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Flüchtlinge in der Wildnis

Durch die Wipfel der Urwaldriesen warf der Mond seine Strahlen auf den fast lautlos vorübergleitenden Fluß. Die Affen hatten längst ihren Abendgesang eingestellt, und auch das häßliche kreischen der Nashornvögel war verstummt. Nur selten drang die Lebensäußerung eines unbekannten Tieres durch den nächtlichen Wald zu den Ohren des Mannes, der einsam am Hinteren Ende der Prau fast, während vorn seine Leute sich mit Schwatzen und Rauchen die Zeit vertrieben.

In der Mitte des Schiffes spülte Jama das beim Abendessen gebrauchte Geschirr. Als er damit fertig war, zündete mich er sein Pfeifchen an und blickte, mit untergeschlagenen Beinen auf dem Verdeck sitzend, in die Nacht.

So bot die in einer Bucht festgemachte Prau ein Bild schönsten Abendfriedens, und niemand hätte bei ihrem Anblick geahnt, daß die Gedanken der auf einen so engen Raum vereinten Menschen so weit auseinanderliefen, wie es tatsächlich hier an Deck geschah.

Arnold Hemskerk rang mit einem schweren Entschluß. Die Prau war so weit flußaufwärts gefahren, daß er die bisher krampfhaft festgehaltene Hoffnung, Jan zu finden, endgültig begraben mußte. Selbst wenn Haydocks Prau von einer anderen überholt worden wäre, wie der Engländer behauptete, hatte Jan sich nicht an Bord befunden. Mit der Gewißheit, daß Arnold mit der ganzen Ausrüstung unmittelbar folge, hätte er sich offenbar früher an Land setzen lassen, selbst auf die Gefahr hin, eine Nacht oder zwei im Freien zubringen zu müssen. Daß man aus Unachtsamkeit an ihm vorbeigefahren wäre, brauchte Arnold nicht in Betracht zu ziehen. Seine eigenen Augen hatten ständig die Ufer abgesucht; außerdem wäre bei dem fast geräuschlosen Hingleiten des Fahrzeuges ein lauter Zuruf nicht zu überhören gewesen. Wo aber mochte sich Jan befinden? Wer konnte darüber Auskunft geben?

Dazu gesellte sich das bedrückende Gefühl, keinen Menschen nahe zu haben, mit dem eine vernünftige Aussprache möglich gewesen wäre. Wong Tsau, der einzige der Chinesen, mit dem er sich einigermaßen verständigen konnte, zuckte zu allen Äußerungen von Besorgnis nur noch die Schultern. Sein böses Lächeln war Arnold so verhaßt, daß er jede Berührung mit ihm vermied.

War es krankhafte Einbildung oder eine Folge von Jamas Warnungen vor einer ungewissen Gefahr, daß er jetzt auch in den Gesichtern der anderen Chinesen einen höhnischen Ausdruck wahrzunehmen meinte, wenn sie, was ihre Blicke oft verrieten, von ihm sprachen? Verspotteten sie ihn wegen seiner Ratlosigkeit, die auch ihnen nicht verborgen bleiben konnte, oder steckte etwas anderes dahinter?

Jama schlich nach wie vor mit mürrischem Gesicht umher, ohne jedoch seine Pflicht zu vernachlässigen.

Am vorhergehenden Tage hatte er während des üblichen Aufenthaltes zur Mittagszeit seinen Herrn mit dem Wunsche überrascht, die Prau verlassen zu dürfen.

Mit dem Gruß »Tabe, tuan – lebewohl, Herr,« der seine kurze Rede schloß, wollte er sich zum Gehen wenden, als ob an seinem Entschluß nicht zu rütteln sei. Aber so leicht kam er nicht davon; Arnold wollte natürlich den Grund wissen. Doch ein anderer, als daß es ihm hier nicht mehr gefalle, war nicht aus ihm herauszubringen.

»Habe ich dich schlecht behandelt, Jama?«

»Nein, Herr.«

»Wohin willst du gehen?«

»Fort von hier – zurück nach Pinang.«

»Im Wald gibt es keine Wege, dafür aber wilde Tiere.«

»Ich warte, bis eine Prau flußabwärts fährt. Nahrung finde ich genug im Wald, und wilde Tiere sind nicht gefährlicher als böse Menschen.«

»Wenn nun wirklich böse Menschen auf diesem Schiff wären, wie du meinst, ist es dann recht von dir, mich allein zu lassen?«

Diesmal dauerte es etwas länger, bis eine Antwort folgte.

»Herr, befiehl, daß wir sofort nach Pinang zurückfahren,« kam es dann zögernd von Jamas Lippen.

»Zwei Tage will ich noch damit warten,« versetzte Arnold nach kurzem Überlegen. »Haben wir dann meinen Freund nicht gefunden, kehren wir um.«

»Wenn es dann nicht zu spät ist!«

»Du willst mich also verlassen?«

»Nein, Herr, ich bleibe.«

Damit hatte er sich wieder seiner Arbeit zugewandt, und seitdem war keiner von beiden auf das Gespräch zurückgekommen.

»Morgen muß ich mich entscheiden,« dachte der einsame Mann, während er das Ufer entlangblickte, in dessen Buschwerk unzählige Leuchtkäfer funkelten. Die Vorstellung, daß Jan sich doch in dieser Gegend befinden und nur durch besondere Umstände verhindert sein könnte, Nachricht zu geben, ließ ihn den Gedanken an die Rückkehr noch unterdrücken. Trotzdem war er in seinem Innern bereits fest entschlossen, dieser unerträglichen Ungewißheit ein Ende zu machen. Führten die Chinesen Böses gegen ihn im Schilde, dann mußte sich das morgen entscheiden. Aber er konnte nicht daran glauben, weil er trotz allen Nachdenkens keinen triftigen Grund für solche Annahme zu finden vermochte.

Wie gewohnt, ging er gegen zehn Uhr zur Ruhe. Ein Blick über die Prau hatte ihn belehrt, daß die Eingeborenen entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit noch wachten. Vorn wurde in chinesischen Lauten eifrig geredet; mittschiffs hockte bewegungslos eine dunkle Gestalt.

Durch einen Spalt im Mattendach verfolgte Arnold stundenlang den Lauf der Sterne, bevor die Sorgen des Tages durch den Schlaf verscheucht wurden.

Aber dieses glücklichen Zustandes sollte er sich nicht lange erfreuen. Aus tiefer Bewußtlosigkeit jäh erwachend, erkannte er die Umrisse eines dicht neben ihm kauernden Eingeborenen, der mit zaghaften Händen seinen Körper abzutasten schien, während der Kopf sich über die in starrem Entsetzen weitgeöffneten Augen niedersenkte.

Gerade noch rechtzeitig kam Arnold die Erleuchtung, mit wem er es zu tun hatte; statt den lauten Hilferuf in die Nacht zu gellen, wozu er schon den Mund geöffnet hatte, flüsterte er aufgeregt: »Jama, bist du es?«

»Ja, Herr,« kam es sofort mit einem Aufatmen der Erleichterung leise zurück.

Ehe noch Arnold fragen konnte, was diese Heimlichtuerei bedeute, fuhr der Malaie in merklicher Erregung schnell zu sprechen fort: »Kein lautes Wort, Herr, sonst werden wir beide getötet! Wir müssen jetzt in der Nacht heimlich fliehen. Wong Tsau weiß nicht, wie gut ich ihn verstehe. Ich habe alles belauscht. Fände uns die aufgehende Sonne noch auf dieser Prau, wären wir verloren …«

»Warum – sage mir, warum?«

Aber Jama schüttelte heftig den Kopf.

»Nicht jetzt fragen, Herr! Vertraue mir!«

Diesem flehenden Ton gegenüber hielt kein Zweifel stand.

»Ich folge deinem Rat,« sagte Arnold kurz entschlossen und richtete sich auf.

»Das ist dein Glück, Herr; diesmal wäre ich allein gegangen.«

Mit diesen leise gesprochenen Worten begann der Diener rückwärts ins Freie zu kriechen, und als der Holländer sich anschickte, ihm zu folgen, fügte er rasch hinzu: »Was wir brauchen, habe ich in ein Bündel gepackt – Waffen und Lebensmittel. Alle schlafen; aber wir müssen trotzdem sehr leise sein. Ich steige zuerst ins Wasser. Es ist nicht tief, aber der Grund ist weich. Ein langer Stock hat es mir gesagt.«

In dem hellen Mondschein bedurfte es keiner Worte mehr zur Verständigung; Zeichen genügten. In einer Hand schnell zusammengeraffte Kleidungstücke und seine besten Schuhe tragend, in der anderen die Büchse, die in jeder Nacht geladen neben ihm lag, so schlich Arnold dem barfüßigen Malaien zum Bordrand nach. Die Stelle war so gewählt, daß man von dem vorderen Schiffsteil die mit unangenehmer Deutlichkeit sich abhebenden Gestalten nicht beobachten konnte. Eines Schläfers lautes Schnarchen drang von dort herüber, das einzige Zeichen, daß noch andere Menschen in der Nähe waren. Mochten sie auch noch so üble Absichten gegen die beiden irrt Sinn haben, für diese Nacht wünschten diese ihnen einen gesunden Schlaf!

Jama hatte sich im Nu seiner wenigen Kleidungstücke entledigt und sie fest zusammengerollt. Sein Begleiter ließ den Schlafanzug, in dem er noch steckte, auf dem Verdeck liegen und beeilte sich, ebenfalls aus seinen Sachen ein handliches Bündel zu formen. Sobald der Malaie sah, daß sein Herr soweit fertig war, ließ er sich über Bord ins Wasser gleiten, wo er bis zu den Schultern versank, und streckte seine braunen Arme aus, um das Reisegepäck in Empfang zu nehmen.

Die Ruhe und Sicherheit, mit der er den größten Teil der Sachen auf seinem Kopf verstaute, gleich als ob er seinen alltäglichen Beschäftigungen nachginge, nötigten dem Europäer Bewunderung ab. Für ihn selbst blieb nur noch das eigene Kleiderbündel zu tragen. Er legte es auf den Bordrand, wo es leicht zu ergreifen war, und stand weniger als eine Minute später marschbereit neben dem Eingeborenen, dessen Führerschaft er sich blindlings anvertrauen wollte.

Bis zu den Waden irrt Schlamm einsinkend, arbeitete er sich zum Ufer durch, wo sie alsbald hinter dem dichten Buschwerk verschwanden, das wie eine dunkelgrüne Mauer den Fluß zu beiden Seiten säumte.

.

Den Versuch, tiefer in den Urwald einzudringen, mußten sie bald aufgeben. Schlingpflanzen versperrten den Weg. Dornen ritzten ihnen die Haut auf, und als sie vor einem unüberwindlichen Hindernis stehen blieben, um zu beratschlagen, schienen blutdürstige Landblutegel und geflügelte Blutsauger in ungeheurer Zahl schon auf sie gewartet zu haben. Wenigstens stürzten sie sich wie aus einem Hinterhalt mit unheimlicher Gier auf die willkommene Beute.

»Ich muß mich zuerst anziehen, sonst halte ich es keine fünf Minuten mehr aus,« stöhnte Arnold Hemskerk, der mehr als der Farbige von ihnen zu leiden hatte, obwohl er mit verzweifeltem Um- und Aufsichschlagen die Quälgeister abzuwehren suchte.

Ein Taschentuch mußte zum Abtrocknen genügen. Infolge der übriggebliebenen Feuchtigkeit klebten ihm die Kleider am Leibe. Doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Die Nacht war warm; außerdem brach ohnedies infolge der Aufregung, sowie durch die heftigen Körperbewegungen der Schweiß aus allen Poren.

»Mit dem Weitergehen müssen wir warten, bis es hell wird,« sagte Jama. »Hier ist ein alter Baumstamm, Herr; auf den können wir uns setzen.«

»Gut, und nun laß mich endlich wissen, was du erfahren hast!«

Mit diesen Worten wollte er sich auf den schon halbverrotteten Baumriesen niederlassen, als der Malaie ihn mit einem unterdrückten Aufschrei noch gerade im letzten Augenblick zurückriß.

»Was gibt es nun wieder?«

Der neue Angriff auf die überreizten Nerven verlieh der Frage einen wenig freundlichen Klang.

Statt einer Antwort deutete Jama auf den Stamm.

Noch unwillig folgte sein Herr mit dem Blick der Richtung des ausgestreckten Armes.

Doch kaum hatte er erkannt, was den schärferen Augen des Eingeborenen aus größerer Entfernung nicht entgangen war, als er entsetzt zurückwich. Gerade auf der Stelle, die er sich als Ruheplatz erkoren hatte, schimmerte ein schwach glänzendes Etwas, das sich bei genauerem Hinsehen zu bewegen schien.

»Eine Schlange,« entfuhr es mit gedämpfter Stimme Arnolds bebenden Lippen, wie wenn er das Tier zu reizen fürchtete.

»Ich werde sie töten,« versetzte Jama eifrig. »Ein Schlag auf den Rücken, dann kann sie nicht mehr kriechen.«

Aber davon wollte sein Herr nichts wissen.

»Du wirst vielleicht eher, als uns lieb ist, eine andere Gelegenheit finden, deinen Mut zu beweisen. Sieh, da macht sie sich schon davon!«

Als ob das Tier die sein Leben bedrohenden Worte gehört hätte, verließ es plötzlich mit stark beschleunigter Geschwindigkeit den Stamm, glücklicherweise in entgegengesetzter Richtung. Damit verschwand es aus dem Gesichtskreis der beiden Männer, die das unheimliche Schimmern mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgten und wie angewurzelt stehen blieben, bis das immer schwächer werdende und schließlich nicht mehr vernehmbare Rascheln im Laub ihnen die Gewißheit gab, daß sie von dem gefährlichen Tier nichts mehr zu befürchten brauchten.

Nach diesem Schreck war es kein Wunder, daß der Stamm genau untersucht wurde, bevor sie auf ihm Platz nahmen. Jama sagte dabei, Schlangen bissen bloß, wenn sie sich angegriffen fühlten, eine Weisheit, die Arnold längst aus Büchern kannte; schlimm sei nur, daß sie die leiseste unbeabsichtigte Berührung als einen vorsätzlichen Angriff betrachteten und dann gleich von ihren todbringenden Verteidigungswaffen Gebrauch machten.

Arnold ließ ihn reden. Doch sobald sie saßen, gab er Jamas Gedankenlauf eine andere Wendung, indem er seine vorher ausgesprochene Frage nach dem Grund für diese überstürzte Flucht wiederholte.

»Ich hatte gemerkt,« begann der Bericht, »daß die Chinesen gestern abend etwas Besonderes verhandelten – etwas, das uns beide anging. Du weißt, Herr, daß ich ihnen schon lange mißtraute. Deshalb genügten einige unvorsichtige Bemerkungen, mit denen einer der Leute mich ängstigen oder ärgern wollte, meinen Verdacht zu bekräftigen. Ich beschloß, sie zu belauschen. Einmal hatte mich Wong Tsau dabei erwischt, aber auch seine Drohung, daß ich das nächste Mal furchtbar verprügelt werden solle, hat mich nicht abgehalten, es wieder zu tun. Als nun du, Herr, schlafen gegangen bist, habe ich meine Pfeife ausgeklopft und laut gegähnt. Dann bin ich aufgestanden, als ob ich mich schlafen legen wollte. Aber ich bin auf der Seite, wo der Schatten mich verbarg, an der Bordwand und von da immer weiter nach vorn gekrochen, wo die Chinesen eifrig halblaut miteinander sprachen. Das meiste konnte ich ja nicht verstehen; aber so viel weiß ich ganz gewiß: wir beide sollten nicht lebend nach Pinang zurückkehren.«

»Bist du auch ganz gewiß, daß du nicht etwas falsch deutest, was du nur zum Teil verstanden hast?« fragte der immer noch nicht recht überzeugte Arnold dazwischen.

»Ganz gewiß, Herr,« kam es ernst, beinahe traurig zurück. »Vielleicht glaubst du mir eher, wenn ich dir noch sage, daß diese Männer auch deinen Freund getötet haben.«

Bei diesen Worten fuhr der junge Holländer aus seiner gebückten Haltung empor.

»Was sagst du? Getötet? Meinen Freund getötet? Aber das kann ja nicht sein! Diese Männer haben uns nie verlassen; sie …«

»Diese Männer oder andere, die zu ihnen gehören,« fiel ihm der Malaie mit ruhiger Bestimmtheit ins Wort.

»Jan tot? Es wäre zu schrecklich! Ich kann, ich mag es nicht glauben,« stöhnte Arnold Hemskerk erschüttert.

»Ich suche den Mörder, und wenn ich ihn finde, bohre ich ihm meinen Kris ins Herz,« verkündete Jama mit wilder Entschlossenheit.

Hiernach folgte langes Schweigen. Arnold trauerte in Gedanken dem Freunde nach; der Malaie, der fühlte, was in ihm vorging, blieb auch stumm und starrte nur vor sich hin.

So saßen sie wohl eine halbe Stunde lang inmitten der Wildnis nebeneinander, jeder in Gedanken versunken, die von dem gleichen Gegenstande ausgingen. Arnold empfand den Verlust des Freundes, mit dem ihn Beruf und Zuneigung gleich eng verbanden, als einen so harten Schlag, daß er für den Augenblick vollständig vergaß, durch wie große Gefahren sein eigenes Leben bedroht war. Denn mochte er auch dank der Aufmerksamkeit seines Dieners der unmittelbaren Nähe der Übeltäter entronnen sein: noch war er von diesen nur durch eine sehr kurze Entfernung, von Pinang dagegen durch Urwälder und Wasser getrennt. Keine freundlich gesinnte Seele befand sich in der Nähe; dagegen sollten Tiger und andere wilde Tiere in diesen Wäldern zahlreich sein. Und was es bedeutet, ohne Moskitonetze und andere Hilfsmittel im Tropenwald umherirren zu müssen, davon genossen beide jetzt schon einen bitteren Vorgeschmack!

»Kannst du mir erklären, warum man uns überhaupt so lange hat leben lassen, wenn von Anfang an beschlossen war, uns zu töten?« setzte Arnold endlich das Gespräch fort.

»Ja, Herr, das habe ich nun ebenfalls erfahren. Wong Tsau glaubte, du könntest uns mit Hilfe von Papieren auch ohne deinen Freund zu den guten Zinnplätzen führen, die ihr ausbeuten wolltet. Das wäre für ihn einfacher und sicherer gewesen, als wenn er uns sogleich getötet und dann für den Engländer die Pläne in deinem Gepäck gesucht hätte. Nun scheint er überzeugt zu sein, daß du keine solchen Aufzeichnungen besitzest. Deshalb wollte er uns morgen umbringen lassen, wenn du bis dahin nicht die Anlegestelle angegeben hättest. Er hat bestimmte Aufträge von jemand, dem er gehorcht.«

»Für welchen Engländer sollte er Pläne suchen?« fragte Arnold erregt, denn ein fürchterlicher Verdacht stieg plötzlich in ihm auf. »Sollte es etwa Haydock sein, der Mann, dem ich neulich geholfen habe?«

»Ich weiß es nicht, Herr, denn der Name wurde nicht genannt; aber ich glaube es. Er muß Wong Tsau schon früher gekannt haben. Du, Herr, hast selbst beobachtet, wie die beiden heimlich miteinander sprachen; sonst hätte ich dich darauf aufmerksam gemacht. Die Chinesen der verunglückten Prau und die unsrigen waren ganz sicher alte Bekannte; das haben gleich ihre ersten Zurufe in ihrer Landessprache verraten. Aber das brauchte ja nicht verdächtig zu sein, weil alle in Pinang wohnen und sich oft am Hafen gesehen haben mögen. Wenn aber der Engländer mit Wong Tsau Heimlichkeiten hat, dann steckt sicher nichts Gutes dahinter. Wong Tsau hat mich einen Dieb genannt, um mich von meinem guten Herrn zu trennen. Er selbst ist etwas viel Schlimmeres. Ich habe es längst geahnt und dich, o Herr, nicht ohne Grund vor ihm gewarnt. Aber du wolltest mir ja nicht glauben, bis es beinahe zu spät war.«

Arnold hatte nur halb zugehört und nahm daher den Vorwurf schweigend hin. Seinen wandernden Gedanken genügte nicht lange die bloße Vermutung. Etwas in ihm sträubte sich noch, dem Engländer solche Schlechtigkeit zuzutrauen.

»Behalte genau, was du gehört hast,« sagte er schließlich. »Das Gericht mag entscheiden, ob der Verdacht zu einer Verurteilung hinreicht. Ich hoffe noch immer, meinen Freund wiederzusehen, vorausgesetzt, daß es mir selbst gelingt, aus dieser Wildnis nach Pinang zurückzukehren.«

So saßen sie, meist halblaut plaudernd oder in gedankenvolles Schweigen versunken, bis der Morgen graute.

Nur zuletzt, während einer längeren Gesprächspause, hatte die Müdigkeit Jama überwältigt. Ruckweise sank sein Oberkörper immer tiefer, bis er einen bestimmten Punkt erreicht hatte, dann plötzlich in die Höhe schoß und nach einer kleinen Weile das Spiel von vorn begann.

Der Anblick wirkte so ansteckend, daß auch Arnold trotz der nahe bevorstehenden Entscheidung in Halbschlaf versunken wäre, wenn ihn nicht ein schnell wachsendes Gefühl von Unwohlsein wachgehalten hätte. Er begann zu frieren und plötzlich am ganzen Leibe zu zittern.

»Herr, was ist dir?« klang Jamas Stimme wie aus weiter Ferne an sein Ohr.

»Ich glaube, ich habe einen kleinen Fieberanfall – es wird hoffentlich bald vorübergehen.«

Das sollte zuversichtlich klingen, doch die Zähne schlugen ihm dabei aufeinander.

Und der Anfall ging auch nicht schnell vorüber! Als die ersten Vogelstimmen den nahen Sonnenaufgang verkündeten, fragte sich der Kranke voll Sorge, wie er unter diesen Umständen den beschwerlichen Weg durch den Urwald unternehmen könne.

Plötzlich zuckte er zusammen. Von der Prau drangen laut durcheinandersprechende Stimmen herüber.

»Herr, hörst du?« rief fast gleichzeitig Jama. »Sie haben entdeckt, daß wir nicht mehr da sind. Sieh, es wird hell! Wir müssen uns tiefer im Wald verstecken, bis sie weitergefahren sind.«

Unter Aufbietung aller Willenskraft versuchte Arnold aufzustehen. Doch seine Knie zitterten; es wurde ihm schwarz vor den Augen – kraftlos sank er wieder zurück.

»Es geht nicht,« flüsterten seine bebenden Lippen. »Bring dich in Sicherheit, Jama! Wenn sie kommen, kannst du mir nicht helfen; es sind zu viele für uns zwei.«

»Nein, Herr, ich bleibe,« kam es mit ruhiger Entschlossenheit zurück.

»Sie werden dich töten.«

»Vielleicht; aber es wird mehreren das Leben kosten.«

»Und die übrigen kehren zurück, erfinden ein Märchen von einem großen Unglücksfall und empfangen zu ihren Übeltaten hohen Lohn! Geh, Jama – ich befehle es dir – bring in Pinang die Wahrheit an den Tag! So werden die Schuldigen bestraft, und mein Freund und ich sind gerächt.«

Der Malaie zauderte; diese Begründung leuchtete ihm ein. Suchend blickte er umher. Plötzlich wandte er sein treues Gesicht dem Kranken zu, der während seines inneren Kampfes kein Auge von ihm gelassen hatte.

»Ich gehe, aber ich komme wieder.«

»Nimm Waffen mit!«

»Nein, Herr! Jetzt kämpfe ich nur gegen Pflanzen; dazu genügt mein Messer.«

Mit diesen Worten zog er seinen langen Dolch aus der Scheide, sprang über den Baumstamm und bahnte sich einen Weg waldeinwärts.

Nachdem das dichte Grün hinter ihm zusammengeschlagen war, überkam Arnold ein Gefühl dumpfer Gleichgültigkeit. Wohl lauschte er unwillkürlich dem Geräusch der sich entfernenden Schritte und dem von der entgegengesetzten Seite vernehmbaren erregten Durcheinandersprechen, das von Wong Tsaus Stimme mehrmals laut übertönt wurde. Doch das Fieber ließ weder Furcht noch Hoffnung in seiner Brust aufkommen.

Als der Malaie nach zehn Minuten zurückkehrte, fand er seinen Herrn bewußtlos auf dem Boden liegen. Ratlos blickte er hin und her. Keine Minute war zu verlieren. Die Chinesenstimmen klangen viel lauter als vorher. Offenbar hatte der größte Teil der Gesellschaft die Prau verlassen, um den Flüchtlingen nachzuspüren, denn schon drangen sie in den Wald ein.

Da kniete Jama rasch neben dem Bewußtlosen nieder, schüttelte ihn und rief in einem fort: »Herr, Herr, komm – wir müssen weiter – steh auf,« bis endlich Arnold die Augen aufschlug und allmählich erfaßte, was von ihm verlangt wurde.

Unter Aufbietung aller Kraft stand er auf; doch er wäre sofort wieder umgesunken, wenn Jama ihn nicht gehalten hätte.

»Ich werde dich tragen, Herr,« sagte er und bot dem Holländer seinen Rücken dar.

Bei jedem Tritt von Dornen festgehalten und blutig gekratzt, von Schlingpflanzen gehindert und oft von Hindernissen aller Art zu Umwegen gezwungen, so arbeitete sich Jama mit seiner Last schweißtriefend und keuchend durch die Wildnis bis zu dem geschützten Versteck, das er kurz vorher entdeckt hatte.

Ohne zu verschnaufen, machte er nun sofort kehrt, um die zurückgelassenen Waffen und Lebensmittel zu holen. Fielen die den Chinesen in die Hände, dann war man kaum noch der schwierigen Lage gewachsen, zumal wenn der so plötzlich ausgebrochene heftige Fieberanfall nicht schnell vorüberging.

Kurz vor dem früheren Rastplatz blieb er lauschend stehen. Aus ganz geringer Entfernung drang Ästeknacken und Sprechen an sein Ohr. Kein Zweifel: mindestens zwei hatten die Spur entdeckt, kamen ihm also geradewegs entgegen!

Jetzt hing alles davon ab, vor den Chinesen die unentbehrlichen Hilfsmittel zu erreichen. Sein Messer fester umklammernd, drang er mit verdoppelter Geschwindigkeit vorwärts, entschlossen, lieber mit beiden Feinden zugleich den Kampf auf Leben und Tod aufzunehmen, als ihnen das kostbare Gut zu überlassen.

Nur noch wenige Schritte trennten ihn von der Stelle, aber auch die anderen waren nicht mehr fern. Schon verstand er Teile der lautgeführten Unterhaltung.

»Hier sind sie gegangen! Jetzt können sie uns nicht mehr entfliehen.«

»Wenn es nicht doch eine Tierfährte ist,« kam es in zweifelndem Ton aus einiger Entfernung als Antwort.

»Dummkopf, hast du schon einmal gehört, daß ein Tier ein Messer zur Hilfe nimmt, um sich einen Weg zu bahnen? Komm her! Dieser Busch wird dir beweisen, daß ich recht hatte. Und ich behaupte jetzt: ehe die Sonne heute ihren höchsten Stand erreicht hat, werden beide tot sein! Was wettest du dagegen?«

Mehr konnte Jama nicht verstehen, da der Sprecher nach kurzem Stehenbleiben nun wieder vordrang, wobei das Geräusch der knackenden Zweige sich mit den Worten vermischte. Um sich nicht zu verraten, hatte er selbst nur ganz vorsichtig wenige Schritte machen können. Nun eilte er, aller Hindernisse nicht achtend, mit aller Macht voran, bis er die begehrten Gegenstände vor sich liegen sah.

»Wenn der Herr dies gehört hätte, würde er nicht mehr zweifeln,« schoß es ihm dabei durch den Kopf, als er schnell ein geladenes Gewehr aufraffte; dabei stieg aufs neue der Wunsch in ihm auf, jetzt schon auf eigene Faust Vergeltung zu üben.

Gerade wollte er sich zum zweiten Male bücken, als er durch das Buschwerk einen roten Lappen leuchten sah und gleich darauf das Gesicht des Chinesen, der sich das Tuch zum Schutz seiner Haare um den Kopf gewunden hatte Blitzschnell erkannte Jama das Verzweifelte seiner Lage. Belud er sich mit allem, was er hier vor sich liegen sah, um auf dem gleichen Wege zurückzukehren, dann behielt er keine freie Hand und mußte überdies befürchten, von den Verfolgern erkannt und, ohne zu ahnen, daß er einer Kugel zum Ziele diente, meuchlings niedergeknallt zu werden. Das sollte nicht sein. Aber ebensowenig durften den Chinesen diese Waffen in die Hände fallen.

Im Nu war sein Plan gefaßt. Geduckt, um von dem Herankommenden nicht entdeckt zu werden, schlug er sich seitwärts, und ehe der Chinese ahnte, wie wertvolle Beute dicht vor ihm lag, hallte ein Schuß durch den Wald, dem sogleich ein gellender Schmerzensschrei folgte.

Wildes Wutgeheul war die Antwort. Doch es kam nicht aus bedrohlicher Nähe, wenn sich auch die Stimmen zu nähern schienen. Der zweite Chinese meldete mit stärkster Lungenkraft zurück, was geschehen war, konnte sich jedoch nicht entschließen, allein weiter vorzudringen. Er hatte jedenfalls seinen Genossen Zusammenbrechen sehen. Nun war dieser stumm, bedurfte also offenbar keiner Hilfe mehr. Nach einigem Zögern hielt er es für geraten, sich schleunigst rückwärts in Sicherheit zu bringen.

Jama war wie angewurzelt stehen geblieben. Nach seinem rasch gefaßten Plan wollte er die Verfolger auf sich ziehen, sie abseits der beiden Verstecke in die Irre führen und dabei, wenn möglich, ihre Zahl verringern.

Es dauerte lange, ehe das aufgeregte Durcheinanderschnattern in der Ferne aufhörte. Eine Weile blieb alles stumm, so daß Jama schon glaubte, sie zögen vor, ihren Genossen einfach im Stich zu lassen. Doch dann vernahm er Stimmen, die sich wieder näherten. Die vier Beherztesten wagten, der Gefahr zu trotzen. Mit lauten Worten machten sie einander Mut. Von Rache und weiterer Verfolgung war dabei nicht die Rede.

Da ließ der Malaie sie ungestört ihre Ehrenpflicht gegen den toten Gefährten erfüllen, beobachtete mit grimmigem Lächeln, wie schnell sie sich aus dieser gefährlichen Gegend davonmachten, und wartete noch still, bis jeder Laut verstummt war. Dann belud er sich mit dem geretteten Gut und eilte frohen Mutes zu seinem Herrn, der schon sehnsüchtig auf einen Trunk gewartet hatte.


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