrat der Abgeordnete das Haus, dessen Rückseite nach weiten Klostergärten schaute, während sich im Parterregeschoß die Werkstätte Meister Duplays befand. Er trat ein, meinte wohl nach einer halben Stunde mit etlichen Dankesworten wieder zu scheiden, und ahnte nicht, daß hier, in diesem bescheidenen Bürgerhause, inmitten dieses einfachen Handwerkerkreises, die glanzvollste Epoche seines kurzen Lebens anheben, vorüberziehen und verbleichen sollte.

Die Familie Duplay bestand aus dem Ehepaar, einem halbwüchsigen Sohn und drei Töchtern, Eleonore, Viktoria und Elisabeth. Sicherlich war diese biedere Spießbürgerfamilie sehr entzückt, daß ihr Haus durch die Anwesenheit eines populären, ja berühmten Mannes geadelt wurde, und zweifelsohne schwangen sie das Weihrauchfaß vor ihm, daß seine Eitelkeit, die mit seinem Ansehen wuchs, davon umnebelt wurde. Und weil er nebenbei ein unpraktischer, nur mit seiner Idee beschäftigter Junggeselle war, der gleich allen anderen Junggesellen mit den täglichen kleinen Miseren abgerissener Knöpfe, schlecht gebügelter Wäsche und schiefgetretener Absätze zu kämpfen hatte, mochte es ihm gar lieblich klingen, als Mama Duplay fürsorglich meinte, am besten wäre es doch, wenn Herr Robespierre sein Quartier in der Rue Saintonge aufgäbe und als Mieter in das Haus Duplay zöge.

Da hebt denn jenes Leben an, das Danton kurz und wegwerfend mit den Worten kennzeichnet: »Robespierre lebt unter Idioten und Klatschbasen«, und das gerade durch den Gegensatz, den es zu dem politischen Leben Robespierres bildet, ein absonderliches und reizvolles Kleinbürgeridyll darstellt.

Robespierre bewohnte bei den Duplays ein einziges Zimmer, an das, wie man es in alten Pariser Häusern. findet, ein liliputhaftes Toilettenkabinett anstieß. Das Zimmer, das Schlaf- und Arbeitsraum in sich vereinte, war, nach unseren Begriffen, nur notdürftig eingerichtet: ein Nußbaumbett mit einer geblümten Damastdecke, ein Tisch, vier Strohstühle, ein Bücherbord – das war das ganze Meublement. Doch der neue Mieter war ja die Bescheidenheit selbst! Es dauerte nicht lange, da war er auch Pensionär bei den Duplays, nahm seine Mahlzeiten in ihrem Familienkreise ein, in dem er sich bald wie ein Sohn des Hauses vorkam und wie ein geliebter Sohn bewundert und angebetet wurde. Mit Vater Duplay saß er im Jakobinerklub, mit dem halbwüchsigen Moritz stand er auf freundschaftlichem Fuß, mit den Töchtern lachte, scherzte und botanisierte er, letzteres allerdings in bescheidenem Maßstabe, denn der Garten der Duplays bestand eigentlich nur aus einem großen Blumenbeet, von dem jede der Schwestern ein Eckchen bepflanzte und hegte. Mama Duplay aber sorgte als gute Hausfrau, daß dem verehrten Mieter nichts fehle, daß er stets die von ihm sehr geliebten Orangen als Nachtisch bekam. Und aus gutem Herzen bewunderte sie ihn vermutlich jeden Tag aufs neue, wenn er sein Kunststück vormachte, auf das er sehr stolz war: er konnte nämlich Orangen mit einer Hand schälen, ohne die zweite zu Hilfe zu nehmen.

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Robespierre in seinem Heim.
Anon. Gemälde der Zeit.
Aus: Buffenoir, Tafel 15

So war der Zuschnitt seines Lebens fast der gleiche geblieben wie in Arras, nur in einem Punkt gönnte er sich mehr als früher: im Kult seiner äußeren Erscheinung. Gepflegt war er immer gewesen, immer von einer peinlichen Akkuratesse, nun aber entfaltete er einen gewissen diskreten Luxus. Die Wäsche von feinstem Stoff, die Röcke von bestem Tuch, das blütenweiße Jabot zart wie ein Hauch, Strümpfe und Schuhe nicht nur auf Haltbarkeit, sondern auch auf Schönheit berechnet. Und Tag für Tag kam der Friseur, um Herrn Robespierre zu rasieren und das Haar zierlich aufzurollen.

Und noch einen anderen Luxus gönnte er sich dann und wann, wenn man Kunstgenuß zum Luxus rechnet: er ging ab und zu ins Theater, denn er war ein Verehrer der Tragödie, vornehmlich der Tragödien, die antike Stoffe behandelten, aus denen er Beziehungen zur Gegenwart herüberleiten konnte. Anderen Künsten stand er wohl ziemlich fern. Er war zwar befreundet mit David und regte durch den Wohlfahrtsausschuß Preiskonkurrenzen für junge bildende Künstler an, aber diese Bestrebungen dienten weniger künstlerischen als politischen Zwecken, denn die Künstler sollten fast immer Vorwürfe zur Verherrlichung der Revolution wählen.

Außer seinem eigenen bescheidenen Zimmer stand ihm auch die gute Stube der Duplays zur Verfügung. Da versammelte er jeden Donnerstag abend seine Freunde und Verehrer um sich, mit denen er angeregt disputierte, das Vaterland rettete und es der ewigen Glückseligkeit entgegenführte. Gerne las er ihnen auch Szenen aus Racine oder Corneille vor. Da lauschte denn Vater Duplay wohl geschmeichelt, wie in seinem bescheidenen Hause hohe Politik gemacht wurde, Mama Duplay ging lautlos ab und zu, den Gästen des berühmten Mannes kleine Erfrischungen bietend, die Töchter saßen wohl ein wenig abseits, die Köpfe tief über eine Handarbeit geneigt, und lauschten weniger auf Politik und Racine als auf ihre eigenen Gedanken. Elisabeth, die weitaus hübscheste von ihnen, wird bald das tragische Idyll ihrer kurzen Ehe mit Robespierres Freund, Lebas, erleben, Eleonore aber, nicht eben hübsch und ein wenig männlich von Aussehen, will, wie es heißt, höher fliegen, und unter den gesenkten Lidern hervor blickt sie heimlich auf den Mann mit der zierlich gerollten Frisur und dem blütenweißen Jabot. Verse strömen von seinen schmalen Lippen, Verse Racines, die wohl von hohen Gefühlen sagen, aber zuweilen erinnert sich auch Racine, daß Patriotismus allein nicht den Bestand der Welt verbürgen könne, und erlaubt auch der Liebe ein Wort zu sprechen. Ein wohlgedrechseltes, kühlvornehmes Wort, das von der gemeinen Alltäglichkeit der Dinge nichts zu wissen scheint, aber doch eben Liebe ist und heißt … Und ein junges Herz erkennt Liebe immer, auch wenn sie die Racinesche Allongeperücke trägt und auf gestelzten Alexandrinern einherschreitet. Darum schlägt Eleonorens Herz schneller, wenn sie aus Robespierres Mund vernimmt, daß auch Andromache und Berenice liebten, wennschon in Alexandrinern.

Welcher Art waren die Beziehungen, die Eleonore an Robespierre knüpften? War sie, wie viele behaupteten, seine Braut oder, wie etliche andere meinen, seine Geliebte? Vermutlich keines von beiden. Hamel, Robespierres begeisterter Biograph, ruft zwar einmal (als Camille Desmoulins die reizende Lucile Duplessis heiratet und Robespierre Trauzeuge ist) schmerzbewegt aus: »Auch er hatte seine Lucile gefunden, aber weniger glückbegünstigt als Camille, war es ihm nicht vergönnt, sie heimzuführen!« Doch darf man ruhig annehmen, daß dies zweite Lucilen-Idyll nur in Hamels Phantasie vorhanden war. Nichts spricht dafür, daß der Unbestechliche durch dies nicht sonderlich hübsche Mädchen entzückt oder bewegt worden wäre. Gewiß ist er in seiner Weltfremdheit nie auf den Gedanken verfallen, daß Mutter Duplay ihn zweifelsohne als Schwiegersohn zu angeln dachte oder daß irgendeine der Töchter sich in ihn hätte verlieben können. Ja er wird später sogar versuchen, seinen Bruder Augustin mit Eleonore zu verheiraten, und – ungemein bezeichnend für seinen Ideenkreis – er rühmt dem lebensfrohen Bruder die Braut mit den Worten: »Heirate sie! Sie besitzt eine große Seele und wird es verstehen, tadellos zu sterben!« Augustins Antwort ist leider nicht erhalten geblieben, aber sicherlich war Maximiliens Argument für ihn nicht überzeugend, denn er hat Eleonore nicht gefreit, dieweil es ihm bei den Frauen denn doch auf andere Dinge ankam, als auf Haltung im letzten Augenblick.

Ob Eleonore Robespierre von Herzen liebte, ob in ihr nur, wie in vielen unschönen Mädchen, der Ehrgeiz sprach, läßt sich nicht entscheiden. Sicher aber ist, daß sie nie geheiratet und bis zu ihrem erst 1834 erfolgten Tode um Robespierre trauerte, als wäre sie seine Witwe gewesen. Möglich, daß dies nur Pose war, die sich vor der Welt ein besonderes Ansehen geben wollte, aber diese Pose wäre zeitweise mit so viel Gefahr verbunden gewesen, daß man kaum glauben darf, dies Witwenkleid sei nur Eitelkeitslivrée gewesen. Wahrscheinlicher ist, daß sie es trug, weil sie diesen Mann mit einer stillen Treue geliebt hatte, die in der Tat für die große Seele spricht.

Doch in jenen Jahren 1791-1794 dachte niemand im Hause Duplay an Tod und Trauer. Im Gegenteil. Immer höher stieg die Sonne des neuen Zimmerherrn, immer wärmer schien sie auf das erwählte Haus, das ihn beherbergte. Am 30. September 1791 hielt die Nationalversammlung ihre letzte Sitzung. Ihr Werk war vollendet, der Ballhausschwur eingelöst worden: eine Verfassung stand da. Sie war weder lücken- noch makellos, – aber welches menschliche Werk dürfte sich rühmen, es zu sein?! Den weiteren Ausbau sollte die »gesetzgebende Versammlung« bringen, in die kein Mitglied der Nationalversammlung gewählt werden konnte.

Auf der Terrasse der Tuilerien harrte eine tausendköpfige Menge der Abgeordneten, die heute zum letzten Male die Rechte des souverän gewordenen Volkes vertreten hatten. Als Robespierre und Pétion sichtbar wurden, brach ein Sturm der Begeisterung los. Man umdrängte sie, man kränzte ihre Stirnen mit Eichenlaub, und umbraust von unaufhörlichen Rufen »Es lebe die Nation«, »Es lebe die Freiheit!« drängte sich eine junge Mutter durch die Menge und legte ihren Säugling in Robespierres Arme, als ob sie gewollt hätte, daß dieser »Vater der Freiheit« ihr kaum geborenes Kind segne. So wenigstens berichtet Hamel, und wenn man auch von diesem Bilde der Begeisterung etliches (vielleicht den Säugling) abziehen darf, so bleibt doch genug übrig, um zu glauben, daß es für die beiden jungen Abgeordneten ein stolzer Tag gewesen sein muß. Um sich den unablässigen Huldigungen der Menge zu entziehen, wollten sie einen vorüberfahrenden Wagen besteigen, aber die Menge schickte sich an, ihnen die Pferde auszuspannen und – o »freies« Volk! – selbst als Gäule zu figurieren …

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Eleonore Duplay.
Angeblich Selbstbildnis in Pastell.
Aus: Buffenoir, Tafel 71

Man kann sich denken, daß einem Unbestechlichen solcher Enthusiasmus zwar sehr gefällt, aber daß er sich deshalb doch nicht wie ein »Tyrann« alten Stils von vorgespannten Menschen über eine via triumphalis ziehen lassen darf! Robespierre verließ also alsbald die Zuflucht des Wagens und gelangte endlich doch, und zwar zu Fuß, in seine nur wenige Schritte entfernte Wohnung, wo er der entzückten Familie Duplay berichtet haben mag, wie es ihm soeben ergangen war. Sicher tat er es mit jener Gelassenheit, die seine Feinde Affektation, seine Freunde Sanftmut nannten, doch wenn er am Abend jenes 30. September allein in seinem einsamen Zimmer saß, dann mögen ihn Gelassenheit, Sanftmut oder Affektation wohl verlassen und ein Rausch gesättigter Eitelkeit und phantastischer Träume umfangen haben. Eine Nacht aus langvergangenen Zeiten stieg wohl wieder vor ihm auf: die Nacht im Collège Louis-le-Grand, in der er einst schlummerlos gelegen, während seine Kameraden ihre ruhigen Atemzüge in den Schlafsaal gesandt hatten.

Die Nacht seines Tages war es gewesen, in der er nachgesonnen über sich und den königlichen Jüngling, den er mit lateinischen Versen begrüßt hatte. Heute glich jener König einer ausgebrannten Kerze, er aber, Maximilien Robespierre, war berufen, das große Licht zu entzünden, das über die ganze Welt hinstrahlen sollte. Auch seine Stirne war heute gekrönt worden, aber nicht mit kaltem Golde, nicht von eines Priesters fühllosen Händen, der Salböl und eingelernte Phrasen auf ein unwertes Haupt träufte … Nein, sein Stirnreif war die frische Gabe der Natur gewesen, dargebracht vom Vertrauen, der Liebe des Volkes, und sein Ehrennamen heißt: »Der Unbestechliche« …

Der Rechtsanwalt aus Arras sinnt nicht länger über den Königsjüngling nach, nur noch über sich und seine Sendung. Und wie einst wünscht er auch heute, daß diese Nacht voll von Rausch und Träumen durch keine Morgendämmerung verscheucht werden möchte … Doch jeder Nacht folgt ein Tag, und den Tag, der da heraufdämmert, darfst du, Maximilien Robespierre, freudig grüßen wie viele, die ihm folgen. Denn auch diese Nacht des Rausches und der Träume bedeutet erst Anstieg, bedeutet erst Werden. In späteren Nächten wirst du von Gesichten und Weissagungen wissen, die dir Höheres verkünden, als je irgendeinem »Tyrannen« verkündet worden ist …


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