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6. Kapitel.
Der schwarze Hof

Drei Jahre und zwei Monate war Hans in Lichtenburg und erlebte dort unter vier Kommandanten vier verschiedene Perioden. Es ist interessant, wie stark die Verhältnisse im Lager von dem jeweiligen Kommandanten abhingen.

Eines steht fest: Von der obersten Gestapo-Abteilung und den führenden Stellen des Dritten Reiches wurde niemals etwas getan, um die grauenvollen Zustände in den Lagern zu verbessern. Je sadistischer ein Vorgesetzter war, um so besser seine Karriere. Immer wieder habe ich gehört, daß die großen Schufte bevorzugt befördert wurden, daß die menschlicheren Elemente hingegen für schlapp und unzulänglich galten. Der einzig einwandfreie Kommandant, von dem ich gehört habe, hielt sich jedenfalls nicht lange, weil er nicht für energisch gehalten wurde. Er muß aber ein Mann von großer Energie gewesen sein, denn er verstand es, trotz der furchtbaren Lagerordnung, die während der ganzen Zeit, die Hans in Lichtenburg war, die gleiche blieb und für die Himmler verantwortlich war, ein erträgliches Leben für die Schutzhäftlinge zu schaffen; trotz der großen Anzahl der Verbrechertypen unter den Wachmannschaften Disziplin bei ihnen zu erzwingen.

Bei ihrer Einlieferung in der Lichtenburg (dem Renaissancebau einer sächsischen Fürstin aus dem 16. Jahrhundert, der später Gefängnis, dann Zuchthaus wurde, und jetzt von einer vier Meter hohen Mauer umgeben ist, auf der sich ein mit elektrischem Strom geladener Stacheldraht befindet) wurden die Häftlinge vollständig kahl geschoren. Sie konnten dann ihr Haar wieder wachsen lassen.

Hans behielt seinen geschorenen Kopf bei. Ein Freund von ihm erzählte mir, er sei freiwillig bei dieser Haartracht geblieben. Erstens sei ihm sein dickes Haar unbequem, da er seit den Sonnenburger Verletzungen noch immer an Kopfschmerzen leide. Zweitens seien ihm die Haare damals büschelweise ausgerissen worden, und eine Wiederholung dieser Tortur sei bei dieser Kürze der Haare nicht möglich.

Auch ärztlich untersucht wurde jeder Häftling bei der Einlieferung. Bis auf ganz schwere Fälle wurden sie alle für »tauglich« erklärt. Untergebracht waren die Häftlinge in großen Schlafsälen, unter dem Dach. Sechzig bis hundert Mann in einem Raum, der zwei Reihen übereinanderstehender Militärbetten mit Strohsäcken und Wolldecken enthielt. Die ganze Nacht brannten helle elektrische Lampen. Die Schlafsäle waren durch ein dickes Balkengitter abgeschlossen, um die die ganze Nacht Wachen patroullierten. Die meisten von ihnen machten absichtlich Radau, um die Gefangenen im Schlaf zu stören. Eine Heizmöglichkeit gab es nicht. Viele litten sehr unter der Kälte.

Das Exerzieren spielte die Hauptrolle und ist mit seiner entsetzlichen Menschenschinderei wohl auch in allen Lagern gleich, nur eben variiert durch die sadistischen Einfälle der Kompanieführer. In Lichtenburg fand es auf dem »schwarzen Hof« statt, auch »Todeskurve« genannt, weil die Neuankömmlinge zunächst hierher getrieben wurden und, durch Gewehrkolben und Fußtritte angefeuert, solange in rasendem Tempo im Kreise Dauerlauf machen mußten, bis mehrere von ihnen tot umfielen. Die Leichen wurden im Hof verscharrt, über ihren »Gräbern« wurde später eine Latrine errichtet. Ein wichtiger Teil des Exerzierens war das »Kriechen«. Das Heben des Kopfes hierbei war streng verpönt. Hob sich ein Kopf, so wurde er sofort in den Dreck gedrückt und mit Nagelstiefeln betrampelt. Nichts ging schnell genug. »Wenn's im guten nicht geht, werd' ich's euch im bösen zeigen«, lautete die Parole. Schrecklich war beim Exerzieren das »Rollen« im Dreck, im rasenden Tempo. Viele brachen dabei alles aus, was sie im Magen hatten. Ein Offizier, der die Somme-Schlacht und alle Kriegsschrecken ausgehalten hatte – so kriegsverletzt, daß er nicht am Exerzieren teilnehmen konnte –, hat sich beim bloßen Zusehen übergeben und wurde vom Weinen geschüttelt wie ein kleines Kind. Auch während der Mittagspausen wurde oft plötzlich zum Strafexerzieren befohlen, hundertfünfzig Kniebeugen in zehn Tempi auf Fußspitzen. Für Alte und Kranke wurde eine besondere Altersriege gebildet. »Nur Freiübungen, statt Exerzieren«, aber was für Freiübungen! Sie wurden ohne Atempause bis zu fünf Stunden durchgeführt.

Eine der besonders sadistischen Erfindungen beim Exerzieren war das »Hüpfen«; auf den Zehenspitzen stehend, in Hockstellung, die Unterschenkel mit den Händen umklammernd, hatten die Häftlinge in rasendem Tempo (fünfzehnmal in der Minute) bis zu zwei Stunden im Hofe herumzuhüpfen. Wer schlapp machte oder hinterher zur Behandlung in die Krankenstube mußte, war ein »Drückeberger« und kam in eine Sonderkompanie, die besonders geschliffen wurde.

Wer es fertig bringt, vom »Exerzieren«, vom »Sport« und den »Freiübungen« im Lager mit Gemütsruhe zu reden, der versuche einmal diese Übungen im geforderten Tempo nachzumachen!

Das steife Bein von Hans wirkte sich hier als ein Glück aus. Von derartigem Dienst war er befreit.

Besonders scharf wurde beim Exerzieren die Kompanie der Homosexuellen herangenommen. Ich sprach einen jungen Menschen, der gerade eine Knieoperation hinter sich hatte. Es wurde nicht die geringste Rücksicht auf ihn genommen, und er holte sich einen Schaden für sein Leben.

In der Kompanie der Homosexuellen saßen eine ganze Menge Leute, die einfach aus politischen oder anderen Gründen unbequem waren, oder auf deren Besitztum es eine parteipolitisch wichtige Persönlichkeit abgesehen hatte. Solche Fälle wurden natürlich nie abgeurteilt.

Das Singen spielte in Lichtenburg, wie in allen Lagern, eine große Rolle und brachte viele Häftlinge zur Verzweiflung. Man quälte sie mit dem Absingen der blödsinnigsten Lieder. Entweder nationalsozialistisches oder verkünstelt sentimentales Zeug. Am sadistischsten erscheint mir, daß man die unglücklichen Gefangenen mit besonderer Vorliebe Wanderlieder singen ließ, die die Schönheit der Natur und die Freiheit priesen.

Schrecklich war auch das Austreten, wozu die Kompanie zu bestimmten Zeiten geschlossen geführt wurde. Die lange Reihe der Aborte war offen, ungedeckt und ungeschützt. Bei eisiger Kälte, bei Sturm und Regen spielte sich hier alles in rasender Eile ab, unter dem Geschrei und Getobe der Wachmannschaften. Manche Gefangene konnten tagelang nicht austreten, weil sie schon wieder aufgeschreckt wurden, noch ehe sie sich niedergelassen hatten. Bei manchen von ihnen bildete sich infolgedessen eine »opstipatio neurotica« aus, die lebensgefährlich werden konnte.

In ihrer Freizeit am Tage und während des Essens war jede Kompanie in einem saalartigen Raum untergebracht. Lange Holztische und Holzbänke, elektrisches Licht, eiserne Öfen. Manche dieser Räume hatten Radio-Lautsprecher. Hier mußten die Häftlinge die Führerreden hören. Sie durften aber auch bei bestimmten Gelegenheiten Musik einstellen. Als die Zustände im Lager für Hans sich wieder verschlechterten, schrieb er einmal: »Meine einzige Freude ist die Übertragung der Bach-Kantaten an den Sonntagvormittagen.«

Hier, so wurde mir von vielen geschildert, saß Hans in seiner Freizeit inmitten des Lärms und der Unruhe in seine wissenschaftlichen Studien vertieft – in einer anderen Welt.

Selten aber wurde ihnen lange hintereinander Ruhe gegönnt. Sowie eine SS-Charge den Saal betrat, erscholl der Ruf: »Achtung!« Aufspringen, stillgestanden, bis der Betreffende abwinkte oder den Saal verließ. Manche machten sich ein teuflisches Vergnügen daraus, eine Erholungspause hindurch mit einem Kameraden in diesem Raum zu plaudern, ohne abzuwinken.

Schon das Studium der an einem Bett angeschlagenen Lagerordnung und der Strafbestimmungen (unterschrieben: Eicke, Oberinspektor der Konzentrationslager) zeigten dem Ankömmling, daß es einfach keine Lebensäußerung gibt, die nicht mit Strafe bedroht ist.

Jeder SS-Mann, ja sogar jeder SS-Rekrut war Vorgesetzter; jede befohlene Arbeit, überhaupt jeder Befehl, mochte er noch so unsinnig sein, mußte ausgeführt werden. Die geringste der genannten Strafen war: Fünf Tage Dunkelarrest bei Wasser und Brot, jeden vierten Tag warme Kost. Für die kleinsten Vergehen, zum Beispiel Rauchen, wurden Körperstrafen angedroht. Höchststrafe: einhundertfünfzig Stockhiebe, Einzelhaft bis zu mehreren Monaten, Todesstrafe durch Erschießen oder Erhängen. Der Kommandant konnte von sich aus die Todesstrafe sofort vollstrecken, ohne Gerichtsverfahren. Kein Häftling durfte sich ohne Begleitung eines SS-Postens fortbewegen, nicht einmal allein austreten. Jeder Posten hatte die Pflicht, auf jeden Gefangenen, der sich der Hofmauer näherte, zu schießen.

Die Strafzellen (Bunker) lagen in der sehr tiefen, kalten, völlig dunklen Unterkellerung des Westflügels des Schlosses. Der Raum enthielt nur eine gemauerte Pritsche und eine Decke. Jeden vierten Tag erhielt der Gefangene warmes Essen und in der darauffolgenden Nacht einen Strohsack. Vor der mit Eisen beschlagenen Holztür, die den Bunker abschloß, befand sich hinter schweren Eisengittern ein Raum, von dem aus eine Wache den Gefangenen bewachen konnte. Der einzige Gegenstand des Raumes war ein Kübel zur Verrichtung der Notdurft. Die Gefangenen im Bunker und meist auch die Neuangekommenen erhielten unter keinen Umständen Klosettpapier, so daß ein ergattertes Stück Zeitungspapier als die größte Kostbarkeit geheimgehalten wurde. Waschen durften sich die Gefangenen während der ganzen Zeit des Arrestes überhaupt nicht.

Bei ihrer Entlassung hatten die Gefangenen alle schriftlich zu bestätigen, daß sie gut behandelt worden wären. Es wurde ihnen erklärt, daß, wenn sie »Wahres oder Unwahres von den Vorgängen im Lager« erzählten, sie sofort wieder inhaftiert würden.

Ein Mann wurde gleich bei seiner Rückkehr von seinen Freunden mit der Frage begrüßt: »Mensch, wo sind denn deine Zähne?«

»Die sind mir in Lichtenburg ausgeschlagen worden.«

Bereits am nächsten Tage befand er sich wieder in Lichtenburg.

*

Als Hans nach Lichtenburg überführt wurde, herrschte dort ein teuflischer Sadist, der Kommandant Ensberger, »der Schwarze« genannt. Jeder spricht mit Haß und Grauen von ihm. Glücklicherweise war Hans nur kurze Zeit mit ihm zusammen und scheint nicht so in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein, da er nach seiner Ankunft zunächst einmal ein paar Tage in der Krankenstube lag, weil seinem Bein der etwa acht Tage dauernde Transport nicht bekommen war. Dieser Kommandant hatte viele Menschen zu Tode mißhandeln lassen. In der Tischlerei des Lagers wurden jede Woche mehrere Särge gearbeitet. Man wußte immer, für wen sie waren. Nur bei einem konnte man es nicht herauskriegen, erzählte mir ein Häftling; ich konnte es ihm aber sagen, denn dieser eine hatte Ensberger das Genick gebrochen. Ensberger stand, wie häufig die Angehörigen der SS, mit der SA auf gespanntem Fuße. Am 30. Juni 1934 wurden in Lichtenburg zahlreiche SA-Leute »nur einstweilen, vorsichtshalber« eingeliefert, darunter auch ein Standartenführer der SA. Nach einer Woche war er durch Ensberger persönlich zu Tode mißhandelt worden.

Da es sich um einen Standartenführer handelte, wurde Ensberger seines Amtes enthoben. Die Schutzhäftlinge wiegten sich sogar in der Hoffnung, daß ihn ein Lager- oder Zuchthaus-Aufenthalt ereilt habe.

Auf Ensberger folgte Kommandant Schmidt. Was die Gefangenen unter ihm auszuhalten hatten, zeigen zwei Schilderungen, die ich von Augenzeugen bekam. Sie entstammen der Feder eines gebildeten Mannes, und ich bin sicher, daß sie genau beobachtet sind und keine Übertreibungen enthalten; denn ich habe gerade über diese Begebenheiten wieder und wieder dasselbe gehört:

»Ein Gefangener, ein etwa fünfzigjähriger Mann, der im Kriege wegen Tapferkeit vor dem Feinde Offizier geworden war und neben dem Eisernen Kreuz Erster Klasse das Goldene Verwundetenabzeichen besaß, das man nur bekam, wenn man mindestens fünfmal verwundet war, hatte bereits im Columbiahaus fünfundzwanzig Stockhiebe wegen ›Verächtlichmachung der SS‹ erhalten. Dieser Mann wurde jetzt vorgerufen und ihm verkündet, daß er wegen derselben Sache, wegen der er im Columbiahaus bereits bestraft worden war, jetzt fünfzehn Hiebe und außerdem sechzehn Tage Dunkelarrest usw. erhalte. Am Morgen beim Waschen hatte ich gesehen, daß der ganze Rücken des Mannes noch schwarze und blaue Streifen von der vorigen Mißhandlung aufwies.

Ein Holzschemel und vier Stöcke wurden gebracht und in die Mitte des Hofes gestellt. Der Mann versuchte zu erklären, daß er bereits wegen dieser Sache bestraft worden sei. Niemand hörte auf ihn. SS-Leute zerrten ihn zum Schemel, und einer drückte ihn am Hals nach vorne nieder. Der Mann legte sich über den Schemel. Er war ziemlich hochgewachsen, und es dauerte eine Zeitlang, bis er in der richtigen Stellung lag. Mit den Knien lag er auf dem Boden. Zwei SS-Leute traten ihm wiederholt in die Kniekehlen, damit er dichter an den Schemel rutschen sollte. Schließlich hatte er die richtige Lage. Zwei SS-Leute stellten sich rechts und links vom Schemel auf. Jeder hatte einen Stock von etwa einem Meter Länge in der Hand. Dahinter stand Herr Fettke und Herr Schmidt, alle Kompanieführer und SS-Unterführer.

Herr Kommandant Schmidt befahl: ›Anfangen!‹ Zuerst ließen die Kerle die Stöcke ein paarmal durch die Luft pfeifen. Dann hoben sie sie hoch über die Köpfe. Jeder legte sich so weit zurück, wie er konnte, und holte aus, und dann sauste zuerst ein Schlag, und gleich darauf der zweite auf den zu Bestrafenden herab. Der Mann gab keinen Laut von sich. Wieder holten die beiden Kerle aus, und wieder sausten zwei Schläge auf das Opfer. Der Gepeinigte biß die Zähne zusammen. Der Lagerkommandant brüllte: ›Der Kerl spürt ja nichts!‹

Zum drittenmal sausten die zwei Hiebe herab. Der Gefangene gab wieder keinen Ton von sich. Der Kommandant begann zu toben. ›Widerspenstig bist du Hund auch noch! Los, zwei andere!‹ Die beiden ›Reserveschläger‹ traten hervor. Erst ließ jeder von ihnen seinen Stock knallen, dann schlugen die beiden wieder weitausholend zu.

Acht Hiebe – zehn Hiebe – zwölf Hiebe –. Der Gefangene trug die Mißhandlungen heldenhaft. Nicht ein Laut entfuhr seinen Zähnen. Der Lagerführer Fettke und der Kompanieführer Bräunig griffen jetzt nach Stöcken und hauten die letzten drei Hiebe. Sie wurden von der Anstrengung der drei Hiebe – einer durfte einen, der andere zwei Hiebe schlagen! – blutrot im Gesicht. Der Gefangene hatte bis zum letzten Hieb keinen Laut von sich gegeben. Der Kommandant und die SS-Führer schäumten. Sie fühlten sich von dem Mann verhöhnt, in ihrer Ehre gekränkt. Aber – leider – die Strafe war vollstreckt.

Der Geschlagene erhielt den Befehl, aufzustehen. Schwerfällig erhob er sich. Der Mann sah aus wie ein Sterbender. Dann mußte er den Schemel und die Stöcke an sich nehmen, und der Gefangenenwärter des Bunkers nahm ihn zur Verbüßung der sechzehn Tage Einzelhaft in Empfang.

Zwischen den atemlos dastehenden Gefangenenkompanien mußte der Mann, beladen mit Schemel und Stöcken, über den Hof gehen. Dann wurde wieder kommandiert: ›Stillgestanden!‹ und Herr Schmidt hielt eine kleine Rede, in der er erzählte, daß das heute eine leichte Strafe gewesen sei. Aber er verspreche, daß der Nächste nicht so gelinde behandelt würde.

Die am meisten Entsetzen erregende Prügelei aber, die ich auf der Lichtenburg gesehen habe, war etwas so Furchtbares, daß sie ganz ausführlich berichtet werden muß.

An einem Sonntag im März, am späten Nachmittag gegen fünf Uhr, begannen plötzlich die Alarmsirenen des Lagers zu heulen. In einem solchen Falle war allen Gefangenen befohlen, sofort, gleichgültig wo immer sie sich aufhielten, sich in die Tagessäle zu begeben und kompanieweise anzutreten.

Meine Kompanie wurde gerade zum Austreten geführt. Sofort brüllten die SS-Leute: ›Umkehren! In den Saal!‹ Obwohl wir einige einbeinige Kriegsverletzte bei uns hatten, gelang es uns, früher die Treppe zu gewinnen, als die im ersten Stock des Hauses kasernierte SS ihre Räume verlassen konnte. Gerade, als wir an deren Eingangstüren vorbei waren, stürzte die SS in Stahlhelmen mit Gewehren die Treppe hinunter, alles, was sie unterwegs noch traf, umrennend. Die Sirenen heulten immer noch. Nach einigen Minuten erschien der Kompanieführer mit einer größeren Anzahl SS-Leute und ließ abzählen. Dann ließ er uns stehen. Wir standen ungefähr bis sieben Uhr und wurden dann plötzlich ohne Abendessen schlafen geschickt.

Am nächsten Tag ging alles im Lager seinen gewöhnlichen Gang. Die Gefangenen wußten zunächst weder, warum all die Aufregung am Vortag gewesen war, noch, warum die Bewachung verstärkt war. Ganz allmählich sickerte indes durch, daß an jenem Sonntagnachmittag drei Häftlinge der sogenannten ›Berufsverbrecherkompanie‹ aus dem Lager ausgebrochen und verschwunden seien.

Durch Zufall erfuhr ich sogar, wie sie das angestellt hatten. Die drei Männer hatten erfahren, daß die ›Gewohnheitsverbrecher‹ – inwieweit die Leute dieser Kompanie das wirklich waren, kann ich nicht beurteilen – in den nächsten Tagen in das furchtbarste aller Konzentrationslager, nach Papenburg-Esterwegen, verlegt werden sollten. Von diesem Lager gingen so grauenvolle Berichte aus, daß die drei Männer beschlossen, sich diesem Schicksal durch die Flucht zu entziehen. Im ganzen Lager Lichtenburg gab es ein einziges Fenster, das nicht vergittert war. Das befand sich im Lazarettgebäude im zweiten Stock. Unten lief die Straße entlang. Mit Hilfe von zerrissenen Bett-Tüchern gelang es den drei Männern, zu entkommen. Ein späterer Bericht sagt, sie wären als Maurer im Keller beschäftigt gewesen und hätten dabei ein Loch durch die Wand gebrochen, durch das sie entkommen wären.

Der Kommandant war in furchtbarer Aufregung. Nun hatten weder die vier Meter hohen Mauern, noch der elektrisch geladene Stacheldraht, noch die von Posten bewachten Tore, noch die Menge bewachender SS-Leute etwas genützt.

Bereits am Dienstag erfuhren die Häftlinge, daß einer der drei wieder eingefangen worden sei. Am Mittwoch wurde erzählt, alle drei wären wieder da und säßen im Bunker.

Donnerstagnachmittag. Mittagsappell. Alle Kompanien waren bereits angetreten. Gefangene schleppten einen Tisch über den Hof und stellten ihn in der Mitte auf. Einen zwei Meter langen Tisch. Plötzlich erschienen in der Tordurchfahrt vom ersten Hofe her drei Gefangene, mit Stricken und Stöcken beladen, umgeben von zahlreichen SS-Leuten.

Das waren die Entsprungenen! Zwei waren ältere Leute, der dritte ein bleicher, hochgewachsener Mann, Anfang der zwanziger Jahre. Sie alle drei sahen furchtbar aus. Totenbleich, die Gesichter mit Blut beschmiert, schlichen sie über den Hof. Der Jüngere ging mehr als zehn Meter hinter den beiden anderen. Er konnte kaum mehr gehen. Die drei Männer mußten furchtbar mißhandelt worden sein. Die leinenen Gefangenenanzüge – diese Kompanie hatte sogar im strengsten Winter nur alte Drillichanzüge – waren zerrissen. Mich schauderte, als ich die Leute sah. Ihr Anblick sprach für sich, wie furchtbar ihre Flucht, wieviel furchtbarer ihre Wiederergreifung, wie entsetzlich die Behandlung danach gewesen sein mußte.

Die drei Männer standen dem Tisch gegenüber und warteten. Die Gefangenenkompanien starrten sie an. Jeder fühlte, daß etwas Grauenhaftes kommen mußte. Was, wußte keiner. Nachdem Herr Fettke die Stärkezahlen der Kompanien abgenommen hatte, entstand wieder ein bedrücktes Schweigen im Hofe. Endlich, nach etwa zehn Minuten, erschien der Kommandant, Herr Obersturmbannführer Schmidt, mit großem Gefolge. Er nahm die Meldung ab. Dann wartete man, daß Herr Fettke die ›Urteile‹ verlesen würde. Aber es kam anders.

Krebsrot im Gesicht trat Herr Schmidt in die Mitte des Hofes und hielt folgende Ansprache: ›Ihr wißt, daß drei Schutzhäftlinge versucht haben, auszubrechen. Wir haben die Hunde wiederbekommen. Leider Gottes (leider Gottes! sagte er) sind sie nicht auf der Flucht erschossen worden. Aber ich habe Mittel, das wieder gutzumachen.‹ Und Herr Schmidt drehte sich nach seiner SS herum und gab ein Zeichen mit der Hand. Die SS stürzte sich auf einen der Gefangenen, und zwar auf einen der beiden älteren. Zehn Kerle ergriffen den Mann und warfen ihn auf den Tisch. Der Mann, in Todesangst, sträubte sich, wollte sich wehren, aber sie packten ihn und hielten ihn fest. Die Stricke wurden auseinandergezerrt und der Mann wurde an den Tisch festgebunden.

Dann brüllte der Lagerkommandant: ›Und nun sollt ihr was erleben! So geht's einem jeden, der versucht, sich aus dem Lager fortzumachen! – Los!‹

Diesmal waren es nicht zwei, sondern vier Leute, die zu gleicher Zeit schlugen. Gezählt wurde nicht, aber einzelne Gefangene haben mitgezählt! Die ersten zwanzig Hiebe etwa hielt der Mann schweigend aus. Dann fing er an zu schreien. Aber das Toben des Kommandanten überschrie ihn.

›Schlagt fester!‹ brüllte er. ›Der Kerl spürt ja nichts!‹

Und die SS-Leute schlugen. Nach einiger Zeit wimmerte der Mann noch, dann muß er in Ohnmacht gefallen sein. Etwa zwanzig oder dreißig Hiebe lang glaubten wir, er sei bereits gestorben, dann aber schrie er wieder. Die SS schlug sich geradezu in einen Paroxysmus hinein. Gegenseitig rissen sich die Kerle die Stöcke aus den Händen, um ›auch mal zu hauen‹.

Endlich brüllte Herr Schmidt: ›Aufhören!‹ Aber seine SS-Leute hörten nicht. Er mußte noch zweimal schreien, bis die Hunde von ihrem Opfer abließen.

Als endlich die Stricke losgebunden wurden, fiel der Mißhandelte vom Tisch herunter. Aber der Kommandant schrie: ›Hier gibt's keine Anstellerei! Der Nächste!‹

SS-Leute griffen den anderen älteren Mann und warfen ihn auf den Tisch. Während er festgebunden wurde, schleppten andere den ersten auf den Rasen und ließen ihn liegen.

Die Gefangenen hatten sich zuerst das ekelhafte Schauspiel ziemlich ruhig angesehen. Als aber die Schläge überhaupt nicht aufhören wollten, fingen einige an zu murren. Die SS hatte sich nicht darum gekümmert. In einer Kompanie hatten zwei Leute epileptische Krämpfe bekommen, andere hatten angefangen zu brechen.

Inzwischen war das zweite Opfer festgebunden worden, und Schmidt gab das Zeichen zum Anfangen. Der Mann lag auf dem Tisch und bäumte sich auf. Immer wieder mußten die Stricke, mit denen er gebunden war, festgebunden und nachgezogen werden.

Aber gerade dies Aufbäumen brachte Herrn Schmidt und seine Bande zur Raserei. Sie schlugen wie Drescher. Einer riß dem andern den Stock aus der Hand. War es vorhin beim ersten Paroxysmus gewesen, so wurde es jetzt Raserei. Jeder Hieb war die Kraftanstrengung eines Schwerathleten, der sich beobachtet und bewundert weiß. Die Gefangenen begannen zu toben. Gefangene, die sonst vor Angst nicht ein noch aus wußten, fingen an zu schreien: ›Ihr Hunde! Ihr Mörder! Ihr Verbrecher!‹, aber die SS und ihre Meister kehrten sich an nichts. Ab und zu wurde einer oder der andere in Krämpfen liegende Häftling von anderen Häftlingen hinter den Reihen hindurch zur Krankenstube getragen. Herr Schmidt und seine Bestien waren mit Dingen beschäftigt, die sie mehr interessierten.

Der Gefangene lag schon längst in tiefer Ohnmacht. Er spürte nichts mehr, aber sie droschen immer noch. Er gab keinen Ton mehr von sich. Endlich wurde auch er erlöst. Herr Schmidt ließ ihn losbinden. Irre um sich schauend, stand der arme Mensch vor dem Tisch, auf den schon der Dritte, der jüngere, geworfen und gebunden wurde. Der Mann biß und schlug um sich. Er wehrte sich wie ein Irrsinniger mit kaum glaublichen Kräften. Immer wieder befreite er sich von seinen Angreifern, aber schließlich erlag er der Übermacht.

Die SS befand sich im Taumel. Sie sahen nicht, wohin sie schlugen. Sie schlugen nur und brüllten selber dabei. Gellend hörte man aus dem Trubel die helle Stimme des Geschlagenen. Die beiden anderen hatten nicht viel geschrien, der Letzte schrie entsetzlich. Er war die ganze Zeit bei vollem Bewußtsein. Keine wohltätige Ohnmacht umfing ihn. Er blutete, daß das Blut am Tisch herunterlief und von den Tischrändern auf den Boden tropfte. Mir wurde blau vor Augen. Einige Leute meiner Kompanie faßten mich unter die Arme und hielten mich aufrecht. Ich mußte mich zwingen, nicht zu brechen; ich fühlte, wie mir Tränen übers Gesicht liefen. Ich sah einen Haufen Teufel umherspringen und toben. Sie brüllten, als bekämen sie etwas dafür. Mit einem Male war es aus.

Der Mann wurde losgebunden. Herr Schmidt rieb sich die Hände und brüllte: ›So geht's jedem, der auskneifen will. Merkt's euch!‹

Wie im Traum sah ich die drei Sterbenden den schweren Tisch mit den Stricken über den Hof schleppen. Selbst dazu wurden die Unglücklichen noch gezwungen. Sie bluteten und sahen Menschen nicht mehr ähnlich. Später erfuhr ich, daß der erste einhundertsechsundachtzig, der zweite einhundertfünfundsiebzig und der letzte ungefähr einhundertfünfzig Hiebe erhalten hatte.

Am nächsten Morgen wurde im Lager bekannt, daß einer der drei in der folgenden Nacht gestorben sei. Ein anderer habe sich in seiner Zelle erhängt. Vom dritten habe ich nichts gehört.

Am Tage darauf fand kein Exerzieren und kein Dienst statt. Die gesamte SS hatte mit dem Abtransport der betreffenden Kompanie nach Papenburg-Esterwegen zu tun. Ich sah von einem Fenster aus, wie die Leute, von starken SS-Kordons umgeben, zum Bahnhof getrieben wurden. Und ich konnte nur denken: ›Gott sei eurer Seele gnädig!‹«

In der darauffolgenden Woche erschien der Reichsführer der SS, Herr Himmler, selber, um das Lager zu inspizieren. Und kurze Zeit darauf wurde Herr Schmidt aus dem Lager versetzt. Manche Gefangenen glaubten, daß Herr Schmidt für seine Unmenschlichkeit zu büßen haben würde. Man erzählte, daß sein Vorgänger wegen Mordes und Gefangenenmißhandlung zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden sei. Herrn Schmidt ist es nicht so schlecht ergangen. Zwar kam er fort, damit demonstriert wurde, daß die oberste Leitung der Konzentrationslager diese furchtbare Mißhandlung mißbillige, aber er verließ Lichtenburg nur, um sie mit einem ähnlichen Kommando in einem anderen Lager zu vertauschen.

Diese Begebnisse beweisen, daß die führenden Nazis (Hitler, Himmler, Göring und andere) über die Verbrechen in den Konzentrationslagern unterrichtet sind. Aber sie greifen nur ein, wenn ein Fall zu viel Staub aufwirbelt. Sie billigen also diese Zustände, wünschen aber nicht, daß sie in die Öffentlichkeit dringen. Wo Verurteilungen erfolgen, wie im Fall Ensberger, handelt es sich um Ausschreitungen gegen ihre eigenen Leute, in den anderen Fällen, wie zum Beispiel im Falle Schmidt, wurde eine Bestrafung lediglich vorgetäuscht, in Wirklichkeit wurden die Betreffenden nur versetzt, oft sogar befördert.

Ich wußte, daß Hans in der Lichtenburger Zeit keine derartige Mißhandlung zu erleiden hatte (bis auf die Anfangszeit, über die aber nur dunkle Gerüchte zu mir drangen, scheint ihm nichts besonders Grausames geschehen zu sein). Aber die Gefangenen hatten ja geschlossen diesen Strafen beizuwohnen. Alle redeten nur mit dem größten Grauen davon. Wie schrecklich mußte das erst für einen Menschen sein, der kein Fleisch aß, weil er sagte: »Wie komme ich dazu, ein Tier um meinetwillen zu töten?«, der schon als zweijähriges Kind nach dem Regen in den Garten ging, um die Regenwürmer zu sammeln und sie ins Gebüsch zu tragen, weil er beobachtet hatte, daß sie nach dem Regen auf dem Fußwege krochen und dort achtlos zertreten wurden. Er flüsterte mir auch einmal zu, als ich ihn dort nach seiner Behandlung fragen konnte: »Mißhandelt werde ich nicht, aber was ich mit ansehen muß!«

Niemals sprachen die Häftlinge, die ich kannte, über derartige Strafen, die an ihnen vollzogen worden waren. Einer von ihnen, der mir nahestand, entschloß sich einmal, mir auf meine Bitte zu erzählen. Ich wußte aus Andeutungen von Hans, daß ihm auch Entsetzliches passiert war, und ich wußte, daß sich Hans monatelang schrecklich aufgeregt hatte, weil er befürchtete, daß man die Absicht hatte, seinen Freund »fertigzumachen«. Er schilderte mir eine ähnliche Szene, wie die oben beschriebene. Merkwürdig abwesend und ruhig, so als ob es ihn eigentlich gar nichts anginge. Ganz leidenschaftslos und still. Ich war erschüttert und dachte: »Ist dieser Mann schon so über all das hinweg, daß er so ruhig davon reden kann?« Ich fragte beinahe ängstlich: »Sie werden das nie vergessen?« Er, ganz ruhig und leise: »Nein!« Er sah mir einen Augenblick in die Augen, aber dieser eine Augenblick zeigte mir dieselbe ungebändigte Rachsucht, denselben fanatischen Haß, den ich empfand. Wie oft habe ich diesen Blick in den Augen von früheren Häftlingen gesehen, wenn sie von ihren Peinigern sprachen.

Ich wußte, keiner von ihnen wird an meiner Seite fehlen, wenn der Tag der Vergeltung kommt.


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