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2. Kapitel.
Spandau – noch nicht gleichgeschaltet

Ich fuhr mit dem Nachtzug zurück, ließ mir zu Hause Näheres berichten, und begab mich gleich wieder auf die Gestapo. Dort stand wieder eine endlos lange Reihe vor der Tür von Dr. Mittelbach. Nachdem ich etwa eine halbe Stunde gewartet hatte, sah ich nach den beiden durchfahrenen Nächten so miserabel aus, daß die Wartenden mir rieten, mich auf eine etwas entfernt stehende Bank zu setzen. Ich meinte, dann käme ich außerhalb der Reihe, und bei dem großen Andrang wahrscheinlich überhaupt nicht mehr zu Dr. Mittelbach. Da ging ein Sturm der Entrüstung los, was ich von ihnen dächte, selbstverständlich würde mir mein Platz bewahrt. Leute, die hier warteten, wären alle Angehörige von Schutzhäftlingen, also anständige Menschen.

Während ich auf der Bank saß, kam ein SA-Mann an mir vorbei, der so recht ein Typ war, wie ich mir die Sonnenburger Wachmannschaften vorstellte. Der Blick, mit dem ich ihn ansah, muß wohl meine Gedanken sehr deutlich widergespiegelt haben, denn ein Mann in Zivil (ich glaube, daß es ein Gestapobeamter war), flüsterte mir zu: »Wenn man so haßerfüllte Augen hat, macht man sie lieber zu.«

Ich begriff jetzt, weshalb mich Heinz immer rasch um eine Straßenecke oder in ein Haus zog, wenn wir auf der Straße marschierenden SA-Truppen begegneten. Er hatte mir immer erklärt, mein Gesicht drücke so leidenschaftlich Haß und Verachtung aus, daß es direkt eine Gefährdung für mich sei. Und das war lange vor meinen persönlichen Erfahrungen. Es rührte nur von einem Begebnis her, das mich persönlich eigentlich nichts anging.

Einige Monate vor der Machtergreifung kam ich mit einem Kreis von Bekannten vergnügt aus einer Theatervorstellung in Chemnitz nach Hause, wo mein zweiter Sohn, Heinz, Oberspielleiter an den Städtischen Bühnen war. Plötzlich befanden wir uns mitten in einem großen Trupp von SA-Leuten, die von einer Versammlung heimkehrten. Sie gingen denselben Weg wie wir, und es schien unmöglich, aus diesem Gedränge herauszukommen. Ich sagte zu meinen Freunden: »Ich muß hier herauskommen, ich halte es zwischen diesen Leuten nicht aus, sie riechen nach Blut.« Lautes Johlen und Lachen der SA war die Antwort. Meine Freunde, die solche Anwandlungen an mir nicht kannten, hielten mir den Mund zu und bahnten mir, erschrocken über meine Unvorsichtigkeit und mein blasses Aussehen, mit Gewalt den Weg aus dem Gedränge.

Am andern Morgen lasen wir in der Zeitung: »Ein Trupp von SA-Leuten, die von einer Parteiversammlung heimkehrten, hetzten einen Lehrling, der der SAJ (der Sozialistischen Arbeiterjugend) angehörte. Es gelang dem Jungen schließlich, in ein offenes Haustor zu fliehen, aber die SA-Leute verfolgten ihn und schlugen ihn dort tot.« Seit jenem Tage stieg immer, wenn ich einen SA-Trupp sah, derselbe Blutgeruch vor mir auf, und ich dachte mit Angst an meinen Sohn, den diese Leute mit ihrem Haß verfolgten, den sie bereits mehrmals in einsamen Straßen, auf einem Untergrundbahnhof, ja sogar in einem kleinen Café überfallen hatten.

Schließlich kam die Reihe an mich. Dr. Mittelbach sagte mir: »Sie können Ihren Sohn besuchen, ich habe ihn in meinem eigenen Auto mit nach Spandau genommen.« Als ich ihm dankte, fragte er: »Haben Sie an den Herrn Ministerpräsidenten Göring geschrieben?« Ich verneinte. Dr. Mittelbach: »Ja, wer hat denn dann an ihn geschrieben?«

Ich: »Sie werden sich erinnern, daß ich Ihnen bei meinem letzten Besuch sagte, daß ich alle meine Beziehungen spielen lassen und mich zunächst an Herrn von Blomberg wenden würde. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß er an den Herrn Ministerpräsidenten geschrieben hat.«

Dr. Mittelbach: »Nun, ich hatte Ihren Sohn schon nach Spandau mitgenommen, bevor ich diese Anweisung erhielt.«

Trotz dieser »Anweisung« wurde Herr Dr. Mittelbach wenige Wochen später durch einen wesentlich schärferen Herrn ersetzt, an den keiner der Angehörigen von Schutzhäftlingen mehr herankam. Die allgemeine Meinung war, daß er wegen dieser Tat seine Stellung verlor.

Ich fuhr nun direkt nach Spandau und stand bald meinem Sohn gegenüber. Er kam mir strahlend entgegen, erklärte mir, daß ich mich fabelhaft benommen hätte (das konnte er eigentlich nur von Dr. Mittelbach selber wissen), und daß es ihm augenblicklich so gut ginge, daß er sich wünsche, daß es ihm nie in seinem Leben anders gehen möge. Er fügte hinzu: »Dr. Mittelbach ist mein Lebensretter.« Auch unsere Bewachung strahlte – es war wirklich eine glückliche Stunde.

Sein Aussehen war zwar unheimlich, das Gesicht verschwollen und der Kopf von einem ganz merkwürdigen Format, breiter als hoch, und alles so eigenartig schräg gestellt. Er äußerte, daß er an sehr heftigen Kopfschmerzen litte, und daß der Arzt gesagt habe, die Behandlung sei etwas erschwert, denn für sein Kopfleiden solle er viel an der frischen Luft sein, der Zustand seiner Beine verlange aber, daß er zunächst liegen müsse. Aus Unterhaltungen bei weiteren Besuchen, aus vorsichtigen Sondierungen beim Gefängnispersonal und aus einer Unterredung mit dem Gefängnisarzt ergab sich unzweifelhaft, daß schwere Beinverletzungen vorhanden waren, daß der Kiefer angeknaxt und eine Reihe von Zähnen zu Stumpen geschlagen waren. Ebenso war das Mittelohr und ein Auge verletzt (das Auge hat nie wieder seine volle Sehschärfe erhalten). Die Kopfschmerzen, die nie ganz verschwanden, rührten, wie mir der Arzt sagte, von einer Knochenhautentzündung her. Wahrscheinlich war auch der Knochen unter dem einen Auge gebrochen. Das ließ sich ohne Röntgenaufnahme, die im Lager nicht möglich war, nicht feststellen. Aber, wie mir der Arzt versicherte, war diese Feststellung für die Behandlung auch gleichgültig. Der Gesundheitszustand meines Sohnes war so, daß er die ganze Zeit in Spandau in Einzelhaft behalten wurde, aber ich war nach den Versicherungen meines Sohnes und auch aus der ganzen Atmosphäre heraus davon überzeugt, daß man alles tat, um ihn zu heilen, und daß ihn alle Gefängnisbeamten so gut behandelten, wie es sich nur irgend mit der Erhaltung ihrer Stellung vertrug. Ihnen allen stand eine gewisse Herzlichkeit für ihn im Gesicht geschrieben.

Man mußte oft stundenlang warten, bis man aufgerufen wurde. Soviel ich mich erinnere, durfte man jeden Monat einen Besuch machen und den Gefangenen dann zwanzig Minuten sprechen. Margot erhielt manchmal noch zwischendurch eine Besuchserlaubnis, weil sie die Abwicklung der noch laufenden Fälle im Büro mit ihm besprechen mußte. Bei einem dieser Besuche steckte Hans ihr einen Zettel mit einem Kode zu, einem sehr primitiven: Die Anfangsbuchstaben des vierten Wortes eines jeden Satzes sollten die Mitteilung ergeben.

Der Wärter glaubte sogar, das Zustecken eines Zettels bemerkt zu haben, beruhigte sich aber wieder, als Margot ihm ruhig die Handtasche hinreichte und sagte: »Bitte sehen Sie nach, ob Sie etwas finden. Wie können Sie uns nur solche Dummheiten zutrauen?«

Der nächste Brief von Hans bat in diesem Kode um Gift. (Bloß zur Sicherheit, weil er es in Sonnenburg so vermißt hätte.) Genaue Angabe des Giftes und der Menge, es solle in einem Federbüchschen in Butter eingedrückt werden. Kein Arzt wollte uns Rezepte dafür ausstellen. Schließlich fand sich ein Freund von Hans, der in einer Apotheke arbeitete und es uns gab.

Die Sprechzeit mußte, trotz der Liebenswürdigkeit der Beamten, streng eingehalten werden, weil ein Besucher den andern ablöste. Die Besuchstage waren nach der alphabetischen Reihenfolge der Gefangenen festgelegt. Die Angehörigen hatten sich einfach beim Gefängnisinspektor zu melden, bekamen von ihm den Erlaubnisschein und hatten dann im Wartezimmer, das immer mit Frauen gefüllt war, zu warten, bis die Reihe an sie kam. Männliche Besucher habe ich dort nie gesehen.

Manche von den einfachen Frauen hatten sich Geld abgespart, um es ihren Männern mitzubringen. Es wurde aber sofort beschlagnahmt, »um damit den Lebensunterhalt für den Gefangenen zu decken«. So warnte eine dieser Frauen jeden Wartenden, doch ja kein Geld zu bringen. Ich hatte sowieso nicht die Absicht, da Hans mir bei meinem ersten Besuch gesagt hatte: »Ich wünsche keine Extrawurst. Schicke mir nie etwas, was ich nicht verlangt habe.« Wenn ich mich recht erinnere, so durfte jede Woche ein Paket mit schmutziger Wäsche abgeholt und eins mit frischer Wäsche und Lebensmitteln gebracht werden. (Die Wäsche aus der Sonnenburger Zeit hatte blutige Flecken.) Margot oder ich brachten die Pakete immer selber, um auf diese Weise mit dem Gefängnispersonal besser in Fühlung zu bleiben. Hans bekam Süßigkeiten, Obst und Rohkost. Bei seiner Bescheidenheit war er dort mit der Kost völlig zufrieden. Nur störte es ihn sehr – da er strenger Vegetarier war –, daß er aus den zusammengekochten Eintopfgerichten das Fleisch nicht richtig entfernen konnte. Er sah auch bald ein, daß die Ernährung unzureichend geworden wäre, wenn man den Hering oder das Stückchen Wurst, das es abends gab, weggelassen hätte. So gewöhnte er sich denn daran, »Leichen« zu essen.

Unter den vielen Besuchern fand ich eine Frau besonders rührend. Sie saß jedesmal schon da, wenn ich kam, mit einer in Tücher gehüllten Menage, die ein gutes Menu enthielt. Es war selbstverständlich, daß alle diejenigen, die nicht von einem Zug abhängig waren, ihr den Vortritt gewährten, damit das Essen nicht kalt wurde. Sie erzählte, ihr Mann litte so unter dem Essen, das er ungenießbar fände. Für jeden Besuch koche sie ihm seine Lieblingsspeisen und freue sich daran, wie es ihm schmecke. Man hatte ihr tatsächlich erlaubt, daß ihr Mann das Menu während ihres Besuches essen durfte. Ich wunderte mich, daß ihr gerade daran so viel lag, denn dann blieb ja kaum Zeit zur Unterhaltung. Sie meinte: »Ach, was kann man sich schon viel erzählen, mir genügt's, zuzusehen, wie es ihm schmeckt.«

Ich fand ja, daß man sich eine ganze Menge erzählen konnte. Man brauchte auch gar nicht so schrecklich vorsichtig zu sein. Die Gefängniswärter hier waren ja Menschen. Natürlich, über die Ereignisse in Sonnenburg konnten wir nicht sprechen, auch nicht über Politik. Aber ich konnte ihm doch erzählen, daß ich bei Blomberg, daß ich bei Prinz Wilhelm und anderen war, auch daß ich den Eindruck hatte, daß er zur Zeit hier besser und sicherer aufgehoben war als in der Freiheit und daß meine einflußreichen Freunde der Meinung wären, wir sollten nicht versuchen, an diesem Zustand etwas zu ändern. Die Gefangenen schienen zu wissen, was draußen alles an Greueln und Morden vor sich ging, und Hans schien ganz einverstanden. Aber er meinte: »Fünf Jahre wird dieser Zustand wohl noch dauern.«

Ich empört: »Rede bloß nicht solchen Unsinn, nicht ein halbes Jahr«, und der Wärter brummte behaglich: »Nicht einmal; in einem halben Jahr kann sich viel ändern.«

Als Hans Geburtstag hatte, brachte ich ihm seine Lieblingsspeisen und holte mir im Büro die Erlaubnis zur Ablieferung. Man hatte schon einen Besuchsschein für mich ausgefüllt, und als ich darauf aufmerksam machte, daß mein Besuch noch nicht fällig sei, hieß es: »Das wissen wir. Aber glauben Sie wirklich, daß wir es fertig bringen würden, Sie am dreißigsten Geburtstag Ihres Sohnes wieder wegzuschicken, ohne daß Sie ihn gesehen haben?« Und wehmütig fügte einer hinzu: »Solch ein Genie, und schon mit dreißig Jahren brach gelegt.« Die schönen Bücher, die ich mitgebracht hatte, blätterte der Beamte rasch durch, anstatt, wie es Vorschrift war, Seite für Seite zu kontrollieren. Wir kamen in eine Unterhaltung über meinen Sohn, aus der sich ergab, daß man sich mit der größten Sorgfalt um sein Wohlergehen bemühte. Man erzählte mir, mein Sohn habe zwar mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand eine Einzelzelle, aber man fände es doch nicht gut, daß er den ganzen Tag allein sei, da seine Nerven noch sehr angegriffen seien. Er habe deshalb für den Tag einen Mann zur Gesellschaft bekommen, mit dem er sehr gut zusammenpasse. Die beiden arbeiteten zusammen an Zusammenstellungen künstlerischer und kultureller Entwicklungen in verschiedenen Geschichtsperioden. Es mache den Beamten Spaß, wie die beiden in ihre Arbeit vertieft seien und wie mein Sohn darüber seine Schmerzen vergäße.

Diesen Kameraden sah ich bald nach seiner Entlassung. Da er sich sehr überwacht fühlte, trafen wir uns bei einer harmlosen unbelasteten Freundin von mir. Er erzählte viel von der anregenden Zeit mit Hans, von der allgemeinen Verehrung, die ihm die Schutzhäftlinge entgegenbrachten. Man staunte, daß er neben den üblichen Sprachen auch Sanskrit und Hebräisch kannte, daß er chinesische und arabische Autoren im Urtext las. Sein gutes Gedächtnis ermöglichte es ihm, auch mit wenig Büchern auszukommen. Bei einer Diskussion über Goethe zitierte er so viel aus einer ziemlich unbekannten Schrift Goethes, daß alle glaubten, er habe sie eben gelesen, bis sie sich davon überzeugten, daß diese Schrift sich nicht in Spandau befand. Mit dem ebenfalls internierten Pater Stratmann war er stets leidenschaftlich in religiöse Diskussionen vertieft. Ich habe einmal gehört: »Wenn die beiden noch lange zusammengeblieben wären, wäre Hans Katholik geworden.« Auch später habe ich von katholischen Neigungen meines Sohnes gehört. Aber ebensowenig, wie er sich einer parteipolitischen Bindung fügen wollte, konnte er sich einer religiösen Gemeinschaft anschließen. Er war eben in allem ein Eigenbrötler. Ein Kollege fragte Hans früher einmal, als er ihn kennenlernte und erstaunt über die Übereinstimmung ihrer politischen Anschauungen war: »Wollen wir beide zusammen nicht eine Partei gründen?« Hans antwortete lachend: »Zwei sind für meine Partei schon zuviel.«

Ich fragte den entlassenen Spandauer Arbeitskameraden meines Sohnes auch nach den Sonnenburger Erlebnissen, in der Annahme, daß Hans bei dem dauernden Zusammensein unter vier Augen sicher davon gesprochen habe. Er weigerte sich hartnäckig, darüber zu sprechen. Hans habe oft gesagt, meine Mutter darf nie erfahren, was mit mir geschehen ist. Nur mühsam überzeugte ich ihn davon, daß ich der Gestapo gegenüber ganz anders auftreten könne, wenn ich mich auf Tatsachen berufen könne. Er erzählte dann von den allgemeinen, längst bekannten Mißhandlungen durch Prügeln, Treten mit den Nagelstiefeln, An-die-Wand-Stellen der Gefangenen, wo sie auf ihre Erschießung zu warten hatten, die dann wieder »verschoben« wurde, von dem dauernden dicht an ihnen Vorbeischießen mit der Bemerkung: »Wir schießen uns einstweilen ein. Morgen wirst du richtig erschossen.«

Schließlich kaufte er sich mit einer Schilderung los und erklärte, danach aber bestimmt nicht weiter zu reden. SA-Leute kamen in der Nacht in die Einzelzelle von Hans und sagten ihm: »Jetzt wirst du erschossen. Wir wollen aber ein Andenken an dein Todesgrauen haben. Im Augenblick der Erschießung wirst du photographiert.« An jede Schläfe wurde ein Revolver gesetzt. Das Blitzlicht leuchtete auf. Der Apparat schnappte. Aber die Schüsse gingen nicht los. Mit solchen und ähnlichen »Scherzen« amüsierte man sich stunden-, ja, tagelang.


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