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7.

Der Spätherbst setzte mit endlosem Regen ein. Es regnete fort bis in den Dezember. Verdrießlich eilten die sonst so lebensfrohen Düsseldorfer über die Straßen, verdrießlich über das Wetter und die allgemeine schlechte Geschäftslage. Selbst in den Narrensitzungen, die wie alljährlich pünktlich mit der elften Abendstunde des elften November begonnen hatten, um mit weiser Gründlichkeit den Karneval, den »Fastelowend«, für den Monat Februar vorzubereiten, wurde mehr gallige Bosheit als blanker Humor gezeitigt. Im Hofgarten war das Herbstlaub an den Bäumen verfault. Harte Windstöße rissen es von den Zweigen und klatschten es auf den Boden, wo es zu einer breiigen Masse ward. Die Schwäne auf den Teichen ruderten zerzaust am Ufer entlang, als wären sie in der Mauser. Kein Mensch bekümmerte sich um die sonst so verwöhnten Tiere. Über den Rhein, den das aufgewühlte Grundwasser der Nebenflüsse lehmig-gelb gefärbt hatte, pfiffen die Winde, daß jeder die Kaimauer mied. Die Schiffahrt war eingeschränkt. Die Frachtkähne wagten sich bei dem rapid wachsenden Pegelstand nicht aus den Heimatshäfen, und die paar kleinen Lokalboote fuhren meist ohne Passagiere. Große Geschäftskrisen standen vor der Tür, und der unaufhörliche Regen machte die Stimmung immer noch grauer.

Hans und Hannes gewahrten von alledem nichts. Die Not der Zeit blieb ihnen ein Buch mit sieben Siegeln. Sie wußten nicht anders, als daß das goldene Zeitalter hereingebrochen sein müsse. Und wenn sie an jeder Straßenecke über das erbärmliche Hundewetter schelten hörten, so lachten sie und segneten das Hundewetter. Unter demselben Regenschirm, eng aneinandergeschmiegt, unternahmen sie ihre Streifzüge durch die entlegenen Viertel der Altstadt oder setzten den Brückenwärter in Erstaunen durch stundenlange Promenaden auf der menschenleeren Schiffsbrücke.

»Nu säg ehner, wat en Rejen is!« brummte der Alte kopfschüttelnd. »Dene hät et dörch et Dach jerejent, da sind se öwerjeschnappt. Knatsch jeck.« – – –

Hans und Hannes hörten und sahen nichts, als nur sich selbst. Jedem ging im anderen eine neue Welt auf, und sie suchten sie sich zu eigen zu machen und aus der Vermischung eine einheitliche mit erweiterten Grenzen aufzubauen. Das Mädchen war dem jungen Manne in der schnelleren Anpassung weit voran. Als hätte ihre Seele nur darauf gewartet, daß einer an die verriegelte Pforte poche und das »Sesam, öffne dich« spräche, so breitete ihr Empfinden und ihr Verständnis die Schwingen. Mit dem unausgesprochenen Fraueninstinkt fand sie heraus, was in ihrer ungebundenen Natur den guterzogenen Freund verwirrte, sie las ihm sein ganzes Formentalent ab, das sie bisher als den Ausdruck angeborener Vornehmheit angestaunt hatte, und zitterte insgeheim vor Freude, wenn sie seinen verwunderten Blick bemerkte. Aber sie sprach nie ein Wort über ihre Lerntätigkeit. Sie hatten auch so viel anderes zu besprechen …

Regelmäßig trafen sie sich zwischen der sechsten und siebenten Abendstunde, wenn Hans das notwendigste Aufgabenpensum der Schule erledigt hatte. Die Ecke am Pempelforter-Stall, neben Schloß Jägerhof, galt ihnen als Rendezvous, aber meist trafen sie sich, da Hannes als erste zur Stelle war, halbwegs der Jakobinerstraße und bogen sofort in den triefenden, aufgeweichten Hofgarten ein. Als Hans im Gummimantel erschien, erschien auch Hannes im Gummimantel. Daß sie ihn aus dem Erlös ihres Francesca-Gewandes erstanden hatte, verschwieg sie. Der elastische Stoff legte sich fest um den schlanken Mädchenleib, hob die feinen Formen und gab der Figur etwas über die Jahre hinaus Vollendetes und Reifes.

»Wie wunderschön du bist!« sagte Hans. »Wie ein verkleideter Page. Man wagt gar nicht, dich anzufassen.«

Dann nahm sie seinen Arm, drückte sich an ihn und versuchte, mit ihren zierlichen Füßen seinen Schritt einzuhalten.

Kam ein Tümpel, so hob sie die Röckchen, prüfte erst mit der Spitze des Stiefels die Tiefe und schritt hindurch wie eine kleine Bachstelze.

»Du sollst mir nicht so nach den Füßen schauen, Hans«, sagte sie drüben.

»Ach, Hannes, liebster, süßer Hannes, in ein paar Jahren bist du ja doch meine Frau.«

»Ich will es aber nicht, Hans. Oder riskierst du das auch bei den jungen Damen, die in eurem Hause verkehren?«

Dann ging er verstimmt neben ihr her. Bis die Bäume sich lichteten und die Alleestraße sichtbar wurde, und sie sich plötzlich mit einer jähen Bewegung an seine Brust warf und sich von ihm herzen, drücken und küssen ließ und den Kuckuck danach fragte, ob er das auch bei den jungen Damen, die in seinem elterlichen Hause verkehrten, »riskierte«.

»Hans, ach, du, du!«

»Hänschen, Hänschen, weshalb bin ich nicht schon was geworden!« – –

Mit der gleichen, jähen Bewegung machte sie sich los, und mit der sicheren Eleganz, als wäre sie die Schwester des so apart erscheinenden jungen Menschen, überschritt sie mit ihm die Straße, um durch die Altstadt oder an der Kunstakademie vorbei den Weg zum Rhein zu nehmen.

Sie führten keine tiefen Gespräche, die beiden. Und doch war ihnen jedesmal, wenn sie sich trennten, als hätten sie die Tiefen der Weltweisheit erschöpft, und sie fühlten sich in ihrer Lebensklugheit bereichert mehr denn von allen Schuljahren.

Im stürmenden Wetter, unter dem schwankenden Regenschirm dicht aneinandergeschmiegt, blieben sie oft mitten auf der Straße stehen und horchten, halb selig, halb verängstigt, auf etwas Unerklärliches, Beunruhigendes, Wunderbares – –. Und es war nur das Pulsen ihres Blutes, das sie in der dichten Berührung verspürten.


Nun war Frost eingetreten. Es ging auf Weihnachten zu. Manchen verregneten Sonntagnachmittag hatte sich Hans von der alten Frau Stahl erbettelt, ihn in dem primitiven Wohnzimmer der Pempelforterstraße zubringen zu dürfen. Denn an den Sonntagen verließ die Enkelin die Großmutter nicht. Über den einzigen freien Tag, den die alte Frau besaß, hatte sie auch allein zu verfügen. Seit in dem jungen Mädchen das Geheimnis der Frauennatur zur Offenbarung rang und unbewußt nach Betätigung drängte, umschloß sie mit verdreifachter Liebe die einzige Frau, die, wenn auch alt und greis, ihrem Leben näher stand und ihr das gleiche Geschlecht verkörperte. Dann wandelte sich der Liebeshunger in eine Liebesverschwendung.

Und in der Greisin stieg es jung und heiß empor.

»Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle«, murmelte sie und reckte sich auf.

Mit Hans saß sie oft und plauderte. Ruhig, ernst, auf ihre Weise. Sie ließ ihn Blicke in ihr Leben tun, und ihr Leben, ihr siebzigjähriges, spiegelte siebzig Jahre der Menschheit. Alle Kreuz- und Quersprünge der Zeit und der Zeitgenossen, das Trotzen, Aufbegehren, Himmelstürmen, das Nachgeben, Erkennen, Resignieren, die Inzucht des Egoismus wie das Sichfeilhalten des Strebertums, alle Narrheiten und alle Tugenden des Menschengeschlechts hatten der alten Frau ein Spiegelbild lassen müssen, und sie mischte die Bilder in ihrem Kaleidoskop und hielt es dem stumm Aufhorchenden hin und sagte: »In all dem suchte die Menschheit das Glück. Schauen Sie nach, ob Sie es sehen.«

Und Hans sah es nicht.

»Ich sehe es in ganz etwas anderem«, sagte er mit seiner warmen Knabenstimme.

»Das taten die anderen von Haus aus auch. Aber sie waren zu schwach, ihre Meinung vor den Leuten festzuhalten. Links und rechts lockte es, akkurat wie das Glück. Und obenein schien es bequemer oder ruhmreicher, oder vornehmer und eleganter; und sie brachen von der Bahn aus und nahmen Richtwege. Da fanden sie die Bequemlichkeit, den Ruhm, die Vornehmheit, die Eleganz. Und das Glück, das dumme, kindische, einfältige, und doch über alles, alles triumphierende Menschenglück? Ich bin siebzig Jahre. Fragen Sie Leute, die so alt sind wie ich, was sie an Orden und Ämtern bieten für das, was sie – als sie jung waren – auf der geraden Bahn liegen sahen. Damals, als sie sich ihrer Jugendmeinung, ihres Impulses schämten. Wissen Sie auch, was das ist: sich schämen? Scham ist Feigheit.«

Über das Wort hatte er lange nachgegrübelt. Er empfand sehr wohl, daß es nur bedingungsweise gebraucht worden war und auch nur bedingungsweise seine Anwendung finden konnte. Aber gerade deshalb wurde es ihm zum Sporn, den Motiven nachzuspüren und sich zu prüfen, wenn er drauf und dran war, sich einer Sache, eines Menschen wegen zu schämen. Bevor er dem Gefühl der Scham Gewalt über sich ließ, sezierte er mit Gedankenschnelle die treibenden Gründe. Waren sie ideeller Natur, gaben sie ihm ein Recht, mit sich oder anderen unzufrieden zu sein, so schämte er sich für sich und die anderen mehr denn früher. Ging ein egoistischer Zug hindurch, vor allem der, der zur grundlosen Überhebung und jener eigensüchtigen Art der Verleugnung drängt, aus der Petrus nach des verlästerten Nazareners Gefangennahme die Worte sprach: »Ich kenne den Menschen nicht«, so versuchte er mit Gewalt Herr über sich selbst zu werden und murmelte es nach wie eine Beschwörung: »Scham ist Feigheit.«

An einem Dezemberabend war es, als Hans der Gedanke kam, mit Hannes gemeinsam das Springesche Atelier aufzusuchen. Es sollte ein Überfall in aller Form sein. Er wollte, daß Springe das Mädchen sehen, daß er imstande sein sollte, sich ein Urteil zu bilden. Nie hatte er mit dem älteren Freunde über seine Neigung mehr gesprochen, als in losgelösten Andeutungen, nie einen Namen genannt. Nun aber trieb ihn der jugendliche Renommierstolz, ein Zipfelchen des Schleiers, den er über den selbstentdeckten Schatz gebreitet hatte, geheimnisvoll zu lüften. Er kam sich mit seinen neunzehn Jahren unendlich kavaliermäßig vor, als er, das sechzehnjährige Mädchen am Arm, die Treppe des Hauses in der Immermannstraße hinaufstieg und die Klingel zur Springeschen Wohnung zog.

Der alte Herr öffnete wie gewöhnlich. Er blinzelte überrascht, als er das Pärchen erblickte.

»Parbleu«, sagte er und machte eine Verbeugung wie aus einem graziösen, altmodischen Menuett. »Die verdammten Kalendermacher! Machen die Kerle einem weiß, Dezember sei; und vor der Tür steht der Frühling! Treten Sie ein, meine schöne, kleine Gnädige.«

Das junge Mädchen, im molligen, schwarzen Krimmerjackett, die Pelzmütze auf dem Kopf, trat errötend näher. Die chevalereske Begrüßung hatte ihr sensitives Schönheitsgefühl erregt und sofort die Brücken geschlagen zwischen ihr und dem jovialen alten Herrn. Als er ihr die Hand zum Gruße reichte, machte sie ihm unwillkürlich einen so tiefen, ehrerbietigen Knicks, wie er ihr vorher wohl nie in ihr kapriziöses Köpfchen gekommen war, und als er, erfreut, ihre derb behandschuhten Händchen hob, um ihr wie einer Dame den Zoll des Handkusses zu entrichten, kam sie ihm zuvor und berührte mit ihren warmen, jungen Lippen seine schönen, weißen Aristokratenhände.

Mit einem Griff nahm er das feine Kind um die Taille.

»Sommervögelchen«, sagte er mit lächelndem Drohen, während sie schelmisch seinem Blick stand hielt, »das bitt' ich mir aber aus. Sparen Sie sich das Küssen, bis es für den Mund reicht. Gelt? Das ist abgemacht.«

Dann ließ er sie mit einer Verbeugung los und nahm die Hacken zusammen.

»Gestatten Sie, meine allergnädigste Kleine: von Springe. Übrigens der Ältere. Aber nur dem Geburtsschein nach.«

Da trat Hans vor und übernahm schnell die Vorstellung seiner Freundin.

»Fräulein Johanna Stahl. – Verzeihen Sie, Herr von Springe, daß ich Sie am Abend noch mit einem Besuch überfalle. Aber ich hatte Fräulein Stahl so viel von dem Atelier des Herrn Heinrich erzählt – und – und – am Tage habe ich wegen der Vorbereitung zum Examen so wenig Zeit – daß – daß – –«

»Wie denn nur? Die Freude ist auf unserer Seite. Burg Springe ist entzückt. Mein liebes Fräulein, lassen Sie sich von dem korrekten jungen Mann da nicht ihre köstliche Natur verderben. Erstens mal ist es erst sechs Uhr, und daß im Winter die Sonne früher untergeht als im Sommer, ist ihr eigenes Pech. Und zweitens bitte ich überhaupt, Burg Springe als Ihr Eigentum zu betrachten. So eine Lehnsherrin habe ich mir schon lange gewünscht. Meinen Respekt, schöne Gönnerin.«

»Donnerwetter noch mal!« entfuhr es ihm, als er sie an sich vorbeischreiten ließ und sie ihn mit ihren großen Augen kinderfroh anlachte. »Bitte, hier einzutreten. Verzeihen Sie eine kurze Weile, ich werde sofort Licht machen. Die jüngere Generation von Springe verrichtet im Nebenzimmer gerade ihr Abendgebet. Pardon also für wenige Minuten. Religiöse Handlungen soll man nicht stören.«

Er ging, um einen Kerzenfaden herbeizuholen, mit dem er die Lichter anzünden wollte.

Aus dem Nebenzimmer drangen die Klänge eines meisterhaft gespielten Flügels. Sie suchten sich mit sehnsuchtsvoller Friedlosigkeit, in durstiger Leidenschaft und tauchten unter in plötzlicher, zärtlicher Erinnerung genossener Träume, um dann ihre Stimme aufs neue zu erheben und von der großen Liebe zu sagen, die da gleich ist in der Nähe und in der Ferne, im Leben und im Sterben. Und die horchenden jungen Menschenkinder erschauerten vor der ungeahnten Menschenherrlichkeit. Sie waren blaß geworden, blaß in der Erkenntnis der Größe der Liebe, und ihre Hände kamen sich scheu entgegen, und als sie sich hielten, verkrampften sie sich. Der Mann am Flügel spielte Tristan und Isoldens Liebestod.

Und in der Dunkelheit des Zimmers, in dem sie warteten, von demselben Gedanken getrieben, hoben sie beide gleichzeitig die Arme und umschlangen sich und preßten in Angst und Wonne Mund auf Mund, wie sie noch nie einen Kuß geküßt.

Ebenso hastig ließen sie voneinander ab. Die Musik rauschte auf.

»Das ist wie ein Brautbesuch«, flüsterte Hans stockend.

»Wie ein Brautbesuch«, wiederholte das Mädchen und suchte den schweren Atem zu bändigen.

Herr Friedrich Leopold von Springe kam mit dem brennenden Kerzenfaden und zündete die großen Atelierlampen an. Auch die Kerzen in den Bronzeleuchtern mußten heute daran glauben.

»Ein bißchen festlichen Glanz muß Burg Springe doch hergeben«, meinte er schmunzelnd. »Ein Turnier kann ich in der Kürze der Zeit leider nicht abhalten lassen. Hoffentlich haben Sie sich vorhin im Dunklen nicht allzusehr gefürchtet.«

Der alte Herr schob die augenfällige Ergriffenheit der Kinder auf die aufwühlende Tristanmusik.

»So«, sagte er lakonisch, als drinnen der Deckel des Flügels klappte, »er hat ausgerungen.«

In der Tür stand Heinrich Springe. Er konnte sich in dem Lichtmeer nicht gleich zurechtfinden und beschattete einen Augenblick lang die Augen mit der Hand. Dann warf er den Kopf zurück, sah fest auf das Bild vor sich und ging mit ausgestreckten Händen auf seinen Besuch zu.

»Meine Freundin, Fräulein Johanna Stahl, würde sich so sehr freuen, wenn sie Ihr Atelier sehen dürfte …«

»Herzlich willkommen. Das ist ja beinahe wie eine Weihnachtsbescherung. Gelt, Papa?«

»Wahrhaftig, mein Sohn, ich werde unsere Tanne um drei Tage zu früh anzünden. Man soll die Tage nicht nach dem Datum, sondern nach dem Inhalt feiern.«

Und der alte Herr verschwand händereibend im Nebenzimmer, in dem der Flügel stand.

Heinrich Springe hielt die Hände des jungen Mädchens. Wie entzückend die Kleine war, wie biegsam und weich, und doch wie stark und selbstsicher an der Seite ihres jungen Freundes! Es ging ein Duft von ihr aus, so frisch wie von einer Waldblume. Glückliche Jugend, dachte er, wer die Zukunft so sähe wie ihr!

»Darf ich Ihnen aus dem Jackett heraushelfen?« fragte er. »Es wird Ihnen zu warm werden, und ein Stündchen müssen Sie nun schon bei uns alten Junggesellen aushalten. Ergeben Sie sich nur gleich auf Gnade und Ungnade.«

»Ja, ja, mein Sohn«, fuhr er fort und schob Hans scherzend beiseite, »das hättest du wissen sollen, als du dich in dies Nest wagtest. Die alten Springes von ehedem waren arge Raubritter und Schnapphähne, und die jungen kitzelt zuweilen auch noch das Blut. Jetzt erfind nur schnell ein Lösegeld. Das Fräulein aber zahlt für sich

»Und wenn ich mich sträube?« lachte das Mädchen und reckte sich in ihrem blauen mit weißen Litzen besetzten Tuchkleidchen nachdrücklich auf.

»So stehle ich Ihnen Ihr Konterfei und laß es zu Weihnachten an böse Kinder verteilen mit der Unterschrift: ›Die unartige Johanna‹.«

»Da muß ich mir doch erst Ihre Malkunst ansehen«, meinte sie würdevoll, »damit ich mir klar werde, was vorzuziehen ist.«

»Gestatten Sie, daß ich Ihnen den Arm reiche, meine Gnädigste?«

»Sie sind sehr aufmerksam.«

Hans war sprachlos. War das sein wilder, scheuer Hannes aus der Zweizimmerwohnung der Pempelforterstraße? War das dasselbe Mädchen, das noch vor wenigen Monaten nichts vom gesellschaftlichen Ton gewußt und sich feindselig gegen alles, was aus den ihr fremden Kreisen kam, gesträubt hatte? Wer hatte das in sie hineingelegt? Der gute Junge ahnte ja nicht, daß er es selber gewesen war. Er wußte ja so gar nichts von der geheimnisvollen Kraft der Frauennatur, die, wo sie liebt, spielend bewältigt, wozu sonst Jahre der Erziehung oft nicht ausreichen wollen. Hannes aber war nur von einem Gedanken beherrscht: ihrem Freunde keine Unehre zu machen, tapfer die erste gesellschaftliche Probe zu bestehen, zu zeigen, daß sie es wert war, aus der dunklen Ecke herausgeholt zu werden, und daß sie das Licht jetzt nicht mehr scheute. Es wurden Kräfte in ihr frei, vor denen sie sonst gezagt hätte, aber ein urplötzlich erwachter starker Wille spornte sie an, sich ihrer zu bedienen, damit der Freund jede ängstliche Besorgnis verliere, sich ihrer an anderer Stelle einmal schämen zu müssen, damit sich sein Vertrauen wie sein Stolz auf seinen kleinen, namenlosen Schatz stärke.

Sie lächelte ihm zu, als sie an des Malers Arm von Staffelei zu Staffelei wanderte. Halb Kinderlächeln war es, und halb süße, frauliche Überlegenheit.

Heinrich von Springe war nicht weniger überrascht als Hans Steinherr. Er hatte nach den wenigen Andeutungen seines jungen Freundes geglaubt, es handle sich um eine der unausbleiblichen Kinderliebeleien mit einem der kleinen, nicht gar zu prüden rheinischen Mädel. Und nun fand er ein Geschöpf, das zwar die ganze Rasse und die ganze Anmut der Rheinlandstöchter in sich verkörperte, dem aber eine Tiefe innewohnte, vor deren ernstem Grundspiegel er fast erschrak. Mit seinem geschärften Künstlerauge sah er in diesem Spiegel, welche Flut von Gefühlen die Tiefe bewegte, wie sich diese Mädchenseele ängstigte und wie sie sich trotzig mühte, wie sie selig erzitterte und wie sie tapfer kämpfte. Und er sah, wie auf dem Grunde sich schon die Wandlung vom Kinde zum Weibe vollzogen hatte und ein grenzenloses Vertrauen rührend klar bis zur Oberfläche stieg. Jede Antwort, die sie ihm gab, jede freie Äußerung, die von einem feinen weiblichen Empfinden für Kunst und Schönheit Zeugnis ablegte, bestärkte seine schnelle Zuneigung zu dem seltsamen Mädchen, dessen zierliche Schönheit sein Entzücken herausforderte und dessen ungehobener innerlicher Reichtum sein Mitgefühl entzündete. Würde Hans Steinherr der Mann sein oder doch der Mann werden, den Schatz zu heben, ohne die Form zu zerstören? Die Form zu erkennen, ohne den Schatz verkümmern zu lassen? Was wußte der junge, unerfahrene Mensch von dem Wert des Geschenkes, das er wie ein blindtappendes Sonntagskind am Wege gefunden hatte! Noch hatte er keinerlei ernste Probe im Leben zu bestehen gehabt.

Heinrich von Springe streifte den jungen Mann zum ersten Male mit einem sorgenvolleren Blick.

»Kinder«, sagte er dann, »wie schön, daß ihr gekommen seid!«

»Sie sind also nicht böse?« schmeichelte Hans. »Eigentlich gehörte es sich ja nicht, Sie zu überfallen.«

»Mein Fräulein«, wandte sich der Maler an die Kleine, die, ganz Kind wieder, bei Hans' Worten beschämt die Augen gesenkt hatte, »gewöhnen Sie diesem jungen Herrn doch die Salonsprache ab, wenn er sich unter Freunden befindet. Von Ihnen nehme ich als ganz gewiß an, daß Sie sich ebenso freuen wie ich. Stimmt's?«

»Ja«, sagte sie ehrlich, und es wurde ihr so frei zu Sinn, daß sie klar und ruhig die Augen zu ihm erhob.

»Sie müssen mich nicht schelten, Herr Heinrich«, bettelte Hans. »Ich konnte doch nicht wissen, wie Sie meine Eigenmächtigkeit aufnehmen würden.«

»Auch nicht fühlen?« meinte der Maler und strich ihm über das Haar. »Bin ich dein Freund, he? Und bin ich ein blutwarmer Mensch oder ein verknöchertes Monstrum, das sich selbst zum Sterben mit Albertis Anstandsbuch in den Händen niederlegt? Kleiner Dummkopf du!«

»Ha«, entfuhr es Hannes, »das war famos!«

»Freut mich, mein Fräulein, daß ich mich zum Dolmetscher Ihrer Empfindungen machen durfte.«

Er ergriff mit übertriebenem Zeremoniell ihre Hand und führte sie an die Lippen, und Hans, glückselig, ergriff ihre andere Hand und führte sie ebenso an die Lippen, und das Mädchen stand zwischen ihnen, errötend und doch ihrer Freude nicht Herr; wie ein Weihnachtsengel, der seine Flügel ausspannt.

»Was ist denn das?« fragte Heinrich Springe und hob den Kopf.

Alle drei horchten sie auf. Aber ihre Stellung behielten sie inne.

Drinnen im Nebenzimmer suchte jemand auf dem Flügel eine Melodie. Jetzt hatte er sie, wenn auch etwas klapperig, weil er sie nur mit einem Finger zu spielen verstand.

»Ihr Kinderlein, kommet,
O kommet doch all – – –«

Die Musik wurde von einer brüchigen, aber sehr gefühlvollen Stimme begleitet.

»Die Kinderlein sind wir«, flüsterte der Maler. »Weiß Gott, Herr Friedrich Leopold hat Ernst gemacht und das Geburtstagsfest des Herrn Jesus um drei Tage vordatiert!«

»Ihr Kinderlein, kommet!« mahnte die Singstimme des alten Herrn dringend von neuem, denn seine musikalischen Kenntnisse waren mit den beiden Verszeilen erschöpft.

»Also kommen wir«, entschied der Maler. »Man kann Weihnachten nie ausgiebig genug feiern.«

Noch immer hielten sie das Mädchen links und rechts bei den Händen, und so führten sie es hinein, just, als würde das stimmungsvolle Kindheitsfest nur für das fremde Mädchen gefeiert.

Auf dem Tisch strahlte eine kaum drei Schuh hohe, sattgrüne Tanne in buntem Kerzengeflimmer. Eine Schale, hochaufgetürmt mit Früchten aller Art, war neben einer bauchigen Champagnerflasche und langgestiehlten Kelchen aufgebaut. Durch das Zimmer zog der harzige Duft des Waldes.

Herr Friedrich Leopold saß am Flügel. Er hatte nun schon dreimal seinen Vers gesungen, und als er jetzt den reizenden Weihnachtsengel hereinschweben sah, überkam ihn eine andere poetische Erinnerung aus der Kinderzeit. Da der Finger auf den Tasten streikte, so klatschte er kurz entschlossen den musikalischen Rhythmus mit den Händen und sang dazu begeistert und aus Leibeskräften:

»Christkindchen, komm in unser Haus,
Pack die große Tasche aus – –«

»Donnerwetter«, unterbrach er sich bestürzt und sprang eilig auf die Beine. »Das war natürlich nur ein Versehen, meine Allergnädigste, ein bloßes Vergreifen in meinem Liederschatz. Sie werden mir im Ernst nicht die bodenlose Unhöflichkeit zutrauen, von meinem lieben Gast das Mitbringen und Auspacken einer großen Tasche zu ergieren. Was singen wir nun?«

Heinrich Springe setzte sich auf den Klavierstuhl, sann einen Augenblick nach, und bald begann der Flügel unter seinen Händen zu jauchzen und zu jubeln. Der Maler sah Hannes an, die neben ihm stand. »Kennen Sie das?« fragte er, ohne sich im Spiel zu unterbrechen.

»Aus den Weihnachtsliedern von Peter Cornelius.«

»Ah – – das überrascht mich. – – Die Lieder sind nicht sehr bekannt.«

»Die Musiklehrerin, von der Schule her, hat sie mich gelehrt. Ich durfte zuweilen zu ihr kommen.«

»Bitte, singen Sie«, und er begann von neuem.

Ihr Blick fuhr blitzschnell von einem zum anderen; hilfesuchend, verwirrt. Ihr Herz begann in rasendem Tempo zu schlagen. Der Maler wartete, die Hände auf den Tasten; der alte Herr und Hans standen gespannt neben der Tanne. Da hob sie sich in den Schultern und trat, die Stirn zusammengezogen, dicht an das Instrument heran.

»Wie schön geschmückt der festliche Raum.
Die Lichter funkeln am Weihnachtsbaum.
O fröhliche Zeit! O seliger Traum!«

Der Maler wandte während des Spiels den Kopf und nickte ihr zu: »Bravo!« Das half ihr über die Angst. Und sie sang so frisch und unbekümmert das Lied zu Ende, als wüßte sie von keinem Zuhörer.

Heinrich Springe reichte ihr die Hand.

»Sie haben ein schönes Organ«, sagte er, »und was mehr ist, Sie haben Seele. Wir müssen mehr miteinander musizieren. Topp, schlagen Sie ein!«

»Sie spielen wundervoll«, stammelte sie und suchte mit den Augen den Geliebten.

Den aber hatte Herr Friedrich Leopold bei den Rockaufschlägen genommen, ihn wach zu rütteln.

»Sie sind an der Reihe, mein Sohn! Es geht ein Rundgesang an unserem Tisch herumvidiwum!«

»Ich lebe seit Jahren im Stimmbruch, Herr von Springe.«

»Sie brauchen auch gar nicht zu singen; lassen Sie Ihre Muse singen; die ist doch so Gott will über den Stimmbruch erhaben. Sie Drückeberger sind der einzige, der heute abend nichts geleistet hat.«

»Ich habe Ihnen Fräulein Stahl gebracht«, sagte Hans mit einer Verbeugung.

»Wahrhaftig«, beeilte sich der alte Herr und erwiderte die Verbeugung tief. »Ich werde beim Papst darum einkommen, daß man Sie für diese Tat heilig spricht.«

Darauf ließ er mit einem Knall den Sektpfropfen an die Decke springen.

»Noch nicht, Vater«, bat der Maler. »Horcht! Das paßt in die Stimmung.«

Vom nahen Klösterchen in der Oststraße klangen die Glocken zu einer weihnachtlichen Messe.

»Hast du wirklich kein neues Gedicht verfaßt, Hans?« fragte der Maler. »Wir bilden doch eine Familie.«

»Hans dichtet?« rief Hannes überrascht. »Ach – ich meinte – Herrn Steinherr.«

»Herrn Steinherr?« versetzte der alte Herr trocken. »Hier gibt es nur einen Hans; und der dichtet in der Tat.«

»Ein Weihnachtsliedchen«, sagte Hans mit leiser Stimme, und es trat feierliche Stille ein.

»Komm, komm – – – – –!
Die Weihnachtsglocken läuten.–
Du sollst das Lied mir deuten,
Ganz leis, ganz fromm.
Dort auf dem Tannenmoos,
Von Zweigen überhangen,
Laß, Liebste, dich umfangen
Auf meinem Schoß.

Still, still – – –!
Was können Worte sagen?
Ich spür's an seinem Schlagen:
Dein Herz, es will –
Will aus dem Glockenklang
Mir eine Mär' verkünden,
Die ich nicht könnt' ergründen
Ein Leben lang.

Du! Du! – – –
O, laß mich weiter hören!
Mit keinem Hauche stören
Will ich die Ruh'.
Weich nicht verwirrt zurück –
Ein Lachen und ein Singen
Will dich und mich bezwingen
Von innrem Glück.

Bald, bald – – –!
Und wieder brennen Kerzen,
Und Glockenruf im Herzen
Uns widerhallt.
Was heiß in uns gegärt,
Die Wünsche, die wir spannen
Zu Weihnacht unter Tannen
– Gewährt, gewährt!

Dann, dann – – – – –!
O jetzt noch schweigen müssen!
Sprich's aus in tausend Küssen,
Was ich gewann. – –
Horch, in den Lüften blieb
Der Weihnachtsglocken Klingen,
Und unsre Seelen singen:
Ich hab' dich lieb. – – –«

Er blieb unter der Tanne stehen und blickte, weltvergessen, sein Mädchen an, dem die Kniee zitterten. Sie hätte sich ihm an den Hals geworfen, trotz des fremden Ortes, trotz der fremden Menschen, wenn sie vermocht hätte, sich von der Stelle zu rühren. Ihr ganzes Wesen war in Aufruhr.

Heinrich Springe schenkte die Gläser voll und wortlos reichte er sie herum. Dann trat er auf Hans zu und legte ihm den Arm um die Schulter.

»Das soll das Wort sein, das diesem Tag die Weihe gibt: ›Ich hab' dich lieb.‹ Komm, nenne mich du.« –

Noch ein halbes Stündchen blieben sie beisammen. Dann ging der Maler an den Flügel.

»Noch ein Abschiedslied«, sagte er und intonierte die Melodie. »Kennen Sie es wiederum, Fräulein Johanna?«

»Aus den Brautliedern von Cornelius«, erwiderte sie leise und setzte ein.

»Nun, Liebster, geh und scheide – – –
Morgen ist auch noch ein Tag. –
Morgen, morgen, morgen …«

Und das »morgen« klang liebeschwer, sehnsuchtsvoll und wunderbar trostreich. – –

»Mein Dichter«, flüsterte sie erregt, als sie durch den Winterabend heimschritten, »du wirst so groß, so berühmt werden …«

»Ich habe ja alles von dir!« rief er leidenschaftlich und preßte ihren Arm. »Ich dürfte dich nie verlieren.«

Da stieg ein seltsam neues Gefühl in ihrer jungen Brust, auf. Das zärtliche Muttergefühl des Weibes für den Geliebten. –

*


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