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Neuntes Kapitel.

Heinrich hatte auch nicht Gelegenheit, seine Frage zu wiederholen; die folgenden Tage wurden so ausgefüllt, daß zu einem Gespräche wie das erste zwischen den beiden jungen Leuten nicht eine Viertelstunde blieb. Alle Bekannten Alexanders waren so neugierig, auch seine Frau kennen zu lernen, daß eine wirkliche Kette von Einladungen Beide in einen Wirbel von Geselligkeit hineinzog, der für Mathilde eben so neu als unterhaltend war. Sie gewöhnte sich überraschend schnell daran, täglich eine neue Bekanntschaft zu machen; die Schüchternheit, von der sie früher Hortensen versichert hatte, sie würde sie empfinden, hätte nur in ihrer Einbildung gelegen, in der Wirklichkeit fühlte sie recht gut, wie leicht es sich als hübsche junge Frau auftrete, besonders an der Seite eines Mannes, wie Alexander. Und wie es beinahe immer geschieht, machte sie denselben Eindruck, den sie von Allem empfing, ihre Natürlichkeit, welche durch Alexander nach allen geselligen Anforderungen fein und glücklich ausgebildet worden war, ihre frische Jugend sprachen allgemein an, und man beeiferte sich ihr dieses zu zeigen.

Edgar war bei der Ankunft des Ehepaars auf dem Lande gewesen, und da auch er hatte überrascht werden sollen, so war ihm keine Botschaft geschickt worden, und er kam erst nach einigen Tagen herein und hatte wirklich die froheste Ueberraschung. »Es ist mir, als würde es jetzt erst wirklich Frühling,« sagte er zu Mathilden, und er übertrieb nicht; ein unbeschreibliches Wohlgefühl ergriff ihn in ihrer sanften Nähe; aber eben um dieses recht zu genießen, blieb er still und nahm meistens nur mit dem Blick an dem Leben Theil, in welchem Mathilde sich so anmuthig bewegte.

Diese entwickelte mit einemmale die liebenswürdigste, aber auch gefährlichste Fähigkeit der Frauen, unter Vielen Jedem scheinbar das Meiste zu geben. Indem sie dem Freunde, welcher krank gewesen war, mit der zartesten Sorgfalt begegnete, wußte sie dem Freunde, welcher eifersüchtig gewesen, jedes Recht zu diesem Gefühle zu nehmen, und fehlte zugleich nie in der Aufmerksamkeit gegen die neuen Bekannten. Und bei diesem Allen behielt sie doch noch Zeit, alles Merkwürdige zu sehen, und zwar nicht nur oberflächlich, sondern mit Lust und Nutzen zu sehen. Alexander hatte ihr zwar eine vorbereitende Übersicht gegeben: dennoch konnte nur eine so vollkommene Gesundheit so viel neue Eindrücke empfangen und ganz frisch dabei bleiben. Die beiden Schwäger nahmen, Jeder nach seinen Kenntnissen, an Mathildens Schauen und Lernen Theil; wenn Heinrich sie in die Kunstsammlungen begleitete und ihr die Gegenstände derselben erklärte und bewundern half: so war Edgar in der Oper an ihrer Seite und machte sie auf jede Schönheit aufmerksam. Sie bedurfte seiner mehr, als Heinrichs; ihr Blick war durch glückliches Selbstzeichnen mehr geübt worden, als ihr Ohr, welches besonders an zusammengesetzte Musik noch gar nicht gewöhnt, erst einiger Abende bedurfte, um dasjenige, was es hörte, ganz zu verstehen. Als sie es aber erst dahin gebracht hatte, den Melodieen mit Leichtigkeit zu folgen, konnte sie sich vorzüglich an italienischer Musik nicht mehr sättigen und sah so auch mit erwartungsvoller Ungeduld dem Abend entgegen, an welchem sie Bellini's Capuleti und Montechi und, was noch mehr war, die Schröder-Devrient als Romeo hören sollte.

Hortense war mit Edgar zugleich in die Stadt gekommen und auch nicht wieder auf das Land zurückgekehrt, so daß sie natürlich in dem Kreise der Bekannten nicht fehlte, vielmehr sich immer zu dem Ausschuß zu zählen schien. Auch heute erwartete sie bei Frau von Bayer, daß Alexander vorfahre, um sie, so wie Herrn und Frau von Bayer, in die Oper mitzunehmen.

Alle drei warteten schon etwas, da hörten sie endlich den Wagen; aber als sie, Johann entgegen, hinuntergingen, fanden sie nur Mathilde, welche mit traurigem Gesichte sagte: »Alexander kann nicht kommen. Er hat einen Brief von dem Pächter erhalten; in Siemianice ist das Vorwerk abgebrannt, und wir müssen morgen nach Hause und ganz früh abreisen, weswegen Alexander noch heute einige Geschäfte abthun muß.«

Aeußerungen des Bedauerns über die Abreise, welche nur von Hortensen nicht aufrichtig waren, unterbrachen sie. Herr von Bayer fragte außerdem theilnehmend nach Größe und Veranlassung des Schadens. Mathilde wußte nichts Näheres; der Brief war eben angekommen, als sie in den Wagen hatten steigen wollen, und Alexander hatte ihn flüchtig durchlaufen und ihr dann gesagt, zu fahren, da er nicht wünschte, daß sie diese letzte Oper versäume. Mathilde aber fuhr nun ohne Freude hin; sie hatte selbst Mühe, nicht zu weinen, und als sie in die Loge trat, wo Edgar und Heinrich schon waren, wurde der erste Blick Beider eine besorgte Frage. Mit wenig Worten erzählte sie ihnen, was vorgefallen, und bat Heinrich, sogleich zu Alexandern zu gehen; dieser habe es gewünscht. Heinrich verließ augenblicklich die Loge; die Andern eilten sich zu setzen, da die Musik bereits begann. Bald erschien nun die herrliche Künstlerin als der Jüngling, der bis zum Tode lieben wird. Doch die köstlich gesungenen Töne hatten keine Macht über Mathilde; sie wurde nur noch trauriger, und der wilde Schmerz Romeo's, als Giulietta von Ehre spricht, während er mit stehenden Liebesbitten vor ihr liegt, fand einen schneidenden Niederhalt in diesem Herzen, welches in dem ersten Krampfe der Leidenschaft ohnmächtig zuckte. »Hier könnten die Männer lieben lernen,« sagte Hortense halb bitter, als der Vorhang zum erstenmale fiel. Mathilde antwortete nicht, sie suchte sich zu fassen und dankte mechanisch einigen Bekannten, die sie grüßten. In diesem Augenblicke neigte Edgar sich zu ihrem Ohre und flüsterte: »Die Tage, die wir noch zusammen verleben wollten, sollen nicht mit verbrannt sein; sobald ich Urlaub bekomme, folge ich Ihnen nach Goczyn.«

Wenn es jemals Zauberworte gab, welche blutende Wunden schließen konnten, so gehörten diese dazu. Ein helles Roth, das glühende verrätherische Morgenroth eines innen anbrechenden Tages der Liebe entstand plötzlich auf Mathildens blassem Gesichte. Edgar konnte diese Veränderung nicht sehen, da Mathilde den Kopf nicht nach ihm umwandte, nur freudig neigte; aber Hortense sah sie, und Hortensens Gesicht veränderte sich zum Erschrecken. Edgar hatte sich zu Herrn von Bayer gewandt; Frau von Bayer suchte ihre Schwester, die auch im Hause sein mußte, und so konnte Mathilde stumm und selig vor sich hinblicken; denn daß Hortense nicht sprach, wird Niemand bezweifeln. Die Musik erweckte Mathilden; sie hörte sie jetzt ganz anders; die Töne fielen wie Funken in ihr Blut, und das Herz schlug ihr immer ungestümer. Da kam endlich die Melodie, welche die Worte der Liebenden »wenn alle Hoffnung uns denn entrissen« wie auf Feuerflügeln über das Toben umher emporträgt; wild hielt Romeo Guiletta'n umschlungen, die Liebe drängte sie zusammen, der Haß riß sie aus einander; Haß und Liebe kämpften in furchtbarer Schönheit; die Töne wurden ein Meer von Gluth; plötzlich löschte es aus. Noch geblendet wandte Mathilde sich um und sah Edgarn an; es war ihr, als rissen tausend Ketten sie an seine Brust; er sah sie auch an, das traf sie wie ein Blitz; das Dämmern in ihrer Seele war plötzlich von brennendem Licht erhellt – sie wußte, daß sie ihn liebte.

Mit einem ungeheuern Stolz, auch der Sieger dieser Frau zu sein, blickte er sie einen Augenblick an, dann stand mit einemmale Alexander vor ihm, sein Auge wurde kalt, finster wie ein Abgrund; Mathilde sah hinein; Todeskälte folgte dem glühenden Leben, Todesblässe dem herrlichen Roth; sie wandte sich ab – »er liebt mich nicht!« klang es dumpf in ihrer Seele; Hortense sah sie mit Triumph an, sie bemerkte es nicht; der dritte Aufzug begann und schloß; sie hörte nur wie im Traume; der Vorhang ging zum letztenmale auf, das Grabgewölbe zeigte sich; sie sah betäubt hinein, es war ihr, als solle sie begraben werden, die letzten verzweiflungsvollen Töne der Liebenden schnitten ihr durch das Herz, ohne daß sie wußte, warum. Die Oper war geendigt; Herr von Bayer bot ihr den Arm, sie folgte ihm durch das Gedränge, welches sie nicht sah, der Wagen rollte durch die Straßen, erst zu Hortensens Wohnung, dann zu dem nahen Hause des Herrn von Bayer. Dieser versprach morgen noch zu kommen; Mathilde war allein im Wagen, aber sie fühlte auch das nicht deutlich, sie fühlte nichts, als daß Edgar sie nicht liebe. Endlich hielt der Wagen, Heinrich stand unten, um sie hinaufzuführen; sie fuhr zusammen, ihr Bewußtsein regte sich unter der Betäubung. Er fühlte, daß sie schwankte, und fragte besorgt: »Was ist Dir?« – »Ich weiß nicht,« sagte sie; »ich glaube, mir schwindelt.« Er führte sie ängstlich rascher und in das helle Zimmer, wo Alexander aufstand und ihnen entgegenkam. »Was ist Dir?« fragte auch dieser. Seine Stimme erweckte sie ganz; mit Todesangst flüchtete sie zu ihm und lag halb ohnmächtig an ihn hingefallen.. Er umfaßte sie; er hielt ihren Zustand für einen Nervenzufall, der durch die Aufregung der Musik veranlaßt worden sei, und so bat er Heinrich, ihrem Mädchen zu schellen, führte sie liebevoll in ihr Zimmer, ordnete beruhigende Mittel an und küßte sie, hoffte Heilung von vollkommener Ruhe und ließ sie für die Nacht allein.

Allein mit der Liebe, der unerwiderten Liebe, mit dem Bewußtsein, daß sie unerwidert sei, aber auch mit dem Gebet. Ja, Mathilde betete, erst mit trostlosem Schmerze, mit mühsam zurückgehaltenem Schreien, dann mit tausendfachen Thränen, in welche sie zerfließen zu wollen schien, endlich mit Erhebung, aber auch mit weiblichem Stolze, der vielleicht selbst mächtiger war als die Reue, ja, vielleicht allein Mathilden in diesem Augenblicke rettete. Hätte Edgar ihrem Liebesblicke mit einem gleichen geantwortet, um wie vieles gefährlicher wäre dann ihr Kampf gewesen. Auch jetzt hielt er sie bis an den Morgen wach, bis an den Morgen, den sie gestern noch gefürchtet hatte, und den sie heute wie einen Retter begrüßte. Aber auch Edgar verbrachte diese Nacht nicht ruhiger.

Er liebte Mathilden nicht, seinen Willen auf sie zu richten wie auf andere schöne Frauen, davon war er durch Verehrung für sie abgehalten worden, und diese Natur von Erz in wahrer Liebe zu schmelzen, dazu bedurfte es mehr als eines Blickes. Wenigstens sagte er sich: »Ich liebe sie nicht; ich weiß es, daß ich sie nicht liebe. Vielleicht hätte sie unter andern Verhältnissen mein Begehren erweckt, – jetzt hat sie mich ruhig gelassen. Warum mußte ich sie bewegen! Erbärmliche Rolle, der Verführer der Frauen zu sein, ohne daß man es will; noch erbärmlicher, daß es uns schmeichelt. Mich widert's an. Was thu' ich, daß sie mich lieben? Ich bin wie tausend Männer auch, in der Gewöhnlichkeit, in dem Elend unserer Gegenwart. Ich achte sie wenig – sie suchen mich. Ich mache sie unglücklich – sie wollen nichts anderes. Und für mich nichts in diesem Allen – mein Herz kalt, wie Stein, ohne Regung – nicht ein Puls, der schlüge.

Bei diesem Kinde war mir wohl – ich ruhte aus, wollt' es noch mehr; da jagt mich auch hier die Leidenschaft auf – nicht meine – ihre – die sie auch unglücklich machen wird, und ich kann nichts thun – darf nicht Mitleid mit ihr haben. Noch gut, daß sie mich nicht lange mehr sieht, auch will ich mich noch weiter von ihr trennen – wohin aber reis' ich? Nach Paris? – Ja, da ist Tumult – Betäubung, da werd' ich mich verlieren und sei's in gemeinem Rausche, wenn ich mich nur verliere.«

Unter solchen Gedanken, welche seinen noch reizbaren Körper in Fiebergluth brachten, verging ihm die Nacht, und auch er sah den Morgen anbrechen, aber er empfand selbst die dumpfe Beruhigung nicht, welche Mathilde bei dem grauen, trüben Lichte gefühlt hatte. Mit Widerwillen wandte er sich davon ab; mit einer Art von Wuth dachte er an Alles, was sein Leben ausmachte, und nie hatte er Hortense, ja sich selber so bitter verachtet, als in dieser Stunde. Er hätte Alles hingeworfen, hätte er sich in demselben Augenblicke mitten in ein wüstes Fest versetzen können, wo ihm keine Erinnerung mehr geblieben wäre. Er hätte wenigstens in der nächsten Stunde reisen wollen, denn es war ihm schrecklich, heute bekannte Züge sehen zu müssen; aber er konnte nichts, als sich überwinden und schon nach sechs Uhr zu Alexandern zu gehen, da er wußte, daß um sieben das Anspannen bestellt war. Glücklicher Weise war Alexander selbst so verstimmt, daß er die Zeichen, welche diese Nacht auf Edgars Stirn geschrieben hatte, nicht las, sondern ihm nur sagte: er sehe wieder übel aus und solle sich schonen; wobei er zugleich Mathildens gestriges Unwohlsein erwähnte. »Sie sieht auch heute noch ganz verändert aus;« setzte er hinzu; »es ist gut, daß sie wieder in die Ruhe kommt; das plötzliche Treiben hier war doch zu viel, selbst für ihre Jugend.« Edgar schwieg, und sein Gesicht war auch stumm und kalt. »Du kommst doch nach Goczyn?« fragte Alexander jetzt. »So bald ich hier nur loskommen kann;« erwiderte Edgar, so widrig es ihm auch war, in diesem Augenblicke zu der Verstellung auch noch zu lügen.

Die Ankunft des Herrn von Bayer befreite Edgar in etwas von dem Zwange, der ihn preßte; auch Heinrich, der noch etwas besorgt hatte, kam nun, und es wurde gefrühstückt. Mathilde hatte gepackt und war dann noch auf ein Viertelstündchen zu Frau von Bayer geschlüpft, von wo sie erst wiederkam, als schon angespannt wurde. Jetzt mußte sie freilich in das Zimmer treten, wo die Männer versammelt waren; aber sie hatte Alles, worin die Frauen sich so gut verbergen können, Flechten, Haubenstreifen, Hut und Schleier, so dicht um das Gesicht gezogen, daß sowol ihr glühend heiß geworden war, als auch wenig von ihren Zügen der Beobachtung frei blieb. So begrüßte sie Edgarn ruhiger, als er selber war, und nur Heinrich bemerkte, daß ihre Lippen leise bebten. Schnell wie der Blitz traf der finstere Blick des Jünglings den zweiten Gegenstand seines Mißtrauens; Edgar stand ohne Bewegung; Stirne und Augenbraunen leicht zusammengezogen, sah er vor sich hin, und seine rechte Hand lag geschlossen auf dem Fenster. Heinrichs Blick ruhte auf dieser Hand, welche eine heftige Regung zerdrücken zu wollen schien; er wandte sich auf Mathilden – auch ihre Hand lag auf dem Sopha, neben dem sie stand. Heinrich starrte auf diese zarte Hand, welche er so oft durch und durch bebend zwischen der seinen gehalten hatte; er sah sie von Zeit zu Zeit leise zucken, als wenn sie vom Herzen aus krampfhaft bewegt würde, und alle wilden Gedanken, welche sonst in den langen Nächten ihren Tanz in seinem Gehirn gehalten und jetzt nur auf den günstigen Augenblick gelauert hatten, kamen schwirrend herbei und umsaus'ten ihn wie Raubvögel ihre Beute. Finster trat er zu Mathilden und sagte in einem Tone, als wolle er ihr eine Verfolgung auf Tod und Leben ankündigen: »ich komme nach Goczyn.« – »Ich denke, Du sollst reisen?« fragte sie, fast erschrocken. »Ich soll, aber ich will nicht;« antwortete er nachdrücklich. »So komm;« sagte sie mit einem unwillkührlichen Schauer. »Der Wagen ist da;« fiel Johann ein, indem er die Thür öffnete. Alexander nahm seinen Hut und zog den linken Handschuh an; dann bot er die rechte Hand Herrn von Bayer, der sie ernstlich drückte. »Ich wünsche, daß sie nicht gar zu viel Unangenehmes vorfinden, Aarhausen;« sagte er. »Ich fürchte, es wird nicht so sein;« antwortete Alexander und wandte sich zu Heinrich, der einige Aufträge, die noch bis jetzt geblieben waren, stumm anhörte und dann eben so die Hand des Bruders zusammenpreßte. Edgar hatte sich Mathilden zum ersten Male an diesem Morgen genähert. »Leben Sie wohl;« sagte er; »leben Sie recht wohl und empfehlen Sie mich anlegentlichst Ihrer Frau Mutter.« – »Ich werde es thun;« antwortete Mathilde, und ihre Stimme erstickte fast.

Edgar wagte nicht mehr zu sagen; er war selbst einen Augenblick ungewiß, ob er ihre Hand fassen solle. Endlich that er es; die Hand war kalt wie die einer Todten; er küßte sie, und auch sein Athem wurde rascher. Er trat zurück, Alexander kam zu ihm. »Wir sehen uns also bald?« fragte er. Edgar neigte flüchtig den Kopf und zog rasch seine Hand aus der Alexanders. Dieser zog nun auch den zweiten Handschuh an. »Lebe wohl, Mathilde;« sagte Heinrich in so sonderbarem Tone, daß Herr von Bayer, der Mathilden eben den Arm bot, den Jüngling verwundert ansah. Sie standen am Wagen; unwillkührlich begegneten sich die Blicke Mathildens und Edgars; hastig stieg die junge Frau ein, Alexander folgte, Johann war auch nicht mehr auf dem Boden, der Wagen rollte fort. »Leben Sie wohl;« sagte Edgar flüchtig zu Herrn von Bayer und ging rasch die Straße hinab. »Ei, das geht ja sehr geschwind;« sagte dieser; »sind Sie auch so eilig, junger Freund?« und er wandte sich nach der Stelle, wo Heinrich gestanden. Der aber hatte sich schon ohne Abschied entfernt, und Herr von Bayer stand allein kopfschüttelnd auf der Straße.

Heinrich war achtlos auf Alles um ihn her nach seiner Wohnung gegangen. Heftig trat er ein; stürmisch schob er den Riegel vor; er war allein, warf sich auf einen Stuhl und verbarg das Gesicht in den Händen.

»O meine Todesqual!« stöhnte er aus der tiefsten Brust, »da fühl' ich Dich wieder? Eingewiegt – bethört – betrogen – durch sie! betrogen durch sie! Denn wir sind es – so Alexander als ich; auf den Gesichtern lag die Sünde.«

Er richtete sich auf seinem Sitze in die Höhe. »O ja, ich glaub' es,« sagte er bitter lachend, »es lohnt sich hier, den Verderber zu spielen. Sie verführen – es ist der Mühe werth, zum Schurken zu werden, wie Alexander sagte. Ich selber – Gott, diese Bilder fort von meinen Augen, diese Hitze aus meinen Adern! Wie kann ich ihn verdammen, wenn ich selbst nur in Gedanken sündige, wie er?«

Er war aufgesprungen und an das offene Fenster gestürzt. Weit legte er sich hinaus; die heute kühle Morgenluft kam seinem heißen Athem entgegen und kühlte ihn ab, so daß er ruhiger in die Brust des Jünglings zurückkehrte, welcher nun langsam durch das Zimmer ging.

»Was er ihr gesagt haben mag?« fragte er dabei; »welche Worte er versucht haben mag, um ihre Seele in unheiligem Feuer zu schmelzen? Gestern ist's gewesen; die Töne dieser Liebesmelodieen hat er nicht verhallen lassen, ohne seine falsche Stimme damit zu mischen. Noch ist sie nicht unterlegen, sie hat ihn zurückgewiesen; die Wuth war's, was ihn so bleich gemacht hatte; aber er wird hin, und dann –«

»Er soll es nicht;« fuhr er entschlossen fort; »so lange ich ihn halten kann, nicht, und ich will ihn halten, oder kann ich's nicht, mit ihm gehen, und dann soll Keiner seinen Todfeind besser bewachen, als ich Mathilden.«

Heinrich war in diesem Zustande zu Allem fähig und ging, um sogleich eine Erklärung mit Edgarn zu haben. Zwei Straßen von seinem Hause stieß er auf den Bruder.

»Willst Du so gütig sein, einen Augenblick bei mir einzutreten?« fragte er. »Warum?« fragte Edgar. »Ich habe mit Dir zu sprechen;« antwortete Heinrich.

Sie gingen. Nach einigen Augenblicken fragte Edgar: »betrifft es etwas Wichtiges?«

»Warum fragst Du?«

»Weil ich keine Zeit zu verlieren habe, wenn ich mir heute noch Urlaub nach Paris verschaffen will.«

»Ah, Du gehst nach Paris?« fragte Heinrich und blieb stehen; »dann kann ich warten, bis Du wiederkommst.«


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