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Ländliche Typen.


Ein Lebensabend.

Seit einem Jahre wohnt sie nun in dem zierlichen, kleinen Hause, das der teure Verstorbene mit so viel Liebe für sie erbaut hatte. Mitten im Park des großen Gutes liegt es, umgeben von weiten Rasenplätzen, von deren Sammetfläche sich die Blumenbeete. mit ihrem wechselnden Schmuck farbenprächtig abheben. Diese Beete werden von schattigen Parkanlagen rings begrenzt, und so liegt das trauliche Heim mitten im Grünen, wie ein Zauberschlößchen aus der Märchenwelt.

Wie oft war das Ehepaar gemeinsam hierhergegangen, um die Entstehung des Werkes zu beobachten, und wenn er sagte: »Du mußt das oder jenes haben, denn Du liebst es so«, dann stritt sie eifrig für seinen Geschmack und seine Bedürfnisse. Schließlich blickten sie einander wehmütig in die Augen. – Jedes wollte lieber vorangehen als allein zurückbleiben.

Und nun hat er sie doch verlassen, der treue Lebensgefährte; seit Jahr und Tag bewohnt sie ihren Witwensitz. Drei Zimmer und die Wirtschaftsräume enthält das Untergeschoß des Häuschens, oben zwei Giebelstuben, von denen die eine vom alten Friedrich bewohnt wird und die andere als Fremdenzimmer dient. Die treue Hanne schläft neben dem Schlafzimmer der Gnädigen, um ihr zur Hand zu sein. Eine glasgedeckte Veranda, an deren Seitenwänden das breitblättrige Pfeifenkraut emporrankt, schließt sich an das Speisezimmer an, und im Sommer sieht man die zarte, leidende Frauengestalt fast nur in diesen beiden Räumen. Die Glastüren des Zimmers sind dann weit geöffnet, und Blumenduft und Vogelstimmen können ungehindert in das wohnliche Gemach eindringen, das so recht den Stempel vornehmer Einfachheit trägt. Die geschnitzten Eichenmöbel, die vortrefflichen Ölgemälde in ihren soliden Rahmen, der weiche Teppich, in dem der Fuß versinkt, die mattgelb getönten Spachtelgardinen und die an ihren Bronzeringen zurückgeschobenen türkischen Vorhänge zeigen keinen Luxus, aber geläuterten Geschmack, der wohl das wertvollste eines größeren Haushaltes zusammentrug, um ein behagliches, kleines Rest zu schaffen. Auch die prächtige Palme, die, auf hohem Gestell stehend, das Fensterplätzchen überschattet, kann sich in der gedeihlichen Atmosphäre dieses luftigen, sauberen Raumes zur seltenen Schönheit entfalten. So ist's erklärlich, daß auch die verwöhnten Gäste, die hier ein- und ausgehen, sich in den beschränkten Räumen behaglich fühlen; denn der kleine Salon mit seinen lichten Polstermöbeln und den verschiedenen Kunstgegenständen, die alle ihre Geschichte für die Bewohnerin haben, paßt sich dem Speisezimmer genau an. Noch ist das Paar im Schloß drüben allein, kein Kindersüßchen trippelt den Kiesweg heraus, und nach der »Großmutter« strecken sich noch keine verlangenden Händchen aus; aber der Gedanke, daß sie dereinst so holdes Glück erleben wird, ist ihr ein Trost in einsamen Stunden.

Ihr Sohn hat lange gezögert, ehe er sich verheiratete. So lange der Vater das Gut bewirtschaftete, blieb er seinem Regimente treu; erst als der Tod so unvermutet die treuen Augen schloß, nahm er den Abschied und zog zur einsamen Mutter hinaus, die ihm mit Rat und Tat zur Seite stand, bis er sich seine Frau aus der Garnison holte. Dann ist Frau von Singen in ihr Witwenhäuschen übergesiedelt, erfüllt von banger Furcht vor der Untätigkeit, die ihr nach ihrem Schalten und Walten in ihrem so großen Wirkungskreise ganz unerträglich dünkt.

Aber ganz anders ist's gekommen. Als strenge, aber gerechte Herrin hat sie sich immer bis ins Kleinste um das Wohl und Wehe ihrer Untergebenen gekümmert, und da hat sich's ganz von selbst gemacht, daß sie nun mehr denn je die Ratgeberin und Freundin der Bedrängten und verzweifelnden geworden ist. Fast wird's ihr manchmal zu viel; förmliche Sprechstunden mußte sie einrichten, um allen Anforderungen zu genügen, kann sie doch, eines hartnäckigen Fußleidens halber, nicht wie früher zu den Kranken und Schwachen gehen.

Besonders der Sonntag nachmittag ist stark besetzt. Da sind »die Kinder« im Schloß drüben durch Besuche oder Ausfahrten verhindert, nach Mutterchen zu sehen, und die Einsamkeit wird durch die Wallfahrten der Dorfbewohner unterbrochen.

Auch heute ist's so. Ein köstlicher, warmer Juninachmittag. Die zierliche Gestalt im schwarzen Seidenkleide mit dem leichten Spitzentuff im Haar, das noch dunkel gescheitelt an den Schläfen liegt, sitzt im Rollstuhl in der Veranda, der kranke Fuß ruht auf einem Schemelchen. Ihre Hände fördern ein wolliges Gewebe, das sich vielleicht zu einem Kinderröckchen auswachsen wird. Die feinen Züge sind noch sehr anziehend, besonders die klugen Augen und der Zug von Milde, der sich um den Mund lagert.

Der alte Diener hat seinen Posten auf der Bank eingenommen, die in einiger Entfernung vom Hause unter einer Kastanie so steht, daß er den Hauptweg vor Augen hat. Hier faßt er die Ankömmlinge ab und heißt sie warten, wenn die Gnädige anderen Besuch hat. Hanne hat eben das Kaffeegeschirr abgeräumt, einige Stühle bequem herangerückt und kaum ist sie hinaus, da tönen schon Schritte auf dem feinen Kies und eine schlanke Frauengestalt, in einfache Trauerkleidung gehüllt, tritt mit ehrfurchtsvollem Gruß herzu. »Tag, gnädige Frau«.

Die melancholischen Augen strahlen ein wenig auf beim Anblick der alten Dame, die ihr liebreich die Hand entgegenstreckt. Die Trauernde berührt dieselbe ehrerbietig mit den Lippen.

»Setz dich, Hermine; wie gehts?« »Danke, gnädige Frau. Es wollt eben wieder mal nicht gehen. Ich war draußen bei ihr und hab ein bißchen Grünes hingetragen, die ersten Rosen und Reseda, sie liebte sie immer so sehr.« –

»Das ist recht, Mine; ich wollt, ich könnt's auch selber so machen, wie du; ich muß aber immer nur zusehen oder gar andere hinschicken«. Ein wehmütiger Blick auf den kranken Fuß und ein Seufzer begleiten die Worte. – »Ach ja, gnä' Frau sind gewiß sehr zu bedauern, aber –«, die Frau stöhnt qualvoll auf, »aber wenn man eines begraben muß, das das Alter erreicht hat, so ist das gewiß nicht halb so schwer, als wenn man ein junges, hoffnungsvolles Leben in die Gruft sinken sieht«. Ein leises Schluchzen macht die Gestalt der Frau erbeben.

In Frau von Lingens stillen Zügen zeigt sich, kaum sichtbar, mitfühlende Erregung, die dunkeln Augen schimmern feucht. Ihre Hand legt sich sanft auf den Arm der Lehrersfrau, die früher ihre Jungfer war. »Wenn Zwei einen langen Weg durch Dick und Dünn miteinander gegangen sind und plötzlich wird eines von dem andern hinweggerissen, so wirds wohl noch ärger vermißt, als wenn sie nur eine kurze Strecke Weges miteinander gemacht hätten.« Hermine starrt kummervoll zu Boden. »Ich versündige mich immer wieder; ich frag alle Tage, warum Gott so was tut!« Die Worte kommen stockend, von Schluchzen begleitet, hervor. Frau von Lingen läßt das Strickzeug sinken, ihr Gesicht zeigt einen energischen Ausdruck und ihre Hand faßt kräftig nach derjenigen der Jammernden.

»Hermine, wenn ich als junges Mädchen mit dem Vater in den Wald ging, wo er den Leuten die Bäume bezeichnete, die geschlagen werden sollten, so fragte ich wohl manchmal bedauernd, warum der oder jener schöne, junge Baum schon fallen müsse, ›Weil er einem besseren oder nützlicheren Luft und Licht nimmt‹, hieß es dann wohl, oder ›weil er wurzelfaul ist oder einen anderen Todeskeim in sich trägt‹. Das war Menschenweisheit, Mine; Gott, der so viel höhere Gedanken hat als wir, wird wissen, warum er die junge Menschenblüte so zeitig gepflückt hat vielleicht wäre sie im Weltgetriebe zu Schaden gekommen; so aber ist ihre Seele rein und unversehrt zu ihrem Schöpfer zurückgekehrt«. Die Trauernde ist immer ruhiger geworden, nun hängt ihr brennender Blick mit sanfter Wehmut an der Sprechenden. »Ich sags ja, man holt sich immer ein gutes Wort von der gnädigen Frau, so eines, das man noch weiter im Herzen bewegt. Das will ich doch meinem Manne sagen, der sich auch so schwer in das Schicksal fügen will. Ach Gott, ja, wie viel Schweres und Böses hätt' unsere Hulda erleben können; man weiß ja nicht, ob man sie noch hätte versorgen können, ehe man selber abgerufen wird. Den Gedanken will ich festhalten, gnädige Frau, vielleicht hilft er mir durch.« Sie erhebt sich, küßt die Hand der Gnädigen und geht.

Einen Augenblick ist's still um die trübe dreinschauende Frau, dann tritt Friedrich heran. »Gnä' Frau, die Lore ist jetzt da«. – »Soll hereinkommen«. Ein eigentümlich strenger Zug legt sich um den Mund der alten Frau. Zögernde Schritte nahen, eine junge, blühende Gestalt mit bleichem Gesicht und gesenkten Augen tritt zaghaft an die Stufen der Veranda heran.

»Gnä' Frau haben befohlen –« sagt eine zitternde Stimme. »Komm nur heran, was wir Zwei zu reden haben, braucht niemand sonst zu hören«. Lore kommt die Stufen herauf, bleibt aber steif und still stehen, während die Augen der Dame prüfend auf ihr ruhen. »Nun, Lore, hast du mir nichts zu sagen?«

Da stürzt das Mädchen vor der Leidenden auf die Knie und küßt die Kleiderfalten, die Hände, was sie zu fassen bekommt.

»Ach, gnä' Frau«, stammelt sie, während Tränen ihr bleiches Gesicht überströmen, »ich überleb's nicht, ich weiß nicht, was ich tu!«

»So, damit zur ersten Sünde noch die zweite käm, die du gar nicht mehr gut machen könntest hier aus Erden. Jetzt steh auf und antworte verständig, daß ich weiß, was zu machen ist.« Lore erhebt sich und steht mit gefalteten Händen, die sie beim Sprechen krampfhaft ineinander schlingt. »Wo ist der Anton?« »Drüben in Altenweißdorf.« »Darf er dort nicht heiraten?« »Freilich, gnä' Frau, darum ist er ja 'rüber.« »Nun, und wann soll die Hochzeit sein?«

Ein Schauern geht durch Lores Gestalt und wieder rinnen ihre Tränen. »Ach Gott, das ist's ja eben. Seit vier Wochen war er nicht hier und Bertha sagt, sie hätt' ihn schon zweimal mit dem Stubenmädchen von drüben gehen sehen.«

»So, das sagt die Berthas was aber sagt deine Mutter?« »Mutter weiß, wies mit mir steht, ich darf mich bei ihr nicht mehr sehen lassen, – bis nach der Hochzeit,« sagt das junge Ding, und ein Zug von Trotz legt sich um ihre vollen Lippen.

»Ruf mal den Friedrich, Kind.« Dieser kommt und wird beauftragt, Feder und Schreibzeug zu bringen. Bis er das Nötige besorgt hat und gegangen ist, fragt die Leidende nach dem Vaternamen des Union und wirst dann schnell und in großen Zügen einige Zeilen aufs Papier, steckt es in einen Umschlag und frankiert. »Nimm den Brief mit an den Kasten, wenn du gehst, der Musje soll mir mal seine Absichten mitteilen. Und so lange – wo bist du jetzt, Lore?« Glühende Röte überfliegt Lores Antlitz. »Ich, ich weiß nicht, gnä' Frau. Die Mamsell hat mir heut gekündigt, ich soll sofort weg und, und Mutter nimmt mich nicht auf, da wollt ich zum Anton gehen, oder – –« Wildes Schluchzen hebt jetzt die Brust der Unglücklichen.

»Was du sonst wolltest, das bitte Gott im stillen Kämmerlein ab, verstanden? Und zum Anton gehst du auch nicht, bis er dich holt, das laß meine Sorge sein. Und jetzt geh und packe deine Sachen im Schloß und dann komm her; Hanne soll dir dann sagen, wohin du sie bringen darfst.« Eine verabschiedende Handbewegung und Lore geht ruhiger, als sie gekommen. –

Die Gnädige streckt die Hand nach der Klingel aus und schellt. Bald darauf tritt Hanne ein. In einfacher, peinlich sauberer Kleidung präsentiert sich die Alte.

Die weiße Haube umrahmt ein Gesicht mit tausend Falten und Runzeln, aus dem die Augen aber noch recht munter und schlau in die Welt schauen.

»Hanne, du hast mir erzählt, daß deine Schwester in Lerchenberg der Hilfe bedarf, da ihre Tochter sich verheiratet hat und die Arbeit auf dem Gütchen so sehr drängt.« »Ja, gnä' Frau, wenn ich nur wen wüßte; aber die Leut sind itzund rar, überall fehlts.« »Ich wüßt eine gute Aushilfe für ein paar Wochen!« »I gar, gnä' Frau, da wär ich neugierig.« »Die Lore ist drüben entlassen worden, die Mutter nimmt sie nicht auf –« »Tut auch recht daran; so ein Weibsbild, ein liederlichs, man hört ja allerhand, – nee, gnä' Frau, da möcht ich meiner Schwester nicht zuraten.« »So, Hanne. Bis dahin war die Lore doch ordentlich und brav in deinen Augen und ein fleißiges Geschöpf dazu. Und wenn sich nun niemand ihrer annimmt, da könnts doch leicht sein, daß sie sich was in den Kopf setzt, was ganz Schlechtes weißt du, was ich und du nicht leiden möchten, wenn wirs verhindern könnten.« Aber Hannes Augen funkeln noch immer feindselig, und sie kneift das Schürzenband energisch in Falten. »Nee, zu meiner Schwester bring ich sie nich.« – »Ich hab dem Anton geschrieben, daß ich wissen will, wann die Hochzeit ist, weil man doch so ein bißchen Aussteuer zurechtmachen muß; dem braven Wildhüter meines Mannes werd ich's doch nicht antun, daß seine Tochter etwa elend zugrunde gehen sollte; da muß man alles versuchen.« Verstohlen blickt Frau von Lingen auf Hanne, die brummig dasteht. »Und wenn sich nun gar nichts anderes findet, da müssen wir hier einen Platz für sie zurechtmachen. Denk nur, wie schlecht die Mädchen da drüben bei der Mamsell gehütet sind, die selber ihrem Vergnügen nachgeht, wo sie kann; da kanns wohl geschehen, daß ein junges Mädel der Versuchung erliegt.« Hanne schweigt. Da steigt eine helle Röte ins Antlitz der Gnädigen und sie sagt in sehr ernstem Ton: »Erinnerst du dich nicht deiner eigenen Jugend, Hanne? Ich hab doch als junge Frau auch manchmal aufpassen müssen und einmal –« Weiter läßt Hanne ihre Herrin nicht sprechen, sie tritt schnell heran, neigt sich über ihre Hand und sagt ganz verwandelt, demütig: »Eh ich dulde, daß gnä' Frau die Lore um sich hat, da will ich schon sorgen, daß sie bei der Ernstine unterkommt; wenn gnä' Frau erlaubt, geh ich gleich 'rüber.« Frau von Lingen gibt befriedigt ihre Zustimmung, und Hanne ist entlassen. –

Aber nicht lange herrscht Stille, dann kommen eilige Füße herein. Zwei derbe, kräftige Kinder, Knabe und Mädchen, sinds, schlicht, aber sauber gekleidet, die ihren ungelenken Gruß darbringen. »Na, zeigt euch mal, seid ihr ordentlich rein?« Prüfend blickt Frau von Lingen über den Anzug der Kinder hin und ihr ausgestreckter Finger weist auf ein Dreieck in der Hose des Knaben, das mit mehr gutem Willen als Sachkenntnis gestopft ist. »Wie ist das gekommen?« Zunächst blicken sich die Blondköpfe verlegen an, dann sagt das zwei Jahre ältere Mädchen: »Er sollts selber sagen, aber er fürcht sich halt wieder.« »Nö, ich fürcht mich nich,« sagt der Junge, »ich konnt' nichts davor, 's war ein Nagel im Zaun und ich wollt flink rüber, da blieb ich hängen.« »Ich habs gestopft,« sagte Liese stolz. »Ich sehe,« meint die Gnädige.

»Du verstehsts schon, nur mußt du noch kleinere Stiche machen. Komm morgen Nachmittag mit der Hose her, da werde ich dir's zeigen und du wirst es besser machen. Aber der Hans darf ein andermal nicht so wild sein.« Hans sieht nachdenklich zu Boden, verspricht aber nichts. »Wie gehts in der Schule?« »Der Herr Lehrer hat gestern gesagt, ich wär fleißiger, wie der Schmiede-Max.« Hans blickt stolz und selbstbewußt zur Gnädigen empor, aus deren Augen trotz der angenommenen Strenge herzliches Wohlgefallen an dem strammen Burschen leuchtet. Liese rühmt gleichfalls des Bruders Wissen, über ihr eigenes Können scheint sie nicht recht klar. »Ich möcht lieber nähen und aufräumen bei der gnädigen Frau,« sagt sie, »oder Butter machen bei Mamsell, ich mag nicht gern sitzen und lernen.«

»Mußt aber, Kind, mußt. Zuerst gut rechnen und schreiben lernen und wissen, wie weise der liebe Gott alles in der Welt geordnet hat, und dann später, wenn der Kopf sein gehöriges Maß gefaßt hat, dann sollen die Hände ihr Recht bekommen. Willst du Mamsell drüben im Schloß werden, so mußt du was gelernt haben. – Habt ihr an eure Mutter geschrieben?« Liese bejaht, aber Hans sagt entschlossen: »Ich mag nich mehr schreiben, sie antwortet gar nich; Schmiede-Max sagt, sie wär verrückt, sie könnt nich.« Liese sieht entsetzt auf die Gnädige und erteilt dem Bruder einen nachdrücklichen Puff. Frau von Lingen faßt des Knaben Hand und sagt: »Deine Mutter ist krank, Hans, und wird, wills Gott, einst gesund zu euch zurückkehren. Wenn sie auch jetzt nicht schreiben darf, so freut sie sich doch, von euch zu hören, daß ihr sie nicht vergessen habt. Und wenn Max nochmal so törichtes Zeug spricht, so schick ihn zu mir, ich will ihm die Wahrheit beibringen. Du wirst schreiben, hörst du?« »Meinswegen« macht Hans und zieht die Schwester an der Hand, es ist ihm langweilig. »Nun geht und genießt euren Sonntag, aber seid nicht unbändig!«

Die Kinder sind hurtig hinaus, und Frau von Lingen stützt den Kopf in die Hand. Ist's nicht traurig, wie schnell eine liebevolle Mutter vergessen wird? Der Vater tot, die Mutter im Irrenhaus, die verlassenen Kinder bei fremden Leuten, welch tragisches Geschick, das ein zufriedenes Familienleben vernichtet hat. Sie selber hat sich die Bekleidung der Kinder vorbehalten, zahlt das Schulgeld und die Bücher, während ihr Sohn jährlich 300 Mark an die Anstalt zu geben hat. Sie hält es für Pflicht, das Andenken an die arme Mutter bei den Kindern zu pflegen und zu erhalten; aber fast scheint es, als würde das schwer halten. Wie klein der Kreis, der sie umgibt und wieviel Kummer, Not und Elend, wieviel Glück aber auch an anderer Stelle. Freilich – die Glücklichen suchen sie weniger.

Da tritt eine junge Frau mit dem Säugling auf dem Arm heran. Nach der Begrüßung stellt sie ihr Kindchen vor. »Gnä' Frau hat so gütig für die Wochensuppe gesorgt und immer fragen lassen, wie's mir und dem Kinde geht, und da wollt' ich doch danken und zeigen, wie groß und stark es schon ist.« Und Frau von Lingen ist auch da ganz bei der Sache, bewundert das Erstgeborene und die roten Backen der Mutter. Diese erzählt: »Der Hermann ist ganz wie ausgewechselt, seit der Junge da ist. Er geht gar nicht mehr so oft ins Wirtshaus, lieber sitzt er mal 'ne Stunde an der Wiege und freut sich übers Kind. Möcht's nur so bleiben; wir brauchen jetzt doppelt jeden Groschen; es kostet halt doch, so ein Würmchen zu kleiden und zu betten, wenn ichs auch selber nähr'«. Frau von Lingen greift nach einem Päckchen, das sie bereit gelegt hat und reicht es der jungen Frau. »Ich hab ein bißchen Kleinzeug genäht, ich habe mehr Zeit als du zu solchen »knifflichen« Arbeiten.« Beglückt sieht die Frau die kleine Aussteuer an und geht mit herzlichem Dank nach Hause. –

Nun scheint die Audienzgeberin doch ein wenig müde, sie lehnt sich im Stuhl zurück und schließt die Augen. Da schlürft langsam eine Alte heran, dürftig ist ihre Kleidung, gebückt ihre Haltung und aus dem runzligen Gesicht spricht Kummer und Sorge deutlich heraus. Gleich ist Frau von Lingen aufgerüttelt. Ein weicher, mitleidiger Ausdruck tritt in ihre schönen Augen und mit unsäglich milder Stimme fragt sie: »Na, Liebigen, was bringt ihr mir heut? Setzt Euch her, die alten Füße wollen auch nicht mehr so wie früher.« Die Alte nimmt den gebotenen Stuhl und sagt nach einem Weilchen, als der keuchende Atem ein wenig ruhiger geht: »Ich wollt' bloß mal sehen, wie's gnädige Frau geht; heut ists warm und mild, da kann ich gehen. Wenn der Wind geht oder 's ist kalt, da tuts hier gar zu weh.« Ihre Hand faßt nach der Brust, die ein trockener Husten erschüttert. Frau von Lingen holt aus der Tasche eine Bonbonniere, deren Inhalt sie der Liebiegen in die Hand schüttet. »Malzbonbons, die lindern ein wenig.« Während die Alte mit Umständlichkeit einige Bonbons im Munde zergehen läßt, sagt Frau von Lingen: »Ich kann Euch gute Nachricht geben, mein Schwager schreibt mir, daß es ihm sicher gelingen würde, für Euren Sohn nach der Entlassung eine Stelle zu finden, da er sich in der Zeit seiner Haft so gut geführt hat. Schon steht die Anzeige in der Zeitung; hier.«

Das Blatt ist gefunden und sie liest vor:

Für einen entlassenen Sträfling, der sich vorzüglich geführt hat, wird eine Stelle als Holzarbeiter im Walde oder in einer Stellmacherei gesucht. Derselbe ist wegen fahrlässiger Tötung zu mehrjähriger Zuchthausstrafe verurteilt gewesen; er wird am 15. Juli entlassen. Nähere Auskunft erteilt Pastor Brunsberg zu N. – »Mein Schwager hat schon mehrere derartige Unglückliche gut untergebracht; es gibt, Gott sei Dank, noch Menschen, die einem Gestürzten aufhelfen. Hättet Ihr nicht darauf bestanden, daß er in der Fremde sein Heil versuchen sollte, so würde sich hier bei meinem Sohne sicher eine passende Stelle für ihn gefunden haben.« Die Liebigen hebt die Hände und seufzt: »Gott gebe nur, daß der Wilhelm wieder in ordentliche Verhältnisse kommt. Mein braver Junge! Hier schämt er sich halt gar zu viel, daß er hat sitzen müssen. Er ist ja zu dem Unglück gekommen, er wußt nicht wie.« Langsam laufen die Tränen über das gefurchte Gesicht. »Seid nur ruhig, es wird alles ins rechte Gleise kommen,« tröstet Frau von Lingen. »Gott wird helfen, daß Ihr noch Freude habt an Kindern und Enkeln. Die Frau wird sich wieder zu ihm finden, wenn er Amt und Brot hat.« »Ich geh zu ihm, wohins auch is,« sagte die Alte, »mag sie dann machen, was sie will, aber grundschlecht wärs, wenn sie ihn verlassen wollt.« »Vorher mag der Doktor aber nach Euch sehen, ich schick ihn Euch, und ein bißchen kräftiges Essen sollt Ihr alle Tage haben, damit der Wilhelm nicht erschrickt, wenn er seine Mutter wiedersieht.« »Ach gnä' Frau, die Freude macht stark, die hilft dann, wenn's erst so weit ist. Gott wird ja meine Gebete erhören!« Und langsam schlürft das Mütterchen von dannen, Hoffnung und Trost im Herzen. –

Nun ist's draußen kühler geworden, die Sonne scheint nicht mehr so grell, und sanfte Stille umfängt die Leidende. Friedrich erscheint am Eingange zur Veranda, zieht sich aber leise zurück, da er die Gebieterin schlafend wähnt. Aber sie hat ihn bemerkt und fragt ein wenig müde: »Noch jemand da?« »Nein, gnä' Frau, heut war's wieder mal gar zu arg. Ich wollt nur hören, ob gnädige Frau in den Garten wollen, es ist so schöne Luft.« »Ja, Friedrich, die wird mir gut tun.« Hanne kommt auf den Ton der Schelle und beide heben den Rollstuhl über die Stufen hinunter. Frau von Lingen läßt sich an einen Platz fahren, wo sie, im Rücken von Fliedersträuchern gedeckt, vor sich drüben über dem weiten Rasenplatz mit seiner Fontäne das Schloß sieht. Ein eiserner Gartentisch, den ein zierlich gesticktes Leinentuch bedeckt, und eben solche kissenbelegte Stühle zeigen, daß das Plätzchen täglich benutzt wird. Friedrich eilt ins Haus zurück und bringt ein Präsentierbrett mit einer Weinflasche und zwei Gläsern, ists doch die Stunde, wo der Herr Major oft noch vorspricht. Er gießt ohne weiteres ein Glas Wein ein und reicht es der Gebieterin, sie nimmt es dankend an, und der kräftigende Trank belebt sie sichtlich. Dann geht Friedrich ab und sie ist allein. Von drüben tönen laute Stimmen und heiteres Lachen, helle Kleider schimmern ab und zu durch die Büsche und man hört das Schlagen an die Krockettkugeln. Frau von Lingen blickt träumerisch hinüber, faßt aber bald wieder nach ihrer Arbeit und fördert dieselbe ein Weilchen. Da stapft ein schneller, kräftiger Schritt den Kiesweg herauf und gleich darauf biegt eine hohe, breitschultrige Gestalt um das Boskett herum. Ein kühngeschnittenes, gebräuntes Gesicht mit dunkeln Augen blickt unter dem breiten Mützenschild hervor. Ein starker Schnurrbart, in dem sich ungeniert einige graue Haare breit machen, läßt wenig von dem schöngeformten Munde mit den blitzenden Zähnen sehen. »Gut'n Abend, Muttchen.« Major von Lingen beugt sich herab und küßt zärtlich Mund und Wangen der Mutter, streicht mit der kräftigen, weißen Hand zart über ihren Scheitel und blickt ihr forschend in die Augen. »Siehst ein bißchen angegriffen aus, hast wieder großen Empfangstag gehabt, wie mir Friedrich sagt.« Sie meint lächelnd, das tue ihr nichts, und der glückliche, stolze Gesichtsausdruck, mit dem sie ihren Einzigen betrachtet, läßt auch nichts mehr von Ermüdung merken.

Der Major hat sich einen Stuhl nahe herangezogen, hebt jetzt die Flasche empor und prüft das Etikett. »So ist's recht, du folgst doch und trinkst den alten Griechen selber, statt ihn nur für Gäste oder Kranke zu verwenden.« Mutterchen nickt lächelnd und gießt das zweite Glas voll, es ihm hinreichend, »Was macht Louise?« »Hat Besuch, die Altenweißdorfer Damen, da war ich überflüssig.« Die alte Frau blickt aufmerksam in das Gesicht des Sohnes, das einen mißmutigen Ausdruck nicht ganz verbergen kann.

»Hast du Ärger gehabt?« Er zuckt mit den Achseln, legt die Arme auf die Knie, schlingt die Hände ineinander und blickt von unten herauf zur Mutter empor. Er ist ihr ganz nahe und sie streicht mit der Hand durch sein volles Haar. »Alle Tage, Mutter, gibts welchen. Für einen alten Soldaten, der bloß sein Kommandowort und die Subordination der Leute kennt, ists heutzutage schwer, sich auf dem Lande einzurichten. Man möchte die Leute mit Handschuhen anfassen.« Er richtet sich auf, reckt den Oberkörper und glättet den Scheitel mit her Hand. »Liegt etwas Besonderes vor?« fragt sie interessiert. »Na ja! Der Kuhmann ist mir fortgelaufen; er hat mich schon lange mit seiner Langsamkeit geärgert, gestern hats mal ein tüchtiges Donnerwetter gegeben. Natürlich ist das dem Herrn zu viel und heut früh fehlt er im Stall. Wie mir Henschel eben sagt, hat er im Dorfe wegen Fuhren gehorcht und will nachts mit der Familie ausrücken. Nutzt ihm freilich nichts, ich werde sofort sein zwangsweises Zurückführen in den Dienst durch den Amtsvorsteher veranlassen. Aber wozu erst dieser Ärger, es ist gräßlich.« Frau von Lingen sieht nachdenklich aus. »Ein kräftiges Wort hat der Michel auch vom Vater oft gehört und vertragen. Da muß noch was anderes zugrunde liegen. War etwas langsam, aber sonst redlich und brav und auf den Nutzen seiner Herrschaft bedacht, Frau und Kinder sind tüchtige Hilfen bei der Feldarbeit. Solltest mal horchen, Fred, ob da nicht die neue Mamsell Schuld hat. Sie soll sehr unfreundlich mit den Leuten verkehren und dabei durchaus nicht zuverlässig sein. Du weißt, ich mische mich nicht gern in deine Angelegenheiten; aber ehe du den erprobten Mann verlierst, dem vielleicht noch mehrere folgen, wenn die Unzufriedenheit erst Platz greift, da ists doch besser, ich mache dich auf die Ursache des Übels aufmerksam.« Der Sohn zieht die Augenbrauen hoch und sagt mit einem komischen Seufzer: »Muttchen, sie kocht famos und ist gegen Louise und mich von so fabelhafter Zuvorkommenheit, daß sie wie ein Aal, kaum zu fassen ist. Geringere Milcherträge haben wir ja zu verzeichnen, aber ich habe die Schuld nur auf die ungünstigen Futterverhältnisse geschoben. Nun will ich aber mal prüfen und Strenge walten lassen. Schade, wir hatten heut ein Roastbeef – – – es zerging auf der Zunge, ganz famos! Aber das soll mich nicht abhalten, die Kochkünstlerin zu maßregeln.« Frau von Lingen schweigt, und der Major fährt fort: »Ich gäbe wer weiß was darum, wenn ich den Michel ohne große Geschichten zum verständigen Ausharren bewegen könnte. Früher sagte ich in ähnlichen Fällen: Mag der Kerl laufen, es kommt ein anderer! Jetzt weiß ich, daß man selten bessere Leute eintauscht.« »Weißt du,« meint Muttchen, »ich werde die Micheln rufen lassen und mit ihr reden, vielleicht läßt sich die Sache noch einmal einrichten.« Fred springt auf und sagt eifrig: »Ja, Muttchen, gutes, liebes, das tu; du verstehst das vorzüglich!« Dann küßt er sie abschiednehmend auf den Mund. »Ich komme gleich morgen früh, um zu hören, was du erreicht hast; jetzt will ich dich noch schnell ins Zimmer bringen, es wird kühl.« Durch die Luft tönt ein lauter, hallender Klang, das Gong ruft zum Abendessen im Schloß. Fred denkt seiner Pflichten als Wirt und geht von dannen, nachdem er mit Friedrichs Hilfe den Rollstuhl ins Speisezimmer gehoben hat.

Dort hat Hanne eben die blinkende Teemaschine angezündet und der zierlich gedeckte Tisch ist für die alte Dame bereit. Das bescheidene Mahl ist schnell verzehrt und eine Stunde darauf steht die Frau des renitenten Kuhmann vor der Gnädigen, der es gelingt, durch ihre klugen und wohlwollenden Worte die Angelegenheit klar zu legen. Es ist tatsächlich die pflichtvergessene und herrische Mamsell, die der Herrschaft das Vertrauen der Leute raubt und, auf ihre gesicherte Stellung im Schloß fußend, sich sogar offen Unredlichkeiten zuschulden kommen läßt. Frau von Lingen verspricht Entlassung der Mamsell, wenn Michel sofort reumütig in seinen Dienst zurückkehrt und dem Herrn Major alles der Wahrheit gemäß berichtet. »Es wäre ja noch schöner,« setzt sie hinzu, »wenn ihr braven Leute euch durch so eine schlechte Person von Eurem guten Posten vertreiben lassen wolltet.« Als die Micheln geht, ist alles in schönster Ordnung, und die treue Mutter kann morgen früh dem Sohne guten Bescheid geben. – –

Das ist nur ein Tag im Leben der Witwe; aber wie viel Gutes zu stiften war ihr in den wenigen Stunden gelungen. Sie dankt Gott, der ihr Leben so über Erwarten reich ausgefüllt hat zu einer Zeit, wo sie gefürchtet hatte, gar nichts mehr beitragen zu können zum Wohle des großen Ganzen, das ihr einst in die Hände gegeben war.

Und mit diesem Dank gegen Gott schläft die alte Frau friedlich ein.


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