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5. Kapitel.
Mit den Mördern meines Sohnes

Am 5. Februar 1938 brachte ein Polizeibeamter meinem Mann die Nachricht vom Tode unseres Sohnes. Es sei vom Lager aus telefonisch die Nachricht durchgegeben worden, daß er sich erhängt habe. Wenn wir es wünschten, könnte uns die Leiche gesandt werden. Mein Mann wagte mir die Mitteilung nicht zu machen und rief Heinz telefonisch nach Hause. Ich hörte zufällig das Telefongespräch und ersah sofort aus dem Zustand meines Mannes, welche Nachricht er erhalten hatte.

Es war uns klar, daß wir die Leiche bestimmt in einem verlöteten Sarge erhalten würden und dann die Todesursache nicht kontrollieren könnten.

Ich rief die Gestapo an, ließ mir Hauptmann Suchanneck ans Telefon kommen und sagte:

»Heil Hitler! Ich habe soeben die Nachricht erhalten, daß sich mein Sohn im Lager von Dachau erhängt hat. Ich wünsche unbedingt die Leiche zu sehen, und bitte, mir sofort die Erlaubnis dazu zu geben. Heil Hitler!«

Ich merkte durchs Telefon, wie Herr Suchanneck die Fassung verlor. Er sagte: »Ich weiß von gar nichts, entschuldigen Sie, ich muß erst Erkundigungen einziehen. Ich rufe Sie dann wieder an.«

Eine halbe Stunde später rief Herr Suchanneck an, stammelte eine wohlgesetzte Kondolation und sagte, er habe mit Dachau telefoniert, ich dürfe dort die Leiche sehen, und er wolle mich nicht damit bemühen, noch eine Besuchserlaubnis für Dachau abzuholen, er selber würde telefonisch alle Anordnungen für mich in Dachau treffen.

Eine mir befreundete Ärztin erklärte, sie ließe mich unter keinen Umständen ohne ärztliche Begleitung fahren, sie käme mit. Ich wollte nicht, daß sie sich gefährde, aber sie erklärte: »Was soll mir denn passieren? Wenn ich als Ärztin einen kranken Menschen begleite?«

Wir waren noch nicht lange befreundet, aber immer, wenn Not am Mann war, erschien sie auf der Bildfläche, immer hilfsbereit, immer tatbereit.

Wir fuhren mit dem Nachtzug nach München. Am frühen Morgen rief ich das Lager Dachau an und erhielt die Antwort, daß ich jederzeit kommen könne. Wir fuhren also gleich nach Dachau weiter. Ich kannte ja nun schon den Weg und die Verbindung. Am Portal war man anscheinend bereits informiert. Man ließ mich ohne weiteres durch, nachdem ich meine Personalien angegeben hatte. Auch der Ärztin gestattete man die Begleitung mit Rücksicht auf meinen Gesundheitszustand.

Im Hof empfing mich ein kleiner, dicker Mann in SS-Uniform mit einer Menge Ordenszeichen auf der Brust. Er stellte sich mir als Baranowski vor und wurde von den beiden Herren in Zivil, die neben ihm standen, mit »Herr Kommandant« angeredet. Die beiden Herren in Zivil wurden mir als Ärzte vorgestellt, und einer von ihnen als derjenige bezeichnet, der meinen Sohn nach seinem Tode als erster gesehen hätte. Dieser Mann sah abschreckend verbrecherisch aus, der typische Mörder, wie man ihn als Titelbild in den billigen Detektivbüchern sieht.

Merkwürdig, daß dieser Mann ein Arzt war. Ich hätte eher einen Henkersknecht in ihm vermutet. Bei dem anderen Herrn hatte ich den Eindruck, daß er Arzt war. Herr Baranowski begrüßte mich mit freundlichem Händedruck, redete einige Kondolationen daher und sagte, wie leid es ihm täte. Wenn er eine Ahnung gehabt hätte, was mein Sohn plane, so hätte er besser aufgepaßt.

Er fuhr fort: »Aber ich habe es wirklich nicht ahnen können; denn am Tage vor seinem Tode machte Ihr Sohn noch einen ganz ruhigen Eindruck, als ich ein kleines Verhör mit ihm vorhatte.«

Ich empörte mich: »Ein Verhör? Dann weiß ich alles. Ihre Verhöre kenne ich. Mein Sohn hat bereits einmal nach einem Verhör einen Selbstmordversuch gemacht.«

Er: »Aber nein, regen Sie sich bloß nicht auf, so ein Verhör war das nicht, was Sie meinen. Es ging Ihren Sohn persönlich gar nichts an. Er sollte mir nur eine Auskunft über ein paar junge Kameraden geben, die während der Isolation Dummheiten gemacht hatten.«

Ich: »Also auf deutsch, er sollte seine Kameraden denunzieren. Und hat sich das Leben genommen, weil er wußte, was ihm bevorstand, wenn er nicht denunzierte. Auch das hat er ja bereits einmal erlebt.«

Er: »Nein, nein, wir haben uns ganz freundlich getrennt. Ich habe mit ihm sogar noch eine Unterhaltung über die alten Griechen und Römer gehabt. Ihr Sohn war ja ein sehr gebildeter Mensch.«

Ich ging auf diesen Ton nicht ein. Es kochte derartig in mir, daß ich darüber nicht weiter sprechen konnte. Und in diese Stimmung hinein wagte es dieser ungebildete Lümmel, die Bildung meines Sohnes gönnerhaft anzuerkennen! Er erzählte mir noch wiederholt, daß mein Sohn einem Kameraden, dem er näher gestanden habe, gesagt habe, daß er sich im Laufe des Februar das Leben nehmen würde.

Auf meine Frage erzählte er, daß sich mein Sohn erhängt habe. Und zwar zehn Minuten vor zwölf in der Nacht, auf einem Abort. Ich ging wieder hoch: »Woher wissen Sie denn die Zeit so genau?«

Er: »Er ist sehr bald danach gefunden worden, und dann kann man ungefähr feststellen, wann der Tod eingetreten ist.«

»Hat mein Sohn keine Abschiedszeile für mich hinterlassen?

»Nein, nur einen Zettel, auf dem er mitteilt, daß er sich selbst das Leben genommen hat. Sonst hatte er nur noch Ihren letzten Brief bei sich.«

Warum mochte er diese Mitteilung gemacht haben? Daß auf einen der Kameraden der Verdacht fallen könnte, sein Mörder zu sein, war doch ausgeschlossen. Und er hatte doch gewiß nicht daran gedacht, seine Todfeinde, die SS-Leute, zu entlasten, die seine Mörder bleiben werden. Ob sie ihn nun selber umgebracht haben oder durch ihre teuflischen Quälereien dazu gebracht haben, selbst Hand an sich zu legen.

»Ich bitte um diesen Zettel!«

»Den kann ich Ihnen nicht geben, der ist zu den Akten gelegt worden.«

»Dann nehmen Sie ihn einen Augenblick heraus und zeigen Sie ihn mir.«

»Nein, das ist unmöglich.«

Weshalb war das unmöglich? Es wäre doch recht zweckmäßig gewesen, mir den Zettel zu zeigen, wenn er wirklich vorhanden war.

Wir wurden in die »Leichenhalle« geführt. Es war ein ganz kleiner, glattgetünchter Raum, der offenbar ausgesprochen für diesen Zweck bestimmt war. Mein Sohn lag in einem ganz schmalen, glatten, braunen Kiefernsarg, eigentlich eine Kiste, die anscheinend von Kameraden gezimmert war. Er war bis ans Kinn fest in ein weißes Leinentuch gehüllt, so daß ich nur den Kopf sehen konnte. Es war ein strenger, ausgemergelter Kopf, vollständig vergeistigt, aber mit einem gewissen Ausdruck der Erlösung. Ich dachte: »So muß der Heilige Franziskus ausgesehen haben.« Die Lippen und der Hinterkopf, alles war schneeweiß.

Ich hatte mich vor dem Anblick des Erhängten entsetzlich geängstigt. In meiner Kindheit hatte ich einmal im Walde einen Erhängten gefunden und in meinem Leben nie mehr das aufgedunsene Gesicht, die hervorquellenden Augen und die heraushängende Zunge vergessen. Hier waren keinerlei derartige Zeichen zu sehen. Es war ein wunderschöner und edler Kopf. Der Sarg stand ziemlich hoch. Ich trat an das Kopfende, die Ärztin wollte sich neben mich stellen, wurde aber sofort, wenn auch ohne Gewalt, von den beiden Ärzten in die Mitte genommen und an das Fußende des Sarges plaziert.

Mein erster Gedanke, als ich diese stark verhüllte Leiche meines Sohnes sah, war, mich über ihn zu werfen, und dabei die sorgsame Verhüllung des Körpers beiseitezuschieben. Aber das war unmöglich. Der Sarg stand viel zu hoch. Ich wollte aber Bescheid wissen. Und ich beschloß, auch auf die Gefahr hin, sofort verhaftet zu werden, ganz offiziell das weiße Tuch wegzureißen. In diesem Augenblick fühlte ich an meinen beiden Armen einen leisen Druck der Hände des Kommandanten. Ich wußte, daß er bei der leisesten Bewegung zupacken würde, und ich wußte, daß es mir nicht gelingen konnte, meinen Vorsatz auszuführen. Ich mußte es als zwecklos aufgeben.

Man ließ mich ruhig stehen, solange ich wollte. Ich wußte, daß ich mit den Mördern meines Sohnes an seiner Leiche stand. Ich wußte, daß sie auf den Moment warteten, um bei mir zuzupacken. Ich rührte mich nicht, obwohl ich von Verzweiflung und den wildesten Rachegedanken geschüttelt war. Aber ich wußte auch, daß die leiseste Bewegung mich auf ewig daran hindern würde, meine Vergeltungspläne auszuführen.

Ob ich jemals werde ausführen können, was ich meinem Sohne in diesem Augenblick gelobte? Es war mir plötzlich, als ob er leise lächelte; merkwürdigerweise hatte auch die Ärztin denselben Eindruck, wie sie mir nachher erzählte. Ich fing an, mit ihm zu sprechen, ganz leise und vorsichtig; ich hatte Angst, daß er mich nicht verstehen würde, wenn ich schwieg. Meine Freundin fürchtete eine Unvorsichtigkeit von mir und machte dem Kommandanten ein Zeichen, daß er abbrechen sollte. Er rührte sich nicht. Das Gespräch mit meinem Sohn war, wie mein ganzer Verkehr mit ihm in den letzten fünf Jahren, getarnt und anscheinend so gut getarnt, daß es die anderen nicht verstanden hatten. Als ich leicht zu taumeln anfing, gingen wir hinaus.

Der Kommandant meinte, ich sähe schlecht aus, und ich solle mich einen Augenblick im Untersuchungszimmer des Arztes niederlegen. Es war gleich neben der »Leichenhalle«. Hier schien die ganze Krankenabteilung zu sein. Als ich mich hinsetzte, immer dicht umstanden von drei Leuten, die keinen Blick von mir wendeten, zog die Ärztin eine Flasche mit Herztropfen aus der Tasche, reichte sie dem neben mir stehenden Mann mit dem Verbrechergesicht in raschem, befehlendem Tone, so wie es wohl der Arzt im Krankenhaus gewöhnt ist, zu: »Kollege, zwanzig Tropfen!« Ich war nicht ganz so schwach, wie ich aussah. Ich beobachtete, wie der Mann ein Glas ergriff; er wußte aber sichtlich nicht, mit dem Tropfenfläschchen umzugehen. Merkwürdig bei einem Arzt! Dasselbe schien auch der andere Arzt zu denken. Er riß ihm die Tropfenflasche weg, verschwand einen Augenblick aus dem Zimmer, kam dann wieder und sagte: »Die Tropfen können gegeben werden.« Er zählte sie selber ab und gab mir das Glas. Ob sie wohl Angst hatten, daß ich die Komödie eines Selbstmordes aufführen wollte?

Ich stand auf, um noch einige Formalitäten zu besprechen. Man gestattete mir, die Leiche selber zu beerdigen. Ich sollte mich mit all diesen Formalitäten an die Gestapo in München wenden. Ich wollte die Leiche so rasch wie möglich aus Dachau heraus haben. Aber es war Sonntag, und vor Montag konnte ich weder die Gestapo, noch die Beerdigungs-Gesellschaft erreichen. Ich dachte, am Montag Vormittag ließe sich das alles erledigen, und bat darum, die Leiche Montag Mittag abholen zu dürfen. Der Kommandant sagte: »Vor Dienstag wird es mit der Beerdigung nicht klappen, Leichen dürfen wir nur in der Nacht aus dem Lager herausgeben.«

Man verabschiedete sich sehr höflich von mir, stellte sich, als ich das Auto bestieg, in Reih und Glied daneben auf und stand mit strammem Führergruß, bis ich abgefahren war. Diesmal konnte ich mich aber wirklich nicht entschließen, diesen Gruß zu erwidern. Ich hatte ihn oft zähneknirschend in den Lagern und auf der Gestapo leisten müssen. Jetzt schädigte ich Hans nicht mehr, wenn ich ihn unterließ. In steifer Haltung, ohne Gruß fuhr ich ab.


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