Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXI.

Seit diesem Abend war Hendrik bei den Herrmanns wieder ebenso zu Hause, wie er nur je gewesen war.

Man merkte es bald an der Haltung seines Blattes: Es schrie nicht mehr, es sprach. Es leierte nicht länger alle Tage sämmtliche Gemeinplätze des Liberalismus ab. O, was einem in Belgien der Liberalismus zuwider werden kann! Möglich, daß er nöthig ist, aber in dem Fall ist er eine höchst widerwärtige Nothwendigkeit.

Nun, Hendrik's Blatt erhob sich über die allgemeine Plattheit und Flachheit, deren sich die liberalen belgischen Blätter mit solchem Glück befleißigen, während sie so viel Gutes im Einzelnen stiften oder doch wenigstens anbahnen könnten, denn ihre Bestrebungen von 1859 z. B., den allgemeinen Volksunterricht durch Güte oder Gewalt einzuführen, werden keineswegs umsonst gewesen sein. Wenn auch die belgische Kammer im Jahre achtzehnhundertneunundfünfzig entschied, das Volk müsse der Konstitution nach das Recht behalten, so roh und unwissend zu bleiben, als befänden wir uns noch in dem Jahrhundert des Mittelalters, in der Sitzung eines kommenden Jahres wird die belgische Kammer auf ein Mal zu der Einsicht gelangen, das belgische Volk müsse, um wirklich ein konstitutionelles zu sein, zuvor seine Konstitution lesen können.

In dem Kampf für den »allgemeinen Unterricht« wurde Hendrik von Helenen denn auch auf das Eifrigste angefeuert, aber in seinen Aeußerungen über die allgemeine europäische Politik hielt und mäßigte sie ihn mit ihrer ganzen kleinen Erfahrung, und die war keineswegs gering zu schätzen. Helenens geistige Entwickelung hatte nicht umsonst in einer politisch so bewegten Zeit stattgefunden. Wer hört jetzt nicht von Politik, wer nimmt nicht Theil daran? Die Idylle einer blos verträumten Jugend ist in der modernen europäischen Gegenwart fast unmöglich, und wer weiß, ob sie selbst anderswo noch möglich sein mag. Helene hatte besonders viel von Politik gehört, weil die Mutter oft den Wohnort gewechselt und mit mannigfachen Menschen Umgang gepflegt hatte. Daheim d. h. beim Onkel, dem alten Militär, galten nur zwei Begriffe: Loyalität und Disziplin. In den Zirkeln, welche zu besuchen die Mutter sie am häufigsten nöthigte, wurde Alles in Frage gestellt, verändert, und, wie man überzeugt war, verbessert. Helene sah dort wie hier die Uebertreibungen, und bildete sich still für sich eine ziemlich unparteiische Ueberzeugung. Ihre Sympathieen waren auf der Seite, wo der Onkel stand, doch machte sie auch dem Gesetz der ewigen Wandlung Zugeständnisse, wenn gleich nicht immer freiwillig. Bei der aus dem Olymp der Tuilerien hervorgequollenen Gewitterdunkelheit, welche die ersten Monate des Jahres Neunundfünfzig 1859 wurde der Sardinische Krieg zwischen dem Kaisertum Österreich einerseits und Sardinien-Piemont und dem französischen Kaiserreich unter Napoleon III. andererseits geführt. Napoleon III. hatte Sardinien zum Krieg ermutigt und sich für seine Hilfe die Grafschaft Nizza und Savoyen versprechen lassen. Sardinien-Piemont wollte das Königreich Lombardo-Venetien von österreichischer Herrschaft befreien und sich selbst einverleiben. Napoleons Plan war es, ein geeintes Italien unter französischer Vorherrschaft zu errichten. Durch die siegreichen Schlachten von Magenta (4. Juni) und Solferino (24. Juni) konnte Österreich besiegt werden und der Weg war frei für ein vereintes Italien. so drohend unheimlich machte, war dieser klare Einblick Helenens für Hendrik eine wirkliche Wohlthat. Wo er das Recht nicht sah, da sah sie es, und deutete es ihm an. Ohne ihre besonnenen Zweifel hätte Hendrik, welcher wie ganz natürlich feurig für die italienische Einheit schwärmte, doch vielleicht da, wo Italiens Verderben war, sein Heil zu sehen geglaubt. Helene wollte überhaupt auch für später Nichts davon hören, daß man den Italienern zu Hülfe kommen solle. »Wer wird sich denn helfen lassen?« sagte sie vornehm. »Das taugt nie etwas, weder für einen Schüler, noch für ein Volk. Man hat nicht, was man sich nicht selbst erwirbt, man weiß nicht, was man nicht allein gelernt hat. Die Vlamingen haben sich doch auch zu einer Literatur verholfen. Nun müssen sie sich auch weiter helfen und nicht immerfort nach der Regierung schreien, wie Kinder nach der Mama.« Das war nämlich der Vorwurf, welchen Helene ihren vlämischen Freunden machte. Hendrik nahm ihn nicht immer geduldig hin; auch in seinen Augen war die Regierung für Alles verantwortlich, was geschah und nicht geschah. Aber wenn Helene ihn spöttisch ansah, und mit ihrer altklugen Manier sagte: »ein Liberaler darf nun schon gar nicht die Regierung so viel belästigen,« da gab er mit komischen Gesichtern geschwind nach.

Er gab Helenen überhaupt nach. Wenn er schon Cesarinen nicht widerstanden hatte, in Helenens Händen war er wie Wachs. Er gehörte zu den Charakteren, welche durch Frauen bedingt werden. Helene konnte sein Glück sein, wie Cesarine sein Unglück gewesen wäre.

Aber wenn sie ihm Nichts mehr sein wollte? Wie dann? Das fragte Hendrik sich öfter und öfter, und jedes Mal mit immer größerer Angst. Ihm war's, als würde der Boden unter seinen Füßen wegbrechen, wenn Helene von ihm ginge. »Und sie kann jeden Tag abreisen«, sagte er zu sich selbst, »sie sagt selbst, daß sie hier nur eine Fremde ist.« Zu Mutter, die ihn mehr als einmal liebend fragte: »Rik lieb, sieht sie Euch noch nicht gerne?« sagte er jedes Mal heftig abwehrend: »och, Mutter, sprecht mir doch davon nicht.«

Helene konnte nicht länger zweifeln, daß sie für Hendrik so gut wie Alles sei. Aber seit wann war sie es? »Seit die dicke blonde Person ihn nicht gemocht hatte.« So dachte Helene, oder vielmehr so wollte sie denken. Ihr junger Mädchenstolz konnte die Demüthigung noch immer nicht überwinden, daß Hendrik zwischen ihr und Cesarinen habe schwanken können. So verständig und klar Helene im Allgemeinen war, hier war sie zu sehr Partei, um einsehen zu können, daß Hendrik ihr von dem Augenblick angehört habe, wo es möglich gewesen sei. Er hatte sich ihr in dem Maße hingegeben, wie er durch sie ein Anderer geworden war. Von Anfang an sie lieben konnte er nicht; er hatte da noch nicht den Begriff für ihr Wesen. Wäre er geblieben, wie er war, hätte Rien ihm völlig genügt. Sie hätte ihn nicht glücklich gemacht – man macht Andere nur durch das glücklich, was man sich selbst entzieht, und Rien brauchte, was sie besaß, für sich allein, und hatte da noch nicht einmal genug. Aber in und an ihr hätte Hendrik Nichts vermißt.

Jetzt war das anders. Durch Helene war ihm die Offenbarung des jungen Mädchens geworden, wie es sein kann, und, wenn gleich nur selten genug, auch ist. Jetzt bedurfte er, um glücklich sein zu können, die Verwandlung des jungen Mädchens in sein Weib. Es heißt, daß wer einmal in's Feenland entrückt worden war, sich auf der Erde nie mehr wieder recht zu Hause fühlen konnte, sondern sein Lebenlang das Bangen und die Sehnsucht dorthin in sich herumtrug. So konnte auch Hendrik, nachdem er Helene kennen und lieben gelernt, nie wieder zu seinem früheren lustigen Leben zurückkehren, welches sich zwischen der Redaktion und dem Estaminet getheilt hatte.


 << zurück weiter >>