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10.

Das Trauerjahr war zu Ende gegangen.

Nach wie vor leuchtete der Name »Philipp Steinherr« in großen Metallbuchstaben an den Oberbilker Eisenwerken, aber der, der den Namen in harten, unvergänglichen Zügen geschaffen hatte, war nicht unersetzlich geblieben.

»Ist es nicht ein schwermütiger Gedanke«, hatte einst Frau Margot im Gespräch mit dem Freunde geäußert, »daß kein Mensch eine Lücke hinterläßt? Es wird Morgen und es wird Abend und wieder Morgen, und das Leben schreitet fort und Handel und Wandel, und keiner dreht sich um nach dem, der einst war und ohne dessen Stimme sonst kein Unternehmen möglich schien. Was hat da aller Ehrgeiz genutzt, wenn jedes Ding so bald unpersönlich wird?«

»Nein, Frau Margot«, hatte Heinrich Springe geantwortet, »darin kann ich keinen Grund zur Klage sehen. Für mich liegt gerade in dem Umstand, daß kein Mensch unersetzlich ist, etwas ungemein Tröstliches und – Aufrüttelndes. Inwiefern Tröstliches, meinen Sie? Nun, weil es auf die Dauer auch den größten Schmerz paralysiert, wenn die beständig mahnende Kluft fehlt; denn sonst würde die Vernichtung eines jeden Menschenlebens die Vernichtung einer Anzahl anderer Menschenleben nach sich ziehen und so fort bis ins Unendliche. Die Selbstzerfleischung aber kann nie der Zweck einer Schöpfung sein. Der Mahner Tod schwindet hin wie ein Phantom, weil wir seine Spur nicht mehr sehen, die Lust zum Leben, die erschreckt den Kopf unter die Flügel gezogen hatte, wagt sich scheu hervor, blinzelt mit den Augen und bemerkt, daß sie nach wie vor und trotz heftigen Sträubens den Duft der Rosen empfindet, den Gesang der Vögel vernimmt und das Licht der goldenen Sonne sieht. Und damit komme ich zu dem, was ich das Aufrüttelnde der Idee nennen möchte. Wenn wir erst einmal gewahr geworden sind, daß das Leben nach der Spanne, die es uns läßt, uns nicht vermißt, so sollen wir hingegen, während dieser Spanne, nichts vom Leben missen wollen, sondern bei dem kurzen Besuch alle Gastgeschenke entgegennehmen und, wenn's not tut, sie seinem Reichtum entreißen. Damit nehmen wir unserem Toten nichts und schaffen uns Lebendigen unser Recht. Es ist eine fixe Idee, wenn man glaubt, man komme über den Schmerz um einen Dahingeschiedenen nie mehr hinweg, wenn man sich um diesen Schmerz lebendig begraben will, und läßt doch bei dem geringsten Zahnweh einen Arzt zur Hilfe rufen. Für ehrliche Naturen sollte es keine Inkonsequenzen geben, auch aus Gefühls- und Pietätsgründen nicht. Entweder – oder!«

»Also Witwenverbrennung – ich meine damit natürlich mehr, das Auslöschen alles dessen, was er hinterlassen hat –« sagte sie nachdenklich, »oder –?«

»Hand ans Steuer«, vollendete er. »Nur nicht das widersinnige Vegetieren, dies halbe Verzichtleisten und Nirgendhingehören, das vielleicht einer Generation Schaden und uns keine Zufriedenheit bringt.«

»Und wenn wir nun die Hand ans Steuer legen? Auch uns wird es eines Tages entzogen.«

»Verstehen Sie denn darin nicht die Größe des Gedankens, Frau Margot? Es wird kein Unterschied gemacht! Auch bei unseren Nachfolgern nicht! Ein endgültiges Triumphieren gibt's nicht! Herr Gott, bei solchem maschenlosen Kommunismus verliert der Tod doch jeden Schrecken.«

»Und die Werke, die wir zurücklassen müssen und die in fremde Hände übergehen? Ist das nicht quälend?«

»Der Kopfschmerz, den wir uns darüber machen, vergeht, in dem Moment, in dem wir die Augen schließen. Sind wir am Abend unseres Daseins mit dem Bestand unserer Werke und mit uns zufrieden, so ist uns die Krone des Lebens geworden. Und wissen wir überdies, daß wir kein Glück vorbeiließen, soweit es uns erreichbar war, so sind wir selbst nach unserem Tode noch glücklich zu schätzen. Darum sag' ich: bis zum letzten Atemzug die Hacken einschlagen in die Felsen und Quellen hervorrufen, aus denen wir trinken können. Austrinken, wenn es uns schmeckt. Das nachfolgende Leben ist nicht auf unsere zwei Augen gestellt, so wenig wie das unsere auf die Augen unserer Vordermänner. Es rauschen immer wieder neue Brunnen.«

»Sie sind ein Lebenskünstler, Heinrich Springe. Woher haben Sie diese hieb- und stichfeste Weisheit genommen – –«

Dann bot er ihr den Arm und führte sie in den Garten, zu den Rosen.

»Wie sie blühen und duften«, sagte er. »Und sie schießen und sprießen aus demselben Stock hervor, der im letzten Herbst verblüht war. Liebste Frau: es gibt kein Jahr, in dem nicht Rosen blühen.« – – –

Und auch in Frau Margot blühten die Rosen auf, die so lange durchwintert hatten.

Hans Steinherr hatte am Tage nach der Beerdigung seines Vaters den Freund in seiner Wohnung aufgesucht, um sich wegen der Fortführung der Werke Rats zu holen. Nach längerer ernster Konferenz war man übereingekommen, sich zu Frau Margot zu begeben, um ihr die einstweiligen Pläne zur Begutachtung vorzulegen.

»Ich habe ja nicht die geringste Ahnung von dem Wesen der Betriebsführung und rationeller Fabrikationswirtschaft«, hatte Springe geäußert, »und daß Hans mir in diesen Dingen nichts weniger als überlegen ist, bedeutet auch gerade keinen Trost. Wollen Sie jedoch die Meinung eines sonst ziemlich klarblickenden Menschen haben, so ist es die: Lassen Sie den Oberingenieur der Firma rufen. Der Mann ist zwanzig Jahre im Dienst und hat die ganze Entwicklung der Werke mit durchgemacht. Er weiß um alle Zukunftspläne und hat Interesse an ihrem Werden, weil sein geistiges Kapital darin angelegt ist. Das ist aber nicht genug. Soll die ganze Leitung in seine Hände übergehen, so muß seine Bedeutung nach außen hin gesteigert werden. Seiner selbst wegen, damit er nicht auf Konkurrenzgedanken kommt, und der Beamten und Arbeiter der Fabrik wegen, damit sie mit Respekt seinen Weisungen folgen. Das scheint mir aber nur möglich, wenn Sie ihn zum Teilhaber ernennen. Geben Sie ihm den Titel und beteiligen Sie ihn – neben seinem festen Gehalt – mit einem gewissen Prozentsatz am Reingewinn. Sie werden pekuniär gut dabei fahren und vor allem jeder Sorge überhoben sein.«

Der Abend war mit Verhandlungen mit dem Oberingenieur ausgefüllt worden, der sich als ein kluger und ruhiger Mann erwies. Die Eintragungen in das Firmenregister hatten bald darauf stattgefunden. Hans war zu seinem Regiment zurückgekehrt, und nun lief die Zeit wieder hin, als wäre in ihrem Gleise keine Unebenheit gewesen.

Hans hatte von seinem Kommandeur die Erlaubnis erhalten, die erste achtwöchentliche Reserveübung sofort an das Dienstjahr anschließen zu dürfen. Dadurch wurde er der Notwendigkeit enthoben, sich bis zum Beginn des neuen Semesters nach Hause begeben zu müssen, denn eine andere Reise erschien ihm jetzt nicht passend. Vor den Verhältnissen daheim aber bangte ihm. Er wußte nun um das Verhältnis Johannas zu seiner Mutter, er sah voraus, daß man ihm keine Hindernisse mehr in den Weg legen, sondern im Gegenteil an seinen Besuch frohe Erwartungen knüpfen würde. Und diese Erwartungsfreudigkeit war ihm unbequem, sie war ihm geradezu fatal.

Nun stand er dicht vor dem Reserveoffizier, und er setzte allen Ehrgeiz darein, nicht zum Train abgeschoben zu werden, sondern beim Regiment weiter zu bleiben. Die Anschauungen seiner neuen Freunde, seiner ganzen Umgebung, hatten viel zu stark auf ihn abgefärbt, als daß er imstande gewesen wäre, sich ein anderes Glück zu denken, als das von seinem ganzen Kreise akklamierte und – beneidete.

Hannes' auffallende Mädchenschönheit tauchte vor ihm auf. Er wich dem Bilde betreten aus, dann aber blickte er verstohlen hin und sein Auge begann zu strahlen und sein Herz zu schlagen, je länger er es ins Auge faßte. Dies letzte Wiedersehen! Als sie in der Laube vor ihm stand, eine andere, schönere; und doch dieselbe, liebe. Nie, nein nie und nirgends hatte er ein so starkes, überquellendes und wiederum so beruhigendes Heimatsgefühl gehabt, wie in der Stunde, da er an ihrem Halse hing und sie ihn das befreiende Weinen lehrte …

»Keine würde sie übertreffen«, dachte er selig, »keine ihr gleichkommen. Sie hat den Mund einer Geliebten und die Augen einer Mutter.«

Plötzlich übergoß flammende Röte seine Stirn, und er wandte sich rasch ab und trommelte nervös gegen die Fensterscheiben.

»Aber wenn es auskäme? Ihre Herkunft, ihre Familie, ihre Geburt? Und es kommt aus«, rief er laut, »so was bleibt nie verheimlicht, dafür sorgen die guten Freunde. Man wird zu tuscheln anfangen und sich erzählen und alles mehr noch übertreiben, als ob es nicht so schon genug wäre. Man brauchte nur zu erfahren, daß sie als Kind zum Modell gesessen hat. Ob nur zu einem Engelsköpfchen, danach fragt ja die Menschheit nicht. Da heißt es einfach: Modell! Und jeder denkt sich ein Manko an Schamhaftigkeit dabei. Himmel und Hölle, weshalb mußte die Alte auch einen solchen Unfug zugeben. Vererbtes Blut, schlechte Erziehung – wo sind da die Kautelen? Als Primaner denkt man ja an nichts anderes, als an das Gesichtchen. Aber ich bin kein Primaner mehr. Ich habe Verpflichtungen gegen meine Gesellschaft. Ich würde mich mit sehenden Augen unmöglich machen, nicht den Verkehr einhalten können, den ich haben will und muß. Wenn's ein anderer wäre, ich würde doch ganz genau so darüber denken. Da kann und darf ich mich nicht ausschließen wollen.«

»Und dabei hab' ich doch das Mädchen so lieb –«

»Ruhe, Ruhe. Nichts überstürzen. Zeit gewinnen, nur Zeit gewinnen.« –

Von Bonn ging er auf zwei weitere Semester nach Heidelberg. Auch hier wurde er bei einem Korps aktiv, aber er betrieb doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit seinen Studiengang. Als der Herbst kam, bereitete er sich auf die Übersiedlung nach Berlin vor; da erhielt er einen Brief Heinrich Springes, der ihn bat, diesmal einen Teil der Ferien zu Hause zu verbringen, da er verschiedenes mit ihm zu besprechen habe, das am angenehmsten an Ort und Stelle seine Erledigung fände. Es war ihm nicht sympathisch. Aber er mochte auch den alten Freund nicht vor den Kopf stoßen und reiste an einem der nächsten Tage ab. – –

Für Hannes war das letzte Jahr wie das vorletzte geblieben. Sie nahm das Studium mit einem Ernst, der weit über ihre achtzehn Jahre ging, und wenn sich Ermüdung einstellte, dachte sie an den Geliebten, lächelte jede Mattigkeit hinweg und sprach vor sich hin: »Ich tue es ja nicht für mich, ich tue es ja für ihn.«

In ihren äußeren Verhältnissen waren einige Änderungen eingetreten. Großmutter Stahl brauchte nicht mehr von Haus zu Haus ihrer Kundschaft nachzugehen. Die Herren von Burg Springe hatten sie feierlich zur Palastdame, Verwalterin und Oberschließerin auf Burg Springe ernannt, eine Beschäftigung, die den Tag der alten Frau nicht allzusehr bedrückte, aber dennoch ausfüllte. Zuerst hatte sie nicht gewollt. Sie witterte ein verstecktes Almosen. Als ihr aber Friedrich Leopold in beweglichen Worten seine Not klagte und die aus Rand und Band gehende Junggesellenwirtschaft beschrieb, da bedurfte es nur noch eines kläglichen Hinweises auf den Verfall von Leib- und Tischwäsche – der alte Herr raunte mit bekümmertem Gesicht der alten Frau einige Worte ins Ohr und zeichnete dazu mit der Hand ein paar riesenhafte Ellipsen in die Luft, um ihr die schreienden Defekte in ihrer Größe einigermaßen klar zu machen – und Frau Stahl quittierte ihre sämtlichen Dienste in anderen Häusern, um den Rest ihrer Kräfte der Ordnung auf Burg Springe zu weihen. Die Wohnung in der Pempelforterstraße aber behielt sie bei; nur die Einrichtung wurde nach und nach etwas komplettiert. »Sie könne in ihren Jahren keine Luftveränderung mehr vertragen«, sagte sie zu Frau Margot, die ihr riet, eine bequemere Wohnung zu nehmen. »Wie gelebt, so gestorben.«

In Burg Springe schlug das Leben seitdem höhere Wogen. Wenn Hannes kam, um ihre Großmutter abzuholen, oder mit Herrn Friedrich Leopold ein Stündchen zu verschwatzen und Herrn Heinrich beim Malen zuzusehen, »dann wurde es Tag«, wie der alte Kavalier strahlend erklärte. Dann zog die Jugend durch alle Räume und ließ die feinen Silberglöckchen klingen, und die sonderbaren Burgbewohner, die immer die Fallbrücke in Bereitschaft hielten, um die Jugend bei sich einzulassen, schworen, sie wären keinen Tag älter als Hannes. Es ging von dem Mädchen ein Fluidum aus, rein und stärkend wie die Wasser eines Jungbrunnens.

An schmeichelnden Sommerabenden setzte sich Heinrich Springe an seinen Flügel und Hannes ließ ihren warmen Alt erklingen. Und wenn die Lieder ausgeströmt waren und die Stimmung sich so seltsam verdichtet hatte, daß nur noch etwas Außergewöhnliches geschehen durfte, um den glücklichen Zauber zu halten, dann führte Herr Friedrich Leopold an zierlich gespreizter Hand die rüstige Altersgenossin Frau Stahl vor, und sie mochte wollen oder nicht, sie mußte mit ihm zu Heinrichs Begleitung ein köstlich-steifes Menuett aus der guten alten Zeit exerzieren. Das war an den Abenden, an denen Frau Margot zugegen war, die nach der Eintönigkeit des vergangenen Trauerjahres nun oft im Vorbeigehen heraufgeschlüpft kam, um, wie sie sagte, ihre Seele zu füttern. Und an dem Abend, an dem das Weinlaub der Veranda herbstlich rot erglühte, hatte sie mit Heinrich Springe an der Brüstung gestanden, und die Fröhlichkeit, die aus dem Zimmer zu ihnen drang, gab ihrer stummen Stimmung das Relief.

Sie lehnten nebeneinander und sahen geradeaus, in den farbenprangenden Abend hinein.

»Frau Margot«, sagte dann Springe, aber keins von ihnen änderte die Richtung des Blickes, »ich habe Sie bis heute nicht fragen wollen.«

»Lieber Freund, ich bin nicht mehr die kleine Margot, die Sie im Gedächtnis haben. Ich bin eine Frau, die den Höhepunkt überschritten hat. Bedenken Sie das.«

»Wir beide haben erst den Höhepunkt überschritten, wenn wir uns nicht mehr lieben.«

»Und das ist nicht möglich«, sagte sie und legte ihre Hand auf die seine.

Sie schauten, nebeneinander lehnend, in den Abend wie vorher; aber es war ihnen, als wäre Luft und Licht noch wohltuender geworden.

»Wann, Margot?« fragte er nur.

Und sie antwortete: »Wann du willst. Nur ordne mir auch das Glücksbedürfnis meines Jungen …«

Da beugte er sich über die feingeäderte Hand, die wie ein Marmorgebilde auf der Verandenbrüstung ruhte, und küßte sie.


Hans war angekommen.

Als Frau Margot, die ihren Jungen von der Bahn abgeholt hatte, ihm im Wagen gegenübersaß, wußte sie nicht das rechte Wort zu finden, ihn im Sturm einzunehmen. Hans hatte sich bei der Begrüßung sehr zärtlich gezeigt, aber es war doch mehr die liebenswürdige Aufmerksamkeit eines chevaleresken Sohnes zur Mutter gewesen. Nun suchte sie ihn während der Fahrt zu beobachten und Vergleiche zwischen früher und jetzt anzustellen. Sie hatte sich ihren Jungen nicht gar so erwachsen gedacht. Hans war stärker geworden und breiter in den Schultern. Sein welliges braunes Haar war der Schere zum Opfer gefallen und so kurz geschnitten, wie es der durchgeführte Scheitel nur eben zuließ. Auch sein kräftiger dunkler Schnurrbart zeigte eine offiziersmäßige Form. Das Gesicht war röter geworden und die Studentennarben auf Stirn und Wangen zogen scharfe, purpurne Linien hinein. Um die Augen herum liegen tiefe Schatten, die von durchtollten Nächten sprachen.

Es wurde Frau Margot eigentümlich zumute bei dieser Entdeckung. Hatte sie geseufzt? Worüber? Weshalb?

Der Sohn erkundigte sich teilnehmend, ob sie sich nicht ganz wohl fühle?

»O doch«, gab sie freundlich zur Antwort. »Ich bin nur froh, daß du da bist.«

»Weißt du, was Springe von mir will? Er zitierte mich mit solcher Bestimmtheit her.«

Welchen Ton er sich angewöhnt hatte – –. In den wenigen Worten schon lag die ganze Veränderung seines Wesens.

»Ich möchte unserem Freunde nicht vorgreifen«, erwiderte sie reserviert. »Du wirst wohl gleich zu ihm wollen?«

»Es eilt nicht, Mama. Jedenfalls möchte ich mich zunächst umkleiden und, wenn du gestattest, ein Glas Wein bei dir trinken. Diniert habe ich bereits in Köln auf dem Bahnhof.«

Sie nickte nur, und schweigend kamen sie zu Hause an.

Eine Stunde später verabschiedete er sich von der Mutter. Der rasch genossene Wein brauste ihm im Blut, und er freute sich auf einen Spaziergang durch den kühlen Herbsttag. Als der Hofgarten in Sicht kam, zog es ihn unwiderstehlich nach der Pempelforterstraße. Er wollte nur an dem Hause vorübergehen und dann zurückkehren, um Springe aufzusuchen. Doch nachher konnte er sich nicht enthalten. Weshalb nicht auf einen Sprung hinauf? Die Großmutter würde nicht daheim sein und Hannes – Hannes allein. Alle Pulse klopften ihm. [Da] war er auch schon oben und klingelte.

»Hans!«

Das Mädchen war zuerst einen Schritt zurückgetreten. Dann kam sie hastig vor, faßte ihn bei den Händen und zog ihn in das Zimmer. Seine Hände in den ihren, starrte sie ihn eine Minute an. Das Schweigen wurde ihm peinlich, und er machte eine Bewegung. Da schüttelte sie den Kopf, als wollte sie die aufsteigenden Gedanken verjagen, und warf, einem jähen Impulse folgend, die Arme um seinen Hals.

»Da bist du, da bist du«, wiederholte sie nur immer, und ihr junger, warmer Mädchenkörper zuckte vor Erregung in seinen Armen.

»Kind, Kind, wer wird sich denn so aufregen!«

»O laß mich doch, laß mich doch. Ich wußte ja kaum noch, ob du lebtest.«

»Mir ist das viele Briefschreiben ein Greuel. Damit wird dich auch Mama getröstet haben.«

»Mama –?« Sie ließ seinen Nacken los und lächelte eigen vor sich hin.

»Nun, Johanna, was soll denn das?«

»Mama ist der Meinung, daß ich regelmäßig Nachrichten von dir gehabt hätte.«

»Wie ist denn das möglich? Hat sie denn nie gefragt?«

»Doch, doch. Gerade, weil sie gefragt hat. Da hab' ich ihr das ja gesagt.«

»Daß du Nachrichten von mir hättest? Ja warum denn, um alles in der Welt?«

Sie sah ihn an. Sie fühlte, daß er sie nicht verstand, daß er ihre Tapferkeit nicht verstand. Und plötzlich merkte sie, daß all ihre Freude erstorben, daß ihr Blut eiskalt geworden war.

»Weil ich mich für dich schämte«, sagte sie und richtete sich ruhig auf.

»Was –?« fragte er erstaunt, als hätte er nicht recht gehört. »Weil du dich – für mich – –? Ach, du scherzest wohl.«

»Wie du dich verändert hast«, entgegnete sie nur und betrachtete ihn ernst. Sein Gesicht hatte keine Geheimnisse für sie. Sie las aus den kleinen Spuren sein ganzes Leben.

»Darf ich vielleicht wissen, weshalb du es für nötig hieltst, dich für mich zu schämen?« fragte er zornig.

Da fuhr auch sie auf.

»Nein! Das darfst du nicht wissen, wenn du es wirklich nicht längst schon weißt.«

»Ich bitte mir ein besseres Benehmen aus. Das ist nicht der Ton, in dem wir eine Unterhaltung führen können.«

»O – –! Und dein Benehmen? Dein Benehmen gegen mich? Daß du mich fast ein Jahr lang auf eine Zeile warten ließest? Das ist wohl ganz was anderes!«

Er suchte nach einer Antwort, um der aufsteigenden Scham zu begegnen. Und plötzlich, nur von dem Gefühl getrieben, nicht als der Besiegte zu erscheinen, stieß er brüsk hervor: »Vergiß doch nicht, daß wir durchaus nicht offiziell verlobt sind. Dann freilich, dann wäre es unverantwortlich von mir gehandelt gewesen. So aber trifft mich auch nicht der kleinste Vorwurf.«

Sie wurde mit einem Male merkwürdig ruhig. Noch ein paar schnelle Atemzüge, und sie konnte lächeln.

»Reden wir nicht davon. Es hat keinen Zweck. Einer von uns spricht Chinesisch.«

Dann bot sie ihm mit heiterem Wesen einen Stuhl an und setzte sich mit einer kleinen Handarbeit an den Tisch. Ganz korrekt, ganz über der Situation stehend, wie eine große Dame, dieses junge Geschöpf …

»Großmama wird sehr bedauern. Es ist zwar nicht ganz schicklich, daß wir hier so mutterseelenallein sitzen. Aber für ein paar Minuten – das hat wohl nichts zu bedeuten.«

Er biß sich auf die Lippen. Sie machte sich lustig über ihn! – – Da verlor er den Kopf.

»Hannes«, begann er, und nun sprudelten die Worte hervor und überstürzten sich, »Hannes, ich hab' dich lieb. Daran zweifelst du doch hoffentlich nicht. Ich habe dich genau so lieb wie früher. Aber dem Leben da draußen ist nicht nur mit der Liebe gedient. Wir – ich mein' die Menschen, die auf sich halten – wir haben ernstere Pflichten gegenüber der Gesamtheit als die große Masse gegen sich. Wir bilden die Elite. Und deshalb dürfen wir uns nicht leichtsinnig eine Blöße, eine Angriffsfläche geben. Was den einzelnen von uns trifft, das trifft uns alle. Wir sind sozusagen ein Körper und eine Seele. Verstehst du das?«

»Ich wußte bisher nur, daß zwei, die sich lieben, das zu sein hätten …«

»Aber natürlich. Das hab' ich doch wohl nicht in Abrede gestellt. Ich spreche hier aber von dem Kreise, in dem ich zu leben habe, von den Leuten aus gutem Hause und von guter Erziehung. Siehst du, Hannes, das sind die Konflikte, die an mir herumreißen. Ich habe dich so lieb – wer könnte dich nicht lieb haben – aber nun sei einmal mein vernünftiges Mädchen.«

»Ich bin dein vernünftiges Mädchen«, sagte sie und zwang den stürmischen Atem zurück.

»Also, Hannes; dann wird es uns leicht werden. Ganz offen, nicht wahr, ganz offen! Ich habe nun einmal einen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Und deine Mutter – deine Mutter besaß keinen Frauennamen.«

»Nein; aber sie besaß die Frauenliebe.«

»Aber davon versteht die Welt doch nichts«, rief er aufgebracht, »dazu ist doch die Welt zu dumm!«

»Und trotzdem – –? Armer Hans.«

»Du scheinst bei meiner Mutter viel gelernt zu haben«, sagte er und stand auf.

»Ich wollte dich nicht kränken. Aber ich habe dich viel zu lieb, als daß ich dich so hören könnte.«

»Hannes«, bestürmte er sie von neuem und zog sie an sich, »es ist ja nur eine bloße Formalität, die ich verlange. Ich habe ja allen Respekt vor deiner Mutter, aber die Leute, auf die es für uns ankommt, denken darüber anders. Wir wollen zu Springe hingehen. Wir wollen ihm alles vorstellen und ihn bitten, zu helfen. Er soll dich adoptieren. Dagegen wird er bei seinen Anschauungen nichts haben. Du erhältst einen guten Namen und wir heiraten und ziehen nach München, nach Berlin, wohin du willst. Mit der Fabrik will ich ja doch nichts zu tun haben. Hannes, ich bitte dich. Hannes – – was hast du denn? Was fällt dir denn ein?«

Sie hatte sich mit einer energischen Bewegung freigemacht und vom Wandhaken ihren Hut gerissen.

»Soll ich gehen, oder willst du gehen?«

»Hannes, Liebste, versteh mich doch nicht falsch. Kannst du mir denn kein Opfer bringen?«

»O doch«, lachte sie und nestelte ihren Hut auf, »das größte; dasselbe Opfer, das meine Mutter gebracht hat. Wenn es darum ging'! Wenn es nicht anders wär'! Das wär' doch wenigstens Stolz! Kein feiges Einschleichen, wie du es von mir verlangst. Gib dir keine Müh' mit mir. Ich will nichts mehr hören, als das eine: Soll ich gehen, oder willst du gehen?«

Er war gegangen. Rot vor Zorn und Scham. Aber wie in einer Muschel, in der sich, unentrinnbar, die Stimme des ewigen Meeres gefangen hat, so schallte, unentrinnbar ihr, eine Stimme in seinem Innern. »Scham ist Feigheit – Scham ist Feigheit.«

Die alte Frau Stahl hatte es gesagt, droben in dem Stübchen. Und droben in dem Stübchen rang jetzt ein junges, wildes Blut mit dem ganzen Stolz die Verzweiflung nieder. Der Sommernachtstraum, den sie im Park zu Benrath geträumt hatte – Sommernacht? Es war doch Herbst gewesen, Herbst wie heute. Der Ring hatte sich geschlossen.

Sie saß gerade aufgerichtet auf dem Stuhl, den Hut auf dem Schoß, und starrte ins Leere. Nicht mit der Wimper wollte sie zucken. Aber die Tränen nahmen keine Notiz davon. Sie kamen tief aus dem Innern und rollten langsam über die Wangen und tropften heiß auf die Hände. Ein Abschied – –.


Heinrich Springe ging auf dem Trottoir vor seiner Haustüre auf und ab und zog jeden Augenblick aufs neue seine Uhr. Wo nur der Hans blieb? Er hätte schon seit Stunden bei ihm sein können. Sollte Frau Margot vorgezogen haben, zuerst mit ihrem Sohne zu sprechen, und Hans Einwendungen zu machen haben? Dem wartenden Manne war es auf seinem Atelier ordentlich unheimlich geworden. Ahnungen durchflatterten das Zimmer und schreckten ihn auf. »Wie Fledermäuse«, dachte er und sah sich um. Er hatte doch sonst nicht an Nervosität gelitten.

»Die Liebe macht doch selbst die Vernünftigsten zu schreckhaften Kindern«, sagte er kopfschüttelnd. »Vielleicht, weil ihre Vernunft begreift, was das Herz zu verlieren hat.«

Damit nahm er seinen Hut, um vor dem Hause nach Hans auszuspähen.

Endlich! Dort kam er von der Oststraße her, den Hut etwas schief, das Jackett aufgeknöpft und den Stock wagrecht unter dem Arm.

»Achtung, mein Junge, du läufst zu weit.«

»Ah, da bist du ja selbst. Guten Tag, Heinrich. Wie geht's? Wollen wir einen Spaziergang unternehmen? Es plaudert sich im Freien am besten.«

»Lieber wär's mir, wenn du mit mir hinaufgehen wolltest. Wir sind oben ungestörter.«

»Na, gar so feierlich wird's doch nicht sein.«

»Wie man's nimmt, mein Junge. Für mich soll's, so Gott will, eine Feierstunde werden.«

Sie saßen sich im Atelier gegenüber, wie vor Jahren. Aber der Jüngere war älter geworden, und der Ältere jung geblieben. Das sahen sie beide auf den ersten Blick, und es schlich sich ein Fremdes zwischen sie.

Heinrich Springe schüttelte den Bann ab. Freimütig blickte er den einstigen Schützling an und legte ihm die Hand aufs Knie.

»Laß mich gleich mitten in die Sache hineingehen, Hans. Umschweife würden sich für uns nicht schicken, und sie passen auch nicht zu meiner Art. Nur eines sollst du mir vorher sagen: ob du mir noch so vertraust …«

»Aber gewiß …«

»Das genügt mir. Ich brauche also nicht zu erwähnen, daß keinerlei Interessen bestimmend für mich sein konnten. Hans, ich habe deine Mutter gekannt, als sie noch ein kleines Mädchen war, und ich habe sie mit meiner Knabenliebe geliebt. Du weißt ja selbst, was Jugendliebe bedeutet, nur daß du glücklicher darin bist, als ich es war. Wir waren beide arm, deine Mutter konnte nicht warten und heiratete deinen Vater, und ich – ich habe keine andere Frau mehr lieb gehabt. Und nun, Hans, und nun – haben wir uns wieder zusammen gefunden. Und der Kindheitsglaube an das Glück hat sich auch wieder eingefunden. Und nun möchten wir drei für immer zusammen bleiben: deine Mutter, dein Freund und der Kindheitsglaube.«

Er stand auf und fuhr sich über die Stirn.

»Das war's, was ich dir persönlich sagen wollte, was sich brieflich überhaupt nicht ausdrücken läßt. Deshalb bat ich dich her. Und ich meine, dies Atelier, in dem auch du mir einmal von deiner Jugendliebe erzähltest, war die richtige Umgebung für diese Minute. – Du antwortest nicht? Hat es dich so überrascht?«

»Das – das – verstehe ich nicht«, stieß Hans kurz hervor und erhob sich gleichfalls.

»Soll ich es dir – ausführlicher erklären?«

»O ich danke dir. Die Erzählung selbst ist mir schon aufgegangen. Aber daß meine Mutter es über sich gewinnt, daran zu denken, in ihren Jahren daran zu denken –«

»Schau sie dir doch an, Junge«, sagte Springe lächelnd, »und dann wiederhole das von den Jahren.«

»Einerlei. Und gerade du und sie. Spürt ihr denn nicht die Indezenz, die darin für mich liegt?«

»Was sollen wir spüren?« fragte Springe verblüfft.

»Was liegt für dich darin? Ja, mit wem sprech' ich hier denn eigentlich? Hans, Hans, wach auf, es ist doch dein alter Freund, der vor dir steht.«

»Ein Freund, der im Begriff ist, sich in meinen Vater zu verwandeln. Ein Freund, mit dem ich geschwärmt habe, mit dem ich gezecht habe, mit dem ich meine Liebesaventiuren beraten habe; der mir wie ein Gleichaltriger war. Und diesen Gleichaltrigen, diesen Kameraden der Jugend soll ich mir vorstellen als – als – den Gatten meiner Mutter? Wird es dir jetzt klar, was ich mit dem Wort ›Indezenz‹ aussprach?«

Heinrich Springe war blaß geworden.

»Nein«, sagte er und zog die Augenbrauen zusammen, »das wird mir nicht klar Aber es schwant mir ziemlich klar, daß du da draußen dein Liebesempfinden verloren oder – verhandelt hast.«

»Möchtest du mir irgend etwas unterschieben?« brauste Hans auf. Die Szene, die er soeben erst mit Hannes erlebt hatte, stand ihm so greifbar vor Augen, daß er meinte, auch der andere müsse sie sehen. Das brachte ihn außer sich.

»Ich denke, ich spreche ganz deutlich«, erwiderte Springe, »und so offen, wie es sich unter Männern ziemt. Du scheinst mir überhaupt den wahren Kern des Wortes Liebe noch gar nicht entdeckt zu haben. Ja, glaubst du denn, die Dezenz von Liebe und Eheliebe wäre unterscheidbar? Mein Junge, wer die Indezenz hineinträgt, das seid ihr! Ihr mit eurem lächerlichen Grenzregulieren und Schematisieren der Frauengefühle, die nach bestimmter Frist so schnell als möglich mit Anstand und Geräuschlosigkeit zu ersterben haben. Ich will dir was sagen: ich wäre in diesem Falle so geschmacklos, auf die ganze sogenannte Liebe zu pfeifen.«

»Der Ausdruck macht dir im Rahmen dieser Unterhaltung alle Ehre.«

»Nein, Hans«, sagte Springe schnell, »so dürfen wir beide nicht miteinander verhandeln. Ich habe dich falsch verstanden und bin übers Ziel geschossen. Aber sieh, wir sind alle Menschen. Deine Mutter und ich, du und Hannes. Und deshalb bleibt uns nichts, als menschlich zu fühlen. Das aber ist doch das Schönste. Wir fühlen, daß wir uns lieben, und wir lieben uns. Wo wir das rein und wahr erkennen, da fällt jede falsche Scham ab. Da versinkt das künstliche Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Da stehen nur noch liebende Menschen neben liebenden Menschen.«

Er durchmaß das Zimmer und kehrte zu dem Schweigenden zurück.

»Hans«, und das alte, strahlende Lächeln stand auf seinem Gesicht, »als ich – damals – deine frische, ringende Jugend antraf und dein Mentor wurde, da wurde ich es, um deinem Leben gerade dieses Ziel zu geben. Du solltest ein echter Mensch werden, durch jeden Firnis hin durchschauen lernen und mit klingendem Spiel noch ins Alter einmarschieren wie der Soldat ins Himmelreich. Jedem aber das Seine! Auch deine Mutter und ich nehmen das für uns in Anspruch, nicht weil wir älter sind, sondern gerade weil wir uns in dieser Beziehung euch immer gleichaltrig dünken werden. Mein lieber, alter Junge, in unseren Jahren ist der Vater nicht nur Vater, sondern auch Bruder, Freund, Kamerad. Das alles, und nur das, siehst du in mir. Und deine liebe, kleine Braut findet in ihrer Mutter auch eine Schwester.«

»Meine – Braut? Von wem sprichst du denn?«

»Herr Gott, sei doch nicht so offiziell! Von Hannes sprech' ich.«

»Dann gestatte, daß ich dich berichtige. Fräulein Stahl und ich denken nicht an eine Heirat.«

Heinrich Springe trat ein paar Schritte zurück. Dann streckte er die Arme aus, kam vor und rüttelte seinen Gast an den Schultern.

»Hans –«, er suchte nach Worten, »Hans! Auf der Stelle sagst du mir, daß du lügst. Ich will nicht wissen, was zwischen euch vorgefallen ist. Aber daß du es wieder gut machst, und wenn es dich die Zeit deines Lebens kostet. Eine Träne von ihr ist mehr wert, als der ganze Plunder deiner Errungenschaften. Sag es; auf der Stelle sag es.«

»Bitte sehr«, versetzte Hans und machte sich kurz los. »Der Vater spricht etwas vorzeitig aus dir. Ich wüßte nicht, daß ich dir über mein Tun und Lassen irgendwelche Rechenschaft schuldig wäre. Ich lebe mein Leben, du – deins.«

»O du armer Junge«, sagte Springe und ließ die Arme sinken, »du armer, verblendeter Tor!«

»Für heute ist wohl unsere Unterhaltung zu Ende«, erwiderte Hans und ging zur Tür.

Springe schaute ihm traurig nach.

»Du hast noch etwas vergessen«, sagte er ernst, nahm ein Buch vom Schreibtisch und brachte es ihm. »Das gehört mir nicht.«

Dann fiel die Tür zwischen ihnen ins Schloß.

»Er wird durch eine bittere Schule gehen«, murmelte der Zurückbleibende, »und der arme, blinde Narr reißt sich selbst die Schwungfedern aus, um eine fremde Sprache schreiben zu lernen, die er nie sprechen lernt.« – –

Hans Steinherr war, das Buch in der Hand, ziellos durch die Stadt gewandert. Eine unsagbare Leere spürte er in seiner Brust, ein quälendes, schmerzendes Heimverlangen. Aber er wollte es vor sich selbst nicht wahr haben. Was wußten die hinter ihm von seinem Ehrgeiz? Wer nicht mit ihm war, der war gegen ihn. Für den Philister sind die Höhen nicht getürmt, dem behagt es nur in der Niederung wie dem Frosch im Teich. »Ah, vorwärts«, sprach er sich Mut zu, »mit leichtem Gepäck marschiert es sich am besten. Wenn ich wiederkomme, sollen sie zu mir aufblicken.«

Er war durch das Rheintor gegangen, über die Schiffsbrücke, und wanderte durch die Rheinwiesen, an den Erlen- und Weidenbüschen vorbei. Plötzlich zuckte er zusammen und griff nach dem Buch. Es war ihm eingefallen, daß er an dieser Stelle sein erstes Gedicht gedichtet hatte. Hier – hier hatte er zum ersten Male seine Jugend verspürt. Begierig führte er das Buch dicht unter die Augen.

Es war dunkel geworden. Fern über Neuß stand ein Wetter. Schmutziggelbe Streifen zogen sich am schwarzbewölkten Himmel entlang. Aber die Widmung, die vermochte er noch zu lesen.

»Meinem Mentor – Telemach.«

Der Mentor hatte auf diesen Telemach freiwillig verzichtet. Und die Liebe auf ihren Sänger …

Ein Schwung – und das Buch klatschte in die Wogen des grollenden Rheins.

Da schwamm ein Stück Jugend – – –.

*


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