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VI.

Ein Fest gab es, welches für Hendrik ein Jahr sehr schmerzlich gewesen war, das war Halbfasten oder Lätare Der vierte Fasten- oder Passionssonntag im Frühjahr; Laetare liegt 21 Tage vor dem Ostersonntag und fällt somit frühestens auf den 1. März und spätestens auf den 4. April..

Bis vor zehn oder fünfzehn Jahren pflegte an diesem Tage durch die Straßen von Antwerpen ein Mann zu reiten, welcher in alte Tracht gekleidet war und der Greef, d. h. der Graf hieß. Er warf den Kindern Süßigkeiten zu, und hatte an seiner Seite einen Gefährten, der in gleichfalls alterthümlicher Frauentracht die Grevin vorstellte. Ueber den Ursprung dieses jahrhundertalten Festes gibt es verschiedene Auslegungen, von denen nicht eine ganz verbürgt ist. Obgleich es jetzt seinen lebenden Repräsentanten verloren hat, so wird Sinte Greef doch noch immer gefeiert und verursacht Freude und auch Herzklopfen. Herzklopfen bei den jungen Mädchen, Freude bei den Kindern, welchen der Graf von Halbfasten so gut einbescheert, wie St. Martin und St. Nikolas. Schon einige Tage vorher bekommen sie ein »Probebißchen«, am Abend vor Lätare stellen sie ihre Körbchen mit Heu und etwas Brod – das Pferd des Grafen will sein Futter in's Kamin, denn der Graf kommt den Schlot herunter. Unartige Kinder finden in ihren Körbchen nur eine Ruthe, artige Greefs von Spikulatie oder Marsepyn, Pfefferkuchenteig und Marzipan, Schiffchen ebenfalls von Marzipan und andere Näschereien. Und die jungen Mädchen bekommen von ihren Verehrern auch Greefs. Nach der Zahl der Greefs können sie die ihrer Anbeter berechnen, an der Größe und leckern Eigenschaft des Greefs die Größe und Stärke der Liebe erkennen, welche sich in dieser Huldigung ausdrückt. Wird etwas Anderes als eine Huldigung bezweckt, will ein verschmähter Liebhaber sich rächen, oder ein verspotteter junger Mann sich seinerseits über ein Mädchen lustig machen, so kommen Greefs von Gerstenbrod und selbst von Thon an.

Hendrik hatte mehrere Jahre hindurch den schönsten Greef in Marzipan, den der Zustand seiner Finanzen ihm gestattete, nach einem und demselben Hause getragen; dann war das Fest ein Mal wieder gekommen, und Hendrik hatte keinen Greef mehr gebraucht. Diese letzten Halbfasten über hatte er doch wieder einen genommen, einen sehr großen, wenn gleich nur in Spikulatie, und Rien hatte sehr kokett gegen mehrere junge Männer geäußert: »Ich kann doch gar nicht begreifen, wer mir den prächtigen Greef dort geschickt haben mag.«

Es war sonderbar, seit Hendrik die junge Deutsche gesehen hatte, dachte er auf einmal wieder lebhafter, aufgeregter als seit langer Zeit an die Braut, welche nun bald zwei Jahre todt war. »Arm Kind,« sagte er träumerisch, »arm Kind!« Anstatt an dem Artikel zu übersetzen, der von den verschiedenen südslavischen Stämmen in ihrem Zahlenverhältnisse zu einander handelte, blickte er aus dem Fenster über die Gärten nach dem Bahnhof hinüber. In Belgien werden wie in England die kleinen Häuser sehr geliebt, in denen jede Familie für sich abgeschlossen wohnt, lebt und leidet. Die Van Loon's hatten in diesem Frühjahr eines unweit von der Promenade bezogen, welche man Longchamps oder die Werke oder auch die Buitensingels nennt. Hinter dem Häuschen lag ein Gärtchen, welches »wunderschön« werden sollte, wenn Hendrik nur erst Zeit haben würde, es zu bearbeiten. Bis dahin lag es sich selbst überlassen unter Hendrik's Fenster, und Hendrik blickte darüber hinweg nach der Station.

Nichts kann, selbst jetzt noch, mehr Veranlassung zum philosophischen Grübeln geben, als ein Eisenbahnhof. Wie kreuzt, wie drängt dort das Leben sich, welch' Finden und Scheiden, welch' Warten und Eilen! Aber Hendrik war nicht in der Stimmung, philosophisch zu grübeln. Er murmelte: »Arm Kind!«

Arm Kind, ja, und doch, war Melanie zu beklagen gewesen, als sie, zweiundzwanzig Jahre alt, an der Auszehrung starb? Ihre Mutter ja, denn von sechs Kindern war Melanie das vierte, welches sie an dieser geheimnißvollen Krankheit verlor, die wie ein Verhängniß über manchen Familien waltet. Hendrik auch, denn Melanie würde ihn als seine Frau geliebt und geleitet haben, und bei seinem Kindernaturell bedurfte er Beides. Doch Melanie – war sie zu beklagen? Sie starb als Braut, während ihre Liebe noch in der Blüte der Hoffnung stand. Das ist kein Unglück. Würde Hendrik sie glücklich gemacht haben? hätte er schon verstanden, sie recht zu lieben? Mit zweiundzwanzig Jahren – Hendrik war nicht älter als Melanie gewesen – begreift ein Mann eigentlich noch nicht ganz, was lieben heißt. Wahr, er kann es in der Ehe lernen, doch hätte Hendrik es von Melanie gelernt? Er hatte sich anfänglich mehr aus Trotz, als aus ursprünglicher Neigung an sie geschlossen, erst allmälig war sie ihm lieber und lieber geworden.

Und bei ihrem Tode hatte er gewaltsam gelitten, war wie von einem Sturm ergriffen und fast mitten aus der Jugend herausgerissen worden. An den einfach weißgetünchten Wänden seines Zimmers hingen mit Zierlichkeit geordnet eine Menge Porträts in Stahlstich oder Steindruck, so wie einige Gypsabgüsse von Medaillen. Es war eine gemischte Gesellschaft, berühmte Männer und Schulfreunde. Hendrik selbst war mit neunzehn Jahren da, ein so gedrungenes, vergnügtes Jungengesicht, daß ihn, wie er jetzt war, Niemand in seiner Abbildung erkennen konnte. Ihm gegenüber hing in einer Kreidezeichnung Melanie. Er sprang auf, nahm das Bild von der Wand, stellte es auf seinen weißen Holztisch zwischen die Verwirrung von Briefen, Manuskriptblättern, Zeitungen, Büchern und Kupferstichen aufrecht, gegen die Gedichte von Arsène Houssaye Arsène Houssaye (1815-1896), französischer Schriftsteller; eine Ausgabe seiner › Poésies complètes‹ war 1852 erschienen. und »die Töchter des Feuers« von Gérard de Nerval Les Filles du feu‹ (1854), von dem französischen Schriftsteller Gérard de Nerval (1808-1855)., und dann setzte er sich wieder auf seinen einzigen Stuhl und sah sich das Bild so ernstlich und so prüfend an, als hätte er es noch nie eigentlich betrachtet. Dann sagte er vor sich hin: »Es ist doch auch nicht die geringste Aehnlichkeit da.« Wenn er bei diesem Ausspruch an Helene Herrmann gedacht hatte, so hatte er zu keinem andern kommen können, die Antwerpnerin und die Deutsche hatten nicht einen Zug mit einander gemein. Helenens Gesicht war fein, länglich, ihre großen grauen Augen sahen fest, kalt und sogar etwas unfreundlich an, ihr blaßgerötheter Mund schloß sich dicht, als hätte er viel zu verschweigen, ihr mattbraunes Haar sah aus, als müsse es schwer wiegen und legte sich eng an die ein wenig eingedrückten Schläfen. Melaniens Gesicht war weder sehr hübsch, noch sonst bemerkenswerth, es blickte den Beschauer mit schlichten Mädchenaugen gut und sinnig an. Die Gestalt war voll und gedrungen, denn die Zeichnung war in jenen Monaten des trügerischen Wiederaufblühens gemacht worden, welche bei der Krankheit, woran Melanie gestorben war, fast immer dem Ende vorausgehen. Alle hatten sich durch dieses scheinbare Besserwerden täuschen lassen, die Hochzeit hatte in zwei Monaten stattfinden sollen, da war Melanie zusammengesunken, und nach wenigen Wochen Hinsiechens gestorben. Hendrik rief sich jetzt diese Wochen zurück, die Furcht, die zuerst entstand, das Ende, welches schauerlich langsam und doch so überwältigend herankam. Als es da war, erkannte Melanie Niemand mehr, selbst ihre Mutter nicht, nur noch Hendrik, dem sein Patron Urlaub gegeben hatte, damit er bei ihr bleiben könne. Im letzten Augenblicke sah sie ihn noch einmal an, flüsterte: »Ich hab' Euch immer gerne geseh'n« und starb. Am nächsten Tage schrieb Hendrik für das kleine Blatt, welches die Todesanzeige enthielt und den Verwandten und Freunden zugesandt wurde, folgende Verse:

Ruhig schlafen die Leichen
In der Erde kühlem Schooß,
Versteinert und erstarret
Unter dem Kuß des Tod's.

In ihrem Bretterhause
Da liegen sie so sacht,
Den ewigen Schlummer schlafen
In der dunkeln Grabesnacht.

Sie wissen von keinen Schmerzen,
Die Stimme des Lebens stört
Dort nie die tiefe Stille,
Es wird keine Klage gehört.

Sie wissen von keinem Morgen,
Von keinem Abend mehr,
Es waltet das Vergessen
Um den Todtenacker her

Von Leben, Lust und Liebe
Verschwand ein jeder Traum,
Doch Liebe, Frieden und Ruhe
Füllen des Grabes Raum.

Es liegt im Reich der Todten,
Die wahre Welt vor Dir,
Durch's finst're Grabgewölbe
Treten in's Leben wir.

Es war bald zwei Jahre, daß Hendrik das gedichtet hatte, mit dem Gefühle gedichtet hatte, nun sei es aus, das Leben könne nicht mehr weitergehen, der Frühling nicht mehr wiederkommen. Das Leben war weitergegangen, der Frühling war wiedergekommen, Hendrik hatte andere Lieder gedichtet. Die Trauerweide, die sich draußen auf dem Stuivenberge vor dem rothen Thore über das Grab neigte, welches als kleiner Garten blühte, grünte wieder, auf dem schwarzen Kreuz, das Hendrik hatte sehen lassen, stand das Wort: »Gedenk«. Hendrik gedachte auch der Todten, es zog ihn wie mit einer Hand, noch an diesem Abend zu ihr zu gehen, zu sehen, wie bei ihr Alles stände, aber da er es einmal Rien versprochen, sie zum Spaziergang abzuholen, ging er zu Rien, nachdem er die Zählung der Südslaven gewissenhaft nicht vorgenommen hatte. Melanie blieb einsam draußen liegen; ihre Schuld – warum war sie todt?


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