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4.

Am nächsten Tag zog sich Hans Steinherr zum ersten Male seit Jahren in der Unterrichtsstunde eine Vermahnung zu. Er hatte auf den Vortrag des Mathematikprofessors nicht acht gehabt und wußte, als er aufgerufen wurde, nicht zu antworten. Bei einer eingehenden Prüfung, die der Professor sofort mit seinem Schüler veranstaltete, stellte es sich heraus, daß Hans nicht einmal die geringste Ahnung hatte, welches Thema überhaupt verhandelt worden war. Die ganze Oberprima staunte. Der Musterknabe des Gymnasiums hatte sich menschlich schwach erwiesen. Nur Hüsgen lachte. Und sofort entlud sich über sein Künstlerhaupt der Zorn des Schulgewaltigen. Aufgefordert, an Stelle Steinherrs den Vortrag inhaltlich wiederzugeben, hielt er zwar mit mächtigem Stimmaufgebot eine längere Rede, mußte sich jedoch bedeuten lassen, daß er sich hier durchaus nicht in einer Narrensitzung der Tonhalle befände, in der der albernste Mann der berühmteste Mann sei, sondern »verstehen Sie mich recht, Herr, in einem königlich preußischen Lehrinstitut, in dem der Anstand mit der Wissenschaft zu wetteifern hat! Sollte sich das eine oder das andere dieser Worte oder gar beide nicht in Ihrem Vokabularium befinden, so wird es mir eine Freude sein, Ihnen diese Begriffe vor dem Schlußexamen noch zu verdeutlichen.«

Der stämmige Bursche hörte mit übertriebenem Interesse zu. Dann aber ließ er sich kopfschüttelnd und mit einer Miene auf seinen Platz nieder, die grenzenloses Mitleid mit der Auffassung des aufgeregten Pädagogen bekundete. Diesmal war es die Klasse, welche lachte.

Hans Steinherr nahm sich vor, dem Professor nach Schulschluß eine Entschuldigung vorzutragen. Aber kaum war die Glocke des Pedells erklungen, als sich auch schon Hüsgen an ihn hängte, um seinen Witz an ihm zu üben.

»Gratuliere, gratuliere. Du vermenschlichst dich in überraschender Weise. Glaube mir«, fügte er pathetisch hinzu, »die schöne Francesca und ihr Kavalier wußten auch nichts von Logarithmen, und sie waren dennoch glücklich.«

Hans Steinherr konnte das Geschwätz nicht ertragen; er schüttelte den Kameraden an der nächsten Straßenecke ab und eilte nach Hause. Der Nachmittag war schulfrei. Er arbeitete mehrere Stunden hindurch mit einem Eifer, als gälte es, die Vergehen eines ganzen Semesters und nicht die eines einzigen Tages wieder gut zu machen. Im Garten ließ die kleine, schwarzbraune Amsel ihren Ruf ertönen. Sie störte ihn nicht. Dann, während er eine Pause machte, um sich das Erlernte zu überhören, vernahm er die Lockrufe deutlicher. Ruhig weiter memorierend ging er zum Fenster, öffnete es und begab sich an seinen Arbeitsplatz zurück. Jetzt machte er zwischen den Sätzen hin und wieder eine Pause. Er lauschte auf den kleinen Sänger. Mit dem Liede zog durch das offene Fenster der Duft des Gartens …

Der junge Stubengelehrte murmelte noch einige Worte seines Pensums. Dann lehnte er sich langsam in seinen Stuhl zurück, streckte sich wohlig und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

So blieb er lange, und seine Träumereien setzten dort ein, wo sie am Morgen durch den Aufruf des Mathematikprofessors unterbrochen worden waren. – –

»Wie schön ist es, jung zu sein«, wogte es in seinem Innern, und es stieg auf seine Lippen und formte sich zu Worten. Und mit tiefer Inbrunst sprach er sie aus und wiederholte sie: »Jung zu sein – immer, immer.«

Konnte man diese Gefühle, die ihn durchströmten, diese Jugend, konnte man sie bannen?

Er schauerte leicht, öffnete die Augen weit und setzte sich grübelnd am Tisch zurecht.

Jung bleiben? – Wem war das geglückt, von allen Menschen, die er kannte? »Mama«, sprach er lächelnd vor sich hin; aber das Lächeln wollte nicht bleiben. Er war an diesem schweigenden Sommernachmittag merkwürdig hellsehend geworden. »Mama?« wiederholte er. Sie hieß heute noch in Freundes- und Besucherkreisen »die schöne Frau Margot.« Aber wirklich jung? Achtunddreißig Jahre … Ja, ist denn das schon keine Jugend mehr?

Es packte ihn eine Angst. Seine Mama, die er nie anders als jung und schön gekannt, sie hatte die Jugend nicht mehr? Und wenn es keine Jugend war, die sie antrieb, heiter, strahlend, lebendig zu sein, was war es dann?

›Unrast‹, sprach es laut in ihm.

Das Wort war da. Er erschrak darüber und suchte die Beweggründe. Doch es blieb ihm nur das Wort, so sehr er sich quälte, und wie einen körperlichen Schmerz empfand er plötzlich seine völlige Lebensunkenntnis.

Er versuchte, an seinen Vater zu denken. Und wieder stand er vor einer Mauer. Sein Vater? Ob der überhaupt in seiner Jugend jung gewesen war? Zu einer Zeit selbst, in der Knaben aus Schilf und Haselholz Flöten schneiden? Nein, das Bild wollte keine Gestalt gewinnen. So weit er zurückdachte, er kannte seinen Vater nicht anders als mit derselben unveränderlichen, eisernen Miene des Mannes, für den es keine Überraschungen gibt, nie gegeben hat.

Was aber ist das Leben ohne Überraschungen? philosophierte der junge Grübler. Mich hat es doch überrascht, und ich war noch nie so selig. Ist es denn erforderlich, ist es denn von einer willkürlichen Altersgrenze abhängig, daß das zu Ende geht?

Er ging erregt im Zimmer auf und ab.

Nein, nein, sagte er sich und suchte sich krampfhaft eine Hoffnung zuzuführen, das liegt an uns, das muß an uns liegen. An jedem einzelnen, wie er es anpackt, was er einsetzt, ob er den rechten Mut hat –.

Und mit einem Male fiel ihm sein nächtliches Abenteuer am Schützenfesttage ein.

Er sah den Mann am Gitter des Malkastens auftauchen und sich ohne weiteres von dem Fremden mit Beschlag belegt. Der feine, vornehme Kopf, die blauen, sieghaften Augen tauchten vor ihm auf. Er hörte die spottlustigen Worte in seinem Ohr klingen, die den Perücken den Respekt verweigerten. Und dennoch war es keine lustige Person, kein Allerweltskerl, der nach dem lachenden Applaus der Menge geizte. Das hatte ihm der Respekt gezeigt, der diesem Manne selbst in der buntgewürfelten Malerkneipe der Altstadt von Leuten entgegengebracht wurde, denen in der Kunst nie ein anderer Name heilig war als der eigene.

Herr von Springe …

Der hatte die Jugend, und er zählte vierzig Jahre. Der würde sie haben, und wenn er das doppelte Alter erreicht hätte. Ob er sein Mentor werden würde, wenn er ihn bäte? Mit sehnsüchtigem Knabengesicht streckte er die Arme aus – –

Im Arbeitszimmer des Vaters suchte er im Adreßbuch die Wohnung. »Immermannstraße.« Wenige Minuten später befand er sich auf dem Wege.

Als er das Haus erreicht hatte, wollte ihm der Mut entweichen, einzutreten. Er ging einige Male vor der Haustür auf und ab, musterte verstohlen die Fenster und überlegte gerade, ob er nicht besser täte, den Besuch zu verschieben, als er auch schon mit zusammengebissenen Zähnen eine jähe Wendung machte und sich im Hausflur befand. An der Korridortür der ersten Etage waren zwei Namenschildchen übereinander angebracht: »Friedrich Leopold von Springe.« »Heinrich von Springe.« Ohne sich zu besinnen zog Hans Steinherr die Klingel.

Kurz darauf ertönte ein kurzer, fester Schritt. Die Tür wurde geöffnet, und ein sehniger alter Herr mit kurzgehaltenem, schneeweißem Haar und aufgebürstetem, schneeweißem Schnurrbärtchen stand vor ihm.

»Womit kann ich dienen?« fragte er und musterte mit seinen klaren Augen den Jüngling.

»Ich möchte zu Herrn von Springe.«

»Bin ich selber. Oder wünschen Sie die jüngere Auflage? Die ist auch zu haben. Bitte nur hereinzuspazieren.«

Hans folgte dankend der Aufforderung. Der alte Herr in grauem Gehrock und weißer Weste war ihm sofort bekannt erschienen. Er hatte ihn zu Hunderten von Malen auf den Promenaden gesehen.

»Heinrich«, rief der alte Herr und pochte an eine Türe, »Besuch für dich, mein Sohn.«

»Eintreten!«

Hans trat ein. Er stand in einem hohen, weiten Atelierraum und wagte kaum zu atmen. Eine gediegene Pracht strömte auf ihn ein, nirgendwo Überladung, aber jedes Stück unzweifelhaft echt und von erlesener Form, Möbel, Teppiche, Gobelins, Lampen und Leuchter, Vasen und Bronzen. Von den an den Wänden aufgestapelten Bildern waren einige zu übersehen: die rotglühende Campagna, der Triumphbogen des Titus, eine südliche Felsenlandschaft mit heranrollender See. Auf einer Staffelei stand ein Bild, an dem der Maler arbeitete: ein schweigender Park in purpurnen, braunen und gelben Tinten, die Sinfonie des in Schönheit sterbenden Herbstes.

Heinrich von Springe wandte sich nach seinem Besucher um. Er erkannte ihn wohl nicht gleich, denn er kniff einen Augenblick das linke Auge ein und überlegte.

»Aha«, machte er dann, »mein junger Freund, der Dichter.«

»O, nicht doch –«

»Nicht? Mir war doch so? Oder wollten Sie gar Anstreicher werden wie ich? Übrigens war das früher eine schöne Sitte, daß man den Gast nicht ausfragte, sondern sich einfach der Ehre seines Besuches freute. Gestatten Sie mir, ebenso zu verfahren.«

Er legte Pinsel und Palette beiseite, rieb sich die Hände an einem seidenen Tuch und begrüßte den jungen Mann mit kräftigem Handschlag.

»Schön, daß Sie Wort halten. Machen Sie es sich bequem und strecken Sie die Beine, so weit Sie wollen. Burg Springe ist stolz darauf, Sie in ihren Mauern zu beherbergen.«

Er nahm ihm den Hut aus der Hand und drückte den Gast in einen tiefen Ledersessel.

»Zigarette gefällig? Bitte, bitte, es ist mir eine Freude, Sie mit Feuer zu bedienen.«

Nachdem auch er sich eine Zigarette angezündet hatte, nahm er dem Besucher gegenüber Platz, blies mit schweigendem Behagen ein paar Rauchringel in die Luft und meinte: »'n ja.«

Hans rührte sich nicht. Er fühlte sich unsagbar wohl in dem tiefen, kühlen Lehnstuhl, in dem seine schlanke Gestalt fast verschwand, umgeben von Schätzen der Kunst und in Gesellschaft eines sicherlich hervorragenden Mannes, der ihn, den Unfertigen, Unbewährten, wie einen Gleichgestellten behandelte. Es hätte ihn nicht weiter gestört, wenn die Unterhaltung mit diesem einzigen »'n ja« beendet gewesen wäre. Nur hier bleiben dürfen. Sonst wünschte er nichts vom Augenblick.

Der Maler betrachtete ihn lächelnd. Er spürte den Überschwang heraus, dem sich der hübsche Junge da hingab, und es gefiel ihm.

»Ist Ihnen der Schützensonntag gut bekommen? Hoffentlich haben Sie wegen der späten Sitzung keine Unannehmlichkeiten zu Hause gehabt?«

»Sie sind sehr freundlich, Herr von Springe. Als ich am nächsten Tage meinen Eltern von Ihnen erzählte, kam ich ohne Tadel weg. Ich war ja noch so begeistert.«

»Sie junge Schwarmseele. – Man fand also nichts zu erinnern?«

»O nein, kein Wort. Es wurde auch sogleich von Tisch aufgestanden.«

»So, so. Man stand sogleich von Tisch auf … Gut. Reden wir von etwas anderem. Sagen Sie mal, junger Freund, ich war an dem Abend wohl etwas unparlamentarisch. Oder ziehen Sie das klare, deutsche Wort ›ruppig‹ vor? Nur heraus mit der Sprache, ich kann's vertragen.«

»Sie beschämen mich, Herr von Springe. Es war doch ein so wundervoller Abend.«

»Ja, ja«, sagte Springe und stäubte mit dem kleinen Finger die Asche von seiner Zigarette, »ich entsinne mich. Ich hatte mich im Malkasten erbost, über eine Mitteilung, über einen Kumpan, der umgefallen war.«

»Umgefallen?«

»Ach so, das verstehen Sie nicht. Ich meine: der ›aus Gründen‹ eine Reverenz vor den Perücken gemacht hatte. Glauben Sie mir, man soll nie etwas aus Gründen tun.«

»Pardon, jetzt versteh' ich wirklich nicht.«

»Na ja, es klingt paradox. Aber wenn der Mensch schon Gründe herbeiholen muß, fährt seine Ursprünglichkeit zum Teufel. So tun, so leben, weil man nicht anders kann, weil einen der Geist, die Stimmung, der Herzschlag so treibt und nicht anders, das ist das einzig Richtige, das einzig Menschenwürdige und nebenbei auch das einzig Vergnügliche im Leben. Und auf das Letzte kommt es nicht zuletzt an. Oder man spielt sich selbst die abgeschmackteste Komödie vor. Aus Gründen!«

»Ich verstehe Sie«, sagte Hans, und es war ihm ganz feierlich zu Mute.

Der andere bemerkte es und wechselte den Ton.

»Fidel, fidel!« rief er und schlug ihn leicht aufs Knie. »Als ich Sie vor dem Malkasten sah, Einlaß begehrend, junger Freund, fuhr es mir durch den Kopf: diese junge Künstlerseele schnappst du denen da drinnen weg. Und nachher hatte ich die Ehre mit einem Herrn aus der Oberprima.«

»O, bitte, machen Sie sich nur über mich lustig. Vertreiben werden Sie mich deshalb doch nicht.«

»Sieh mal an«, meinte der Maler gedehnt. Dann stand er langsam auf, strich seinem Gegenüber freundlich über das Haar und ging quer durch das Zimmer zu einer Glastür, die zu einer Veranda führte. Er öffnete sie und schaute hinaus.

»Was der Bengel für eine zärtliche Stimme hat«, murmelte er. »Wie einst die kleine Margot. Und die hat getäuscht.«

Er kam zurück und blieb vor dem Ledersessel stehen. Der junge Mann verspürte eine leichte Unruhe, als er den prüfenden Blick auf sich gerichtet fühlte. Er wollte sich erheben und fragte unsicher: »Habe ich vielleicht etwas Inkorrektes gesagt, Herr von Springe?«

Springe drückte ihn in den Sessel zurück.

»Inkorrektes? – Bleiben Sie ruhig sitzen, Kleiner. – Inkorrektes? Herrgott, sagen Sie soviel Inkorrektes, wie Sie wollen. Das wird mir mehr Spaß machen als die tadellosesten Erziehungsproben. Geben Sie sich, wie Sie sind, nicht wie andere sind. Allons!«

»Dann«, sagte Hans und nahm einen mutigen Anlauf, »möchte ich Ihre Bilder sehen.«

»So!« meinte der Maler mit lachender Selbstironie. »Wenn das inkorrekt sein soll – schmeichelhaft für mich ist das ja gerade nicht. Aber ich werde meiner Lebensweisheit nicht untreu werden. Kommen Sie, verehrter Kunstkritiker.«

Er führte den jungen Mann, der mit hochrotem Kopf eine Erwiderung stammeln wollte, aber keine fand, im Atelier umher. Zu jedem Bilde, das er auf die Staffelei hob und in die richtige Beleuchtung rückte, gab er eine kurze Erklärung. »Gemalt in der Campagna, gemalt in Rom, gemalt an der sizilianischen Küste, gemalt im Park zu Versailles, wenigstens in der Studie; das übrige müssen Ihnen die Bilder sagen, oder es ist schade um die schöne Leinwand.«

Hans gab keine Antwort. Er trat vor die Bilder hin und versenkte sich in ihre Sprache. Und ihm war, als ob es nicht die Sprache der Landschaften wäre, die aus den seltsam packenden Gemälden redete, als ob er die Sprache einer Menschenseele vernähme, die sich hier, fern dem lauten Marktgetriebe, zum Beten gefunden hätte. Wie konnte ein Mensch so tief empfinden, wie seine Empfindungen so leidenschaftlich zum Ausdruck bringen! Ein Mensch, der so spottlustig durchs Leben schritt, wie Herr von Springe!

»Wie viel heimliche Liebe müssen Sie in sich tragen«, sagte er leise. »So kann nur ein Glücklicher malen.«

Springe legte ihm den Arm um die Schulter.

»Heimliche Liebe? Menschlein, Sie sind eine Poetennatur. Aber werden Sie erst älter, dann reden wir auch vom Glück. O, Sie süße Einfalt, als ob Liebe und Glück dasselbe wäre.«

»Ist es das nicht?« fragte Hans verwirrt.

»Doch, doch. Beruhigen Sie sich. Sie brauchen ihre Erstlingsgedichte deshalb nicht gleich ins Feuer zu werfen. Aber wenn Sie eines Tages, was Gott verhüten möge, an einer Frau irre werden, die Sie geliebt haben, dann wundern Sie sich nicht, sofern Sie ein Künstler sind, daß Ihre Kunst tausendmal reicher wird. Das ist wie mit einem wilden Rosenstrauch, der aus den Schutthaufen verfallender Burgen seine prangendsten Blütenzweige treibt. Das Entgelt, das der Himmel zahlt. Für jeden Blutstropfen eine Doppelkrone. He, paßt Ihnen das nicht?«

»Ich möchte doch lieber –«

»Ihr Blut behalten? O ja, dafür gibt's auch ein Rezept. Auf alles pfeifen, sobald man es richtig abtaxiert hat, und nicht heulen, wenn man herausfand, daß das hübsche Ding nur einen Groschenwert besaß. Das hält merkwürdig jung; und jung sein, das heißt lieben. Punktum, streu Sand drum.«

»Darf ich Sie noch etwas fragen?« bat der junge Schüler zögernd.

»Liebster, ich bin nicht allwissend. Sein Bündelchen Weisheit muß jeder vom Leben selber kaufen.«

»Nur eins noch, bitte. Halten Sie – halten Sie viele Frauen für Groschenware?«

»Kommen Sie doch mal ans Fenster«, sagte Springe nach einer Pause, »ich möchte Ihnen gern einmal in die Augen sehen. Also Sie sind bereits verliebt –.«

»Nein, nein, nein«, wehrte der Errötende halb unverständlich ab.

»Aha«, machte der Maler ironisch, »der Kampf der guten Erziehung mit der Stimme der Natur. Die Hauptsache ist, nicht feige sein.«

»Ich bin nicht feige, ich schwör' es Ihnen. Ich bin nur unwissend. Die Damen, die ich in Mamas Salon kennen lernte –«

»Keine Beichte«, sagte Springe und strich ihm mit der Hand über das erhitzte Gesicht. »Und was die Groschenware betrifft, mein lieber, dummer Junge: Hüten Sie sich stets im Leben vor den Frauen, die Gefallsucht mit Liebe, und Sinnlichkeit mit Leidenschaft verwechseln. Das ist ganz verdammtes Kroppzeug aus dem Ramschbazar. Und nun hören Sie mal, Verehrungswürdiger, wenn Sie etwa vorhaben, hier auf Burg Springe sentimental zu werden, so werfe ich Sie samt Ihrer Kontrebande hinaus. Hausrecht! Verstanden?«

Er trat auf die Veranda hinaus, die von Weinlaub dicht überwuchert war. Die Hände auf die Brüstung gestützt, schaute er in die Luft, in die sich das erste Dämmer mischte. Nach einer Weile wandte er sich wieder um. Aus seinen Augen lachte die sieghafte Fröhlichkeit.

»Sehen Sie sich mal diesen Winkel an, Kleiner! Weinlaub oben, Weinlaub unten und Weinlaub von allen Seiten. Schreit das nicht förmlich nach einer Bowle? Und nachher kommt der Mondschein und setzt silberne Lichter auf den goldenen Wein. Und man schlürft lauter Schätze in sich hinein. Ah, das Zechen ist nicht die geringste Kunst. Menschen, die nicht zechen, sind mir verhaßt wie die Leisetreter, denn sie haben Angst, sich zu begeistern. Wir aber –« er unterbrach sich. »Na, wir wollen das doch lieber durch die Tat beweisen.«

Er ging zur Tür und rief in den Korridor hinaus: »Herr Friedrich Leopold, Burggeist, Kellermeister, erscheine! Mr wolle en Böwlchen drinke.«

Aus dem Nebenzimmer kam schmunzelnd der alte Herr.

»Die Botschaft hör' ich wohl, allein – apropos, würdest du mich mit deinem Gast bekannt machen?«

»Herr Hans Steinherr. – Mein Vater.«

»Steinherr?« wiederholte der alte Herr. »Hm, ja – – der Name ist mir ja nicht ganz unbekannt.«

»Hans Steinherr, wohnhaft Grafenberger Chaussee, seines Zeichens Oberprimaner, in Zukunft ein großer oder ein kleiner Mann, wie's fällt, in der Gegenwart aber mein Freund, mein jüngster Freund. Dieser Steckbrief, du lebensweiser Vater, wird deiner Menschenwürdigung genügen. Daraufhin schau dir das Objekt einmal genauer an.«

»Da mein Sohn und ich Freunde sind«, sagte der alte, stramme Herr und schüttelte dem jungen Manne die Hand, »so sind seine Freunde meine Freunde. Also das wollen wir feiern. Das wäre jetzt die Hauptsache.«

»Hören Sie nicht hin, was dieses leichtfertige Alter spricht!« lachte der Maler. »Seine Lebensweisheit ist vom Weine abhängig, echt und unverfälscht rheinländisch. Wenn die Bowle winkt, sind alle Menschen Brüder.«

»Mein Sohn übertreibt schamlos«, widersprach der alte Herr würdig. »Er war's, der nach der Bowle rief, ich aber war's, der eintrat, um ruhig und sachlich zu zitieren: Die Botschaft hör' ich wohl, allein –«

»Allein –?« wiederholte Springe junior.

»Allein mir fehlt der Wein«, vollendete Springe senior und zuckte bedauernd die Achseln.

Die beiden Springes sahen sich in die Augen.

»Behüter meiner zarten Jugend«, sagte der Junge endlich, »du gibst mir ein schlechtes Beispiel.«

»Mein Sohn«, sagte der Alte, »ich habe dich bislang nur den Weg zur Tugend geführt. Schlechter Wein aber, oder sogar gar kein Wein, das ist keine Tugend.«

»Die Weisheit deiner Jahre«, erwidere der Junge, »ist bewunderungswürdig, und ich beuge mich voller Respekt. Aber ich argwöhne«, und er trat dicht vor ihn hin, »du hast die Tugend wieder einmal allein ausgeübt. Herr Friedrich Leopold von Springe, ich habe Sie im ernstlichen Verdacht, heimlich zu schnäpsen. Das ist Egoismus, mein Vater. Mit solchen Grundsätzen wird man nicht alt!«

Das Gesicht des siebzigjährigen, frischen Herrn wetterleuchtete vor Vergnügen.

»Heinrich«, sagte er, »wie würde ich meine Jugend so leichtsinnig aufs Spiel setzen. Außerdem: zur Liebe und zum Zechen genügt nie ein Menschenkind allein. Lerne das von deinem alten Vater.«

»Also liebst du mich nicht mehr«, seufzte der Maler, »denn du nimmst mir die Gelegenheit, mit dir zu zechen.«

»Es ist nicht meine Schuld«, verteidigte sich der alte Herr. »Ich war heute morgen persönlich bei Scheufgen, um einen ganz exquisiten kleinen, aber spritzigen Mosel zu bestellen. Und heute nach Tisch kommt so ein gallonierter Schuft und schleppt einen ganzen Korb Niersteiner an. Ich hab' ihm nicht schlecht den Kopf gewaschen. ›Rheinwein? Mosel will ich!‹ hab' ich ihn angedonnert, ›zum Teufel, ich bin doch ein Rheinländer!‹ Und was glaubst du? Der unverschämte Bursche packt seelenruhig seinen Korb aus und sagt schnippisch, ›die gnädige Frau habe das nun einmal so angeordnet‹. Die ›gnädige Frau‹! Die dicke Scheufgen! Na, da wurd's selbst mir zu viel. Ich habe den arroganten Bengel kurz beim Schlafitchen genommen und ihn samt seinem Niersteiner vor die Tür befördert. ›Die gnädige Frau‹, hab' ich ihn angeblasen, ›soll nächstens ihre Ohren besser aufsperren, oder ich such' mir ein besseres Haus! Bestellen Sie das Ihrer Gnädigen!‹« Der alte Herr fuhr sich mit seinem rotseidenen Taschentuch über die Stirn. »Auf diese Weise, mein Sohn, wären wir nun ohne Wein.«

Heinrich von Springe hatte mit merkwürdig interessierten Augen zugehört. Er ergriff die Hand des Vaters und schüttelte sie lange und kräftig.

»Das hast du sehr, sehr gut gemacht, Papa.«

»Nicht wahr?« meinte der alte Herr; aber er fragte etwas kleinlaut, denn die Herzlichkeit des Dankes schien ihm nicht ganz im Einklang mit dem kleinen Vorkommnis zu stehen.

»Selbstverständlich. Man darf sich nur nichts gefallen lassen. Dieses Volk möchte einem immer seinen schlechten Geschmack aufdrängen. Freilich, daß es unbedingt Mosel sein müßte –«

»Aber ich hab' ihn der alten Tante doch deutlich genug bezeichnet.«

»Nee, Alterchen, bezeichnet hast du ihn nicht, und das mit der alten Tante stimmt auch nicht. Im Gegenteil: eine höchst scharmante Frau. Als sie gestern bei mir im Atelier war, um den Herbstzauber auf der Staffelei zu besichtigen, den sie, nebenbei gesagt, kaufen will –«

»Was«, rief der alte Herr und riß die blanken Augen auf, »die Scheufgen will Bilder kaufen?«

»Nein, lieber Papa«, sagte der Maler freundlich, »die Frau Präsident von Tondern. Als sie den ›Herbst‹ sah, meinte sie, da ich die Studien dazu im letzten Jahre gemalt hätte, müßte ich auch den Wein dieses gottgesegneten Jahrganges kennen lernen. Er sei zwar noch jung, aber schon gehaltvoll. Die Leute haben nämlich große Weingüter. Und heute schickt sie den Niersteiner. Brav, mein Vater, daß du das Unglück abgewendet hast. Dieser Umgang verdirbt unsere einfachen Sitten.«

Die Kinnlade des alten Herrn war mit einem Ruck nach unten gegangen, der Mund stand auf, und die Augen hatten den Ausdruck eines erstaunten Vogels. Er tastete mit der einen Hand nach der Hand des Sohnes, während die andere das Taschentuch an die Augen führte. Das Antlitz abgewandt, verhüllte mit der freien Hand auch der Maler sein Gesicht. So standen sie lange, und ein Schweigen entstand, das für den unbeteiligten Gast doppelt peinlich war. Dann ging ein Zittern durch ihre Körper, ihre Schultern begannen zu zucken, immer heftiger machte sich das Toben der Gefühle bei Vater und Sohn bemerkbar – und plötzlich lagen sie sich in den Armen und lachten und lachten, daß es die Wände zu sprengen drohte. Ob die Affäre unliebsame Folgen haben könnte, daran dachte weder das Kind von Vater noch das Kind von Sohn. Selbst Hans wurde angesteckt, und er schmetterte sein jugendhelles Lachen in das Duett der beiden sonnigen Menschen. Burg Springe beherbergte drei wahrhaft Glückliche …

Draußen wurde an der Klingel gerissen.

»Besuch«, sagte der alte Herr und wischte sich die tränenden Augen. »Den können wir brauchen.«

Er ging selbst, um zu öffnen. Nach einer Weile steckte er den Kopf durch den Türspalt.

»Diesmal«, verkündigte er, »ist es der richtige Scheufgen! Ich werde die Bowle gleich auf Eis stellen. Zweitens habe ich Herrn Professor Schack anzumelden. Er scheint mir ebenso reparatur- wie bowlebedürftig.«

»Schack?« fragte der Maler schnell zurück. »I was! Herein mit Seiner professoralen Gnaden.«

Hastig und aufgeregt trat ein Mann von einigen dreißig Jahren ins Atelier. Sein Gesicht war blaß, aber ausdrucksvoll und intelligent. Seine unruhigen Augen bekundeten eine starke Nervosität.

»Guten Abend, Springe. Kann ich dich sprechen oder stör' ich? Ah, Verzeihung, ich sehe, du hast Besuch.«

»Guten Abend, Schack. Pardon, Pardon, man muß wohl jetzt Professor sagen. Ja, wenn dir hier die Luft nicht zu revolutionär ist? Herr Steinherr – Herr Professor Schack.«

Der Neuhinzugekommene erwiderte die Verbeugung des jungen Mannes zerstreut.

»O«, sagte er hitzig, »ich kann auch wieder gehen. Ich dachte nur, ein Mensch deines Genres würde ein Verständnis für die Gründe haben, derentwegen ich die Stellung an der Akademie übernahm.«

»Lieber Schack, ich habe schon als kleiner Junge nicht für die Geschichten geschwärmt, denen im Lesebuch eine Moral in Vers oder Prosa angehängt war. Wenn die Geschichte nicht für sich spricht, helfen alle Begründungen nichts. Wenigstens bei mir nicht. Du bist umgefallen. Was mich aber nicht hindert, mit dir als Menschen einen Becher zu leeren. In deinem Interesse schlage ich vor: Wir wollen auf die Terrasse gehen. Dort ist selbst für einen Akademieprofessor eine Luft, die sich neutral und höchst gebührlich aufführt. Avanti, signore.«

Springe schob den aufgeregten Kollegen vor sich her und winkte Hans freundlich zu, ihnen zu folgen. Das letzte verlorene Sonnengeflimmer zitterte durch das Weinlaub und malte weiße Kringel auf den Tisch. Die Herren saßen in ihren Stühlen und sahen dem Spiele zu. Irgendwo in der Nachbarschaft wurde ein Klavier bearbeitet, und ein jugendlicher Chor intonierte das Rheinlied:

»Nur am Rhein, da will ich leben,
Nur am Rhein geboren sein – – –«

Der Chor klang rauh und ungeschult, aber das verschlug den Sängern nichts. Die mangelnde Schönheit wurde durch Lungenkraft und Begeisterung hinlänglich ersetzt. Mitten in das Rheinlied hinein ließ ein Sohn der roten Erde trutzig das Westfalenlied ertönen:

»Du Land, wo meine Wiege stand,
O grüß dich Gott, Westfalenland!«

Eine Pause entstand. Dann sangen die lustigen Brüder einträchtig miteinander:

»Der Herr Pappenheimer, der soll leben,
Der Herr Pappenheimer lebe hoch!
Beim Bier und beim Wein
Lust'ge Pappenheimer woll'n wir sein …«

»Das sind die Balduren«, nickte Springe, »goldenes, unverschämtes Künstlerblut. Die Kerle sind unverkennbar an ihren schrecklichen Stimmen. Aber sie haben den Teufel im Leib und fürchten sich nicht vor Gott und der Welt. Darum lieb' ich sie!«

»Jawohl«, knurrte der Professor, »nur vor der Malerei fürchten sie sich.«

»Ach du lieber Himmel, wer am bravsten im Taglohn malt, ist deshalb nicht der größte Künstler.«

»Soll das etwa auf mich gehen?« fuhr Professor Schack empor.

»Dort naht der versöhnliche Geist Herrn Friedrich Leopolds mit dem Abendimbiß. Ich beanspruche einen Waffenstillstand zur Provianteinnahme.«

Der alte Herr von Springe machte dem Geplänkel ein Ende. Mit der Zuvorkommenheit eines alten Ritters spielte er den Wirt, nötigte zum Zulangen und kredenzte in Gläsern verschiedener Formen und Farben den Wein. Als die Dunkelheit hereinbrach, entzündete er eine Ampel, die wie ein satter Rubin aus dem grünen Weinlaub über der Terrasse lugte, und holte eigenhändig die kristallene Bowlenschale. Man saß zu viert, feierlich, und kostete.

»Ah!« machte Schack und tat einen leisen Schnalzer.

»Das schmeckt wie flüssige Jugend«, bemerkte der alte Herr. »Davon kann man nie genug bekommen. Bitte auszutrinken.«

Man trank und plauderte. Von der Kunst wurde kein Wort gesprochen. Nach dem vierten Glas aber wurde Professor Schack melancholisch.

»Lieber Springe«, sagte er und blickte finster in das schwimmende Gold seines Glases, »ich bin dir noch eine Erklärung schuldig.«

»Lieber Schack«, entgegnete der andere, »das ist der große Irrtum. Du bist nur dir allein Rechenschaft schuldig. Geht die Rechnung auf, umso besser für dich. Stolperst du über einen Fehler, so mußt du ihn korrigieren. Lediglich deinetwegen. Das ist's.«

»Ich weiß, worauf du hinzielst«, versetzte der junge Professor, »und ich will mich auch nicht entschuldigen. Aber menschlich verständlich will ich mich dir machen. Seit dem Tage, an dem ich dir im Malkasten mitteilte, daß ich zum Professor an der Akademie ernannt sei, meidest du mich. Du behauptest, ich wäre umgefallen, ich hätte – ja, ich hätte die Sünde wider den heiligen Geist begangen, weil ich meine individuelle Art des lieben Amtes wegen nach dem Akademiezopf regeln würde, langsam, aber sicher. Abgesehen davon, daß doch auch im anderen Lager Männer stehen –«

»Entschuldige«, sagte Springe, »du willst da gerade einem landläufigen Irrtum Worte verleihen. Ich kenne kein anderes Lager, ich kenne nur Künstler! Ob sie auf die sogenannte alte oder auf die sogenannte neue Manier malen, das ist mir ganz egal. Die Hauptsache ist mir, ob sie die schöne Illusion erzielen. Wie sie das machen, ist mir Nebensache. Die Individualität ist die Hauptsache. Ein Gott läßt sich nicht in spanische Stiefel schnüren, oder es wird ein Götze. Ein Ölgötze in unserem Falle. Und obwohl du weißt, daß auf der Akademie augenblicklich mit Nachdruck schabionisiert wird, gehst du hin und wirst Helfershelfer.«

Schack sah düster vor sich hin. Dann griff er nach seinem Glase, trank es aus und setzte sich aufrecht.

»Du hast eins vergessen. Der heilige Geist, gegen den man sündigen kann, besteht nicht allein in der Kunst. Er ist hier, da und dort. Er ist überhaupt der reine Kautschukbegriff. Jeder arme Teufel legt ihn sich auf seine Art aus. Schwärmer behaupten, er sei die Liebe.« Er stand auf. »Auf die Gefahr hin: ich bin ein Schwärmer.«

»Schack, alter Kamerad …« Springe hatte sich schnell erhoben und den Aufgeregten sanft in den Sessel niedergedrückt. »Ich hatte ja keine Ahnung. Was ist denn los?«

»Siehst du«, begann der Akademieprofessor, »ich habe gemalt, was das Zeug hielt. Nicht oberflächlich, das weißt du. Ich habe, um mich deines Ausdrucks zu bedienen, den Gott in mir wahrhaftig nicht in spanische Stiefel geschnürt. Ich wurde verlästert, verhöhnt, als Tempelschänder gebrandmarkt. Ich arbeitete fort. Als die Schreier meine Entschlossenheit sahen, verliefen sie sich allmählich. Auch die Kritik wagte sich jetzt hervor. Man nannte mich in den Zeitungen eine interessante Erscheinung. Aber Bilder kaufen – das war nicht. Ich war von den Perücken, die im lieben Düsseldorf einmal die Papstgewalt haben, nicht approbiert. Unterdes wurde ich achtunddreißig. Und mein Mädchen wurde auch nicht jünger. Springe«, fuhr er fort und griff nach der Hand des Freundes, »das – das ist das Schrecklichste. Sehen, wie die Jugend schwindet. An der Liebsten es sehen. An den kleinen Fältchen der getäuschten Sehnsucht, den schmalen Wangen, die die heimliche Angst blaß färbt, dem ergebungsvollen Blick der Entsagung. Springe, du hast nicht geliebt, sonst wüßtest du, daß man in solchen Augenblicken sein künstlerisches Gewissen für eine Handvoll Haselnüsse verkauft, daß man seine Individualität hinschmeißt wie einen alten Handschuh, daß man zu allem, aber auch zu allem bereit ist, um nur nicht hinsterben zu müssen, ohne die Jugend der Liebsten und damit die eigene gerettet zu haben. Ruft allesamt, ich sei umgefallen. Ich weiß das besser. Ich zahl' der Welt mit gleicher Münze, und inzwischen küsse ich im Blumengarten meines stillen Mädels alle blassen Rosen wieder rot. Erst kommen wir selber!«

Es war einen Augenblick still geworden auf der Terrasse.

»Und du«, brach Springe das Schweigen, »willst deine Individualität hingeschmissen haben? Ich habe dich falsch beurteilt, denn du hast mir nie von deiner Freundin erzählt. Vielleicht«, fügte er lächelnd hinzu, »weil du mir kein Verständnis für die Liebe zutraust. Aber«, er wurde wieder ernst, »dem geliebten Weib gehört nicht nur die Kunst, ihm gehört das Leben zuallererst. Jetzt habe ich keine Angst mehr um dich. Schack, deine Liebe soll leben.« – –

Den alten Herrn und den jungen Gast hatten die beiden Maler gänzlich vergessen. Jetzt erhob sich der alte Herr und klingelte an sein Glas.

»Liebe Freunde«, begann er, »ich möchte zu diesem Thema auch ein Wörtlein sagen. Freund Schack hat soeben die Angst vor dem Altwerden bekundet. Nun, er hat ja auch das Arkanum dagegen gefunden. Aber wenn das Arkanum auf die Dauer Wirkung haben soll, müssen Sie alle selbst das Beste dazu tun. Ich bin siebzig Jahre. Wie? Bin ich nicht ein Jüngling? Sind Sie der Meinung, daß ich je im Leben alt werden könne? Wollen Sie das Geheimnis wissen? Nun, es ist einfach. Werden Sie nie im Leben blasiert! Versuchen Sie auch nie, über das Leben zu philosophieren. Sie behalten jedesmal unrecht und haben eine Menge Zeit vertrödelt. Das Alpha und Omega dieses Daseins ist, zu wissen: daß man lebt. Und es lohnt sich – glauben Sie das meiner langjährigen Erfahrung – am besten, daß man für diese kurze Erdenspanne so lacht und liebt, singt und trinkt, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Klappt einmal der Sargdeckel zu, und man entsinnt sich just in dieser Sekunde einer Seligkeit, die man abgewehrt hat, kriegt man noch im Grabe die Gelbsucht, und die schadet dem Teint. Ich meine natürlich den Teint der Erinnerung. Meine Freunde, es prangt und duftet die Sommerpracht, und die Bowle nicht minder. Die Philister liegen in der Klappe und zetern über unsere Untugend. Die Tugend aber ist das Leben; mit ihm hört auch die schönste auf. Und diese Tugend wollen wir auf das kräftigste ausüben. Dann sind wir die Herren dieser Welt, dann sind wir die ewige Jugend. Bange machen gilt nicht. Prosit!«

Der Akademieprofessor fiel dem alten Herrn schluchzend um den Hals. Die Erregtheit der letzten Stunden, die rasch getrunkene Bowle, die wunderbare Sommernachtstimmung und die prächtigen Menschen um ihn her – er konnte nicht anders, er bekam es mit der Rührung.

Hans Steinherr hatte mäuschenstill dagesessen. Es war ihm heiß und kalt geworden, er hätte, ganz gegen die ihm anerzogenen Gewohnheiten, schreien und singen mögen, und plötzlich sprang auch er auf und fragte an, ob er ein Gedichtchen deklamieren dürfte, das ihm heute eingefallen sei.

»Silentium! Silentium für den Dichter!«

Und mit vor Erregung zitternder Stimme sprach der Jüngste des Kreises:

»Was nutzt der Kuß auf deinem Mund,
Wenn nicht dein Herz erglommen?
Tut sich der Lenz dem Blut nicht kund,
Was soll der Name frommen?

Und sehnst du dich, daß dir die Kunst
Entschleiert sich soll zeigen:
Lern fühlen nur mit inn'ger Brunst
Und laß die Lippe schweigen.

Gott ist im Sturm, im Frühlingswind
Und in der Früchte Samen.
Das Glück, du grübelnd Menschenkind,
Du bannst es nie mit Namen.

Tu auf das Herz zur Feierstund',
Bekränze still die Pforte.
Dann regt sich's auf der Seele Grund
Wie seltne Bibelworte.

Und ob dein Mund der lauten Welt
Ihr Wesen nie verkündet:
Wenn nur dein Herz die Zwiesprach hält,
So hast du es ergründet.

Das tiefste Glück, das du dir schufst,
Blieb immer ungesprochen.
Und wenn du es bei Namen rufst,
Sein Zauber ist gebrochen.«

Blaß bis unter die Haarwurzeln wollte sich Hans setzen. Er war zu Ende. Aber Heinrich von Springe war hinter seinen Stuhl getreten und schloß den Jungen in seine Arme.

»Hättest du das auch zu Hause, in einer eurer Gesellschaften vorgetragen?« fragte er ihn halblaut und sah ihm in die Augen.

»Nein. Dort hätte ich es nie gekonnt. Hier fühl' ich mich so, so – –«

Springe küßte ihn auf den Mund. Das »Du« behielt er bei. –

Der Akademieprofessor stellte nach einer Stunde fest, daß er den Rest seiner Energie für den Nachhauseweg nötig habe. Lachend führten ihn Springe und Steinherr die Treppe hinab. Der alte, fröhliche Herr folgte mit dem Licht, und er zitierte kräftig aus seinem Lieblingsdichter Wilhelm Busch für den Professor einen Abschiedsgruß.

»Einen Menschen namens Meyer
Schubbst' man vor des Hauses Tor
Und man sagt': Betrunken sei er,
Selber kam's ihm nicht so vor.

A rivederci, a rivederci, es lebe die Persönlichkeit!« –

*


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