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XIV.

Eine halbe Stunde später fand die beiden Gatten bei Tisch: die Macht der Gewohnheit ist stark; stärker noch die Gewohnheit in einem vornehmen Hause.

Rodenheim hatte sich auf die Kinder gefreut – allerdings war er aus der besten Stimmung gekommen, doch die Kinder hätten ihn trösten können. Unglücklicherweise hatte er in der Freude, Adele zu sehen, vergessen, die Konfektdüten bei dem Konditor mitzunehmen. Den Kindern aber, um welche sich die Mutter keine Zeit nahm, welche nachdem sie Papa aus Furcht vor Dyphteritis und Scharlach aus dem Kindergarten beordert, bei den Leuten im Haus einer recht zweifelhaften Erziehung teilhaftig wurden, war der Papa ohne Zuckerdüte eine unbekannte Größe. Oft genug verstimmt, hatte auch er sich in der letzten Zeit nicht mehr viel mit den Kleinen beschäftigt, diese wohl gar je nachdem einmal kurz gehalten, wenn ihr kindliches Treiben zu schlecht für seine Stimmung paßte. Was allerdings jedes Mal eine erneute Verabfolgung von Zuckerdüten bewirkte.

Mit vieler Überredung und strengem Wort der stets etwas gefürchteten Mama allein war deshalb die schläfrige Nora endlich dahin zu bringen, daß Papa eine Hand bekam. Bei Susu fruchtete keine Bemühung.

»Nein, Papa, wenn du nichts mitgebracht hast, mag ich dich nicht, du bist häßlich, dein Schnurrbart kratzt. Erst wenn du Bonbons hast, von den großen, braunen, du weißt – dann bekommst du einen Kuß!«

Susu war ein kleiner Racker; doch konnte sie ja keine Ahnung haben, wie ihr allerdings schlechter, doch kindlich gemeinter Scherz heute den Papa verletzen mußte. –

Wie niedergedonnert bleibt Thilo stehen; nicht einmal macht er einen Versuch mehr, sich den Kindern zu nähern.

Es war ein traurig peinliches Mahl. Adele berührte die Speisen kaum. Die Kinder wurden ungezogen, niemand sagte ihnen ein Wort, sie balgten sich. Mit einem ehrlichen Donnerwetter schickte sie endlich Thilo hinaus.

Mahlzeit, sagte Frau von Rodenheim gleichgiltig, als ginge sie das alles nichts an, und zog sich zurück; er nickte mit dem Kopfe und blieb sitzen.

Auch Thilo hatte wenig gegessen, umsomehr aber getrunken, und jetzt noch trank er, mechanisch, ohne zu wissen, was und wie viel.

Die Adern liefen auf an seiner Stirn, heißer noch kreisten die Gedanken in dem heißen Kopf; auch bei seinen Kindern gab es nur Liebe – für Geschenke, sie duldeten ihn nur, wenn – – freilich im Grunde hat er ihnen ja auch nur damit seine Liebe bewiesen. Das Schicksal hatte ihm die Weise so bequem an die Hand gegeben.

Es schien, als sei der Tag ordentlich darauf angelegt, Erkenntnis und Buße in dem armen Thilo zu wirken.

Doch bald begann sein ungerecht verletztes, niedergedrücktes Selbst zu reagieren.

Nein, er hatte es doch wenigstens immer noch gut und ehrlich gemeint. Er würde alles für seine Familie gethan haben, hätte man ihm nur eine freundliche Hand gereicht.

Nur eine freundliche Hand – ach, die konnte mit ihm anfangen, was sie wollte! – So aber – und der Groll überkam ihn. Die zweite Flasche war leer; er stieß sie zurück. Es drohte ihn zu ersticken – Renner, Paul soll den Quick satteln! befahl er dem Diener.

Renner, ein Bauer von dem Rodenheimschen Gutsdorf, der mit Thilo beim Regiment eingetreten und dann in dessen Privatdienst verblieben war, sah seinen Herrn betroffen an. Der Quick war ein nervöses Pferd, eine »gewitterscheue Bestie«, wie sie es im Stall nannten. Er wollte eine Einwendung machen, zumal der Herr Premier heute dienstlich schon viel geritten ...

»Was stehst du noch! Wird's bald?« – Der Premier stampfte mit dem Fuß.

Quick wurde gesattelt. Kaum, daß der Offizier ihn bestiegen, ging er denn auch kerzengerade in die Höhe. Thilo war ein tüchtiger Reiter, ein Ruck der Zügel, ein Druck der Schenkel, ein paar Hiebe mit der Gerte, das Tier gehorchte.

»Der Gaul hatte zu viel Ruhe gehabt,« meinte der Husar, der das Tier herausgebracht. – Der Quick war nicht mit im Manöver gewesen.

»Der Herr Lieutenant werden vorsichtig sein,« wagte Renner zu sagen.

Die Luft kühlte Rodenheims heiße Stirn; die Bewegung machte sein Blut regelmäßiger; die hochgehende Flut seiner schmerzlichen Empfindungen löste sich aus – er wurde ruhiger. Es mußte alles anders werden! Er wollte sich Mühe geben, Adele zu gewinnen; er wollte ihr noch mehr schenken. Nein. Er hatte es sich auch zu bequem gemacht; er wollte – häßlich blieb er freilich – aber er wollte sich mühen, verflucht mühen, sie – na liebenswürdig zu sein – ihr zu gefallen.

Und seine Kinder wenigstens – die sollten ihn lieb haben: Er wollte – mit ihnen spielen, auch die neuen etwas unbequemen Spiele mit den Verschen, er wollte sie ihnen zuliebe lernen; auch Geschichten erzählen. – Mein Himmel, die Kinder mußten doch für ihren Papa zu gewinnen sein! Ja, es mußte anders werden; er wollte auch das Trinken lassen – es machte so unfähig, zu thun, was man doch hätte thun können.

Zum Donner – das galt dem Quick – sein Herr hatte mit der Gerte ausgelegt – Oho! jetzt klopfte er des Tieres Hals: – wir sind doch gute Freunde.

Nun aber begann Thilo die Folgen der Erregung und des allzu reichlich genossenen Weines in betäubender Wirkung durch den Einfluß der Luft als eine unüberwindliche Schwere in Kopf und Gliedern zu fühlen. Oho! – wieder hatte der Quick einen Satz gemacht; diesmal ganz von selbst – der Gaul war wirklich recht unvernünftig heute – sein Herr selbst aber hätte sich am liebsten aufs Ohr gelegt; er war so müde, so schläfrig geworden: noch einmal verwünschte er das Trinken; er hatte Mühe, sich im Sattel zu halten.

Da trat der Mond aus den Wolken; die Schatten von ein paar hohen Tannen fielen dunkel über den Weg; erschreckt stieg der Quick in die Höhe – Rodenheim wollte sich der Zügel vergewissern; sein Auge war unsicher, seine rechte Hand, die er schnell zu Hilfe nehmen wollte, griff fehl, und der Quick warf seinen Reiter ab; dieser flog gegen einen Baum, und Quick selbst, als gälte es, seinem Namen Ehre zu machen, jagte pfeilschnell davon.

Anscheinend gleichgiltig und gleichmütig war Adele nach dem einsilbigen Mittagsmahl auf ihr Zimmer gegangen, in Wirklichkeit – geflüchtet wie ein gehetztes Wild.

Es war bis zum äußersten gekommen! Die schöne Frau hatte ihren Gatten nie geliebt, sie haßte ihn, seit Helwig sie verschmäht.

Vergebens, daß sie sich immer wieder an ihre Stellung geklammert, in Luxus und Vergnügen Zerstreuung, Vergessen gesucht. Durch alles hindurch, über alles hinaus regte sich immer von neuem dies unauslöschliche Verlangen nach dem einen, nur stärker stets und qualvoller noch.

Immer unerträglicher, immer grauenhafter wurde ihr damit das Zusammenleben mit einem andern Manne!

Der Boden brannte unter ihren Füßen; sie hätte fortlaufen mögen. – Doch wohin? – »Zu ihm, o Gott, zu ihm!«

Er aber, er hätte sie nicht aufgenommen; sie kannte seine stolze Strenge; diesen rigoros altmodischen Begriff von Pflicht und Ehre, den selbst ihre wundervolle Anmut und unvergleichliche Schönheit, ihre grenzenlose Leidenschaft nicht imstande war, aus dem Felde zu schlagen. Und doch trotzdem und alledem: sie konnte nicht einmal über ihn spotten und lächeln; sie konnte ihm auch nicht darum zürnen; im Gegenteil, sie liebte ihn – vielleicht darum – nur noch umsomehr. Ein solches Gefühl hatte Adele nicht für möglich gehalten. Es hatte sie im Innersten verwandelt. Jetzt erst wußte sie, was es war, das Glück – das Glück, vor dem alles andere zerrinnt; der Himmel und seine ewige Seligkeit!

Sie breitet die Arme aus in qualvollem Sehnen; schlaff sinken sie wieder herab – die schlanken weißen Finger graben sich in das dunkle Haar, verzweiflungsvoll – ihre Augen blicken starr in das Leere. – Und die Parabel von dem reichen Mann und dem armen Lazarus fiel ihr ein. Die junge Frau meinte, sie wäre in der Hölle; glühende Ketten schnitten ihr sengend in das Fleisch; immer neu aufzüngelnde Flammen verbrennen ihr Herz, während ihre Blicke den Himmel suchen, zu dem kein Weg führt über die gähnende Kluft, keiner, ach, keiner!

Wirklich keiner? –

Und der Gedanke, der an jenem Abend gleich einem Irrlicht aus dem Chaos ihrer qualvoll sich jagenden Empfindungen aufgetaucht war, er kam – auch jetzt, wie allzu oft schon seither, und umfängt ihren Geist mit fluchwürdigem Wunsch – –

»Der Quick ist zurück – ohne den Herrn!« zitternd, totenbleich stürzt Renner herein und seine Meldung heraus.

Als habe sie die grausige Erfüllung ihrer Wünsche gesehen, fährt Adele zusammen. »Es ist nicht wahr – nein, um Gott, nein!«

Doch im nächsten Moment, einer Flut gleich, welche den letzten Damm zerbricht, bricht es über sie herein.

Wenn Thilo nicht wiederkehrte, wenn das einzige Hindernis – wie sie meinte – aus dem Wege geräumt, sie frei wäre! –

Und Adele kann dem Traum nicht wehren; sie versucht es auch nicht: mächtiger, immer mächtiger steigen die Wellen dieser berauschenden Flut; höher, immer höher spielen die schäumenden Kronen silbern glänzend im Sonnenlicht. Sie hört es rauschen und brausen, singen und jauchzen; sie fühlt sich gehoben, getragen von dem leuchtenden, schmeichelnden Element; die Grenzen der Erde bleiben zurück – sie gleitet dahin, willenlos in wonniger Lust, als wäre auch sie nur eine leichte Welle in einem Meer von Seligkeit. –

Sie bringen den Herrn, er lebt, er spricht! Jubelnd ist Renner zurückgekehrt.

Zum ersten Mal in ihrem Leben gänzlich fassungslos, unfähig, sich zu rühren, stand Adele da und stierte ins Weite! –

»Sie hängt doch an unserm Herrn,« meinte der Diener und bat damit seiner Gnädigen manchen Vorwurf ab, den er ihr im Stillen gemacht.

Dann hatte er die nötige Geistesgegenwart und lief nach dem Arzte. –

Wie geistesabwesend mit gelähmten Gliedern bewegt sich Adele um das Lager, auf dem man den Gatten gebettet und dann verbunden hatte.

Sie that dem Sanitätsrat leid. »Der Bruch am Arm hat nichts zu bedeuten, es ist die beste Stelle,« beruhigte er, »die Quetschung am Fuß heilen wir mit kalten Umschlägen, ebenso die geschundene Wange; ich denke bestimmt nicht, daß etwas im Innern verletzt ist: in ein paar Tagen ist der Mann wieder frisch und gesund.« Damit war er schon auf der Treppe; ich hätte der Frau nicht so viel Gefühl zugetraut, meinte er im Gehen zu sich selber.

»O Welt, wie leicht bist du zu täuschen und wie gut kommt man in dir fort, wenn man soviel Glück mit dir hat, wie Adele Rodenheim!«

Die Hände über den Knieen gekreuzt, den Kopf geneigt, sitzt sie da, doch der Traum war so berückend gewesen – von neuem, wie mit Zaubermacht, hält er ihre Seele umfangen.

Die Sonnenpferde der Sage sind Schnecken gegen die Gedanken des Menschen: während jene vierundzwanzig Stunden bedürfen, um das Licht über den unendlichen Raum unserer Erde zu führen, genügt ihnen eine Sekunde, um alle Höhen einer unendlichen Seligkeit, alle Tiefen eines unendlichen Grauens zu durcheilen. Auch Adele hatte das an sich erfahren.

In ein paar Tagen schon konnte Thilo gesund sein und alles blieb wie bisher oder wurde fürchterlicher, unerträglicher.

Denn er wird immer wieder zärtlich werden, wird immer mehr trinken, zuletzt roh werden und brutal; sie ist in seiner Gewalt nach Recht und Gesetz.

Ein Schauer schüttelt die Gestalt der jungen Frau; ein heißes Gefühl schnürt ihr die Kehle zu; sie fühlt einen stechenden Schmerz im Herzen, und eine steigende Angst, ein steigendes Grauen ziehen lähmend durch ihre Glieder.

War es denn nicht ihr eigener Wille, mit dem sie Reichtum und Glanz statt der Liebe gewählt? Gewiß nur, daß das eine unabänderlich diesmal den andern entgegenstand; daß man sie stets nur für dieses dressiert hat, und sie der Versuchung unterlag. –

Von neuem toben Zorn und Groll mit sich und dem Geschick, ein wahnsinniges Verlangen nach dem, den sie liebt in ihrer Seele.

Wieder fühlt sie den Schmerz im Herzen, diesmal als bohre eine stumpfe Waffe darin; in unzähligen feinen Stichen, gleich Nadelspitzen, hämmert das Blut in den Schläfen; dumpfer, schwerer Druck liegt auf ihrem Hirn; Angst schnürt ihr die Kehle zu.

Als flüchte sie vor dem Wahnsinn, eilt Adele nach ihrem Zimmer.

Hier auf einem kleinen Tische steht ein kostbares Service von Krystall, eine wundervolle buntfarbene hohe Kanne mit goldenem Fuß, goldgefaßtem Deckel und Griff; daneben ein paar Gläser, jedes ein Kunstwerk für sich. Achtlos greift die Hand der jungen Frau nach einem derselben, gießt Wasser hinein, ungefähr bis zur Hälfte.

Ein scheuer Blick, ob niemand nahe – und Adele nimmt aus einem verschlossenen Gefach ihres Schreibtisches ein Büchschen von Meißener Porzellan, zierlich und elegant, wie es auf die Toilette einer eleganten Frau paßt. »Puder« steht in bunten Lettern unter den blauen Blättern und den roten Blumen.

Es zuckt um ihre Lippen, da ihr Blick auf die Aufschrift fällt; sie öffnet das Büchschen und lächelt über die Menge des feinen weißen Pulvers darin, welches sie sich zu verschaffen gewußt, ohne daß jemand eine Ahnung davon hatte.

Wie oft schon hat sie danach gegriffen in der letzten Zeit, wenn Reue und Zorn den Schlaf von ihrem Lager scheuchten. Sie mußte schlafen; denn sie wollte schön bleiben, blühend und frisch. Laune und Geist sollten brillant bleiben, quand même. – Sie lächelt beinahe. Wie leicht doch die Leute zu täuschen sind! Ihre viel bewunderte vornehme Ruhe und heitere Anmut ist schon lange nichts anderes als ein Produkt des Morphiums.

Wie lange das freilich währen konnte. –

Wer denkt an den Preis, wenn er bekommen kann, was er will! Einmal geht doch alles zu Ende.

Da fällt es Adele ein, wie der Händler gesagt hat, die schöne Dame möge vorsichtig sein: ein Gramm nur zu viel und der Schlaf könne sich vertiefen; unmerklich, aber doch für immer.

Als führe sie eine fremde Hand, wie unbewußt, willenlos, lassen die schlanken Finger der jungen Frau einen Löffel und noch einen von dem Pulver in das Glas fallen. Unmerklich löst sich die weiße, feine Masse in dem Wasser; keine Spur bleibt zurück, kein verräterischer Geruch läßt ahnen, was darin ist.

Aus; ein Ende von all dem Elend, der Verzweiflung, dem Jammer! – sie atmet schnell – hebt das Glas. –

Doch plötzlich, als habe sie etwas entsetzlich Grauenhaftes berührt, setzt sie das Glas auf den Tisch – prallt ein paar Schritte zurück. – Nein, noch sträubt sich das warme junge Blut in ihren Adern gegen die kalte Hand, die mit der Ruhe auch ein Ende bringt von dem Leben, ebenso gewaltig, als es nach diesem verlangt, verlangt um jeden Preis!

Warum sollte denn gerade sie es sein, – sie, die doch nicht darum so schön war, um vor der Zeit ins Grab zu fallen, – sie, die erst eine einzige Minute lang glücklich gewesen; – und das ist schon so lange! –

Und jener Traum, der unselige, kommt zurück, widerstandslos mit wonnigem Rausch nimmt er die junge Frau gefangen – singend und klingend, rauschend und brausend rollen sie wieder heran, die Wellen mit den schäumenden Kronen; höher und höher steigt die Flut: ein weithin leuchtendes, lockendes Meer: Die Kluft, welche sie von ihrem Himmel trennt, ist versunken; die Leidenschaft trägt mit gewaltigem Fittich darüber hinaus!

Wie der Mensch oft nur einen Moment bedarf, die Höhen und Tiefen des Lebens mit seinem Geist zu umfassen, so genügt oft ein Moment, ihn, diesen Mikrokosmos, der in sich den Makrokosmos des Seins wiederspiegelt, zu einem Engel oder einem Teufel zu wandeln.

Um ein kleines, eines Haares Breite nur und die Zunge der Wage schwankt, ihre Schale steigt oder sinkt – ein paar Schwingungen der Hirnfibern und ein Entschluß ist gefaßt: ein paar Zellen mehr, oder kräftiger angelegt, durch Erziehung geübt, durch Übung entwickelt: seine Weise ist entschieden.

Das Herz der jungen Frau bäumt sich auf gegen längere Qual, es schreit nach Lust, nach Leben, nach Glück!

Thilo ist geistesabwesend und unaufhörlich verlangt er zu trinken. – Langsam, doch fest legt sich Adelens Hand um das Glas; tief, als drücke ihn eine schwere Last, neigt sie den Kopf darüber und schaut hinein; totenbleich ist ihr Antlitz, doch unerschütterlich. – Ja, all die kleinen weißen Körperchen sind zergangen, unmerkbar verschwunden im Wasser. Auf ihren Wangen brennen dunkelrote Flecken; ihre Augen glühen; ein Schauer schüttelt ihre Gestalt, die Kniee zittern. Hastig, als fürchte sie eine Störung, und wäre es die, uneins zu werden mit sich selbst, eilt sie durch die Zimmer. –

Da plötzlich steht eine hohe Gestalt vor ihr, stumm und regungslos wie aus Stein.

»Helwig!« schreit Adele auf, »wo kommen Sie her? Was wollen Sie hier?« – Sie wankt; eilig – sonst wäre es ihr entfallen – stellt sie das Glas, das Zentnerschwere in ihrer Hand angenommen hatte, auf den Tisch.

Helwig findet eine naheliegende Erklärung für die Erschütterung Adelens. Die junge Frau thut ihm leid; ihr Schrecken, ihr Kummer wecken seine Sympathie.

»Ich habe allerdings um Entschuldigung zu bitten,« sagte er weich, »so unangemeldet hier eingedrungen zu sein. Ich kam Herrn von Rodenheim abzuholen; er wollte mein Gast sein heute Abend. Ich muß ihn sprechen. Etwas Dienstliches,« entschuldigte er sich noch einmal.

»So, wissen Sie nicht, daß mein Mann mit dem Pferde gestürzt ist?«

Helwig hatte es noch nicht erfahren; nun kann er sich erklären, warum er die Thüren offen, keinen Menschen zum Anmelden gefunden.

»Gefährlich?« fragt er in Freundes-Angst.

»Nein!« – Adele lacht bitter. »Herr von Rodenheim hat immer Glück!« – Sie schlägt die Hände vor das Gesicht und sinkt auf einen Stuhl.

Helwig weiß, daß er jetzt nicht bleiben darf, doch es scheint so hart, so herzlos, die Ärmste zu verlassen, ohne jedes Wort. Er sinnt, wie er diese Begegnung mit Würde beenden könne.

Adele sieht, wie er den Blick zur Seite wendet, und hat nur einen Gedanken; er darf das Glas nicht sehen, um dessen Kelch wie zum Hohn die Legende der Genoveva eingeschnitten ist.

Ihre Finger greifen nach dem schlanken Fuß; sie zittern; die Ringe schlagen klappernd gegen das harte Krystall.

Helwig blickt auf, hinüber. Wie gebannt bleiben seine Blicke auf den feinen Fingern haften; Adele fühlt, sie brennen wie Feuer; sie zieht die Hand zurück. Sein Blick wandert mit ihr; jetzt umfängt er die junge Frau. Immer noch schmiegen sich die cremefarbenen Spitzen weich und duftig um die wundervolle Gestalt; wie ein Bild aus seinem Rahmen, hebt sie sich aus dem farbig dämmernden Raum schmeichelnd umflutet von dem Licht der roten Ampel gerade über ihrem Haupt. Auch die bleichen Wangen schimmern mit warmem Ton unter diesem rosigen Schein, ihre Augen glühen in einem verzehrenden Feuer; sogar die Lippen scheinen zu glühen wie die Rosen an ihrer Brust. –

Und eine wunderbar mächtige Erregung durchbebt den jungen Mann in dem stillen, milddämmernden Raum, allein mit dem Weib, das die Züge seiner ersten Liebe trägt. Mit überwältigender Gewalt zieht es ihn: er möchte vergessen, einmal nur glücklich und jung sein, wie einst. –

Doch – was vergangen, kehrt nicht wieder; was einmal geworden, bildet sich nicht zurück. Es sind nur die Fibern seiner Sinne, die da zuckend beben. – Er zwingt die Blicke fort, sie fallen auf das Glas. Eine wonnige Erleichterung dünkt ihm der kühle Trank für den brennenden Durst, mit dem ihm die heißen Blutwellen die Kehle zuzuschnüren drohen.

Ein Moment, Helwig Kanstedt hat das Glas ergriffen und an die Lippen gesetzt.

Ehe ein Tropfen diese berührt, hat es ihm Adele aus der Hand geschleudert. Es liegt am Boden und sein Inhalt ergießt sich über die bunten Arabesken des Teppichs. Mit dieser Bewegung ist ihre letzte Kraft erschöpft; starr und regungslos liegt sie in den Stuhl zurückgesunken, krampfhaft halten ihre Finger die Lehne umschlungen, ihre Zähne schlagen auf einander.

Mechanisch hat er sich gebückt; er hebt das Glas vom Boden; er weiß nicht warum, doch sieht er hinein, ob es nicht Schaden gelitten. Ein kleiner weißer Rest war ungelöst geblieben und zieht sich als weißer Satz über den roten Krystall. –

Ohne Wort, ohne Laut, nur eine angstvolle Frage im Auge, sieht Helwig Kanstedt Adele an. Ihr aber erscheint er wie der Engel des Gerichts, vor dem kein Leugnen fruchtet, kein Schleier verbirgt.

»Sei barmherzig, Helwig« – sie bricht in die Knie; sie ringt die Hände zu ihm empor: »sei barmherzig; ich that es für – mich – und auch für dich!«

»Mich und dich?« wiederholt er mechanisch fragend. »Was habe ich mit dir, was hast du mit mir zu schaffen?«

»Ich liebe dich!« stammelt sie in alles vergessender Raserei, »und auch du – du hast mich doch – einmal lieb gehabt.« Und sie lehnt den Kopf an seine Kniee, reicht mit den Armen wieder zu ihm empor: »Sei barmherzig; Helwig, ich kann nicht leben ohne dich!«

»Adele!« – Nun klingt ihr seine Stimme, wie die Stimme des Richters am jüngsten Tag: »Wär es möglich.« – – »O nicht, nicht, um Gotteswillen nicht!« – Im Nu ist sie aufgesprungen, hält, wie beschwörend ihre Hände gegen seinen Mund. –

Diese Hände hat er einst geküßt, jetzt faßt er auch ihre Gelenke; er hält sie von sich ab, weit, so weit er reichen kann, streng sieht er Adelen in das Gesicht. Sie windet sich unter diesem Griff, diesem Blick.

Und es durchschauert ihn doch eigentümlich. Nun erst weiß Helwig die ganze Wahrheit. Diese Leidenschaft, die selbst vor dem Verbrechen nicht zurückschreckt – – dann aber mit diesem Schauer zugleich auch weht es ihn an, eiseskalt. Und er fühlt diese Kälte dringen durch alle Poren bis in sein innerstes Mark, sein Blut gerinnen, starr werden wie Eis. Der letzte Schleier, den die Erinnerung zum schmeichelnden Kolorit über seine Gefühle gewoben, zerreißt.

»Adele,« beginnt er, seine Züge scheinen fest und unerschüttert, doch mild und traurig, »armes unglückseliges Weib, doch ich will die Erinnerung ehren an das Bild, das ich einst in dir geliebt. – Es soll ewig unausgesprochen bleiben, was durch eine glückliche Fügung nur ein Vorsatz geblieben ist.

Aber du mußt mich weiter hören: Auch ich habe deinen Gatten gehaßt, damals, als er mir mein Glück nahm. Dann war ich so unedel – ich will es gestehen, eine Genugthuung zu fühlen, als ich sah, wie bettelarm der so Beneidete, trotz seines Reichtums, durch deinen Besitz geworden war. Bald jedoch that er mir leid, denn ich lernte Rodenheim kennen – jetzt im Manöver noch besser als vorher: wir lagen an einem Ort in Quartier. – Und nun, Sie müssen es wissen und von heute ab anerkennen, es steckt ein ganz braver Mensch in Ihrem Gatten. Sie haben nicht das mindeste Recht, auf ihn herabzusehen. Zugegeben, daß seine äußere Erscheinung, seine geistige Begabung nicht außergewöhnliche sind: dann aber auch anerkannt, daß seine Schwächen nur wie der Schatten zu dem Licht in seinem Wesen erscheinen, daß grade ein Mann wie Thilo mit seiner anspruchlosen Biederkeit wie die Achtung der Kameraden so auch das Glück der Häuslichkeit verdient; ja, daß er dieses mit jeder Frau gefunden haben würde, welche ihm mit dem ehrlichen Willen entgegen getreten wäre, das Gute in seinem Wesen zu schätzen, seine herzliche Neigung zu erwidern. – Dann freilich wäre alles anders gekommen; auch er ein anderer geworden, geblieben. –

»Denn, ja, Sie müssen auch das hören, meine gnädige Frau: Ihre Lüge, Ihre Selbstsucht haben Rodenheim um seines Herzens Glück betrogen, um mehr noch als nur dieses gebracht! Nur darum auch sollen Sie es wissen – Thilo ist lässig geworden, auch in seinem Beruf. Man hat es mißliebig bemerkt; seine Konduite ist nicht – gut; seine Arbeit war schlecht; so auch die Führung seines Zuges im Manöver – man ist höheren Ortes unzufrieden mit ihm und besorgt. Es sollte ihm freundschaftlich hinterbracht werden, denn man möchte ihn halten. Er hat das Zeug zum Offizier, außerdem einen guten Namen – mit jedem macht man solche Umstände nicht. Ich habe es auf mich genommen, trag' ich doch auch, ob auch ohne mein Wollen, einen Teil der Schuld an seinem Leid. Ich habe es dem General und dem Oberst versprochen, mit dem Premier zu reden, ihm diesen Freundesdienst zu thun, ihm, der noch keine Ahnung hat, daß er desselben überhaupt bedarf. Darum hatte ich ihn eingeladen heute Abend, – es galt nur einen Appell an seine Männlichkeit, seine Ehre, den Beruf, an dem er doch hängt, wie jeder von uns! Darum, nur darum, meine gnädige Frau, bin ich hergekommen. Mein Kamerad soll nicht zugrunde gehen; kein Mann soll zugrunde gehen – Ihretwegen.«

»Barmherzigkeit, Helwig!« – sie stöhnte jammervoll.

»Adele,« begann er nach einer Weile, »nun wende ich mich an Sie.« Wieder klingt sein Ton milde, gefaßt, er verrät nichts von den mannigfachen Empfindungen, die sein Herz bestürmen, dem Kampf, den es gekostet, die Stunde zu beherrschen. »Ich weiß, das Herz läßt sich nicht zwingen zur Liebe, doch bezwingen in seiner Leidenschaft. Wohlan, erfüllen Sie die Pflichten, die Sie auf sich genommen. Retten Sie Ihren Gatten vor dem Untergang, lassen Sie es sich angelegen sein, daß er sich in seinem Hause – wenigstens behaglich, als Vater seiner Kinder glücklich zu fühlen vermag. Das liegt in Ihrer Hand; das können Sie. Und endlich: schwören Sie mir, daß Ihnen sein Leben heilig ist!«

Sie neigte den Kopf wie vor einer höheren Macht.

»Sie werden diesen Schwur halten. Und ein- für allemal: Adele, was du auch beginnst, es ist vergeblich: ich liebe dich nicht.«

»So liebst du eine andere!« wallte sie auf.

»Dela!« klang es da, noch ehe er hatte Nein sagen können, durch das anstoßende Zimmer aus Rodenheims dahinter liegendem Gemach. Ein Schauer lief der unglücklichen Frau über den Leib; unwillkürlich prallte sie zurück. Helwig aber faßte ihren Arm und führte sie hinein.

»O, nur eine freundliche Hand!« klagte der langsam zum Bewußtsein heraufdämmernde Thilo.

»Herr Kamerad, Sie haben ein Malheur gehabt« – Helwig trat heran, seine Stimme klang ruhig, teilnehmend, doch leicht, wie es klingen sollte. »Ich bins, Hauptmann von Kanstedt.« Das galt dem immer noch erstaunt fassungslosen Ausdruck in Rodenheims Augen und Gesicht, der bewies, daß er doch noch nicht ganz bei der Sache war. »Es wird bald wieder gut sein,« tröstet Helwig; seine Hand umschließt dabei herzlich die des kranken Kameraden; »nur einige Zeit Ruhe. Darum sage ich Ihnen schon wieder Adieu!«

»Vergessen Sie nicht, meine gnädige Frau, nur mit Ihrem Gatten werde ich Ihnen wieder freundlich begegnen: sein Glück allein kann Ihnen meine Achtung wieder gewinnen!« ist sein Abschiedswort an die junge Frau. »Sie wissen, mein Wille ist fest; ich wanke nicht.«

So geht er hinaus.

Adele aber bricht an dem Bett zusammen, ein krampfhaftes Schluchzen schüttelt ihre Gestalt, sie legt den Kopf auf die seidene Decke, sie vermag ihn nicht länger aufrecht zu halten.

»Dela, Dela« – Thilo, so schien es, kam jetzt mehr und mehr zum Bewußtsein. »Dela, hast du mich doch ein bißchen lieb? Und ich Bär, ich plumper, garstiger Bär! – Aber verlaß dich drauf, Dela – du sollst noch Staat mit mir machen – ich bessere mich.«

»Wir wollen Geduld haben,« klang es mühsam durch das Schluchzen hindurch. »Jetzt, um Gotteswillen, mußt du ruhig halten, Thilo!«

»Ja, 's wird gut,« murmelt Rodenheim, »alles wieder gut« – und seine Augen schlossen sich schnell.

Lange noch blieb Adele unbeweglich so, geistesabwesend. Sie merkte es nicht, wie der Herbstwind aus dem nebenan geöffneten Fenster über sie hinstrich, durch das dünne Spitzenkleid hindurch die heiß erregten Glieder erkältete, wie bald in ihrem Körper ein Schauer den andern ablöste.

Am andern Morgen trugen sie Frau von Rodenheim schwer krank von dem Bett des Gatten hinweg, an dem sie die Wache gehalten.

Ganz unbegreiflich schien dem Arzte die geringe Widerstandskraft in dem jugendlich blühenden Körper gegen das verheerende Umsichgreifen der Krankheit. Die immer wieder steigenden Fieber, die selbst die stärksten Palliativmittel nur für kurze Unterbrechungen unter die gefährliche Höhe zu bannen vermochten. Freilich, er hatte ja keine Ahnung, welche Qualen und Kämpfe an den Kräften der jungen Frau gezehrt; – welche Kämpfe und Qualen an den Gluten schürten, die er vergeblich zu mildern strebte. Nach vierzehn Tagen machte der Tod all dem Leiden ein Ende.

Gott war barmherzig gewesen. Denn, ob die junge Frau, der nie jemand ein höheres Ziel gezeigt, die nie jemand angehalten, den sittlichen Willen zu üben, imstande gewesen wäre, den Weg zu gehen, den ihr der Geliebte gezeigt; ob sie nicht doch ihren Gatten nur noch elender gemacht und für sich schließlich – die Erlösung in dem Tode gesucht haben würde, falls diesem nicht der Wahnsinn zuvorgekommen wäre: das wußte eben nur Gott allein. Der Sanitätsrat hatte im stillen für den Verstand seiner Kranken gefürchtet.


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