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Fünftes Kapitel.

Was Mathilden an diesem und an allen folgenden Tagen sehr fehlte, das war Heinrich, der nicht gekommen war. Er hatte erst mit Edgarn, dann allein auf der Schnellpost reisen sollen, aber er schickte nur durch Herrn von Bayer ein Päckchen und folgenden Brief an Alexander:

»Ich soll kommen – ich danke Dir herzlich, mein liebster Bruder, daß Du mir durch diese Einladung zeigst, Du habest Alles, wodurch ich mich gegen Dich verging, vergessen; aber ich nehme sie nicht an. Erstens mag ich nicht mit Edgar in Goczyn sein und mich von seinem kalten Lächeln verspotten lassen, wenn ich glühe; ich würde und dürfte am Ende das jetzt nicht mehr ertragen, und was wäre dann? Ich würde Euch stören und selber keine Freude haben; also ist es besser so. Du wirst bei diesen Aeußerungen Dich mißbilligend äußern; aber ich liebe ihn einmal nicht, um so weniger, seit ich weiß, was er an Dir gethan hat. Du sagtest zwar, er sei nicht Schuld gewesen, aber das ist ein Irrthum Deiner Seele, Alexander; er muß Cornelia verlockt haben, denn es ist nicht möglich, daß ein Mädchen freiwillig von Dir, Du schöner, herrlicher Mann, ab- und ihm, dem Steinkalten, zufallen sollte. Ich habe Euch in Gedanken hundertmal neben einander gestellt – was ist er, mit Dir verglichen? Es ist wahr, er sieht Dir ähnlich, aber nur wie ein schlechter Steindruck von einem Gemälde einem Stahlstiche desselben gleicht. Noch einmal, es ist nicht möglich, und Du kannst weder ihn bei mir entschuldigen, noch mir den Widerwillen nehmen, den ich gegen sein Wesen habe.

Und dann – warum es auch besser ist, daß ich nicht komme – was würde Mathilde wieder aus mir machen? Ich weiß am Besten, was ich war, als ich mich losriß, und noch die Wochen nachher – das darf nicht wieder sein; ich bin jetzt kein Knabe mehr. Im Frühjahr will ich kommen; dann werde ich hoffentlich schon stärker sein und nicht mehr wie Wachs vor dem Sonnenleuchten ihrer Augen. Jetzt küsse sie einmal in meinem Namen, meinen, Deinen Engel; denn das ist sie. Hörst Du, vergiß nicht, sie für mich zu küssen; ich weiß sie so gern in Deinem Arm und jetzt auch so sicher an Deinem Herzen! Ja, sie wird glücklich sein mit Dir; schon als Dein Schützling unter Deinen Augen zu stehen, macht glücklich; habe ich das nicht gefühlt? Das Päckchen enthält meinen Weihnachten für sie: Pelzstiefelchen und Pelzhandschuhe; die rechte Kälte wird erst kommen, deshalb dieses vernünftige Geschenk. Lebe wohl, mein edler Bruder und Herr; es liebt Keiner Dich so um Deiner Seele willen, als

Heinrich von Aarhausen

Mathilden erklärte Heinrich sein Nichtkommen nicht ganz so offen; er schrieb an sie:

»Wenn Du diesen Brief liesest, meine süße Schwester, sind viele Andere bei Dir, und ich bin Dir fern; doch hoffe ich mit Gewißheit, Du werdest meiner über die Anderen nicht vergessen. Ich werde den heiligen Abend ganz einsam verleben; wenn Du da nicht meiner gedächtest, wäre ich ja wie verlassen, und das wirst Du, meine süße Schwester, nicht wollen.

Ich hätte bei Dir sein können, das weiß ich wol, und es ist mein freier Wille, daß ich es nicht bin; aber Du würdest mir sehr Unrecht thun, wenn Du daraus schlössest, daß ich nicht herzliche Sehnsucht nach Euch hätte. Wahrlich, daran fehlt es in meinem Herzen zu keiner Stunde; ja, es ist oft mehr davon da, als für Ruhe gut ist. Aber ich würde wieder ganz aus meinen Arbeiten herauskommen, und habe durch meine Krankheit, so wie durch die Zeit, die mir nöthig war, um wieder gesund zu werden, so viel versäumt, daß ich fleißiger sein muß, als jeder Andere, das ist der Grund, warum ich nicht komme, und ich hoffe, Du wirst ihn triftig und vernünftig finden.

Weißt Du wol noch, wie Du mich auslachtest, als ich von Deinem Fuß und Deiner Hand das Maaß nahm? Mache nun das Päckchen auf, welches bei diesem Briefe liegt, und Du wirst sehen, warum ich es that. In den Stiefelchen kannst Du durch den tiefsten Schnee gehen, es dringt keine Nässe durch, und in diesen Handschuhen sollen Deine Finger gar nicht wissen, daß es Winter ist. Ihr glücklichen Handschuhe! Und wenn ich Dich auf dem Kanale zu Schlitten fahren könnte! Es müßte herrlich gehen, so still, so geschützt vor dem Winde, und das schöne Eis, das es diesen Winter giebt! Doch es läßt sich nicht thun; Alexander mag Dich fahren.

Die kleinen Chokolade-Figuren sind halb für Dich, halb für die Kinder, die ich herzlich grüßen lasse, so wie ich mich Deiner Mutter zu Gnaden und Herrn Altheim freundschaftlich empfehle. Damit die Kinder sehen, daß ich keines von ihnen vergessen habe, was nicht zu thun, ich ihnen im Sommer feierlich versprach, habe ich jeden Namen auf ein Zettelchen geschrieben. Eintheilen magst Du, süße Schwester, nur gieb Wilhelm ein Stück mehr, weil er auch ein Forstmann werden will. Gott segne Dich!«

Auf das Päckchen war die Bitte geschrieben, es nebst dem Briefe Mathilden erst am Weihnachtsabende einzubescheeren; vorläufig brachte Herr von Bayer ihr nur einen Gruß, und von Alexander empfing sie den ihm aufgetragenen Kuß. Sie schmollte; denn sie hatte sich darauf gefreut, mit Heinrich den Weihnachtsbaum für ihre Geschwister auszuputzen, und nun lagen all' die vergoldeten Früchte und zierlich aufgereihten Näschereien um den grünen Baum her, und Heinrich war nicht da, um zu bewundern. Daß Hortense sich erbot, ihr zu helfen, störte sie noch mehr; sie konnte mit den fremden Frauen noch nicht natürlich sein, und war daher ungern allein mit ihnen, Doch war kein Vorwand, Hortensens Anerbieten abzulehnen, und am nächsten Morgen saßen Beide wirklich in dem großen, alterhümlichen Saale, der am Abende von den Lichtern der Bescheerung erhellt werden sollte.

Zwei junge Frauen sind höchst selten nicht Nebenbuhlerinnen, und es war kein anderes Gefühl, mit dem Mathilde die Räthin betrachtete, obwol sie es nur dunkel, nur als eine peinliche Regung empfand. Sie fand Hortense so schön, daß sie sich häßlich vorkam, und doch war sie nur anders als Hortense, aber sie verstand es noch nicht, schön zu sein, und dieses Verständniß ist oft mehr als die Schönheit selbst. Hortense verstand es, und die Berechnung war ihr schon so zur Natur geworden, daß selbst in der Art, mit welcher sie die Zwirnschlingen an die Stiele der Aepfel befestigte, Kunst lag. Sie war, wenn auch nicht sehr groß, doch groß genug, um den Eindruck einer hohen Gestalt zu machen; daß sie schlank war, versteht sich von selbst, da sie Edgarn gefallen hatte. Jetzt saß sie an dem großen Tische, und ihr Morgenmantel von dunkler Seide fiel in leichten Falten auf die Erde und vorn auseinander, so daß er das weiße Unterkleid und den schmalen Fuß sehen ließ. Ein faltiges Hemdchen verbarg, daß dem sanftgeneigten Halse die Fülle fehle; ein Halbhäubchen mit Rosa-Schleifen umschloß das reiche dunkelblonde Haar, das sich auf der gedankenvollen Stirne nachläßig scheitelte. Der feine Mund war halbschmerzlich geschlossen; die durchsichtigen Hände bewegten sich lässig, als wären sie müde und würden bald in den Schooß sinken. Mathilde sah dies Alles und seufzte. Sie hatte nur schwaches, wenn auch seidenweiches Haar, und dachte: »wenn ich mir doch eine solche Flechte machen könnte!« Dann meinte sie: »sie ist ganz eine Erscheinung, wie die Dichter sie schildern; ob ihr Mann sie wol so lieben mag, als ich geliebt sein möchte?« Dann fiel ihr, sie wußte selbst nicht wie, ein, wie Hortense wol Edgarn gefallen möge, dem, nach Alexander, so selten eine Frau gefallen sollte. Sie hatte das noch nicht ausgedacht, als Hortense die schmachtenden Augen, welche zu denen gehörten, deren Farbe man nie mit Gewißheit bestimmen kann, erhob, sie einige Augenblicke im Saale umherschweifen ließ und dann langsam auf Mathilde richtete. Auch ihr Blick war ein prüfender; sie hatte die junge Frau gestern nur bei Lichte gesehen und die Frische ihrer Haut für eine Wirkung der Beleuchtung gehalten; aber heute mußte sie sich gestehen, daß sie nicht bald eine so reine, rosige Jugend gesehen habe. Auch Mathildens Züge mußte sie, wenn gleich nicht regelmäßig, doch fein und lieblich und ihre Augen wunderschön finden. Sie konnte sich einer leisen Unruhe nicht erwehren; doch verrieth ihr Blick nichts davon, und mit dem freundlichsten Lächeln sagte sie, indem sie nochmals umherblickte: »Dieser Saal ist ein verzauberter Raum; man fühlt sich um mehrere Jahrhunderte zurückversetzt und kann sich der Erwartung nicht erwehren, es werde im nächsten Augenblick eine geisterhafte Erscheinung zu der dunklen Thür hereintreten.«

»Und doch haben Sie noch nicht den alterthümlichsten Theil gesehen,« sagte Mathilde; »die Rüstkammern, die Stuben mit Gittern und Fallthüren in die Keller, die Gefängnisse unten und endlich den Ahnensaal.«

»O, von dem hab' ich schon sehr viel gehört;« rief Hortense; »ich muß auch herausfinden können, wo er liegt; – lassen Sie sehen – ganz Recht, dort gegenüber liegt er.«

»Ja,« antwortete Mathilde; »Sie sind darunter weggefahren.«

»Und er nimmt jene Seite ganz ein, nicht wahr?« fragte Hortense, »so daß er zwei Reihen Fenster hat«

»So ist es,« erwiederte Mathilde. »Es ist schauerlich schön, wenn eine dunkle Nacht zu den vielen Fenstern hineinsieht.«

»Ja, Edgar hat mir das Alles beschrieben,« sagte Hortense. »Er sagt, wenn man in der Dämmerung zu dem einen Ende hineinträte, sähe man kaum bis an das andere.«

»Bis an das andere Ende?« wiederholte Mathilde; »kaum bis in die Mitte, und das selbst bei Fackellicht. Sie können es sich auch leicht denken; der Saal ist viermal so lang als dieser.«

»Ich muß ihn bei Fackellicht sehen,« sagte Hortense; »doch ist seine Nachbarschaft Ihnen nicht etwas unheimlich?« Mathilde verneinte das; Hortense fuhr fort: »mir haben solche im Viereck gebaute Schlösser immer etwas Schauerliches; es ist, als könne man aus ihnen gar nicht mehr entfliehen, weil sie Einen von allen Seiten einschließen.«

»Ich will aber gar nicht aus diesem entfliehen,« sagte Mathilde lächelnd.

»Aber in den ersten Tagen – war Ihnen da nicht etwas bange darin?«

»Nein; es hat gleich etwas Heimathliches für mich gehabt.«

»Oder jetzt, im Schnee? Es ist doch ungewöhnlich einsam hier.«

»Ich bin an Einsamkeit gewöhnt.«

»Sie haben viel auf dem Lande gelebt.«

»Immer, außer einem halben Jahre, welches wir in der Residenz zubrachten, meines ältesten Bruders wegen, der ein Augenübel hatte. Aber selbst da lebten wir so eingezogen, daß es eben so war, als wären wir auf dem Lande gewesen.«

»Sehnen Sie sich denn nie nach einem bewegteren Leben?«

»Ich würd' es vielleicht, wenn ich nicht zu schüchtern wäre.«

»Sie meinen doch nicht, daß Sie sich in der Welt fürchten würden?«

»Das würd' ich ganz gewiß, so kindisch ich Ihnen bei diesem Geständniß auch erscheinen mag.«

»Aber diese Scheu würden Sie in wenig Wochen überwunden haben.«

»Ich glaube das nicht, am wenigsten so schnell; vielleicht in Jahren – ja.«

»Und so wollen Sie Ihr ganzes Leben in dieser feierlichen Einsamkeit hinbringen?«

»Wollen kann in dieser Hinsicht nur mein Mann;« sagte Mathilde lächelnd. »Will er mich in die Welt einführen, so mag er es auf seine Gefahr hin thun – ich habe dann nichts zu verantworten. Doch ich glaube, er wird mich erst noch ein wenig mehr erziehen wollen, eh' er es wagt.«

»Sie lesen viel?« fragte Hortense. Mathilde antwortete bejahend, und Hortense fragte weiter: »was für Bücher?« Mathilde nannte sie, und Hortense wunderte sich, daß sie lauter so ernsthafte wähle. »Warum lesen Sie denn nicht französische Sachen?« fragte sie; »die neue französische Literatur ist so reich an herrlichen Romanen,« und sie zählte die berühmtesten Namen im Gebiete des Romans und der Dichtung her.

»Ich kenne die meisten,« antwortete Mathilde, »und die Gedichte les' ich auch mit stets neuem Vergnügen, aber die Romane hab' ich aufgegeben.«

»Sie gefielen Ihnen nicht?« fragte Hortense.

»Im Gegentheile, sie gefielen mir zu gut.«

»Das ist ein Vorwurf, den ich Büchern noch nie machen hörte.«

»Sollten also nur mir welche gefährlich sein?«

»Gefährlich? Der Gefahr wegen haben Sie die französischen Romane aufgegeben?«

»Sie spotten über mich; aber ich kann nicht anders, als gestehen, daß die Sprache der Leidenschaft, die in ihnen geredet wird, mir gefährlich vorkommt, und zwar um so gefährlicher, je mächtiger sie uns anspricht.«

»Sie hätten Recht, wenn Sie noch Mädchen wären; aber jetzt als Frau –«

»Sollte das einen Unterschied machen? Ich finde es nicht; mich reißt eine Schilderung leidenschaftlicher Verhältnisse noch eben so hin, als vor sechs Monaten.«

»Nun so lassen Sie sich hinreißen, was schadet es?«

»Was es schadet? Daß ich mich nicht wieder in die Wirklichkeit finden würde, wenn ich einmal daraus fortgerissen wäre.«

»Wenn ich Sie recht verstehe, so machen Sie den Romanen zum Vorwurf, daß sie uns nur ein geträumtes Leben schildern?«

»Ist dem nicht so? Ich wenigstens habe das wirkliche Leben immer ganz anders gefunden.«

Mathilde konnte diese Worte nicht sagen, ohne daß ihre Stimme traurig wurde und ein Schatten über ihr blühendes Gesicht streifte. Hortense bemerkte es und dachte: »sie ist nicht glücklich.« Mathilde schien zu fühlen, daß ihre stillen Gedanken sich auf ihrem Gesichte ausdrückten, denn sie stand auf und fing an die Aepfel an den Baum zu hängen, eine Beschäftigung, die ihr erlaubte, sich von Hortensen abzuwenden. Diese war sitzen geblieben und nahm nach einer Pause von einigen Augenblicken das Gespräch wieder auf.

»Sie haben, wie es scheint, immer nur in einem beschränkten und unveränderlichen Kreise gelebt,« sagte sie, »und so war es natürlich, daß die Begebenheiten, von denen Sie lasen, Ihnen unwahr, ja – blos erträumt erschienen. Werfen Sie aber nur wenig Blicke in die Welt, und Sie werden nicht länger glauben, daß Romane – nur Romane seien.«

»Wie?« fragte Mathilde, »was ich las, wäre wirklich?«

»Nur zu sehr.«

»Es giebt im täglichen Leben solche Verhältnisse? solche Leidenschaften? solche –«

»Solche Verirrungen? – Wollen Sie das sagen? Ja, es giebt dieses Alles; die Dichter haben Ihnen Wahrheit gesagt; die Sehnsucht, die Liebe, der Schmerz, der Wahnsinn, wovon sie Ihnen erzählten, das Alles ist lebendig; sie hatten es aus dem Munde der Menschen, wenn sie jauchzten oder schrieen; ein Dichter kann nicht schildern, was nicht gewesen ist.«

»Es giebt solche Liebe!« lispelte Mathilde vor sich hin.

»Ja, es giebt solche Liebe, die selig macht, wenn sie rein, und verzweifeln läßt, wenn sie schuldig ist,« sagte Hortense, indem auch sie vor sich niederstarrte; »ich weiß es.«

Hortense glich einer Sonnenblume; es drängte sie, sich im Lichte zu zeigen, selbst wenn der Schatten ihr günstiger gewesen wäre. Wir wissen, daß sie Edgarn mit wahrer Leidenschaft liebte; eben so war das Gefühl ihrer Reue nicht erkünstelt; aber weder ihre Liebe noch ihre Reue hätte sie verbergen können; sie mußte sich in diesen Gefühlen zeigen, sie mußte die schuldige Frau spielen und die Blicke eines jungen Gecken es errathen lassen, daß in den Augen, welche er bewunderte, Thränen geschimmert hätten. So kam es, daß die ganze Welt um ihr Geheimniß wußte, und daß der Ton, in welchem sie die letzten Worte sprach, fast eben so gut als ein Geständniß war.

Mathilde wenigstens hatte ihn verstanden. Wie Hortense vorhin von ihr gedacht hatte: »sie ist nicht glücklich!« so dachte sie jetzt von Hortensen: »sie liebt; sie ist schuldig.« Ein glühendes Erröthen überfloß ihr Gesicht bei diesem ihr noch ganz neuen Gedanken; verstohlen blickte sie auf Hortense; diese saß noch immer mit gesenkten Augen und gefalteten Händen in der Stellung des schmerzlichsten Nachdenkens. Jetzt hörte man in dem Gange, der zu dem Saale führte, langsame Schritte; Hortense fuhr in die Höhe und horchte den Schritten entgegen; ein glühendes Erröthen loderte auch in ihrem Gesichte auf; die Thür öffnete sich, Edgar trat ein, Mathilde warf einen zweiten Blick auf Hortense. »Er ist es!« dachte sie.

Edgar hatte einen zu scharfen Blick, als daß er nicht gesehen hätte, daß hier etwas vorgegangen sei. Eben so kannte er Hortense zu gut, als daß er nicht errathen hätte, sie habe sich wieder einmal in ihrem poetischen Schmerze gezeigt. Der Bitte seines Bruders eingedenk, wollte wenigstens er Mathilde zu täuschen versuchen, begrüßte Hortense nur mit gleichgültiger Höflichkeit und wandte sich dann ganz zu seiner Schwägerin, mit der er eine Unterhaltung anknüpfte, wie er sie aus Artigkeit mit der vierzehnjährigen Tochter eines befreundeten Hauses geführt haben würde.

Mathilde hatte in den wenigen Minuten, die Hortensens Unterricht gedauert, noch nicht gelernt, seine Verstellung als solche zu erkennen, sie hielt sie für Wahrheit und dachte: »aber er liebt sie nicht.« Ein tiefes Mitleiden mit Hortensen, eine peinliche Angst vor solchem Weh, und das Erstaunen darüber, daß ein solches Verhältniß möglich, ja, ihr ganz nahe sei, das Alles wirrte und schwirrte in ihrem Kopfe so betäubend durch einander, daß sie Edgar's Worte nur wie im Traume hörte und beantwortete, und nur den Wunsch, allein zu sein, deutlich empfand. Dazu kam, daß Hortense seit Edgars Eintritt natürlich alle Gedanken für ihre Beschäftigung verloren hatte und, nur mechanisch dem Beispiele Mathildens folgend, anfing, die Sachen in der größten Unordnung an den Baum zu hängen, so daß Mathilde ihr ganzes Werk verdorben sah und doch nicht wagte, einen Tadel oder eine Bitte um mehr Sorgfalt auszusprechen. Glücklicher Weise konnte auch Hortense den Zwang, den Edgar sich und ihr aufzuerlegen nöthig fand, nicht lange aushalten, warf plötzlich das Zuckerwerk auf den Tisch, erklärte: der Geruch des Baumes habe sie allmälich so betäubt, daß sie nicht einen Augenblick länger hier bleiben könne, ohne ohnmächtig zu werden, und verließ den Saal, indem sie Edgar durch einen Blick befahl, ihr zu folgen.

Er stand noch und überlegte, wie er das wol anfangen solle, als Mathilde sich von dem Baume ab und zu ihm wandte. In dem Glauben, sie wolle ihn auffordern, ihr zu helfen, nahm er die Zuckersachen, die Hortense hingeworfen, auf und trat zu Mathilden, um sie ihr zu reichen. Mathilde nahm sie und hing sie an; er stand neben ihr und sah der geschickten Bewegung ihrer Finger zwischen den spitzen Nadeln zu. Sie suchte jetzt ein Netz von Papier loszumachen, welches Hortense schief angehängt und dabei ganz zerdrückt hatte. »Ihre Gehülfin hat Ihnen wenig geholfen;« sagte Edgar lächelnd. »Es ist ein langweiliges Geschäft,« antwortete Mathilde; »auch für Sie muß es langweilig sein, mir zuzusehen.« – »Das heißt mit anderen Worten: ich soll gehen?« fragte er, erfreut, daß sie es ihm so leicht machte; »nun, ich erkenne zu sehr die Gewalt der Hausherrin an, um nicht zu gehorchen;« und ihr artig die Hand küssend, folgte er Hortensen.

Mathilde sah ihm einen Augenblick nach; dann trat sie von dem Baume zurück, faltete die Hände und senkte den Kopf, um mit den Lippen auf den Händen ruhen zu können. Ihre Gedanken sammelten sich allmälich, sie verstand, was sie empfand; es war Sehnsucht, neue, brennende Sehnsucht nach der Liebe, von der sie nun wußte, daß sie zu finden sei; Sehnsucht, die nun nie mehr erlöschen sollte. Die Stimme ihres Herzens war von der Stimme der Erfahrung bestätigt worden; Mathilde durfte nicht länger zu ihr sagen: »schweige, Du lügst;« sie mußte sie hören und hörte von ihr: daß der Frieden, einmal verloren, nie wiedergefunden werde.

»Es giebt solche Liebe;« wiederholte sie, indem sie die noch immer gefalteten Hände heruntersinken ließ, aber den Kopf nicht erhob; »o, warum hat sie mir's gesagt! Sie liebt und ist unglücklich, denn Edgar liebt sie nicht. Und Alexander liebt mich nicht, und meine Sehnsucht wird mich verzehren. Oder liebt Heinrich mich? – Ja, wie eine Schwester. Gott, meine Ruhe, mein heiteres Verzichtthum, das ist nun hin. Und das Alles durch ein Wort! Hätte sie geschwiegen! O, mein Gott, laß mich nicht strafbar werden durch Murren!«

Sie blickte auf den Baum, der frisch und festlich vor ihr stand. Die Sonne schien in seine grünen Zweige und verwandelte den Staub, den ihre Strahlen aus dem alten Holzwerke des Saales hervorlockten, in goldenen Duft. Mathilde fühlte sich von der Stille ihrer Kindheit umfangen. Die Weihnachtsbäume, welche ihre Mutter einst für sie ausgeschmückt hatte, schienen sich wieder zu entzünden. Sie hörte die Stimme ihres zärtlichen Vaters und die liebevollen Ermahnungen ihres Lehrers.

Fromme Sprüche, die sie damals gelernt, kamen auf ihre Lippen, ihr Glaube tauchte aus den stürmisch bewegten Wogen ihres Herzens wie ein lichter Schwan auf, vor dem diese Wogen niedersanken; sie drückte ihre Hände gegen die Brust, sagte leise: »denen, die Gott lieb hat, müssen alle Dinge zum Besten dienen;« und noch einmal hatte ihre Seele aller Verlockung obgesiegt.

Aber sie konnte ihre Augen nicht schließen und ihre warme Jugend nicht in kaltes Alter verwandeln. So sorgfältig auch Edgar um Alexanders Willen im Anfange es vermied, sich in ihrer Gegenwart Hortensen zu nähern, so wenig konnte Hortense sich bezwingen, und ebenso wenig war es zu vermeiden, daß Mathilde die boshaften Anmerkungen hörte, welche nicht zu machen Herrn von Bayer unmöglich gewesen wäre. Endlich ließ auch Edgar sich gehen, da, wie er sagte, mehr als Einfalt dazu gehöre, daß Mathilde noch nichts gemerkt haben solle, und so war sie der Gefahr, das nun völlig erkannte Verhältniß zu sehen, täglich ohne irgend einen Schutz ausgesetzt; denn Alexander beschäftigte sich jetzt natürlich weit mehr mit den Gästen als mit ihr, und die Gesellschaft ihrer Mutter war für sie Alles eher, als eine Zerstreuung. Von Vertrauen zu dieser war gar nicht die Rede, und auch mit Alexandern wagte sie nicht zu sprechen; denn ihrem reinen Gefühle nach war es schon Schuld, um etwas so Unheiliges zu wissen. Sie konnte also nichts, als mit sich selber streiten und so viel als möglich die gefährliche Nähe jener Beiden scheuen.

Von ihren Gästen wurde Mathilde sehr verschieden beurtheilt. Hortense sagte: sie sei ein gutes, hübsches, aber völlig unbedeutendes Kind; Frau von Bayer fand sie sehr hübsch und lieblich in ihrer Bescheidenheit, traute ihr aber auch nicht allzuviel Geist zu; Herr von Bayer versicherte mit so viel Eifer, als sich mit seiner Behaglichkeit vertrug, daß beide Damen sich irrten. »Sie haben sich nur nicht die Mühe gegeben, sie aus ihrer Schüchternheit herauszulocken,« sagte er; »sonst würden Sie eben so gut als ich entdeckt haben, daß die kleine Frau nicht nur Verstand, sondern selbst Geist hat. Lassen wir sie nur ein Jahr in der Welt leben, und Sie sollen sehen, daß sie es selbst mit Ihnen aufnimmt, obgleich ich kaum wünschen möchte, daß sie Gelegenheit bekäme, sich zu entwickeln. Ich finde sie, gerade so wie sie ist, gar zu liebenswürdig.«

»Seit wann haben Sie denn Geschmack für das Kindliche bekommen?« fragte Hortense.

»Wenn ich es gestehen darf,« erwiderte Herr von Bayer mit einem komischen Seitenblick auf seine Frau, »erst seit ich die kleine Frau kenne. Aber was meinen Sie denn von ihr?« fragte er, indem er sich zu Edgarn wandte.

»Ich finde, daß sie beinahe schön wird,« antwortete dieser; »was aber ihren Geist betrifft, da bin ich so ziemlich der Ansicht der Damen.«

Doch änderte die Ansicht Edgars sich sehr bald. Es war an einem Abend die Lesung von Goethe's Tasso beschlossen worden. Hortense übernahm die Prinzessin, Frau von Bayer Leonore Sanvitale, ihr Mann den Antonio, Alexander den Herzog, Edgar endlich den Dichter. Mathilde hatte noch nie in Rollen lesen hören; wol aber hatte Alexander ihr das Stück vorgelesen, und sie bedauerte nun, daß nicht ihm, sondern dem kalten Edgar die Rolle Tasso's zugefallen sei. Doch bedurfte es nur der ersten Worte, welche Edgar sprach, um ihre ganze Seele zu erregen und sie völlig vergessen zu machen, daß sie diese Worte schon von einem Andern gehört hatte.

In der That besaß Edgar den gefährlichen Zauber einer ausdrucksvollen Stimme im höchsten Maße. Selbst im gewöhnlichen Leben wurde das Unbedeutende, wenn er es sagte, bedeutend; ein Gedicht aber bekam durch ihn einen ganz neuen Zauber. Tasso nun war außer Faust und Byrons Manfred sein Lieblingswerk, und seine Lippen öffneten sich zu Tönen, von denen Mathilde nicht einmal geträumt hatte. Stumm, athemlos, Alles außer dem Hören vergessend, saß sie da und wachte erst, als Edgar nach den Schlußworten schon einige Augenblicke geschwiegen hatte, aus ihrer Bezauberung auf. Sie fühlte jetzt, daß ihr Gesicht mit Thränen bedeckt sei, und stand rasch auf, um sie zu verbergen. Edgar hatte, da sie im Schatten saß, ihre Züge nicht beobachten können, und doch wünschte er, sonderbar genug, lebhaft zu wissen, welchen Eindruck er bei diesem, wie er meinte, einfachen Wesen hervorgebracht habe. Er sah, daß sie etwas zu verbergen wünschte, er konnte seiner Neugier nicht widerstehen und trat langsam an ihre Seite. Sie hatte sich die Thränen hastig abgetrocknet, aber Edgar bedurfte nur eines Blickes. Sie wandte sich zu den Uebrigen und schmiegte sich an Alexander, was sie bisher noch nie in Gegenwart von Andern gethan hatte.

Edgar trat zu Hortensen und fragte: »Haben Sie die Prinzessin nicht etwas zu leidenschaftlich genommen? Ich weiß nicht, – aber mir erschien sie heute, wie getrübt.«


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